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Karl Plepelits

Das Auge sieht den Himmel offen

Die Liebe und der Gottesmann





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1

„Pater Martin, Pater Martin“, schreien die Buben ganz aufgeregt. „Der Unger, der Unger ... Der hat Ihnen, hat Ihnen ein Kreuz auf die Soutane gemalt!“ Und um ihren Schreien mehr Gewicht zu verleihen, zeigen sie mit nacktem Finger auf den kleinen Michael Unger, der vor Schreck und vor Enttäuschung zu einer Heiligenfigur erstarrt ist und nicht weiß, wo er hinschauen soll.

Man schreibt den 1. April 1968. Die Schule, in der sich diese offensichtlich furchtbar aufregende Szene abspielt, ist das Jesuitenkolleg Stella Matutina in Feldkirch in Vorarlberg. Es ist gerade große Pause. Davor hatte die zweite Klasse Naturgeschichte beim Pater Martin. Nun ist er soeben mitsamt seinen Büchern auf den Gang hinausgetreten. Unterdessen hat sich der kleine Michael Unger von der Tafel ein Stück Kreide geschnappt. Damit bewaffnet, schleicht er dem Pater Martin nach und malt ihm bei einer günstigen Gelegenheit vorsichtig, damit er es nicht gleich merkt, ein großes weißes Kreidekreuz auf die Rückseite seiner schwarzen Soutane. Sieht doch ausgesprochen hübsch aus, findet er. Hübsch und absolut passend. Passt doch wunderbar zu Pater Martins außergewöhnlicher Frömmigkeit.

(Als „heiligmäßigen Mann“ hat ihn einmal der Pater Direktor vor der Klasse gerühmt – ob ehrlich oder nur ironisch, weiß der kleine Unger natürlich nicht. Aber es geschah, nachdem sich der stets demonstrativ fromme und gütige Pater Martin über die „himmelschreiende“ Disziplinlosigkeit gerade dieser Klasse beim Pater Direktor beklagt hatte. Und dieser war eben bemüht, den schlimmen Buben mehr Respekt vor ihm einzuimpfen. Einem solchen „heiligmäßigen Mann“ müsse man doch mit besonderer Ehrfurcht gegenübertreten.

Nein, der Pater Martin merkt es wirklich nicht, dass jetzt ein großes, hübsches weißes Kreuz auf seiner Soutane prangt. Aber der Michael Unger wird bei seiner ehrfuchtslosen, nein, durchaus ehrfurchtsvollen und vor allem frommen Tätigkeit von seinen Mitschülern beobachtet. Und die geraten sofort in die allergrößte Aufregung wie bei einem spannenden Fußballmatch. Und da können sie natürlich nicht dichthalten und beginnen, wie bereits erwähnt, sofort zu schreien: „Pater Martin, Pater Martin, der Unger, der Unger ... Der hat Ihnen, hat Ihnen ein Kreuz auf die Soutane gemalt!“ Und dabei zeigen sie mit nacktem Finger auf den vermeintlichen Missetäter, der vor Schreck und mehr noch vor Enttäuschung am liebsten auf der Stelle im Erdboden, genauer, unter die steinernen Bodenplatten versunken wäre.

Und der gütige, heiligmäßige Pater Martin? Freut er sich wenigstens über die Ehre, mit einem Kreidekreuz als Zeichen seiner Heiligkeit geschmückt worden zu sein?

Anfangs scheint es so. Ein kleines Weilchen starrt er diesen Michael Unger mit hochrotem Kopf und unbeschreiblicher Miene an und weiß, so scheint es, nicht, ob er lachen oder weinen soll. Aber dann beginnt er unverhofft zu brüllen. Er brüllt wie ein Irrer und stößt fürchterliche Drohungen aus. Schließlich stürmt er davon wie ein Indianer mit hoch erhobenem Kriegsbeil, so kommt es dem kleinen Unger vor. Unklar bleibt, wohin er stürmt, ob in Richtung Lehrerzimmer oder zu seiner Mönchszelle oder sonst wohin.

Die Horde von Michaels Mitschülern betrachtet diese Vorgänge klarerweise als tollen Spaß, während er selbst total verstört, wie vom Blitz getroffen, dasteht und nicht weiß, wie ihm geschieht. Einerseits ängstigen ihn Pater Martins Drohungen, andererseits fühlt er sich ebenso enttäuscht, wie wenn ihm eine Schularbeit, bei der er ein besonders gutes Gefühl hatte, dann mit Nichtgenügend beurteilt wird. Schließlich hat er ja mit seiner inkriminierten Aktion keine böse Absicht verfolgt. Im Gegenteil, sie war eben nicht nur als Spaß gemeint – das natürlich auch –, sondern vor allem wirklich als Zeichen von Pater Martins Heiligkeit, vielleicht auch als Ausdruck seiner eigenen Gläubigkeit. Denn ja, auch er selbst ist ungeheuer fromm und gläubig. Und deshalb lautet sein heimlicher Berufswunsch: Priester. Jesuit. Gottesmann.

Nun, wie sich sehr bald herausstellt, ist der gütige Pater Martin weder in Richtung Lehrerzimmer noch zu seiner Mönchszelle gestürmt, sondern zu dem für Michael zuständigen Internatspräfekten, um diesem sein Leid zu klagen und ihn zu passenden Strafmaßnahmen zu vergattern. Und solche ergreift der Präfekt auch unverzüglich, ohne sich, wie es sich gehören würde, zuvor die Rechtfertigung des vermeintlichen Missetäters anzuhören. Die Strafe besteht, abgesehen von diversen Beschimpfungen und Demütigungen, in einer regelrechten Prügelorgie und im Verbot, die bevorstehenden Osterferien zu Hause in Wien bei den Eltern zu verbringen.

Wer könnte ahnen, dass dieser an sich kaum nennenswerte Vorfall unerwartete Konsequenzen nach sich ziehen und sogar noch in ferner Zukunft verhängnishafte Folgen haben wird?

 

 

2

Mai 1984. Sechstägige Studentenwallfahrt von Wien nach Mariazell, dem wichtigsten Marienwallfahrtsort Österreichs. Übernachtet wird in Heustadeln. Als geistlicher Betreuer fungiert ein junger Theologe, der während der Rastpausen schöne Predigten hält.

Viele der Pilgerinnen haben damit nicht genug und löchern ihn nach jeder Predigt mit allerlei Fragen, vor allem zu der Enzyklika „Humanae vitae“ von Papst Paul VI., allgemein bekannt als „Pillenenzyklika“. Sie verbietet ja bekanntlich jede künstliche Empfängnisverhütung, ein Thema, das seit der Erfindung der Antibabypille noch immer hochaktuell ist. Jedenfalls reden sich gar manche unter den Pilgerinnen darüber die Köpfe heiß. Und es ist unschwer zu erraten, wie sie es selber mit der Keuschheit und der Pille halten.

Schließlich kommt die letzte Nacht im Heu. Der geistliche Betreuer, der sich wie auch schon bisher ein wenig abseits von den anderen ins Heu gelegt hat, schläft den sprichwörtlichen Schlaf des Gerechten. Da weckt ihn zu seinem Missvergnügen eine sanfte Berührung seiner Wange durch eine weiche Hand, zugleich eine erregende Berührung seiner Lippen durch ein weiches Lippenpaar und gleich danach ein Finger, der ihnen Schweigen gebietet. Im nächsten Moment beginnt eine fremde Hand sein Hosentürl aufzuknöpfen. Zu seinem Entsetzen ist sein Penis erigiert. Aber wäre er auch nicht erigiert, so geschähe dies gewiss im nächsten Moment. Denn ihn umschließt eine ungemein weiche Hand und liebkost ihn auf unnachahmliche Weise. Sein Entsetzen, seine Empörung weicht nur allzu bald einem nie gekannten Wohlgefühl. Es schmeichelt seinem Verstand. Es betäubt seinen Verstand. Und ehe dieser noch aus der Betäubung erwacht, wird die weiche Hand durch einen noch um vieles weicheren weiblichen Körperteil ersetzt, den der junge Theologe bisher nur aus Abbildungen in medizinischen Handbüchern kannte. Und da steigt das Wohlgefühl, steigt zugleich die Betäubung sogleich ins Unermessliche, sodass er beim besten Willen nicht imstande wäre, besagten weiblichen Körperteil mitsamt seiner Besitzerin abzuschütteln. Nur mit Mühe kann er es verhindern, dass ihm zuletzt ein lauter Schrei entfährt.

Nach einiger Zeit schickt sich die nächtliche Besucherin an, sich von ihm zu lösen und sich ebenso geräuschlos zurückzuziehen, wie sie vorhin zu ihm gekommen ist. Im selben Moment erwacht sein Verstand – aber völlig anders als von ihm selbst erwartet. Er veranlasst ihn, seine Besucherin zurückzuhalten und mit den Händen ihren Körper zu erforschen. Das scheint ihr so gut zu gefallen, dass sie sich ein zweites Mal auf ihn wirft, um sich mit ihm zu vereinigen und ihm (und wohl auch sich selbst) zum zweiten Mal diese unerhörten Freuden zu schenken.

Erst danach zieht sie sich endgültig zurück. Nur, Schlaf findet er jetzt keinen mehr. Denn das unglaubliche Wohlgefühl, mit dem ihn die Unbekannte zurückließ, hat sich binnen Minuten in ebenso unglaubliches Unbehagen verwandelt. Hätte er nicht die verdammte Pflicht gehabt, sie auf der Stelle zu verjagen wie ein lästiges Insekt? Stattdessen hat er eine unaussprechliche Sünde begangen. Gewissensbisse überfallen ihn mit nie gekannter Heftigkeit.

Da wird es plötzlich hell. Er erschrickt. Zu sehen ist ein heller Feuerschein. Dieser hat die ungewöhnliche Form eines aufrecht stehenden Ovals. Es schwebt quasi in der Luft. Und inmitten dieses Ovals bildet sich eine menschliche Figur heraus. Diese konkretisiert sich zu einer gertenschlanken, bildhübschen jungen Frau. Sie gleicht verblüffend der Marienstatue in Fátima. Ihr Gesicht wirkt melancholisch, traurig, leidend. Die Augen sind unverwandt auf ihn gerichtet und stehen voller Tränen. Zwei dünne, glitzernde Bächlein laufen ihr über die Wangen. Nach einer kleinen Ewigkeit verblasst die Erscheinung wieder, der Feuerschein verschwindet, und es ist wieder genauso dunkel wie zuvor.

Das Unbehagen des jungen Theologen ist inzwischen ins Gigantische gewachsen. Er glaubt nicht auf Heu, sondern wie ein Fakir auf einem Stachelbett zu liegen oder gar auf glühenden Kohlen, glaubt im Fegefeuer zu schmachten. Und in seinem Kopf ertönt ohne Unterlass eine Stimme, offenbar die der Muttergottes, und sie klingt alles andere als lieblich, und was sie sagt, ist eine einzige Anklage.

Tags darauf wird das Ziel der Wallfahrt, die Basilika von Mariazell, erreicht. An diesem Tag plagt ihn in einem fort die Frage: Welche der jungen Damen ist es wohl gewesen? Aber dieses Rätsel vermag er nicht zu lösen. Und seine Verführerin verrät sich nicht.

Dieses Ereignis ist zwar bei weitem nennenswerter als das erstgenannte. Und wird ebenfalls ungeahnte Folgen haben. Aber ebenso wie dieses erst Jahrzehnte später.

 

 

3

Mittwoch, 23. Juni 1999.

„Und ich sage Ihnen, sie existieren, die Götter!“

Mit diesem „Schlachtruf“ gelingt es einem Vortragenden, wohlgemerkt, einem katholischen Theologen, seine zahlreiche Zuhörerschaft in Aufruhr zu versetzen. Ja, man könnte ohne Übertreibung von einem regelrechten Eklat sprechen.

Besagter Eklat trug sich in einem Hörsaal des ehrwürdigen Trinity College, der Universität von Dublin, zu. Anlass war ein internationaler Theologenkongress.

Der Vortragende, der diese gewagte und eigentlich höchst ketzerische Behauptung aufstellte, war ein junger amerikanischer Theologe – jung, aber offenbar weder unbelesen noch untalentiert. Ihm drohte jetzt, aus der Stimmung im Auditorium zu schließen, zweifellos der Entzug der Missio canonica, das heißt, der theologischen Lehrbefugnis durch den Vatikan.

Hier noch einmal und ein wenig ausführlicher die mit großer Überzeugung vorgebrachte These des amerikanischen Theologen: Es sei verfehlt zu behaupten, es gebe nur den einen, den christlichen Gott. Und als seine Kronzeugen nannte er den Wiener Kardinal König, den Apostel Paulus und die frühen Christen ganz allgemein. Letztere verehrten zwar nur den jüdisch-christlichen Gott, leugneten aber die Existenz der heidnischen Götter nicht. Sie wären nie auf die Idee gekommen, die faktische Existenz von Zeus und Apollon, Isis und Osiris und so weiter zu bezweifeln.

Dieser Vorfall blieb für den Rest des Kongresses fraglos das Hauptgesprächsthema unter den Teilnehmern, nämlich während der vortragsfreien Zeiten und daher besonders auch an dem einen freien Tag, der für einen gemütlichen gemeinsamen Ausflug nach Glendalough reserviert war.

Wer hätte geahnt, dass sich dort Unglaubliches, ja Phantastisches, möglicherweise noch nie Dagewesenes begeben sollte?

 

 

4

Nun aber zurück ins Jahr 1968 und nach Feldkirch in Vorarlberg, wo in der großen Pause nach der Naturgeschichtestunde (heute heißt es natürlich Biologiestunde) der zweiten Klasse des international bekannten und renommierten Jesuitenkollegs Stella Matutina der kleine Michael Unger dem gütigen Pater Martin auf die Rückseite seiner Soutane mit Kreide ein großes Kreuz malte und damit, natürlich ohne es zu ahnen, eine Serie von höchst unliebsamen Ereignissen auslöste, die sich bis in die jüngste Vergangenheit erstrecken sollten. Für ihn war das nichts als ein frommer Akt, um den stets demonstrativ frommen, ja heiligmäßigen Pater Martin zu ehren und seine Frömmigkeit sozusagen für alle Welt sichtbar zu machen. Für seine Mitschüler war es ein toller Spaß. Und für den gütigen und frommen Pater Martin selbst war es ein Schock, eine schlimme Beleidigung, ein himmelschreiender Skandal, der selbstredend schwer bestraft werden musste.

Aber jetzt muss ich endlich einmal mit der Wahrheit herausrücken. Jener schlimme Knabe, der kleine Michael Unger – das war ich. Und ja, ich war wirklich so rasend fromm. Kein Wunder, wenn man im Internat eines Ordenshauses aufwächst und die angeschlossene Schule besucht. Besagtes Ordenshaus war, wie gesagt, das angesehene, sogar berühmte Jesuitenkolleg Stella Matutina in Feldkirch. (Der Name Stella Matutina bedeutet „Morgenstern“ und ist einer der Beinamen der Muttergottes.) Es war eine reine Internatsschule, das heißt, nur die Zöglinge des eigenen Internates besuchten die Schule, selbstverständlich ausschließlich Knaben.

Und warum hatten mich die Eltern in die Stella Matutina gesteckt? Die Frage, finde ich, ist absolut berechtigt. Denn von Wien bis nach Feldkirch, der westlichsten Stadt Österreichs an der Grenze zur Schweiz und zum Fürstentum Liechtenstein, ist es ein weiter Weg. Nun, die Stella Matutina galt als ausgesprochenes Elitegymnasium, das von Schülern aus dem gesamten deutschen Sprachraum und weit darüber hinaus besucht wurde, und war für seine strenge Erziehung bekannt, nicht nur in religiöser Hinsicht, aber in dieser ganz besonders. Und wie ich bereits angedeutet habe, hat ihre strenge religiöse Erziehung bei mir sofort und nachhaltig gewirkt. Ich wusste schon früh, dass ich einmal selber in den Jesuitenorden eintreten und ein frommer und in jeder Hinsicht vorbildlicher Diener von Mutter Kirche werden will. Dies schien mir der sicherste Weg zu sein, nach dem Tod wie der Gute Schächer sogleich bei Jesus im Paradies zu sein oder, wie es kirchlicherseits gerne formuliert wird, in die Herrlichkeit Gottes einzugehen, ohne zuvor die Qualen des Fegefeuers erdulden zu müssen.

Und ja, in meinem kindlichen religiösen Überschwang ließ ich mich dazu hinreißen, dem gütigen Pater Martin ein Kreidekreuz auf die Rückseite der Soutane zu malen. Warum ausgerechnet dem Pater Martin? Es gab ja noch viele andere Patres in der Stella Matutina, deren schwarze Soutanen sich als Untergrund für ein Kreidekreuz angeboten hätten. Nun, der Pater Martin war eben sonst immer ein ganz Lieber. Er war, wie gesagt, gütig, überhaupt nicht streng, prüfte milde, gab keine schlechten Noten, achtete gar nicht so sehr auf Disziplin, außer sie nahm allzu sehr überhand wie eben in unserer schlimmen Klasse, und erzählte uns häufig statt über Pflanzen oder Tiere über die österreichischen und Schweizer Eisenbahnfahrpläne, die er offenbar auswendig gelernt hatte. Und daher nannten wir ihn, zugegeben, nicht ohne eine Prise Ironie, den gütigen Pater Martin. Wie hätte ich da ahnen können, dass er auf meine fromme Aktion so heftig reagieren würde, ohne seine gewohnte Güte?

Na ja, jedenfalls habe ich dafür, wie erwähnt, schwer gebüßt, nämlich ganz im Sinn der damals noch üblichen sogenannten schwarzen Pädagogik, wie man sie heute nennt. Hat wenigstens jemand ein klein wenig Verständnis für meine unverzeihliche Aktion gezeigt oder mich gar in meinem Kummer getröstet? Etwa meine Eltern, die damals auf meine Anwesenheit bei der Ostereiersuche verzichten mussten? Ach, im Gegenteil. Von ihnen bekam ich einen bitterbösen Brief, in dem sie mir heftige Vorwürfe machten. Der Generalpräfekt, so der Titel des obersten Präfekten, habe ihnen sogar gedroht, mich aus der Stella zu werfen, sollte eine derartige Untat noch einmal vorkommen. Und wie stünden sie dann da?

Nein, von meinen Eltern erhielt ich keinen Trost. Aber wenigstens von anderen. Erstens tröstete mich die eher unerwartete Reaktion meiner Mitschüler, für die ich zu meiner Verblüffung mit einem Mal zum Helden der Klasse avancierte. Und ich muss sagen, das hob mein Selbstbewusstsein ganz enorm. Zweitens verrieten mir mehrere weltliche Professoren, die Patres nannten sie Laienprofessoren, unter vier Augen, dass sie die Reaktionen des Pater Martin und meines Präfekten reichlich übertrieben fänden. Aber am allertröstlichsten fand ich die Reaktion des Pater Direktor.

Es war der übernächste Tag nach jenem Eklat, also der 3. April 1968. Da erlitt ich zunächst einmal einen gewaltigen Schock, als am Nachmittag unverhofft der Hausmeister vor mir stand und mir grinsend auftrug, mich umgehend in der Direktionskanzlei zu melden. Vor Angst zitternd wie Espenlaub, das heißt, wie die Blätter der Zitterpappeln, und wahrscheinlich weiß im Gesicht wie mein verdammtes Kreidekreuz auf Pater Martins Soutane, machte ich mich auf den Weg, zögerte lange vor der Tür der Direktionskanzlei, ehe ich mich entschloss, endlich anzuklopfen, und betete zu Gott und allen Heiligen, der als streng verschriene Pater Direktor möge inzwischen ausgeflogen sein oder sich vorübergehend in Luft aufgelöst haben. Aber nein, kein Heiliger erhörte meine Gebete, nicht einmal die heilige Maria oder Jesus selbst. Denn im selben Augenblick erklang von innen die Stimme des Gefürchteten und rief: „Hereinspaziert.“ Und dieses joviale „Hereinspaziert“ klang in meinen Ohren, eben wegen der Jovialität des Wortes, mehr bedrohlich als vielversprechend. Nun schlotterten mir erst recht die Knie, als ich die Türe öffnete und zögernd eintrat und, wahrscheinlich kaum hörbar, „Grüß Gott“ murmelte und dabei den würdevoll hinter seinem Schreibtisch thronenden Pater Direktor kaum anzuschauen wagte. Für den Fall, dass mir plötzlich die Knie nachgeben sollten, überlegte ich hektisch, wo ich mich rasch festhalten sollte.

Doch zu meiner Verblüffung musste ich feststellen, dass sein Gesicht alles andere als finster und bedrohlich wirkte. Und noch größer wurde meine Verblüffung, als er mich durchaus nicht unfreundlich anredete. Freilich, der Inhalt seiner Anrede widersprach ihrer Freundlichkeit heftig genug.

„Na, da ist er ja, der Unger, unser schlimmer Delinquent. Komm nur näher, fürchte dich nicht.“

„Deli ...?“, stammelte ich und schaute dem Pater Direktor zum ersten Mal bewusst ins Gesicht.

Da lachte er. Lachte er mich denn wirklich aus? „Delinquent heißt das. In welche Klasse gehst du denn, Unger?“

„In die zweite“, stammelte ich.

„Aha. Da lernst du natürlich noch kein Latein. Weißt du, das Wort Delinquent kommt aus dem Lateinischen und bezeichnet einen Menschen, der einen Fehltritt begeht. Man kann auch sagen, der ein Delikt begeht. Und das hast du doch getan, nicht wahr? Oder sollte das etwa ein missglückter Aprilscherz gewesen sein?“

Er durchbohrte mich mit einem prüfenden oder vielleicht sogar strafenden Blick.

„Hm“, machte ich. Und dann überkam mich unverhofft der Mut, mich zu rechtfertigen. „Bitte, ich hab’s doch nicht bös gemeint. Und schon gar nicht als Aprilscherz. Sondern ... Ganz im Gegenteil. Ich hab nur ... Ich hab den Pater Martin nur ehren wollen.“

„Ehren?“, wiederholte der Pater Direktor, sichtlich verblüfft. „Indem du seine Soutane beschmierst?“

„Bitte, ich hab seine Soutane nicht beschmiert. Ich hab ein Kreuz gemalt. Weil er doch so heiligmäßig ist. Oder wie man da sagt. Und ein Kreuz ist doch ein Zeichen der Heiligkeit. Oder nicht?“

Jetzt schaute der Pater Direktor ziemlich beeindruckt drein. Er schwieg ein kleines Weilchen und sagte dann: „Ist das dein Ernst, Unger?“

„Ja, natürlich“, erwiderte ich und glaubte auf einmal ein wenig Hoffnung schöpfen zu dürfen.

Wieder blieb er stumm.

„Glauben Sie mir nicht, Pater Direktor?“, wagte ich plötzlich zu sagen.

„Aber ja, keine Angst“, erwiderte er und – ich glaubte zu träumen – schenkte mir mit einem Mal ein durchaus freundliches Lächeln. Und dass ich mich in dieser Einschätzung nicht täuschte, erwies sich sogleich. Denn mit leiser Stimme fügte er hinzu: „Hab ich’s mir doch gedacht.“

Und dann glaubte ich vollends zu träumen. Ich hörte ihn eine Schublade öffnen und wieder schließen und sah ihn aufstehen und rund um den Schreibtisch herum wandern. Er kam auf mich zu, hob die rechte Hand – unwillkürlich duckte ich mich weg, um einer Ohrfeige auszuweichen –, ohrfeigte mich aber nicht, sondern legte sie, die Hand, mir auf den Kopf. Und dazu sagte er mit einer Stimme, die ich nur als mild und als beschwörend empfinden konnte: „Ich glaube dir schon, dass du’s nicht bös gemeint hast. Mach halt solche dummen Streiche nie wieder. Ja?“

Ich konnte nur heftig nicken. Sagen konnte ich nichts. Dazu war meine Überraschung viel zu groß. Wenn ich aber dachte, größer könne sie nicht werden, so erwies sich das als Riesenirrtum. Denn die linke Hand des Pater Direktor enthielt etwas, was er offenbar soeben der Schreibtischschublade entnommen hatte: eine große Tafel Schweizer Schokolade. Und diese drückte er mir jetzt tatsächlich in die Hand und sagte: „Ein kleiner Trost für das erlittene Ungemach, gell? Und damit du stets an meine Mahnung denkst.“

„Ja – danke“, stammelte ich. Und konnte mein Glück nicht fassen. Und stand da wie gelähmt, wie versteinert. Oder muss es heißen: Wie verklärt?

Erst da kam ich wieder quasi zu mir, als der Pater Direktor seine Hand von meinem Kopf abzog und mich mit den Worten verabschiedete: „Also, Unger, bleib schön brav und lern fleißig. Und bete eifrig zur heiligen Maria, der Stella Matutina, damit sie dir in allen Dingen beistehe und dich von Falschem und Unrechtem abhalte. Versprichst du mir das?“

„Ja, Pater Direktor“, stammelte ich. Und meinte es auch ganz ehrlich. Denn ich war schwer beeindruckt durch eine so unerwartete Reaktion auf mein sogenanntes Delikt. Sie hat mich tatsächlich ungleich stärker beeindruckt als jene schmerzhaften Strafmaßnahmen des Präfekten und Generalpräfekten. Beeindruckt und wahrscheinlich sogar in gewisser Weise geformt. Und in späteren Jahren, als mein Wissen schon bedeutend umfangreicher war, erinnerte sie mich stets an die berühmte äsopische Fabel von der Sonne und dem Wind, die sich streiten, wer von den beiden der Stärkere ist, und deren Moral lehrt, dass Sanftheit mehr bewirkt als Gewalt.

 

 

5

So glücklich und erleichtert fühlte ich mich damals, dass ich die Tafel Schokolade, mit der mich der Pater Direktor trösten wollte, noch am selben Tag brüderlich (und heimlich) mit meinem besten Freund, dem Beat Thürlimann aus Basel, zu teilen beschloss. Wie schon die alten Griechen zu sagen pflegten: Freunden ist alles gemeinsam. Zu diesem Zweck lotste ich ihn ein kleines Stück in den nur ein paar Schritte entfernten Bergwald, um unter unseren Mitschülern und Kollegen in der Internatsabteilung keine Begehrlichkeiten zu wecken. Denn da wäre für jeden von uns maximal ein winziges Stückchen übrig geblieben. Und das hätte für mich eine doppelte Enttäuschung bedeutet: erstens, weil ich vom Trost des Pater Direktor kaum etwas gehabt hätte, und zweitens, weil meine Freundesgabe für den Beat Thürlimann allzu mickrig ausgefallen wäre. Und natürlich beschwor ich ihn, keinem zu verraten, woher ich diese Schokolade hatte.

Er verriet es auch niemandem. Er hielt sein Wort. Geriet aber eben dadurch in die Bredouille. Denn anscheinend wurden wir trotz unserer Umsicht beobachtet, wie wir im Wald verschwanden. Oder wie wir aus dem Wald wieder herauskamen. Genaueres haben wir nie erfahren. Aber die Folgen bekamen wir dennoch zu spüren.

Seit geraumer Zeit gab es in unserer Internatsabteilung eine Clique von Feiglingen, die von einem aus Gladbeck in Westfalen stammenden Großmaul namens Charlie von Dragendorff angeführt und von ihm angeblich „beschützt“ wurden oder auch mitbestimmen durften, wer gut behandelt wird und wer nicht. Unter denen, die es vorzogen, selbständig zu bleiben und keinem Anführer nachzulaufen, befanden sich der Thürlimann und ich, obwohl wir anfänglich vom Dragendorff regelrecht umworben wurden. Aber als er erkannte, dass wir es entschieden ablehnten, uns seinem Gefolge von Verehrern und Bewunderern anzuschließen, begann man, uns als Feinde zu betrachten und vor allem den armen Thürlimann „nicht gut zu behandeln“. Denn der Grundsatz aller Machtmenschen ist das Jesuswort: Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Anders gesagt: Wer mich nicht verehrt, der ist mein Feind.

Warum wurde vor allem der arme Thürlimann „nicht gut behandelt“? Der Grund ist sehr leicht zu erklären: Der Thürlimann war ein zwar immer freundliches und hilfsbereites, aber schmächtiges und eher schüchternes Menschenkind, während mich Mutter Natur zum Glück sowohl physisch wie auch psychisch wesentlich besser ausgestattet hatte. Und auf wen gehen Großmäuler und Feiglinge mit Vorliebe los? Natürlich, auf die Schwächeren. Und dazu gehörte eben leider auch der Beat Thürlimann, freilich nur dann, wenn ich nicht in seiner Nähe war. Und das empörte mich zusätzlich. Denn es widersprach doch total dem Gebot Jesu: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Meine Versuche, zu vermitteln und mit den Missetätern ein ernstes Wörtchen zu reden, halfen nicht viel – falls ich von den Missetaten überhaupt erfuhr. Denn der Thürlimann hielt sich strikt an das in unserer Anstalt geltende ungeschriebene Gesetz, dass unter keinen Umständen jemand verpetzt werden darf. Und der Thürlimann war eben kein Feigling und auch kein Jammerlappen und klagte sein Leid nicht einmal mir, seinem besten Freund.

Und was bedeutete „Nicht gut behandeln“ für ihn konkret? Nun, soweit ich es mitkriegte, bedeutete es hauptsächlich Spott und Hohn, Demütigungen, übles Gerede und Quälereien sonder Zahl.

Aber dann begab sich zwei Tage nach unserer gemeinsamen „Schokolade-Vertilgung“ im Wald Folgendes. Ich betrat den Hof und entdeckte dort zwar keinen Präfekten und auch sonst keine Respektsperson, aber dafür ein aufgeregtes und aufgeregt murmelndes Rudel Buben. Sie hatten sich im Kreis rund um irgendein Zentrum zusammengerottet und erweckten den Eindruck, als würden sie eine spannende Vorführung verfolgen. Das Rudel bestand, soweit ich sehen konnte, aus der bewussten Clique in unserer Abteilung. Über ihrem Gemurmel war deutlich die Stimme ihres großen Zampanos zu hören.

Nichts Gutes ahnend, trat ich näher und hörte ihn rufen: „Du hast eine Strafe verdient. Das ist dir hoffentlich klar.“

Zu wem war das gesagt? Im nächsten Moment wusste ich die Antwort. Denn da hörte ich die flehende Stimme meines Freundes Thürlimann. Er rief: „Ihr glaubt doch hoffentlich nicht, was er da sagt?“

Jetzt drängte ich mich mit Hilfe der Ellbogentechnik durch den Kreis der Zuschauer, um meinem Freund zu Hilfe zu kommen. Übrigens antwortete keiner von ihnen auf seinen Hilferuf. Auch zu Hilfe kam ihm keiner. Und ich sah gerade noch, wie der Dragendorff unvermittelt ausholte und dem Thürlimann einen so harten Schlag ins Gesicht versetzte, dass dieser zurücktaumelte. Er fing sich aber sogleich wieder, rannte mit wutverzerrtem Gesicht auf den Gewalttäter zu und versuchte ihm mit Wucht in den Bauch zu boxen. Der wehrte den Versuch mit Leichtigkeit ab und schlug ihm unter dem Gejohle der Zuschauer aufs Neue ins Gesicht. Diesmal stürzte Thürlimann zu Boden. Er blutete aus der Nase, gab aber keinen Laut von sich, obwohl er ganz offensichtlich starke Schmerzen hatte. Der Gewalttäter stellte wie einem erlegten Jagdwild seinen Fuß auf ihn, offenbar, um ihn sofort wieder in den Staub zurückzutreten, falls er versuchen sollte, sich zu erheben, und blickte gleich einem erfolgreichen Großwildjäger triumphierend in die Runde. Und ehe ich es noch verhindern konnte, trat einer aus seiner Clique vor und versetzte dem Niedergestreckten einen Fußtritt in die Hüfte. Gleichzeitig spuckte ihn ein anderer an. Und das fand ich vielleicht noch demütigender und empörender als die Misshandlungen selbst.

Leider war ich über diese empörenden Vorgänge so entsetzt, dass ich mich einige Augenblicke wie gelähmt fühlte und viel zu lange tatenlos zusah. Als aber dann noch einer vorzutreten versuchte, um den Thürlimann zu demütigen oder zu misshandeln, versetzte ich ihm einen harten Stoß, wohlgemerkt, nicht ins Gesicht, sondern auf die Schulter, um ihn in den Kreis der Zuschauer zurückzubefördern, und wandte mich dann sofort dem Dragendorff selbst zu, baute mich drohend vor ihm auf und sagte mit gefährlich leiser Stimme: „Du, pass auf, du wirst dem Thürlimann jetzt aufhelfen und dich für diese Sauerei da entschuldigen. Ist das klar? Und im Übrigen wirst du ab sofort deine Pfoten von ihm lassen. Hab ich mich deutlich genug ausgedrückt?“

Der Dragendorff war sprachlos. Seine Getreuen waren sprachlos. Da wagte es doch ein bisher völlig Unscheinbarer, Stiller, Friedlicher, das Wort gegen den großen Dragendorff zu erheben? Ihm gar zu drohen?

Aber dann lachte er höhnisch und sagte mit ebenfalls bedrohlicher Stimme: „Ja, sag, was glaubst du denn, wer du bist, dass du dir anmaßt, uns zu sagen, was wir zu tun haben und was nicht? Verzupf dich, aber ein bisschen dalli!“

Doch immerhin nahm er jetzt wenigstens seinen Fuß vom Thürlimann herunter.

„Wer bist denn du, dass du mir sagen kannst, ich soll mich verzupfen?“, erwiderte ich ganz ruhig. „Aber ich weiß, wer du bist. Nämlich ein feiges Schwein.“

Gleichzeitig reichte ich dem Thürlimann die Hand, half ihm auf die Beine und sagte. „Bist du verletzt?“

„Es geht schon“, sagte er tapfer. „Aber lass es jetzt gut sein, Unger. Sonst machen die das auch noch mit dir.“

„Oh, ein kluges Kind“, höhnte der Dragendorff und ging drohend auf mich zu.

„Keinen Schritt weiter, du feiges Schwein“, sagte ich leise, zu ihm gewandt. „Sonst kracht’s.“

„Sonst kracht’s?“, schrie er. „Habt ihr das gehört? Sonst kracht’s? Gut geraten, Jüngelchen! Weil, jetzt kracht’s wirklich gleich.“

So höhnte der Dragendorff und stieß ein diabolisches Lachen aus. Ebenso seine Getreuen. Noch immer diabolisch lachend, stürmte er plötzlich auf mich zu und holte weit zum Schlag aus, wurde aber in seinem Sturmlauf unverhofft gebremst. Ich hatte ihm im rechten Augenblick ein Bein gestellt. Und schon machte es Bums, und er lag am Boden wie ein gefällter Baum.

Fassungslos, verdattert und sichtlich empört, wandte der Dragendorff seinen Kopf und glotzte in Richtung Himmelreich. Seine Anhänger waren mit einem Schlag still geworden.

„Wie gibt’s denn so was?“, murmelte er. „Ha, der Wicht hat mir ein Bein gestellt“, schrie er dann plötzlich. „Na, warte nur, du Missgeburt.“

„O ja, ich warte gern. Na komm, steh auf und probier’s halt noch einmal, du erbärmliches Arschloch“, erwiderte ich, nicht mehr ganz so ruhig wie zuvor. Aber ich wusste ja, gewalttätigen Feiglingen muss man Angst machen. Dann ziehen sie gleich den Schwanz ein.

Der Dragendorff rappelte sich auf und ... Nein, gleich zog er den Schwanz doch nicht ein. Zwar schien er ein wenig zu zögern. Offenbar dämmerte ihm, dass er da nicht mit einem Kriecher, sondern mit einem selbstbewussten Gegner zu tun hatte, der den Mythos vom unbesiegbaren Charlie Dragendorff nicht anerkannte. Aber nun ermunterten ihn seine Fans mit anfeuernden Zurufen. Und da konnte er nicht umhin, sich, wenn auch deutlich unsicherer, noch einmal auf mich zu stürzen, um mich ordentlich zu vermöbeln.

Ja, er stürzte sich auf mich. Und lag im nächsten Moment, wie von einem Keulenschlag getroffen, abermals am Boden. Die Charlie-Fans kamen aus dem Staunen nicht heraus. Sie waren verstummt. Und die ersten schlichen heimlich, still und leise davon.

Wieder rappelte sich der Dragendorff auf und schien jetzt wirklich den Schwanz einzuziehen. Denn er stürzte sich kein drittes Mal auf mich, sondern stammelte, nicht an mich, sondern an seine Fans gewandt: „Das gibt’s ja nicht. Aber mir scheint, ich bin heut nicht richtig in Form.“ Und als die anderen stumm blieben, schrie er sie unvermittelt an: „Was glotzt ihr denn so blöd?“ Inzwischen dürfte er begriffen haben, dass seine Autorität bei ihnen im Schwinden war.

Da holte er doch noch zu einem weiteren Schlag aus, ohne auf mich zuzustürzen und sich ein Bein stellen zu lassen, sah aber seinen Arm unvermittelt von mir abgefangen und festgehalten. Hierauf drehte ich ihm ihn, den Arm, so fest und kraftvoll um, dass er unter lautstarkem Stöhnen zusammenbrach und erneut auf dem Erdboden landete.

„So“, sagte ich zu ihm, „jetzt sagst du laut und deutlich: Ich entschuldige mich im Namen meiner Clique beim Thürlimann. Oder möchte das lieber ein anderer sagen?“

Keine Antwort, weder aus seinem Mund noch aus dem Kreise seiner Getreuen.

Nun gut. Ich drehte weiter an seinem Arm. Er stöhnte, bog sich unter den Qualen, gab das Bild eines Verkrüppelten ab. Mir kam vor, dass er in seiner schmachvollen Haltung flehentliche Ausschau nach einem Retter hielt. Aber kein Retter zeigte sich am Horizont oder in der Schar seiner Anbeter – seiner ehemaligen Anbeter, musste es jetzt wohl heißen.

„Also, ich höre“, sagte ich in die Stille hinein.

„Lass mich los“, wimmerte er. Und stieß erbarmungswürdige Schmerzensschreie aus, als sein Arm weiter gedreht wurde. Danach erst presste er das Verlangte hervor: „Also, wir entschuldigen uns.“

Nun endlich ließ ich seinen Arm los, sagte zu den noch immer „blöd Glotzenden“ und betroffen Schweigenden „Also, pfüat euch Gott“, fasste den Thürlimann am Ellbogen und verließ unangefochten, aber verfolgt von ihren „blöd glotzenden“ Blicken, schweigend den Schauplatz dieses sensationellen Geschehens. Sensationell war es nämlich für mich genauso wie für sie.

„Du, danke, Unger“, murmelte der Thürlimann. „Ohne dich wär ich noch immer in der Scheiße. Ich hab gar nicht gewusst, dass du so ein toller Kämpfer bist. So stark. Und so mutig.“

„Du wirst es mir vielleicht gar nicht glauben. Aber das hab ich bis heute selber nicht gewusst.“

„Aber geh. Das glaub ich dir nicht.“

„Du, wenn ich‘s dir sag. Ich war bisher immer überzeugt, ich bin ein Schwächling. Und ein Feigling. Na ja, feig vielleicht nicht. Aber schüchtern. Jedenfalls nicht aggressiv. Das bin ich heute nur geworden, weil ich gesehen hab, wie du misshandelt wirst. Und da ist irgendwas mit mir gerissen oder durchgegangen. Blutest du eigentlich noch?“

Und ich nahm seine Nase genauer in Augenschein.

„Nein, nein, ich glaub nicht“, murmelte er. „Und es tut auch fast nicht mehr weh. Also, danke noch einmal für die Rettung. Vielleicht kann ich auch einmal was für dich tun.“

„O ja, kannst du. Einen Gefallen kannst du mir tun. Sag Michael zu mir. Ich mag das eigentlich nicht so mit den Familiennamen.“

„Du, ich auch nicht. Dann sagst du ab sofort Beat zu mir, gell?“

„O ja, sehr gern. Aber sag, Beat, was war denn eigentlich der Anlass, dass dieses Arschloch auf dich losgegangen ist?“

„Ach ja, der Anlass. Man möcht es kaum für möglich halten. Unser Schokoladenfest im Wald, wenn ich es so nennen soll. Das muss doch jemand beobachtet haben, bestimmt einer von der Dragendorff-Clique, und dem großen Zampano brühwarm weitererzählt haben. Und der wollte nun unbedingt wissen, was wir zwei da im Wald miteinander getrieben haben. Wahrscheinlich hat er eine derart schmutzige Phantasie ... Na ja, jedenfalls hab ich natürlich deinem Wunsch entsprochen und nichts verraten. Und dafür hab ich seiner Ansicht nach eine Strafe verdient. Und wie die bei dem aussehen kann, hast du jetzt gesehen. Ich hätt nie gedacht, dass der zu solchen Brutalitäten fähig ist. Und das in einem katholischen Haus. Bei den Patres Jesuiten. Wenn das meine Eltern wüssten!“

„Na, dann wollen wir hoffen, dass ihm das, was heut geschehen ist, eine Lehre sein wird. Ihm und seinen Getreuen.“

Nun, wie es sich herausstellte, war es dem aggressiven Burschen zwar keine Lehre. Aber der Kreis seiner angeblichen Getreuen lichtete sich von diesem Tag an zusehends. Immer mehr Getreue wurden ihm untreu und distanzierten sich mit vielen Ausreden und Entschuldigungen. Und die wenigen, die ihm doch noch treu blieben, wollten sich auch nicht mehr so ganz seinen Befehlen beugen. So wurde der große Zampano allmählich auf ein Normalmaß reduziert und reihte sich schließlich wieder halbwegs in die Gemeinschaft ein. Und der Beat durfte aufatmen. Denn ein Ende hatten auch die Quälereien, unter denen er lang genug zu leiden hatte. Auch die ehemaligen Dragendorff-Fans wagten es nicht mehr, ihn zu mobben (wie man das heute nennen würde), vielleicht aber auch nur, weil sich herumgesprochen hatte, dass er mein Freund ist und dass ich meine allgemein bekannte Friedfertigkeit manchmal auch vergessen könnte.