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Deutsche Erstausgabe (ePub) Dezember 2019

 

Für die Originalausgabe:

© 2017 by Avon Gale and Piper Vaughn

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Permanent Ink«

Published by Arrangement with RIPTIDE PUBLISHING LLC

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2019 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

 

ISBN-13: 978-3-95823-798-8

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Aus dem Englischen von Charlotte Roiß und Vanessa Tockner


 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem die Autorinnen des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorinnen und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Poe ist Anfang zwanzig und lebt in den Tag hinein. Seine große – und einzige – Leidenschaft, das Graffiti-Sprayen, bringt ihn ständig in Schwierigkeiten und darüber hinaus gibt es nicht viel Perspektive für ihn. Zumindest bis Jericho, der beste Freund von Poes Vater, ihm die Chance auf eine Ausbildung in seinem Tattoostudio anbietet. In Ermangelung anderer Alternativen nimmt Poe an und als sie immer mehr Zeit miteinander verbringen und sich besser kennenlernen, fliegen schon bald trotz ihres Altersunterschieds die ersten Funken. Doch ist ihre Anziehung und eine gemeinsame Vorliebe im Bett stark genug, damit sich diese Sache zwischen ihnen zu etwas Dauerhaftem entwickeln kann?


 

 

 

 

Für alle, die an zweite Chancen glauben.

 


 

 

Danksagung

 

Wir danken all unseren Erstlesern, besonders Annie und Steph, die so begeistert von unseren Charakteren waren, und Santino, dessen wohlüberlegte Vorschläge uns dabei geholfen haben, diese Geschichte zu verbessern. Wir danken auch Natasha Snow für das wunderschöne Cover, unserer Agentin Courtney Miller-Callihan, unserer Lektorin May und allen bei Riptide, weil sie diesem Buch ein Zuhause gegeben haben.


 

Kapitel 1

 

 

Poe

 

»Ich kann nicht fassen, dass du festgenommen worden bist!« Landons Stimme dröhnte im schummrigen Inneren des Pick-ups. »Wie oft habe ich dir gesagt, dass das passieren würde? Dutzende Male. Aber trotzdem hörst du nicht zu. Es ist, als würde ich mit einer Wand sprechen. Zum Teufel, es ist als würde ich verdammt noch mal mit mir selbst sprechen.«

Ich knurrte und sank tiefer in den Beifahrersitz. Es hatte keinen Sinn, ihn zu unterbrechen, wenn mein Vater sich erst in Rage geredet hatte. Nicht, dass ich irgendetwas Bestimmtes zu sagen hätte. Ich verstand das ganze Drama nicht wirklich. Sowohl er als auch die Cops taten so, als hätte ich das Lincoln Memorial geschändet und nicht die Wand irgendeines blöden Firmengebäudes in der Innenstadt besprüht. Sie sollten mir dafür danken, einer sonst arschlangweiligen Nachbarschaft einen Farbtupfer verpasst zu haben. Ein bisschen Graffiti würde den Yuppies und den reichen veganen Hipstern vielleicht ein bisschen Leben in die Bude bringen.

»Denkst du, ich wollte die halbe Nacht damit verbringen, dich aus dem Gefängnis zu holen?«, fragte Landon. »Ich muss für die Arbeit verdammt noch mal um fünf Uhr morgens aufstehen. Ich hätte dich dort verrotten lassen sollen, bis ich den Laden geschlossen hätte.«

Bla, bla, bla. Ich erstickte ein Gähnen hinter meiner Faust.

»Fuck, Poe, hörst du mir zu?«

»Nicht wirklich.«

Landon knurrte und seine tätowierten Finger schlossen sich fester um das Lenkrad. »Glaubst du, dass das ein verdammter Witz ist? Du bist keine vierzehn mehr. Das kommt in deine Akte.«

Ich lehnte meinen Kopf gegen den Sitz zurück und seufzte. »Es ist eine Ordnungswidrigkeit. Beruhig dich. Ich habe niemanden umgebracht.«

»Darum geht es nicht.«

Ich schloss die Augen. Himmel. Ich bin zu müde, um mich jetzt mit diesem Scheiß zu befassen. »Worum geht es dann? Erleuchte mich.«

»Es geht darum, dass es Zeit wird, dass du verdammt noch mal erwachsen wirst und aufhörst, so unverantwortlich zu sein. Du bist dreiundzwanzig Jahre alt. Weißt du, was ich getan habe, als ich in deinem Alter war? Ich hab mir den Arsch aufgerissen, um für dich und deine Mutter zu sorgen.«

Ich schnaubte. »Ja, na schön, das hat ja viel gebracht. Sie hat trotzdem die Beine in die Hand genommen, als sie nicht mehr auf glückliche Familie machen wollte. Sie war schon ein leuchtendes Beispiel für Verantwortungsbewusstsein, indem sie ihren Mann und ihr Kind zurückgelassen hat.«

Landon wurde still und selbst ohne ihn anzusehen, konnte ich mir seine schmalen Lippen, verengten Augen, seine Missbilligung und die pulsierende Vene vorstellen, die sich immer dann in der Mitte seiner Stirn zeigte, wenn er sauer war.

»Um deine Mutter geht es auch nicht«, sagte Landon leise. »Ich bin dageblieben. Ich habe dich aufgezogen. Ich habe dafür gesorgt, dass du etwas zum Anziehen und zum Essen hast. Und ich lasse dich immer noch unter meinem Dach schlafen und meine Lebensmittel essen, obwohl du verdammt noch mal erwachsen bist. Ein klein wenig Respekt wäre nett. Das Gleiche gilt für eine Entschuldigung.«

»Sorry«, murmelte ich. Ich wusste, dass ich eine Grenze überschritten hatte. Mein Vater musste nicht abnehmen, wenn ich ihn um ein Uhr morgens anrief. Er musste mich auch nicht aus dem Knast holen. Und er erlaubte mir tatsächlich, mietfrei in seinem Haus zu leben, was das Einzige war, das mich davor bewahrte, mit fünf anderen Kerlen zusammenziehen zu müssen, um mir von meinem erbärmlichen Gehalt als Kassierer an der Tankstelle, eine beschissene Wohnung leisten zu können.

»Sei einfach ein bisschen entgegenkommender, okay?«, sagte Landon. »Oh, und glaub ja nicht, dass du mir die Kaution, die Anwaltskosten und was zur Hölle ich noch ausgeben muss, nicht zurückzahlen wirst. Betrachte das als Darlehen und glaub mir, ich werde das gegenrechnen.«

Ich öffnete die Augen und blickte meinen Vater an, dessen Aufmerksamkeit auf die dunkle Straße gerichtet war. Kurz erhellte eine Straßenlaterne das Innere des Pick-ups und in diesen paar Sekunden des Lichts konnte ich sehen, dass Landons Kiefer unter seinem dichten Bart fest aufeinandergepresst war. »Na schön. Und… danke. Sorry, dass ich mich wie ein Idiot benommen hab.«

Landon neigte den Kopf und nahm die Entschuldigung zur Kenntnis. »Ich hoffe, du weißt, dass ich nicht versuche, ein Arschloch zu sein, Junge. Aber du bist nicht Peter Pan und das hier ist nicht Nimmerland. Du musst langsam auf die richtige Spur kommen, und das wirst du nicht schaffen, wenn du die ganze Nacht draußen beim Taggen verbringst. Werd erwachsen, Poe. Ich kann dieses Verhalten nicht für immer tolerieren. Eines Tages erreiche ich meine Grenze, und dann setze ich dich auf die Straße.«

Ich nahm die Drohung in den Worten meines Vaters ernst. Ich wusste, dass irgendwann das Fass überlaufen und er meinen undankbaren Arsch vor die Tür setzen würde. Aber als ich meine Augen wieder schloss, konnte ich nur an den Rucksack und die Spraydosen denken, die ich verloren hatte. Sprühfarben in Premiumqualität, als Beweismittel konfisziert. Manche der Dosen gehörten meinem besten Freund Blue. Verdammt. Das würde ihn sauer machen. Ich würde ein paar zusätzliche Schichten an der Tankstelle annehmen müssen, um Ersatz zu kaufen.

Zumindest hatten die Cops mich mein Skateboard behalten lassen und mein Skizzenbuch hatten sie auch nicht bekommen. Es war von vorne bis hinten gefüllt mit Ideen für zurückliegende und zukünftige Projekte. Wenn das in die Hände der Polizei gefallen wäre, wäre ich wirklich und wahrhaftig am Arsch gewesen – genau wie mehrere andere Mitglieder meiner Crew.

Ausnahmsweise war meine kurze Aufmerksamkeitsspanne mal nützlich gewesen.

 

***

 

Jericho

 

Ich wurde gerade mit meinem letzten Kunden des Tages fertig, als einer meiner Tätowierer, Pete, in der Tür stand und sich räusperte. »Ähm. Jer?«

Ich hasste es, Jer genannt zu werden. Hasste es. »Ja, Pee?«

Er kapierte es nicht. »Mikey hat sich wieder krankgemeldet.«

Ich schloss die Augen, rückte den Stuhl zurück und legte die Tätowiermaschine ab. Mein Kunde, Landon Montgomery, warf mir einen mitfühlenden Blick zu und schüttelte den Kopf. Ihm gehörte die Autowerkstatt neben meinem Tattoostudio Permanent Ink. Er kannte sich bestens damit aus, wie mit Angestellten umzugehen war, die Probleme mit der Leistungsbereitschaft hatten. Ich starrte den leeren Tisch finster an und sagte angewidert: »Das ist, was? Das sechste Mal in einem Monat? Scheiß auf den Jungen. Er ist raus.«

Pete nickte. »Willst du, dass ich dableibe, während du hier fertig wirst?«

Es war spät, beinahe halb acht, und ich bezweifelte, dass wir in der letzten halben Stunde sehr viel zu tun hätten. Vielleicht, wenn es Wochenende gewesen wäre, aber an einem Mittwoch? Vermutlich nicht. »Ich komm klar. Wir sehen uns.«

»Cool.« Pete winkte und verschwand.

»Jer

Ich warf Landon einen Blick zu, als ich die Maschine in die Hand nahm. »Ich weiß.« Ich arbeitete an seinem Tattoo weiter, das einen kirschroten alten Mustang darstellte und Teil eines komplizierten Sleeves war, an dem wir die letzten vier Jahre lang gearbeitet hatten. Landon war einer meiner ersten Kunden gewesen, als ich das Permanent Ink eröffnet hatte, und wir waren mit der Zeit Freunde geworden. Unsere Freundschaft war eng genug, dass er wusste, mich verdammt noch mal nie Jer zu nennen.

»Mikey… Ich dachte, er wäre einer von den Guten«, sagte Landon in Bezug auf meinen – ehemaligen – Empfangsmitarbeiter.

Ich zuckte mit den Schultern, tauchte die Maschine in die rote Tinte und drehte seinen Arm ein wenig, um mich an die Schattierungen zu machen. »Wenn du es als gut betrachtest, vier Wochen lang mehr oder weniger pünktlich zu kommen und kein Geld zu stehlen oder nach Ladenschluss minderjährigen Mädchen Piercings im Gegenzug für Sex zu stechen, dann ja.« Darüber war ich immer noch wütend. Ich schien das größte Pech zu haben, wenn es um Empfangsleute ging. »Die Messlatte liegt da nicht so hoch.«

Landon gab einen mitfühlenden Laut von sich. »Hast du immer noch dieses Bier im Kühlschrank? Wir sollten eins trinken, wenn du fertig bist. Zum Teufel, ich könnte jetzt eins gebrauchen.«

»Ja, ich glaube, ich habe ein paar da.« Ich sah kurz zu ihm auf. »Was gibt's?«

Er seufzte. »Rate mal.«

»Was hat er dieses Mal angestellt?« Ich widmete mich wieder den Schattierungen und bereitete mich darauf vor, eine weitere Geschichte über Landons Sohn Poe zu hören. Der Junge war dreiundzwanzig und laut Landon sowohl Freud als auch Leid seiner Existenz.

»Der Mistkerl ist letzte Woche festgenommen worden, weil er öffentliches Eigentum beschädigt hat. Schon wieder.« Landon schüttelte den Kopf. Bei der Bewegung schwang sein Bart leicht hin und her. Landon sah genau so aus, wie ein Typ aussehen sollte, der seinen Sohn nach Edgar Allan Poe benannt hatte – ergrauender Bart, Tattoos und ein niemals endender Vorrat an Arbeitshemden mit seinem Namen darauf. »Ich weiß nicht, was ich mit ihm tun soll, Jericho. Ich weiß es wirklich nicht.«

»Wo hat er dieses Mal zugeschlagen?«

»Wo hat er getaggt«, korrigierte Landon mich und ich glaubte, dass er es nur halb sarkastisch meinte. Ich wusste, dass er es hasste, dass Poe sich so oft in Schwierigkeiten brachte, aber er war auch beeindruckt vom Talent seines Sohnes. »Irgendein Gebäude an der Sidney.«

Ich hob die Augenbrauen. »Ach ja?« Ich war vor ein paar Tagen daran vorbeigefahren, auf dem Heimweg von einem Konzert in dem nahegelegenen Arsenal. »Die Glocken? Das hab ich sogar gesehen. War gar nicht schlecht.« Es war um einiges besser als das. Poe war eindeutig ein begabter Künstler. Aber das Eigentum anderer Leute zu besprühen, war nicht der beste Weg, um das zu zeigen. »Das verdammte Gebäude ist ein schrecklicher Anblick.«

Landon schnaubte. »Ja, na gut, vielleicht wäre ich nicht so wütend, wenn das Kind eines anderen dabei erwischt worden wäre, es zu taggen. Warum macht er das immer wieder? Wenn er sich so bemühen würde, einen besseren Job zu finden, wie er es beim Besprühen von Häusern tut, wäre er jetzt schon aus meinem verdammten Haus.«

Ich lächelte und beendete die Schattierung, rückte den Stuhl zurück und griff nach der Spritzflasche grüner Seife, um das Blut und das Plasma von dem frischen Tattoo zu waschen. Dann wischte ich mit einem Papiertuch darüber. »Du würdest ihn vermissen.«

»Das würde ich verdammt noch mal nicht«, murrte Landon. »Ich weiß einfach nicht, was ich noch tun soll.« Er warf mir einen Blick zu, als ich das Tattoo einwickelte und sicher zuklebte. »Außer dir etwas vorzuheulen und ein Bier zu trinken.«

Ich stand auf und klopfte ihm auf die Schulter, als ich mich auf den Weg zurück in den kleinen Pausenraum machte. Die zwei Bierflaschen standen ganz unten im sogenannten Gemüsefach, das noch nie Gemüse gesehen hatte und es vermutlich auch nie tun würde. Jeder, der hier arbeitete, wusste allerdings, dass es mein Fach war, und wenn darin ein paar Bier standen… dann blieben sie besser dort, bis ich beschloss, sie zu trinken.

Ich nahm das Bier mit und reichte Landon eins davon, dann machte ich mich daran, meinen Arbeitsbereich aufzuräumen. »Weißt du, ich war ein ziemlicher Rabauke, als ich jünger war«, erinnerte ich ihn. Ich hatte keine Kinder und konnte es deswegen nicht nachempfinden, aber Landon kannte meine Geschichte und dass ich alles andere als perfekt gewesen war. »Aus mir ist auch was geworden.«

»Zu schade, dass ich niemanden in San Diego kenne«, meinte Landon trocken und ich lachte. Mit sechzehn war ich dorthin zur Schwester meiner Mutter geschickt worden, weil ich dummes Zeug wie Vandalismus (zugegebenermaßen allerdings ohne Poes Talent und offenbar auch ohne seine große Auswahl an Materialien) und Diebstahl angestellt hatte. Die Hutschnur war meinen Eltern allerdings erst dann geplatzt, als ich Drogen für mich entdeckt hatte.

Es war hilfreich gewesen, aus dem North County herauszukommen, aber das war es nicht gewesen, was mich von einem zukünftigen Hooligan in einen zukünftigen Geschäftsmann verwandelt hatte. Das war ganz allein Chris gewesen, der mich dabei erwischt hatte, wie ich vor seinem Laden mit Drogen gedealt hatte. Aus irgendeinem Grund hatte er beschlossen, dass ich eine glühende Standpauke und eine Chance wert war, etwas anderes zu tun, als unweigerlich im Knast zu landen.

Landon trank sein Bier und erzählte weiter von Poe und seinem Konflikt mit dem Gesetz. Ich hatte den Jungen natürlich schon mal gesehen. Aber wenn ich zu Landon ging, um ein Spiel anzusehen oder ein paar Bier zu trinken, war Poe normalerweise bei der Spätschicht an der Tankstelle, mit Freunden unterwegs oder unten im Keller.

»Ich muss die Anwaltskosten übernehmen, damit er nicht in den Knast kommt«, fuhr Landon fort, als ich endlich fertig wurde und mich mit meinem eigenen Bier hinsetzte. Ich nahm einen großen Schluck und genoss den befriedigenden Geschmack und die Kälte nach einem langen Tag des Tätowierens. »Jetzt taucht besser irgendjemand mit einem Maserati auf, der alles Mögliche machen lassen will. Himmel.« Er verzog das Gesicht und warf dann einen Blick auf sein Bier. »Ich wünschte, du hättest mehr davon.«

»Eins reicht. Du hast dir grad ein Tattoo stechen lassen.«

Außerhalb meines Tattoozimmers klingelte das Telefon am Empfangstresen. Ich sah auf die Uhr. Es war zehn nach acht und wir hatten eigentlich geschlossen. Ich musste an Mikey denken, der es hoffentlich besser wusste, als je wieder hier aufzutauchen.

Das erinnerte mich an etwas. Ich sah zu Landon und dachte darüber nach, was er über Poe gesagt hatte. »Also, du weißt ja, dass ich einen neuen Empfangsmitarbeiter brauche?«

Landon warf mir einen schiefen Blick zu. »Ich hab nicht nach einem Job gefragt, Mann, aber danke.«

»Nicht für dich, Blödmann. Für Poe.« Ich könnte von Glück reden, wenn Landon für mich arbeiten würde. Er wusste, was das Wort Verantwortung bedeutete, und seine Arbeitsmoral ließ nicht zu wünschen übrig. Mikey hatte Probleme damit gehabt, das Bargeld zu zählen, hatte nie begriffen, wie man das Papier im EC-Gerät nachfüllte, und die furchtbare Angewohnheit, alles als abgefahren zu bezeichnen, obwohl er in Chesterfield aufgewachsen war.

Landons Augen wurden schmal. »Du willst wirklich meinen Sohn anstellen, nachdem ich dir erzählt habe, dass man ihn festgenommen hat? Schon wieder?«

»Er hält sich nicht für einen Hobbypiercer, oder?«

Landon schüttelte den Kopf, lächelte aber nicht über meinen Witz. »Jericho, ich – Das ist nett von dir, aber darum kann ich dich nicht bitten. Fuck, falls Poe – falls Poe Mist baut…«

»Dann baut Poe Mist«, sagte ich unverblümt. »Das ist nicht deine Schuld. Zwischen uns ist alles gut.« Ich trank einen Schluck Bier. »Solange du dieses Tattoo nicht auswickelst und mir in einer Woche erzählst, es wäre verblasst.«

»Trotzdem.« Landon stand auf und spannte seinen Arm ein wenig an. Er tippte mit seinen Fingern auf den Verband, bis er bemerkte, wie ich ihn finster anstarrte. Dann ließ er seine Hand sinken. »Ich halte das für keine gute Idee.«

»Hör mal«, sagte ich langsam. »Der Grund, warum ich auf die richtige Spur gekommen bin, ist, dass jemand meinem kriminellen Hintern eine Richtung gegeben hat. Dein Junge ist vielleicht ein Rabauke – hey, wie der Vater, so der Sohn, richtig? –, aber er hat definitiv Talent.« Und zumindest war er nicht in die Drogenszene abgerutscht, wie ich es in meiner vergeudeten Jugend getan hatte. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass Landon das auch nur eine Minute lang tolerieren würde.

»Im Beschmieren von öffentlichem Eigentum?« Landons Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Kunst«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass Landon sich absichtlich mürrisch gab. »Vielleicht würde er gern lernen, wie er sein Talent sinnvoll einsetzen kann. Und dabei Geld verdienen kann, statt sich einen Eintrag ins Führungszeugnis zu holen.«

Landon verschränkte die Arme. »Du gibst Poe keine Tätowiermaschine in die Hand«, sagte er tonlos.

»Nicht gleich am Anfang.« Ich hob meine auf. Sie war sauber, bereit für den Morgen. Ich betrachtete sie, das glitzernde Chrom und schimmernde schwarze Metall. Dieser einfache Gegenstand hatte mir einen neuen Weg im Leben gezeigt und wenn ich das Gleiche für jemand anderen tun konnte, besonders für den Sohn meines besten Freundes…

»Aber wenn er herkommt und am Empfang arbeitet, bis ich jemanden finde, der mich nicht einfach im Stich lässt, und wenn er sich beweist, würde ich ihm eine Chance auf eine Ausbildung geben. Vielleicht würde ihn das von Ärger fernhalten.«

Einen langen Moment sagte Landon gar nichts. »Das – Mann, es ist verdammt nett von dir, das anzubieten.« Er klang ein wenig skeptisch und ich nahm es ihm nicht übel. Landon und ich hatten beide auf die harte Tour gelernt, dass Dinge, die zu gut klangen, um wahr zu sein, das normalerweise auch waren.

»Wie gesagt, Mann. Das Tätowieren hat mich auf den Pfad der Tugend zurückgeführt, also…« Als er prustend auflachte, räusperte ich mich. »Ist nur eine Redewendung. Vielleicht könnte ich Poe helfen.«

»Ich wette, das könntest du, aber mein Problem ist… Ich bin mir wegen Poe nicht sicher. Er ist mein Sohn und ich liebe ihn und ich weiß auch, dass er die ADHS seiner Mutter geerbt hat, aber er ist auch nicht so vertrauenswürdig. Und du bist mein bester Freund, Mann. Ich will meinen netten Tattoorabatt nicht verlieren, weil mein Junge größeres Interesse an Ordnungswidrigkeiten als an einem Job hat.« Landon sah mich nicht an und ich wusste, dass mehr dahintersteckte. Er machte sich irgendwie Sorgen, dass er sich für seinen Sohn gegen mich würde wenden müssen, und er wollte nicht in dieser Situation landen.

Abgesehen davon bezahlte er mich für die Tattoos. Mit barem Geld.

Mich beschlich die Ahnung, dass ich das Thema einfach fallen lassen sollte. Schließlich kannte Landon seinen Sohn deutlich besser als ich und wenn er das für eine schreckliche Idee hielt… dann war es das vermutlich. Aber ich konnte nicht anders, als mich an Chris zu erinnern, Chris mit seiner rauen Stimme, die keinen Unsinn tolerierte und so klang, als wäre er immer heiser, seinem großzügigen Gebrauch des Wortes fuck und dass er nie etwas anderes als Batikshirts getragen hatte. Er hatte mehr für mich getan als irgendjemand anderes und ich war vermutlich genauso ein großer Arsch gewesen wie Poe. Vielleicht ein wenig jünger, aber ich hatte mich schon behauptet. »Es ist okay, wenn du Nein sagst, Landon. Dein Tattoorabatt ist dir sicher, glaub mir. Wie oft hast du meinen Wagen repariert?«

»Du brauchst neue Bremsen«, sagte Landon automatisch, als könnte er nicht anders. »Und es liegt nicht daran, dass ich es nicht zu schätzen wüsste. Glaub mir, das tue ich. Ich will dich nicht in Schwierigkeiten bringen, weil mein Junge keine Verantwortung übernehmen kann.«

Ich trank mein Bier aus, nahm Landons leere Flasche und brachte sie beide zum Recyclingeimer. »Ich habe alles unter Kontrolle«, versicherte ich Landon. »Es funktioniert jetzt schon ohne einen verantwortungsvollen Empfangsmitarbeiter und das war schon so, seit Becca gegangen ist. Und glaub mir, wenn er es als Auszubildender nicht bringt, ist er erledigt. Ich werde es ihm nicht leicht machen, aber ich werde ihm eine Chance geben.«

Das war alles, was ich gebraucht hatte, aber ich konnte nicht sagen, ob das auch für Poe gelten würde.

Landon war still, während ich mich darum kümmerte, die Lichter auszuschalten, sicherzustellen, dass alles sauber war, und den Müll auszuleeren, den meine verdammten nachlässigen Angestellten wie immer vergessen hatten. Es machte mir nichts aus, den Laden aufzuräumen – nicht, dass ich ihnen das auf die Nase binden wollte –, weil es mich stolz machte zu wissen, dass dieser Ort mir gehörte. Ich strich mit der Hand über die Oberfläche des Empfangstresens und lächelte.

»Wenn du dir sicher bist«, sagte Landon zögerlich. »Ich frag ihn. Ich – ich weiß es wirklich zu schätzen.« Landons Stimme wurde sanft. »Er ist ein guter Junge. Unter all dem. Ich glaube, dass er ziellos ist. Und dass er aus meinem Haus ausziehen muss.«

Ich bedeutete Landon, hinauszugehen, damit ich zusperren konnte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn dazu bringen kann auszuziehen, aber vielleicht kann ich ihm eine Richtung weisen. Rede mit ihm darüber und schick ihn zu mir, wenn er Interesse hat.« Es machte mir nichts aus, dem Jungen eine Chance zu geben, aber ich würde ihm nicht nachlaufen oder dergleichen. »Ich bin so gut wie immer hier.«

Ich hatte keine Ahnung, ob ich Poe Montgomery in naher Zukunft sehen würde, aber er hatte etwa zwei Tage, bevor ich den Job am Empfang ausschrieb. Danach gab es nicht viel, was ich noch tun konnte.

 


 

Kapitel 2

 

 

Poe

 

Das dumpfe Geräusch der Schritte meines Vaters auf der Kellertreppe gab mir genug Zeit, um meine Marker und mein Skizzenbuch unter ein Kissen zu schieben, bevor Landon in der Tür zu meinem Schlafzimmer stand. Er blieb auf der Schwelle stehen, groß und imposant in seinem Mechanikeroverall, und starrte nachdenklich in den Raum, während er sich mit einer großen, mit Schmiere befleckten Hand durch den dichten Bart fuhr.

Was Schlafzimmer anging, war meines alles andere als traditionell. Es gab kein richtiges Bett. Ich schlief auf einem Futon, der in die Lücke zwischen meiner Kommode und meinem Zeichenbrett geschoben war. Der Rest des Raumes diente als Mini-Indoor-Skatepark und verfügte sogar über eine Halfpipe und eine Quarterpipe, die ich selbst gebaut hatte.

Leuchtende Farben breiteten sich aus und verzierten die Wände vom Boden bis zur Decke – meine Entwicklung von kindischen Kritzeleien mit Strichmännchen zu einem von Edgar Allan Poe inspirierten Wandgemälde, das Raben, Totenschädel und ein Porträt des Mannes selbst umfasste. Auch bekannt als das einzige meiner Gemälde, das je die Anerkennung meines Vaters gefunden hatte. Das war auch nicht überraschend, wenn man bedachte, dass er mich nach dem Typen benannt hatte; ein bleibendes Vermächtnis seiner Goth-Phase in der Highschool.

Trotz der Kippfenster, die fast immer geöffnet waren, hing leicht der Geruch nach Sprühfarben in der Luft. Ich hatte die Wände seit Wochen nicht beschrieben, aber inzwischen hatten die Dämpfe fast jede Oberfläche durchdrungen. Der Geruch würde vermutlich nie ganz verschwinden.

Als Landon nicht sofort etwas sagte, griff ich nach meinem Handy und pausierte das alte Sublime-Album, das ich als Hintergrundgeräusch gestreamt hatte. »Was gibt's?«, fragte ich.

Seine dunklen Augen richteten sich auf mich. »Ich habe ein Jobangebot für dich. Oder besser, Jericho hat eins.«

»Jericho, dein Freund aus dem Tattoostudio?«

Landon hob die Augenbrauen. »Kennst du irgendwelche anderen Jerichos?«

Ich setzte mich auf dem Futon auf. »Was für ein Jobangebot? Und warum? Ich erinnere mich nicht, mich beworben zu haben.«

Landon trat in den Raum. »Hast du auch nicht. Ich habe mit ihm über deine Begegnung mit den Cops und all das Geld gesprochen, das ich schon ausgegeben habe, um dir die Haut zu retten. Er hat angeboten, dich am Empfang arbeiten zu lassen, mit Bezahlung, bis er einen dauerhaften Ersatz findet.«

Ich runzelte die Stirn. »Warum sollte er das tun? Er kennt mich noch nicht mal.«

Landon seufzte. »Nun ja, er kennt mich und ist bereit, uns beiden auszuhelfen. Er sagt, dass er es in Betracht zieht, dich in Zukunft als Auszubildenden anzunehmen, wenn du gute Arbeit leistest und deinen Arbeitswillen unter Beweis stellst.«

»Tattoos sind mir scheißegal.« Ich hatte nur eins – einen kleinen Raben an meiner rechten Hüfte, den ich mir mit siebzehn vom Cousin eines Freundes auf einer Party hatte stechen lassen, als ich total betrunken gewesen war. Er sah aus wie ein geschmolzenes Snickers.

Erneut seufzte Landon und rieb sich die Schläfen. Er sah besorgt aus, älter als sonst, und die Falte zwischen seinen Augenbrauen war tief und trat hervor. Ich wand mich und fühlte mich schuldig. Ich wusste, dass allein ich die Schuld für einen Teil der grauen Strähnen trug, die sein Haar durchzogen– besonders in letzter Zeit.

»Ich will, dass du das tust, Poe«, sagte er, »und ich will nicht, dass du es versaust. Jericho ist ein guter Freund, mein bester Freund, und er ist gewillt, dir eine Chance zu geben, um etwas aus dir zu machen. Vielleicht einmal in deinem Leben etwas Konstruktives zu tun.« Landon machte eine Geste, die den Raum umfasste. »Sofern das hier nicht dein Plan ist – weiter Wände zu bemalen, Skateboard zu fahren und dich festnehmen zu lassen?«

»Na ja, doch, das war schon irgendwie mein Plan, abgesehen von dem Teil mit der Festnahme.«

Landon warf mir einen ausdruckslosen, wenig beeindruckten Blick zu. »Wenn das der Fall ist, wird es Zeit, dass du deine Prioritäten überdenkst. Ich hab es satt, Anrufe von der Polizeiwache zu bekommen. Und als ich das letzte Mal nachgesehen habe, hast du mir mehrere hundert Dollar geschuldet. Ich habe von diesem Geld noch keinen Cent gesehen. Du bist nicht in der Position, wählerisch zu sein.«

Damit hatte er mich. In Teilzeit an der Kasse zu arbeiten, war nicht gerade der lukrativste Job. Zumindest wäre ein Tattoostudio cooler als eine Tankstelle und es würde mir die idiotischen Kunden ersparen, die dummes Zeug taten, wie zum Beispiel von der Zapfsäule wegzufahren, wenn der Zapfhahn noch in ihrem Tank steckte.

»Okay«, sagte ich. »Sag ihm, dass ich es mache.«

»Ich sage ihm gar nichts. Du wirst morgen Nachmittag dorthin gehen und es ihm selbst sagen. Und vielleicht noch ein Dankeschön hinzufügen, wenn du schon dabei bist.«

»Na schön.« Ich rang mir die Worte ab und Landon brummte als Antwort.

Er drehte sich zur Tür. »Ich bestelle Pizza, wenn du Interesse hast.«

»Peperoni und Speck?«

»Klar.«

»Danke. Rufst du mich, wenn sie da ist?«

»Jepp.«

Als Landon die Treppe hinaufstapfte, ließ ich mich wieder auf den Futon sinken. Tja, das war unerwartet. Jericho konnte seine Ausbildung behalten, aber im Ernst, konnte ich mich darüber beschweren, dass mir einfach so ein Job in den Schoß fiel, ohne ein Quäntchen Anstrengungen von meiner Seite aus? Es gab nur wenige Dinge, die ich mehr hasste als Bewerbungen und Vorstellungsgespräche.

Mein Handy vibrierte und ich nahm mir einen Moment Zeit, um Blue eine schnelle Antwort zu schicken, in der ich ihn wissen ließ, dass ich mich nach dem Abendessen mit ihm treffen würde. Ich war niemand, der sich eine Gratismahlzeit entgehen ließ.

Nachdem ich mein Buch aus seinem Versteck gezogen hatte, blätterte ich zurück zu der Seite, an der ich gearbeitet hatte. Es war eine Konzeptskizze für eine Zusammenarbeit, die Blue und ich gemeinsam malen würden. Heute Abend würden wir uns ein paar Güterzügen widmen, aber das… Das hier war etwas Besonderes, ein Wandgemälde in luftiger Höhe, das unseren Namen – Raven und Azure – endlich echte Anerkennung verschaffen würde. Wenn wir es denn hinbekamen. Die Stelle befand sich auf einem Dach, es war schwierig und gefährlich, sie zu erreichen, aber wenn wir groß werden wollten, mussten wir eben Risiken eingehen.

Ich berührte den Schriftzug, den ich gezeichnet hatte und der mithilfe einer Schablone in Schwarz-Weiß gesprüht werden würde, womit er das Zentrum eines Sammelsuriums an Formen und Farben bilden würde.

No guts, no glory.

 

Am nächsten Nachmittag, einem schwülen Tag Mitte August, schlenderte ich ein paar Minuten nach zwölf in Jerichos Laden, das Permanent Ink. Ein Mädchen, das aussah wie ein Pin-up-Model aus den Vierzigern, lehnte am Tresen und feilte sich die Nägel. Sie trug ein schwarzes Kleid, das über und über mit Kirschen bedeckt war, und ihr leuchtend rotes Haar konkurrierte mit der Farbe ihres perfekt aufgetragenen Lippenstifts. Sie blickte völlig desinteressiert zu mir hoch und bearbeitete ihren Daumennagel weiter mit etwas, das wie eine Glasfeile aussah. »Kann ich dir helfen?«

»Uh, ja, ich bin auf der Suche nach Jericho. Landon hat mir gesagt, dass ich vorbeikommen und ihn nach dem Job am Empfang fragen soll.«

Sie deutete mit einer Kopfbewegung zum hinteren Teil des Ladens. »Er macht gerade Kaffee.«

Ich interpretierte das als Erlaubnis, mich selbst zu ihm zu bringen, und passierte mehrere geschlossene Türen und dunkle Räume auf dem Weg durch den Flur. Einer davon schien der Bereich des Pin-up-Girls zu sein; die Wände waren mit Bildern von ihr und einem Haufen Leute, die sich so anzogen wie sie, bedeckt. Ich nahm an, dass die restlichen Zimmer Tattooräume waren, aber in allen bis auf einen brannte kein Licht. Innen war der Laden deutlich größer, als ich es erwartet hatte.

Als ich Jericho in einem Zimmer fand, das offenbar der Pausenraum war – die allerletzte offene Tür vor dem Notausgang –, war er gerade dabei, eine Kanne mit Wasser aus dem Hahn zu füllen. Ich klopfte mit meinen Knöcheln an den Türrahmen und er blickte über seine Schulter.

»Hey«, sagte ich.

Er nickte mir zu und wandte sich wieder seiner Aufgabe zu. »Selber hey.«

Ich trat in den Raum, schob meine Hände in die Taschen meines Hoodies und betrachtete anerkennend, wie Jerichos dünnes schwarzes T-Shirt sich an die wohldefinierten Muskeln seiner Schultern schmiegte. In den Jahren, seit er und Landon befreundet waren, waren wir uns bisher nur ein paarmal begegnet, aber ich hatte Jericho schon immer für verdammt heiß gehalten. Bestimmt machte er Krafttraining. Sein Bizeps war unter all der Tinte klar definiert und wenn man von seinem Hintern und seinen Oberschenkeln ausging, war dies kein Mann, der sich im Fitnessstudio vor dem Bein-Work-out drückte.

Fuck, ich sollte nicht hinsehen.

»Ähm.« Ich riss meinen Blick von seinem Hintern los und saugte meine Unterlippe in meinen Mund, wobei ich kurz den Edelstahlring mit den Zähnen festhielt, der sie durchstach. »Mein Dad hat mir gesagt, dass ich herkommen und mit dir reden soll. Hat auch gesagt, dass du jemanden brauchst, der am Empfang arbeitet.«

»Das stimmt.« Jericho füllte das Wasser in die Kaffeemaschine und schob die Kanne an ihren Platz, bevor er den Einschaltknopf drückte. Mit vor der Brust verschränkten Armen drehte er sich zu mir. »Hast du Interesse daran?«

Ich hob eine Schulter. »Ich bin hier, oder?«

Jerichos dunkle Augenbrauen zogen sich über seinen haselnussbraunen Augen zusammen. Trotz seines jugendlichen Gesichts durchzog Silber einen großen Teil seines kurzen Barts und Haares, die kurz geschorenen Seiten zeigten mehr grau als schwarz. Irgendwie machte ihn das noch anziehender, anstatt ihn älter aussehen zu lassen. Ich wusste, dass er nicht viel älter als vierzig sein konnte – definitiv jünger als Landon – und ich liebte es, dass ihm das Grau ganz eindeutig absolut egal war. Er war absolut natürlich, versuchte nicht, es mit einer dieser peinlichen Haarfarben für Männer zu verstecken. »Wenn du so mit deinen potenziellen Arbeitgebern sprichst, überrascht es mich, dass die Tankstelle dich eingestellt hat.«

Ich setzte zu einer Antwort an, aber Jericho hielt eine tätowierte Hand hoch.

»Hör zu, so wird das hier laufen«, sagte er. »Wenn du pünktlich herkommst und deine Arbeit machst, wirst du bezahlt. Wenn du deine Arbeit gut machst, können wir über eine Lehrstelle sprechen, sobald ich einen passenden Ersatz gefunden habe.«

Ich versuchte, gegen die Sache mit der Lehrstelle zu protestieren, aber er redete einfach weiter.

»Klau nichts. Sei nicht unfreundlich zu meinen Kunden. Und glaub nicht, dass ich dich nicht rauswerfe, sobald du aus der Reihe tanzt.« Jericho unterstrich seine Worte mit einem harten Blick. »Ich gebe dir eine Chance, weil ich deinen Vater mag und weil jemand mir geholfen hat, als ich mir die größte Mühe gegeben habe, mein Leben zu ruinieren. Ich würde das gerne weitergeben, aber ich werde keinen Scheiß tolerieren. Verstanden?«

Ich hob das Kinn. »Ja, ich hab verstanden.«

»Gut.« Jericho nahm eine Tasse aus dem Abtropfgestell in der Spüle. »Du kannst heute anfangen, wenn du willst. Du arbeitest von zwölf Uhr mittags bis um acht am Empfang, am Mittwoch, Donnerstag und Sonntag. Freitag und Samstag von vier bis Mitternacht. Wir haben drei Tätowierer – mich, Pete und Zeek –, aber wir arbeiten nicht alle zur gleichen Zeit und Zeek pendelt zwischen hier und Chicago. Roxanne ist unsere Piercerin und sie arbeitet auch am Empfang, wenn unser Empfangsmitarbeiter nicht da ist. Sie zeigt dir, wie alles funktioniert. Aber denk daran, dass Kunden nur persönlich Termine buchen können. Ach ja, und normalerweise bieten wir von zwölf bis um eins Beratungen an, wenn also jemand fragt, dann sag, dass das die beste Zeit ist, um reinzukommen.«

»Okay.«

»Roxanne hast du vermutlich auf deinem Weg rein schon getroffen. Geh zu ihr und sie hilft dir mit dem Papierkram wegen deiner Anstellung.« Jericho wandte sich der Kaffeemaschine zu und entließ mich damit deutlich.

Das war es also. Offenbar redete Jericho – genau wie mein Vater – so, wie ihm der Schnabel gewachsen war.

Ich machte mich auf die Suche nach Roxanne.