Inhalt



Stefan Burban

Chronik der Falkenlegion

Aus der Asche

Das Titelbild fehlt!

 

Atlantis



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
Januar 2020

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin


Titelbild: Mark Freier
Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski


ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-696-6
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-709-3

Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich.

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Prolog
Ein Leben in Angst

Es hämmerte an der Tür.

Isabell erhob sich eilig und warf sich noch im Gehen einen Mantel über, um ihre Blöße zu verdecken. Die Tür zum Kinderzimmer öffnete sich einen Spaltbreit und die Zwillinge Katherine und Elena lugten schüchtern heraus. Die beiden rieben sich schlaftrunken die Augen.

»Zurück ins Bett mit euch!«, wies sie ihre Kinder an.

»Aber Mama …«, protestierte Katherine.

»Keine Widerrede!«

Die Kinder verschwanden eilig. Isabell blieb kurz stehen, bis sie das Rascheln der Bettdecke vernahm. Es hämmerte erneut.

»Isabell!«, schrie jemand von draußen. »Isabell, mach auf!«

Die Ortsvorsteherin schritt mit nackten Füßen zur Tür und öffnete sie. Es regnete in Strömen. Vor ihr stand Videl Laroth, der Befehlshaber – wie er sich selbst nannte – der freiwilligen Bürgerwehr. Der Mann hatte die zwanzig Lenze selbst noch nicht überschritten und befehligte kaum jemanden über achtzehn. Mann war eigentlich schon zu viel gesagt. In Isabells Augen handelte es sich um ein halbes Kind. Sie erinnerte sich an den Jungen aus früheren Jahren, wie dieser in den Gassen des Dorfes gespielt und die Bewohner mit schelmischen Streichen geärgert hatte.

Dieses Bild war nur schwer in Einklang zu bringen mit dem durchnässten, frierenden Mann, der vor ihr stand und ungeschickt den zerschlissenen Schwertgriff befingerte. Die Klinge steckte in einer ebenso abgewetzten Scheide an seiner Hüfte. Sie stammte noch von Videls Vater und Isabell wusste, dass die Klinge schartig war vom vielen Gebrauch und auch nicht sachgemäß gepflegt wurde.

Die Jahrzehnte von Cedrics Schreckensherrschaft mit seinen endlosen Kriegen, gefolgt von dem kurzen, aber blutigen Krieg gegen die Dämonen, hatten Hasterian und dem halben Kontinent Iraka eine Generation von Männern geraubt. Sie alle lagen nun verscharrt in unzähligen Gräbern auf Dutzenden von Schlachtfeldern. Und das nur, falls man überhaupt noch genügend Überreste der armen Kerle hatte finden können. Der Krieg war inzwischen fast vier Jahre vorbei, aber das Königreich war noch weit davon entfernt, sich wieder zu erholen.

Der Junge vor ihr schluckte beim Anblick der leicht gekleideten Isabell, wie sie vor ihm stand und nur einen Mantel am Leib trug. Sein Blick war ihr unangenehm. Verlegen zog sie das Kleidungsstück enger um den eigenen Körper. Sie hakte ihren linken Fuß hinter die rechte Wade, um ihm auch noch den Blick auf ihre halb nackten Beine zu verwehren. Der Wind blies mächtig durch die geöffnete Tür und machte es ihr schwer, den Mantel an Ort und Stelle zu halten.

»Was gibt es denn, Videl? Warum hämmerst du zu so später Stunde an meine Tür?«

Der Junge sah auf. Dicke Regentropfen perlten von seiner Stirn und liefen ihm über das Gesicht. »Komm schnell. Es geht schon wieder los.«

Isabell schluckte. Mehr musste Videl gar nicht sagen. Sie wusste leider nur zu gut, wovon er sprach. »Einen Moment«, bat sie.

Sie schloss die Tür und warf sich schnell das Nötigste an Kleidern über, bevor sie ein weiteres Mal den Mantel um ihren Körper zog. Sie öffnete erneut die Tür.

»Führ mich hin«, forderte sie ihn auf.

Videl nickte und eilte davon. Obwohl er jünger und größer war, hatte sie keine Probleme, mit dem Anführer der Bürgerwehr mitzuhalten. Bereits nach wenigen Metern blieb Videl wie angewurzelt stehen. Isabell wollte ihn ungeduldig anfahren, was die Verzögerung zu bedeuten hatte. Die Worte blieben ihr jedoch im Hals stecken.

Aus der Gasse voraus wälzte sich eine weiße Nebelwand, so dick wie Erbsensuppe. Einmal dort drinnen, würde man seine eigene Hand nicht mehr vor Augen sehen. Das war aber nicht das eigentlich Gefährliche an diesem Nebel. Schreie drangen daraus hervor: Laute der Angst und des puren Terrors, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließen.

Isabell wusste, die meisten Menschen innerhalb dieses Nebels würden den Vorfall überstehen, einige wenige nicht. Aber wer auch immer dieses Teufelswerk überlebte, würde sich wünschen, es wäre anders. Nach diesem Phänomen gab es immer eine ganze Reihe von Selbstmorden. Sie wünschte sich, sie wäre in der Lage gewesen, den armen Seelen dort drinnen zu helfen. Nichtsdestoweniger wusste sie, es gab nichts, was sie für diese Menschen tun konnte.

»Wir nehmen besser einen anderen Weg«, meinte sie zu Videl. Dieser nickte lediglich mit großen Augen. Der Anblick dieses lebendig gewordenen Schreckens hatte in ihm jede Möglichkeit, sich auszudrücken, versiegen lassen.

Videl drehte sich auf dem Absatz um und führte Isabell durch ein Gewirr verwinkelter Gassen. Mehrmals mussten sie die Richtung ändern, da der gespensterhafte Nebel ihnen den Weg abschnitt.

Endlich erreichten sie ihr Ziel. Es handelte sich um ein Gebäude in den Außenbezirken des Dorfes. Eine ansehnliche Menschenmenge hatte sich bereits versammelt. Weder die tiefschwarze Nacht noch die Angst vor dem Nebel hatte vermocht, die Menschen in den eigenen vier Wänden zu halten.

Die Soldaten der Bürgerwehr standen im Halbkreis um die Eingangstür und hielten die Menge zurück. Die Menschen tuschelten aufgeregt miteinander und warfen dem Haus immer wieder ängstliche Blicke zu.

Als Videl mit Isabell im Schlepptau auf der Bildfläche erschien, wirkten die Soldaten mit einem Mal erleichtert, dass nun jemand vor Ort weilte, der die Autorität besaß, Entscheidungen zu treffen.

Die Soldaten machten Videl und Isabell bereitwillig Platz. Die Ortsvorsteherin trat einen unsicheren Schritt vor. Das Haus gehörte dem Tischlermeister Kornwalt und dessen Familie. Der Mann hatte eine Frau und zwei Söhne im Alter von dreizehn und neunzehn.

Isabell schluckte. Die Fenster des Hauses waren von innen mit Blut beschmiert. Etwas Furchtbares war hier geschehen. Ihre Beine zitterten. Sie zwang sich dennoch weiterzugehen. Isabell schuldete es den ihr anvertrauten Bürgern. Videl begleitete sie bis zur geöffneten Tür. Dort blieb er stehen. Sie bemerkte, wie er nicht weniger zitterte als sie selbst. Isabell wusste nicht zu sagen, ob er vor Kälte schlotterte – oder vor Angst. Diese Frage konnte sie lediglich für sich selbst beantworten.

Isabell stieß leicht die Tür an. Sie schwang ohne Widerstand auf. Die Ortsvorsteherin betrat auf unsicheren Füßen das Haus. Ihre Knie fühlten sich seltsam weich an.

Bereits vor dem Haus war ihr der metallische Geruch von Blut aufgefallen. Der Gestank war hier drin geradezu überwältigend. Es stank nicht nur nach Blut, sondern auch nach Tod – und zu ihrer Verblüffung nach Verwesung, obwohl die Familie erst seit wenigen Stunden tot war.

Die erste Leiche fand sie an der Kochstelle: Kornwalts Ehefrau. Sie hatte das Abendessen zubereitet, als der Angriff sie überrumpelt haben musste. Etwas hatte ihr mit solcher Gewalt den Schädel zertrümmert, dass das Gehirn geplatzt war und nun Boden und Wände bedeckte.

Am Eingang zum Nebenraum fand sie Kornwalt selbst. Der Tischlermeister hatte seiner Frau zu Hilfe kommen wollen. In seiner Hand befand sich noch die Handaxt. Sie hatte ihm nichts genutzt. Etwas hatte ihm den Bauch aufgeschlitzt. Was immer das war, hatte keine Waffe benutzt. Es war auch keine nötig gewesen. Die Spuren riesiger Krallen waren gut sichtbar. Die Schneide der Axt war unbefleckt. Kornwalt hatte nicht einen einzigen Treffer anbringen können. Der Tischlermeister war zwar nicht groß gewesen, aber dafür muskulös. Was immer ihn derart mühelos hatte überwältigen können, musste sehr stark gewesen sein.

Hinter Kornwalt fand er dessen jüngeren Sohn. Der Junge war ähnlich zugerichtet wie sein Vater. Er war gestorben, als er diesem hatte beistehen wollen.

Das eigentliche Grauen fand sie im Schlafzimmer des älteren Sohnes vor: Fabian. Er war an der Wand seines eigenen Zimmers gekreuzigt worden. Sein Kopf lag auf seiner Brust, das Gesicht war noch immer unversehrt. Wenn man von der Leichenblässe absah, hätte Fabian genauso gut schlafen können.

Isabells Blick wanderte tiefer. Der Bauch des Jungen war aufgeschlitzt. Seine Gedärme hingen bis auf den Boden hinunter. Blut tropfte in seltsam unstetem Rhythmus auf die Holzdielen. Als wäre das nicht schlimm genug, hatte ihn der unbekannte Angreifer entmannt und die Genitalien achtlos in die Ecke geworfen. Sie hoffte, der Junge war frühzeitig gestorben. Es wäre zu grausam gewesen, wäre er während der ganzen Prozedur am Leben und bei Bewusstsein gewesen.

Übelkeit überkam sie. Sie würgte. In Panik drehte sie sich um und rannte aus dem Haus, so schnell ihre Beine sie trugen. Sie lehnte sich mit einer Hand an die Hauswand und übergab sich lautstark. Das allgegenwärtige Tuscheln der Menge wurde lauter, unheilvoller.

Aus der anonymen Menge erhob sich eine anprangernde Stimme. »Bereut, Brüder und Schwestern. Bereut! Erhebt eure Herzen zur Göttin des Lichts. Nur Ariadne kann euch erretten. Nur sie kann Erlösung bringen.«

Isabell sah auf. Die Menschen sanken auf die Knie und begannen mit gesenktem Kopf zu beten. Ein Mann in einer brauen Kutte schritt mit weit ausgreifenden Schritten und erhobenen Händen durch ihre Reihen.

Isabell erhob sich aus ihrer unwürdigen, gebückten Haltung und gab Videl ein Zeichen. Dieser nickte zweien seiner Männer zu. Die Soldaten zögerten, hinderten den Priester dann aber am Weitergehen. Der Priester lächelte selig, als würde er freiwillig stehen bleiben und nicht von Soldaten der Bürgerwehr daran gehindert.

»Bereut!«, wiederholte er. »Unsere Gemeinschaft wird gestraft für begangene Sünden. Bereut!«

»Bei allem Respekt, Bruder Eustu«, sprach Isabell den Ariadne-Priester an. »Aber das Wesen, das dieses Blutbad angerichtet hat, ist aus Fleisch und Blut. Es tötet, es ist real, also kann es ebenso getötet werden.«

»Wären wir frei von Sünden, hätte Ariadne dieses Wesen nicht gesandt. Sich der Kirche zuzuwenden, ist die einzige Hoffnung auf Rettung.«

Isabell schnaubte, enthielt sich jedoch jeden Kommentars. Sie wischte sich müde über den Mund. Videl reichte ihr einen feuchten Lappen, mit dem sie erst die Reste des Erbrochenen vom Mund entfernte und anschließend ihre Hände säuberte.

»Und wenn er recht hat?«, fragte er. »Wenn wir für unsere Sünden bestraft werden?«

»Niemand ist frei von Sünde«, erwiderte Isabell. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ariadne ihre Anhänger neuerdings mit unheimlichem Nebel und finsteren Kreaturen geißelt. Und im Übrigen glaube ich, dass sie weit Wichtigeres zu tun hat.« Die Ortsvorsteherin schüttelte den Kopf. »Nein, hier geht etwas anderes vor. Etwas Finsteres.«

»Was schlägst du also vor?«

Isabell überlegte kurz und hob schließlich den Kopf. »Ein Leben in Angst ist kein Leben. Das alles muss enden, und zwar so schnell wie möglich. Ich schicke eine Nachricht an den König und bitte ihn um Hilfe. Falls er nichts für uns tun kann, dann kann das niemand.«

Kapitel 1
Der Chronist

Lorash Givan war guter Dinge. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, sein Bauch war gefüllt und der Wagen, auf dessen Ladefläche er mitreiste, rumpelte sanft über die Straße. Mit anderen Worten, er hatte bereits durchaus schlechtere Tage erlebt.

»Da vorne ist es«, rief der Bauer, der ihn mitgenommen hatte, nach hinten.

Lorash drehte sich um. Am Horizont kam endlich die gewaltige Stadt Aredus-Celat in Sicht, das größte Bollwerk des Herzogtums und der ganze Stolz Oden-Hasars.

»Vielen Dank, guter Mann«, erwiderte Lorash und sprang schwungvoll vom Fuhrwerk. »Von hier aus gehe ich zu Fuß.«

Der Bauer runzelte die Stirn und brachte die beiden vor seinen Wagen gespannten Maulesel mit einem groben Ruck der Zügel zum Stehen. »Bist du sicher? Ich fahre bis in die Stadt.« Er grinste und zeigte dabei mehrere schwarze Zahnlücken. »Heute ist Markttag.« Er deutete auf die Rüben, die er geladen hatte. »Es macht mir nichts aus, dich den ganzen Weg mitzunehmen.«

»Nochmals vielen Dank«, wehrte Lorash ab, »aber ich ziehe es vor, den Rest des Weges auf meinen eigenen Beinen zurückzulegen. Wenn man nur fährt, entgehen einem die besten Geschichten.«

Der Bauer zuckte ratlos die Achseln, angesichts dieser rätselhaften Antwort, drehte sich um und gab seinen Tieren mit der Peitsche zu verstehen, sie sollten sich gefälligst wieder in Bewegung setzen.

Lorash sah dem Bauer eine Weile hinterher. Er konnte Rüben nicht ausstehen. Allein bei der Vorstellung, weitere Zeit auf diesem Wagen zu verbringen, drehte sich ihm der Magen um.

Lorash zupfte sich ein imaginäres Staubkorn vom Hemd und schmunzelte. »Wie sagte meine selige Mutter so schön?«, murmelte er vor sich hin. »Besser schlecht gefahren als gut gelaufen.« Er setzte sich langsam in Bewegung. »Allerdings musste sie nie auf einem Wagen voller Rüben mitfahren.«

Lorash sah sich neugierig um. Er war nicht der Einzige, der die Hauptstadt von Oden-Hasar erreichen wollte. Die Straßen waren voller Menschen, die auf die geöffneten Tore zuhielten. Der Bauer hatte recht. Es war Markttag, und allerhand Landwirte und Händler zog es in die größte Stadt des Herzogtums, um ihre Waren feilzubieten. Dabei war die Kleidung so vielfältig wie die Menschen.

Lorash erkannte anhand ihrer Aufmachung sogar Menschen aus den fernen Sarith und Tellenor. Seit Kriegsende durften sie es wieder wagen, sich in anderen Herzogtümern zu zeigen. Langsam zwar, doch sie wurden erneut geduldet.

Während des Bürgerkrieges hatten sie die Seite Cedrics gewählt und die Anhänger König Adrians hatten schwer unter den Soldaten des Thronräubers leiden müssen. In Dorisan waren die Menschen aus Elen-Sanar und Tellenor immer noch nicht gern gesehen. Deren Herrscher hatten Dorisan besetzt und die Bevölkerung in furchtbarer Weise unterdrückt.

Derartige Wunden benötigten Zeit, um zu heilen; sie würden wohl noch lange schwären. Mit jedem Schritt ragten das große Tor und der äußere Wall von Aredus-Celat mächtiger vor ihm auf. Lorash blieb stehen und nahm sich einen Augenblick Zeit, das gewaltige Bauwerk in Augenschein zu nehmen. Die Bresche in der Mauer und die zerstörten Türme waren immer noch nicht zur Gänze wieder instand gesetzt. Das würde auch noch eine ganze Weile dauern. Gerüste waren aufgestellt worden, auf denen sich Baumeister und Steinmetze aus ganz Hasterian tummelten.

»Bleib mir ja vom Leib!«

Der aufgeregte Ruf erregte Lorashs Aufmerksamkeit. Eine Frau schubste einen jungen Mann. Dieser lächelte lediglich angesichts der unsanften Behandlung. Ein Mann kam hinzu, gut zwei Meter groß und in etwa ebenso breit. Der Neuankömmling sah auf sein Gegenüber hinab.

»Hast du meiner Frau an den Arsch gegrapscht?« Seine Stimme nahm einen drohenden Tonfall an.

Der Kleinere von beiden hob abwehrend die Hände. »Das würde mir im Traum nicht einfallen. Es grenzt schon an ein Sakrileg, eine solche Schönheit mit meinen grobschlächtigen Händen zu berühren.«

Lorash schmunzelte. Der Mann machte sich offenbar über den Ehemann lustig. Dieser schien nicht unbedingt eine geistige Größe zu sein, denn er dachte tatsächlich ausgiebig über das Gesagte nach. Er war sich anscheinend nicht schlüssig, ob er die Worte für bare Münze nehmen sollte.

Die Szene hatte die Aufmerksamkeit einiger Neugieriger erregt. Sie kicherten und tuschelten aufgeregt angesichts dessen, was sie als angenehme Ablenkung empfanden. Dies nahm der Kleinere zum Anlass, sich Fuß für Fuß nach hinten möglichst unbeschadet vom Ort des Geschehens zu entfernen.

Dem Ehemann ging wohl dieselbe Erkenntnis durch den Kopf, denn er machte einen Schritt vorwärts, holte mit seiner Pranke einmal aus und versetzte dem frechen, kleinen Kerl einen wuchtigen Fauststoß ins Gesicht. Dessen Kopf wurde in den Nacken gerissen und er landete prompt auf dem Hosenboden.

Dabei verrutschte versehentlich die Hose des Ehemanns und seine Geldbörse lugte etwas hervor. Lorash zog die linke Augenbraue hoch. Der Ehemann stand immer noch drohend über dessen Kontrahenten. Lorash schlenderte wie zufällig an den beiden vorbei und seine flinken Finger griffen sich die Börse, ohne dass jemand etwas bemerkte. Der Ehemann war ohnehin zu sehr auf den Mann am Boden konzentriert, als dass dieser etwas mitbekommen konnte.

Lorash klopfte dem Ehemann auf die Schulter. Dieser wandte sich mit hochrot angelaufenem Kopf um und betrachtete den Störenfried, der es wagte, ihn in seinem gerechten Wutanfall zu unterbrechen, von oben herab.

Lorash hielt diesem dessen Geldbörse immer noch mit freundlichem Lächeln unter die Nase. Die Augen des Mannes wurden groß.

»Werter Herr, ist das zufällig Eure Börse? Sie lag zu Euren Füßen. Ich wollte Euch darauf aufmerksam machen, bevor irgendein Strolch sie entwendet.«

Der Mann griff sich die Börse, öffnete sie und zählte schnell die darin enthaltenen Münzen durch. Offensichtlich zufrieden, hängte er sie sich erneut an den Gürtel.

»Danke«, nuschelte er kaum hörbar und wandte sich wieder zum Ziel seines Zorns um. Der Kleinere hingegen war verschwunden.

»Wie wäre es mit einem Finderlohn?«, wollte Lorash süffisant wissen. Der Mann wandte sich ihm erneut zu.

»Finderlohn?«, schrie er. »Finderlohn? Dieser dreiste Mistkerl ist dank dir abgehauen. Sieh zu, dass du Land gewinnst, bevor ich dir den Schädel einschlage! Wenn du hier mit heiler Haut davonkommst, ist das Finderlohn genug.« Der Mann packte seine Frau und zerrte sie am Handgelenk davon. Er grummelte dabei immer wieder unhörbare Worte vor sich her.

Lorash verzog missmutig das Gesicht und angelte sich im Vorbeigehen die Börse des wütenden Mannes erneut von dessen Gürtel. Er lächelte und wog den Beutel in der Hand. »Strafe muss sein«, kicherte er. Nun, da das Schauspiel vorbei war, löste sich die Menge zusehends auf.

»Danke«, sprach ihn unvermittelt eine heiter klingende Stimme an. Lorash drehte sich um. Hinter ihm stand der Ausgangspunkt all des Ärgers und grinste über das ganze Gesicht. »Ohne deine Ablenkung hätte ich nicht gewusst, wie ich da wieder rauskomme.«

»Gern geschehen.« Lorash neigte den Kopf leicht zur Seite. »Hast du der Frau wirklich an den Arsch gefasst?«

Der Mann lachte. »Heute? Nein. Vergangene Nacht? Ja. Sehr oft und sehr gern. Und ich hatte durchaus den Eindruck, dass es ihr gefiel. Es war ihr peinlich, mich heute in der Menschenmenge zu sehen, und dann auch noch, während ihr Mann bei ihr war. Also dachte sie wohl, Angriff ist die beste Verteidigung.«

»Reichlich unhöflich«, kommentierte Lorash.

Der Mann zuckte die Achseln. »Ich nehme es ihr nicht übel. Ich hatte meinen Spaß. Das genügt mir.« Er betrachtete Lorash von oben bis unten. »Du willst auch nach Aredus-Celat.«

Lorash warf einen Blick in Richtung der sperrangelweit offen stehenden Tore. »Scharf kombiniert«, erwiderte er mit schiefem Grinsen.

Der Mann verzog leicht die Miene. »Hast ja recht. Dumme Frage. Was willst du in der großen Stadt? Du bist offensichtlich nicht von hier.«

Lorash reckte stolz den Kopf. »Ich will mich der Falkenlegion anschließen. Ich hörte, es finden demnächst wieder Auswahlkämpfe statt.«

Der Mann hob eine Augenbraue. »Deswegen bin ich auch hier.« Er betrachtete Lorash von oben bis unten. »Nimm es mir nicht übel, aber du bist kein Kämpfer, oder?«

Lorash schüttelte den Kopf. »Ich bin Chronist.«

Die zweite Augenbraue wanderte nach oben. »Und was soll die Falkenlegion mit einem Chronisten anfangen?«

»Jede gute Soldatentruppe braucht auch einen Chronisten. Am Dämonenberg war keiner zugegen. Es gab niemanden, der die Geschichte aufschrieb.«

Der Mann schüttelte leicht den Kopf. »Außer Zehntausende von Soldaten.«

»Lass es mich anders formulieren: Es gab niemanden, der die Geschichte auf die richtige Weise aufschrieb. Das will ich ab jetzt übernehmen. Ich will die Abenteuer der Falkenlegion für die Nachwelt festhalten, damit auch noch in Generationen ihre Heldentaten inspirieren.«

»Und du glaubst, die Falkenlegion hat Interesse daran?« Der Mann wirkte nicht überzeugt.

»Ich werde sie schon dazu bringen. Mein Name ist übrigens Lorash. Lorash Givan.«

»Oldtor Ghain«, erwiderte der Mann. »Kannst du mit dem Speer umgehen?«

Lorash schüttelte den Kopf.

»Mit dem Schwert, dem Bogen, der Axt?«

Lorash musste abermals verneinen.

Oldtor seufzte. »Du weißt aber schon, dass die Falkenlegion hauptsächlich das Zweihandschwert einsetzt. Dafür benötigt man die nötige Konstitution.«

Lorash räusperte sich. »Das wird sich schon alles regeln lassen«, meinte er. Doch insgeheim überkamen ihm bei den Ausführungen des Mannes Zweifel. Er musterte Oldtor verstohlen. Der Mann war fast zwei Köpfe größer als er selbst, schlank, aber mit breiten Schultern. Man konnte ihn sich durchaus im verzierten Brustpanzer der Legion vorstellen.

»Und du willst dich immer noch bei der Legion melden?«

Lorash nickte enthusiastisch.

Oldtor lachte und klopfte ihm auf die Schulter. »Eines muss ich dir lassen: Du hast Mumm. Keine Frage.« Mit einem Nicken deutete er auf die geöffneten Stadttore. »Lass es uns gemeinsam versuchen. Und falls sie dich tatsächlich nehmen, mach dir keine Sorgen. Ich pass auf dich auf.«

»Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst.« Das war nicht ganz richtig, wie Lorash sehr wohl selbst wusste. Er wollte aber durch Entschlossenheit beeindrucken.

Dem Blick zufolge, den Oldtor ihm zuwarf, glaubte dieser ihm kein Wort. Der Mann schmunzelte. »Du hast nicht zufällig vor, mir etwas von der Börse abzugeben, die du dem Kerl abgenommen hast.«

»Welche Börse?«, antwortete Lorash verschmitzt.

# # #

Gara Khan schlenderte an der Spitze mehrerer Falkenlegionäre langsam durch die dicht gedrängten Massen in den Straßen von Aredus-Celat. Das Abzeichen des Hauptmanns auf seiner Brust glänzte und fühlte sich noch irgendwie falsch an. Er hoffte, dass er in die Verantwortung irgendwann hineinwachsen würde. Nach der Schlacht von Varidjana waren die Reihen der Legion extrem ausgedünnt gewesen. Viele von denen, die überlebt hatten, waren eine Rangstufe nach oben gefallen. Aus Gara Khan dem Leutnant war Gara Khan der Hauptmann geworden. Botelman Dori war inzwischen Feldhauptmann und die Blutrote Faust war von einer Kompanie zu einem Bataillon aufgestockt geworden. Diese Ehrung wurde mit dem ungeheuren Mut der Kompanie während der Schlacht gegen Agranon und dessen Dämonen begründet.

Gara schnaubte leicht. Im Volksmund nannte man die Schlacht inzwischen die Schlacht am Dämonenberg. In seinen Augen war dies lächerlich. Man sollte einer solchen Auseinandersetzung keinen derart hochtrabenden Namen geben. Es stilisierte den Kampf zu etwas Mystischem hoch. Die Soldaten, die dabei gewesen waren, wussten es besser. Sie kannten die Realität, die hinter dem Mythos verborgen lag.

Ein Kampf bis aufs Blut. Leichenberge hatten sich gestapelt und der Boden war aufgeweicht worden von Tausenden Litern Blut, vergossen von beiden Seiten. Gara schüttelte den Kopf. Er würde die Bezeichnung Schlacht am Dämonenberg nie benutzen.

Wenn er des Nachts mit seinen Kameraden die Tavernen und Bordelle des Vergnügungsviertels aufsuchte, hörte er immer wieder von Maulhelden, wie sehr sie es bedauerten, nicht dabei gewesen zu sein. Würden die Menschen wissen, wie knapp es gewesen war, würden sich die meisten von ihnen vermutlich einscheißen.

Gara lächelte. Es hatte durchaus auch seine Vorteile, als Kriegsheld zu gelten. Selbst einige der Dirnen machten es umsonst, wenn ein Soldat im glänzenden Brustpanzer der Falkenlegion auf der Bildfläche erschien – aus purer Dankbarkeit, sie gerettet zu haben. Manchmal überkam ihn der Eindruck, es gab Dirnen, die gar nicht schnell genug die Beine breitmachen konnten für einen Helden von Varidjana.

Gara blieb schlagartig stehen. Sein Blick wanderte in die Höhe. In der Nähe der Stadtmauern rankten sich mehrere Rauchsäulen in die Höhe. Er verzog vor Ekel und Zorn das Gesicht. Seine Männer wechselten verhaltene Blicke. Ihre Mimik spiegelten dieselben Gefühle wider.

Gara Khan wusste, er hätte sich um sich selbst sorgen sollen. Er hätte einfach seines Weges gehen und die Sache ignorieren sollen. Doch so war er nicht. Das war einfach nicht seine Art. Es würde auch nie seine Art sein. Fast gegen seinen Willen setzte er sich erneut in Bewegung und marschierte schnurstracks auf die Rauchsäulen zu. Seine Männer folgten ihm. Insgeheim lockerten sie ihr Schwert in der Scheide.

# # #

Lorash und Oldtor meldeten sich bei der Wache am Stadttor von Oden-Hasar an und gaben sich als Anwärter auf einen Platz bei der Legion zu erkennen. Lorash erntete einen Blick des Wächters, in dem sich Unglauben und Mitgefühl vermischten. Der Mann glaubte nicht recht daran, dass der Chronist die Ausscheidungskämpfe überstehen, geschweige denn einen Platz bei den Falken Oden-Hasars ergattern würde. Trotzdem bekamen beide die Anmeldungsmünze. Mit ihrer Hilfe erhielten sie Zutritt zu den Kasernen der Falkenlegion.

Die beiden Freunde schlenderten gut gelaunt die Hauptstraße entlang, als der Chronist schlagartig stehen blieb. Lorash rümpfte die Nase. Beißender Qualm stieg ihm in die Nase. Er vermischte sich mit süßlichem Gestank.

»Was zur Hölle ist denn das?!«

Oldtor warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Weißt du das denn nicht?«

Lorash schüttelte den Kopf.

Oldtor schürzte die Lippen. »Die Inquisition.«

»Inquisition? Durch wen?«, fragte Lorash verwundert.

»Von der Kirche der Lichtgöttin«, meinte Oldtor überrascht. »Wo kommst du denn her, wenn du das nicht weißt.«

Lorash zögerte. »Aus Vallas, einem kleinen Bergdorf südlich von hier«, gab er dann schließlich preis. Lorash ging auf die Quelle des Rauchs zu. Schreie brandeten auf. Zunächst Angstschreie, die gingen jedoch schnell in Schmerzensschreie über. Sein neuer Freund packte ihn am Arm. Lorash wandte sich halb um.

Oldtor schüttelte den Kopf. »Das willst du nicht sehen.«

Der Chronist entzog sich ihm sanft. »Lass, ich muss das sehen.« Er ging angespannt weiter. Eine Menschenmenge hatte sich in der Nähe der Stadtmauer versammelt. Lorash bahnte sich durch einen hemmungslosen Einsatz seiner Ellbogen einen Weg in die erste Reihe. Ihm war bewusst, dass Oldtor ihm folgte, wenn auch wenig enthusiastisch.

Lorash musterte das Schauspiel, das sich ihm bot, mit flauem Gefühl in der Magengrube. Der Platz vor der Stadtmauer war angefüllt mit Dutzenden Priestern von Ariadne der Lichtgöttin. Sie unterschieden sich aber deutlich von denen, die er gewohnt war. Sie trugen eine verdrießliche Miene zur Schau. Viele waren mit Dolchen, Knüppeln und einige sogar mit Schwertern bewaffnet.

Jeder der Priester trug als Wappen die aufgehende Sonne Ariadnes am Ärmel. Das war an und für sich schon ungewöhnlich. Dieses Wappen wies statt einer goldenen Sonne eine schwarze auf. Diese war umrahmt von Flammen und ein silbernes Schwert ging mitten durch sie hindurch. Lorash schluckte und deutete wortlos darauf. Oldtor nickte mit mürrischer Miene. »Das Wappen der Heiligen Inquisition«, erläuterte er. Sein neuer Freund spie angewidert aus.

Die Priester hatten fünf Scheiterhaufen aufgeschichtet. Auf zweien von ihnen brannten bereits zwei Männer. Sie rührten sich nicht mehr und ihre Schreie hatten gnädigerweise längst aufgehört. Zu den anderen dreien wurden weitere Verurteilte geführt. Es handelte sich um zwei Männer und eine Frau. Sie wehrten sich heftig, aber die Priester schleiften sie mitleidlos zu ihren Plätzen.

Lorash sah sich unter den ringsum stehenden Menschen um. Einige wirkten voller Mitgefühl, andere ängstlich, wiederum andere erschreckenderweise eher begierig auf das zu erwartende Schauspiel. Letzterer Menschenschlag widerte ihn geradezu an.

Oldtor blieb abwartend neben ihm stehen. Lorash widmete ihm kaum einen Blick. Der Anblick löste in ihm so etwas wie grausige Faszination aus.

»Der Priester in meinem Heimatdorf«, begann er zu sprechen, »war ein alter, feinfühliger, freundlicher Mann. Er half manchmal sogar bei Geburten und als Heiler.«

»War?«, hakte Oldtor nach.

Lorash erkannte, dass er bereits zu viel preisgegeben hatte. »Er ist mittlerweile tot«, gab er zurück, ohne näher auf die Umstände einzugehen. Zum Glück begnügte sich sein neuer Freund damit.

»Dann hattest du bisher Glück mit deinen Erfahrungen, was die Priesterschaft angeht«, erklärte Oldtor tonlos. »Es fing nach dem Ende des Dämonenkrieges an. Die Kirche wurde wieder aufgebaut und Priester ausgebildet. Doch die Kirche war seit dem Massaker an ihren Brüdern, Schwestern und Ordensrittern von Intoleranz und Paranoia geprägt. Überall sah sie Kultanhänger: in jedem Schatten, in jeder dunklen Ecke. Also gründete sie die Inquisition mit dem Ziel, den Kult zu jagen und zu vernichten.« Oldtor schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Das ist Wahnsinn. Jeder weiß, dass der Kult Geschichte ist. Die Kirche ist von ihrer Hexenjagd aber nicht abzubringen. Viele benutzen sie, um schmutzige Wäsche zu waschen. Ein Mann denunziert seinen Nachbarn, weil er scharf auf dessen Grundstück ist, ein Freund den anderen, weil er dessen Ehefrau begehrt, und so weiter. Die Gerichtsverfahren sind schnell und gründlich – und das Urteil lautet immer gleich.«

»Wurde noch nie jemand entlastet oder freigesprochen?«

»Soviel ich weiß, nicht. Jeder, der vortreten und einen Angeklagten entlasten könnte, hat Angst, selbst zur Zielscheibe zu werden. Wenn sich jemand weigert, seine angeblichen Taten zu gestehen, wird das von der Inquisition nur als seine Starrköpfigkeit gewertet. Und wenn jemand unter der Folter nachgibt und ein Geständnis unterschreibt – umso besser.«

»Wie viele solcher Hinrichtungen gibt es denn?«

Oldtor zuckte die Achseln. »Fünf oder zehn pro Monat. Manchmal mehr. Sie finden immer am selben Wochentag statt. Die Menschen rechnen bereits damit, wie du sehen kannst.«

Lorash nickte. »Ja, ich sehe es. Einige genießen das hier sogar.«

»Gut möglich, dass sogar ein paar von denen dafür gesorgt haben, dass die armen Schweine dort im Feuer landen.« Oldtor seufzte. »Es gibt Menschen, die wollen andere einfach brennen sehen. Verflucht sollen sie dafür sein!«

Die Priester zerrten die Frau auf den für sie vorgesehenen Scheiterhaufen. Die zwei Männer waren bereits angebunden und wimmerten. Einer der Priester band die sich heftig wehrende Frau fest, während der andere ihr Kleid zerriss. Ein großer Teil der Menge johlte beim Anblick ihrer Blöße. Lorash hingegen fühlte nur eines: Wut, die heiß durch seine Venen peitschte. Und bevor Oldtor ihn aufhalten konnte, ja, sogar bevor er selbst wusste, was er da tat, trat er vor.

Er stürmte an den verdutzten Priestern vorbei, bestieg den Scheiterhaufen der Frau, zog seine Jacke aus und drapierte sie um ihre Schultern. Die Menge schwieg schockiert bis auf wenige Ausnahmen von betrunkenem Grölen einiger Grobiane, die sich um den Anblick der nackten Brüste der Verurteilten betrogen sahen.

Für einen Moment kam die Menge, kamen die Priester, ja, witzigerweise sogar die angebundenen Männer zur Ruhe. Alle Augen richteten sich auf Lorash. Dieser wurde sich bewusst, dass er sich im Zentrum der Aufmerksamkeit befand.

Einer der Priester – ein Glatzkopf mit ausladendem Bauch und einem Bart, der ihm bis auf die Brust reichte – trat mit weit ausgreifenden Schritten auf den Scheiterhaufen zu, auf dem Lorash immer noch schützend vor der Frau stand.

»Komm sofort da runter, du Narr! Oder willst du ihr Gesellschaft leisten?«

Das Knistern der Flammen, die die beiden brennenden Männer verzehrten, drang ihm schmerzhaft in die Ohren. Lorash erkannte, dass es keinen einfachen Weg für ihn gab, aus der Sache herauszukommen. Aus diesem Grund entschloss er sich, in die Offensive zu gehen.

»Welche Verbrechen werden diesen Menschen vorgeworfen?«

Der Priester – es handelte sich offenbar um deren Anführer – stutzte. Schließlich richtete er sich zu voller Größe auf, was allerdings nicht sehr beeindruckend wirkte. »Die Männer sind Ketzer. Sie haben sich in aller Öffentlichkeit gegen die Kirche und gegen den Erzbischof ausgesprochen. Die Frau ist eine Hexe.«

»Das ist gelogen!«, schrie einer der Männer. »Wir haben uns niemals gegen den Erzbischof ausgesprochen, nur gegen die Inquisition.«

Der Priester winkte ab. »Das ist dasselbe. Die Inquisition ist der verlängerte Arm des Erzbischofs. Gegen die Inquisition zu sprechen, ist dasselbe, wie gegen das weltliche Oberhaupt der Kirche zu sprechen.« Das Gesicht des Priesters zeigte ein zufriedenes Grinsen. »Du siehst, er gibt sein Verbrechen sogar zu.«

»Das hat er keineswegs.« Lorash konnte nicht mehr zurück, also sah er keine Veranlassung, klein beizugeben. »Ich dachte immer, in Hasterian herrscht Meinungsfreiheit seit Cedrics Tod. König Adrian hat uns versprochen, dass alle Menschen nun frei und gleich sind. Dass wir unsere Meinung frei ausdrücken können. Wo ist das Recht des Königs in dieser Sache?«

Lorashs Worte lösten eine Reaktion in der Menschenmenge aus. Sie tuschelten mit einem Mal aufgeregt miteinander. Die Aura der Angst, die die Priester zuvor durch ihre bloße Anwesenheit ausgelöst hatten, verflüchtigte sich zusehends. Dem Anführer der Inquisition entging keineswegs, wie die allgemeine Stimmung zu kippen begann. Sein Gesicht verzerrte sich.

Lorash kannte solche Menschen. Die gab es überall. Sie zogen ihre Macht aus der Angst, die sie verbreiteten. Verschwand die Angst, blieb nichts übrig, aus dem sie schöpfen konnten. Und dann sah man sie, wie sie wirklich waren. Kleine Männer – mit sehr kleinen Schwänzen. Der Gedanke ließ Lorash schmunzeln.

Der Anführer der Inquisition runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht erklären, warum sein Gegenüber auf einmal so unverschämt grinste.

»Ich bin keine Hexe«, erklärte die Frau hinter ihm plötzlich. »Ich bin Hebamme – und eine sehr gute. Die Menschen in meinem Viertel kamen in Scharen zu mir, damit ich ihnen durch die schwere Zeit der Geburt und auch danach helfe. Aber eine andere Hebamme denunzierte mich als Hexe, weil sie neidisch war. Sie steht dort unten in der Menge und will mich brennen sehen.« Die Frau deutete mit einem Kopfnicken zu einer älteren Frau, die in der ersten Reihe stand. Augenblicklich richteten sich Dutzende Blicke auf diese.

Der Frau war dies sichtlich unangenehm und sie machte sich eilig davon. Einige Menschen schrien ihr noch Beleidigungen und Flüche hinterher. Was die Hebamme getan hatte, würde sich schon bald herumsprechen. So wie Lorash die Menschen kannte, würde die andere Frau wohl kein leichtes Leben mehr haben. Die Menschen mochten keine Denunzianten, schon gar keine, die der Inquisition zuarbeiteten.

»Sehr ihr?« Lorash deutete der fliehenden Frau hinterher. »Die Anklägerin sucht das Weite. Ist das etwa das Verhalten einer Frau, die ein reines Gewissen hat?«

Der Priester schnaubte. »Sehe ich aus wie jemand, den das interessiert?«

Lorash kniff die Augen zusammen. »Ich rufe noch einmal das Recht des Königs an.«

»Der König hat hier keine Befugnis«, höhnte der Priester. »Dies ist eine Sache der Kirche. Dein König kann dir hier nicht helfen.« Der Priester sah sich großspurig um und breitete die Arme aus. »Ich sehe hier ohnehin keinen König. Und wenn er hier wäre, wäre er machtlos. Könige kommen und gehen, doch etwas bleibt dem Reich immer erhalten: die Kirche.«

»Du spuckst sehr große Töne, Canain.«

Ein hochgewachsener Mann, gekleidet in einen schimmernden Brustpanzer, auf dem ein Canyonfalke abgebildet war, trat durch die Menge. Er wurde begleitet von mehreren ähnlich gewandeten Kriegern.

Der Priester namens Canain wurde merklich vorsichtiger. Er bemühte sich, es zu verbergen, wie groß seine Angst vor diesem Mann war.

»Gara Khan«, begrüßte der Priester den Falkenlegionär. »Was führt dich hierher? Willst du einige Ketzer brennen sehen?«

»Sicher nicht«, entgegnete Gara Khan, der sich nicht einmal bemühte, seine Abscheu zu verbergen. »Dieses ungewohnte Schauspiel führt mich hierher.« Er deutete auf den auf dem Scheiterhaufen thronenden Lorash.

Canain warf dem Chronisten einen abfälligen Blick zu. »Nur ein weiterer Ketzer. Er wird brennen, noch bevor die Nacht anbricht.«

Gara Khan zog eine Augenbraue nach oben. »Einfach so? Ohne Gerichtsverhandlung? Das ist sogar für dich ein Tiefpunkt.«

Canain deutete auf die Menge. »Der Mann hat die Kirche beleidigt. All diese Menschen sind Zeugen.«

Gara Khan warf der Menge einen abschätzigen Blick zu. Der Falkenlegionär sah dabei ein jedem in die Augen. Nur die wenigsten vermochten es, dem standzuhalten, und wandten sich verlegen ab. Lorash verfolgte das Schauspiel gebannt.

»Seid ihr auch dieser Meinung?«, fragte er mit lauter Stimme. »Hat dieser Mann den Scheiterhaufen verdient?« Gara Khan deutete auf die anderen Verurteilten. »Haben all diese Menschen den Scheiterhaufen verdient?«

Eine laute Stimme rief: »Nein!« Lorash lächelte. Sie gehörte Oldtor. Weitere Stimmen mischten sich ein, forderten eine Freilassung der Gefangenen. Der offene Widerstand gegen die Inquisition machte sie mutig, ließ sie aufbegehren. Mut machte sich breit, wo vorher Angst geherrscht hatte.

Gara Khan wandte sich erneut seinem Gegenüber zu. »Siehst du? Die Stimme des Volkes spricht.«

Canain lächelte herablassend. »Die Stimme des Volkes kannst du gerne haben. Aber die Kirche ist das Reich.«

Gara Khan beugte sich drohend zu dem viel kleineren Priester herab. Die Augen des Falkenlegionärs funkelten zornig. »Noch nicht.« Er gab seinen Männern ein Zeichen. »Bindet sie los!«

Die Falkenlegionäre stürmten auf die Barrikaden, um die beiden Männer zu befreien. Die Priester machten im ersten Augenblick den Eindruck, sich ihnen entgegenstellen zu wollen. Sie waren es jedoch nur gewohnt, einfache Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Bei Falkenlegionären dagegen handelte es sich um einen gänzlich anderen Menschenschlag. Wären die Priester so dumm gewesen, ihre Waffen zu benutzen, die Legionäre hätten kurzen Prozess mit ihnen gemacht. Und alle Beteiligten wussten es.

Lorash zog seinen Dolch aus dem Gürtel und machte sich daran, die Fesseln der Frau zu lösen. Die in Wasser eingelegten ledernen Riemen waren hart, am Ende fielen sie trotzdem. Die Frau rieb sich die schmerzenden Handgelenke. Die Fesseln hatten rote Striemen hinterlassen. Den Schmerz missachtend, lächelte sie Lorash dankbar an.

»Das … das kannst du nicht tun!«, wetterte Canain.

»Ich kann. Und ich habe es gerade getan«, hielt Gara Khan ungerührt dagegen.

»Das ist ungeheuerlich! Dein Status als Legionär kann dich nicht vor Strafe bewahren. Es ist ein Sakrileg, Gefangene der Kirche zu befreien. Und das hier ist schlimmer. Diese Leute sind zum Tode verurteilt.«

»Und wie wir wissen, macht die Inquisition ja keine Fehler, nicht wahr?«

»Genauso ist es«, nickte Canain, dem der Sarkasmus in den Worten des Legionärs völlig entging.

»Seit wann ist es ein Verbrechen, seine Meinung zu sagen? Oder kleinen Kindern auf diese Welt zu verhelfen? Das macht diese Menschen weder zu Frevlern noch zu Hexen. Lass sie laufen, Canain … falls du weißt, was gut für dich ist.«

Der Priester wich einen Schritt zurück. »Du drohst mir? Einem Inquisitor der Göttin? Damit hast du dein eigenes Schicksal besiegelt.«

Gara Khan lächelte höhnisch. »An deiner Stelle würde ich lieber auf dein eigenes Schicksal achtgeben. Du hast den König geschmäht – in aller Öffentlichkeit! Auch wenn du gern etwas anderes glauben würdest, das Recht des Königs ist immer noch präsent in Aredus-Celat. Verschwinde mit deinen Schmeißfliegen, bevor ich mich vergesse!«

Bei Gara Khans Aussage war aus Canains Gesicht jede Farbe gewichen. Dem arroganten kleinen Mistkerl wurde bewusst, dass er einen Fehler begangen hatte. Die Inquisition zu kritisieren, war nur nach Meinung der Inquisition eine Straftat. Den König zu beleidigen, unwiderleglich dazu, da in aller Öffentlichkeit geschehen, war jedoch nach den weltlichen Gesetzen des Königreichs ganz sicher ein Kapitalverbrechen.

Canain wich einen weiteren Schritt zurück. »Aber … ich …«, stotterte er.

»Kein Wort mehr, Priester!«, giftete Gara Khan ihn an. »Verschwinde schnell, bevor ich dich in zwei Stück teile!« Wie um seine Worte zu unterstreichen, befingerte der Legionär das Heft des auf seinem Rücken befestigten Zweihandschwerts.

Für Canain und dessen Priester war dies genug. Sie machten kehrt und eilten unter dem Spott der Menge davon. Lorash entspannte sich etwas. Er stieg den Scheiterhaufen hinab und half anschließend der Frau beim Absteigen.

Oldtor kam hinzu und klopfte ihm auf die Schulter. »Das war das Beeindruckendste, was ich je erlebt habe.«

»In der Tat«, meinte Gara Khan. Der Falkenlegionär trat hinzu und musterte Lorash von oben bis unten. »Du hast dir heute ein paar mächtige Feinde geschaffen.« Ein breites Grinsen leuchtete auf dem Gesicht des Legionärs auf. »Aber auch ein paar gute Freunde.«

Die beiden befreiten Männer kamen hinzu. Gara Khan nickte ihnen freundlich zu. »Verlasst Aredus-Celat so schnell wie möglich mit euren Familien. Meine Drohung wird die Inquisition nicht lange zurückhalten. Bis zum Einbruch der Nacht solltet ihr so viel Distanz zwischen euch und Canain gebracht haben wie möglich. Sonst wird er sich grausam an euch und euren Familien rächen.«

Die beiden Männer nickten, bedankten sich und rannten davon, was das Zeug hielt. Nur die Frau blieb noch zurück. Sie wandte sich Lorash zu. Ihre Augen musterten ihn bewundernd. Mit einem Mal zog sie ein Gänseblümchen aus einer Tasche ihres Kleides. »Bitte, Herr, darf ich Euch die schenken? Sie wird Euch auf all Euren Wegen schützen. Gegen dunkle Magie und böse Wesen.«

Lorash lächelte nachsichtig. »Danke, aber ich glaube nicht an derlei Dinge.«

Die Frau erwiderte das Lächeln, blieb jedoch unnachgiebig. »Das mag sein. Doch das Böse glaubt an Euch.« Sie steckte ihm die Blume ans Hemd. »Bitte gewährt mir diese Gunst. Dafür, dass Ihr mir das Leben gerettet habt.«

Lorash neigte bestätigend das Haupt. »Ich danke Euch.«

»Ich habe zu danken.« Sie gab seine Jacke zurück und zog die zerfetzten Reste ihres Kleides zusammen, um ihre Blöße zu verdecken. Lorash lief hochrot an, was ein weiteres Lächeln bei ihr hervorrief. Es wirkte nicht im Mindesten spöttisch, sondern strahlte sogar Sympathie aus. Es klang amüsiert und erfreut. Sie neigte noch einmal den Kopf, sowohl vor Lorash als auch vor Gara Khan, und verschwand mit wenigen Schritten in der Anonymität der Menge. Jetzt, da das Schauspiel vorüber war, löste diese sich recht schnell auf.

Gara Khans Blick musterte Lorash und seinen Begleiter. Der Blick des Falkenlegionärs blieb auf Oldtors Hand hängen. Dieser hielt immer noch die Anmeldungsmünze in der Hand.

»Du willst also ein Teil der Falkenlegion werden?«

»Wir beide wollen das«, ergänzte Oldtor.

Zu Bestätigung holte Lorash seine eigene Münze hoch und hielt sie gut sichtbar in die Luft.

Gara Khans Miene drückte seine Zweifel aus bei Lorashs eher schmächtigem Anblick. Dann prustete er los. »Eines muss ich dir lassen: Mumm hast du auf jeden Fall.«