Tropen Sachbuch

Impressum

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Tropen

www.tropen.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50465-1

E-Book: ISBN 978-3-608-11634-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

Das ist kein Buch über Liebe, Körper, Wut und Nazis, sondern eines über das Versprechen, einander alles zu erzählen. Es ist also ein Buch über Freundschaft, Grenzen und Tabus. Und wo wir schon im Kreis zwischen Stockbetten hocken, in Jogginghosen, und mit viel zu großen Augen für diese Uhrzeit: Es ist ein Buch über Wahrheit, und an ein, zwei Stellen auch eines über Pflicht.

Wir stellen uns Fragen, weil wir das irgendwie verlernt haben, seit wir damals von den Großeltern wissen wollten, warum sie bald sterben, und von der Tante, warum es keinen Onkel gibt. Wir haben es verlernt, weil Tante und Opa komisch geschaut haben, damals. Aber sicher auch, weil wir zwar immer noch etwas lernen wollen, nur nicht mehr voneinander.

Weil wir eigentlich nicht mehr zuhören wollen, wenn Menschen etwas erzählen, und das ja auch aus Gründen. Schließlich erzählen Menschen meistens langweilige Sachen, die man eh schon zu wissen glaubt. Und Menschen tendieren dazu, diese Sachen auch noch zu oft zu wiederholen. Vielleicht hätten wir also doch mal dazwischen funken sollen. Mit Fragen zu den Themen, die uns wirklich interessieren, die uns beschäftigen. Vermutlich: nicht nur uns.

Wir sind vier, und um ehrlich zu sein: Manchmal sind wir nicht sicher, ob wir uns wirklich mögen. Immerhin machen wir seit Jahren ein Magazin miteinander, Die Epilog, gemeinsam mit vielen anderen – ein Job. Aber am Ende sitzen wir doch immer ein bisschen länger zusammen, an Kneipentischen, oder nachts in Fast-Food-Läden in Hauptbahnhöfen, in verqualmten Konferenzzimmern, in denen wir nicht hätten rauchen dürfen, und auf Festivalcampingplätzen.

Ein Jahr, von Herbst 2018 bis Herbst 2019, nahmen wir uns Zeit, um uns zu schreiben. Wir haben uns ausgefragt mit der Naivität von Kindern, bei der die Neugier des einen die Neugier der anderen auslöst. Ein Spiel mit fiesen Schubsern und dem Versprechen, uns aufzufangen. Wir stellten Fragen, die wir unseren Freund*innen schon immer stellen wollten, es aber nicht getan haben, jenseits vom Flaschendrehen. Weil sie uns zu persönlich vorkamen, zu gefährlich. Andere Fragen als zu Stockbettenzeiten (versprochen), aber gestellt mit denselben großen Augen. Und noch größerer Unverschämtheit, vielleicht. Wir wollten wissen: Wie viel Nähe halten wir aus?

Es ist ein Spiel.

Das sind seine Regeln.

  1. Wir gehen davon aus, dass wir Freund*innen sind.

  2. Wir interessieren uns füreinander.

  3. Wir interessieren uns wirklich füreinander.

  4. Wir fragen.

  5. Wir antworten.

  6. Wir haben dafür jeweils sieben Tage Zeit.

  7. Wir tun es schriftlich.

  8. Wir fühlen uns dabei stets mehr der Wahrheit verpflichtet als der Lüge.

  9. Wir mussten auch kurz daran denken, aber Domino ist was anderes, weil wir nicht wollen, dass jemand fällt. Dass wir ins Wanken kommen, wollen wir schon.

  10. Wir fangen jetzt an, weil wir es sonst nie tun.

Jenny, sagt man noch »ich liebe dich«?

Jennifer • Ja, Fabian, in den falschen Momenten.

Zum Beispiel?

Wenn ich nicht meine, was ich sage, sondern:

Scheiße, antworte!

Weil ich eigentlich frage:

Woran merkst du, dass die Liebe weg ist?

Woran, Mads?

Mads • Liebe Jenny, das merke ich gleich. Also sofort, beim Kennenlernen schon. Ich kann der Ahnung nicht entgehen, dass das, was da aus vertrauten Worten und Blicken entsteht, eines Tages wieder vergehen wird. Man könnte es auch als schlechte Angewohnheit betrachten, die Packung immer als erstes nach dem Verfallsdatum zu wenden.

Das war nicht immer so, die erste Liebe hielt ich selbstverständlich für unendlich und ohnehin raumzeitlich völlig entgrenzt. Aber das war – keine Überraschung – ein Irrtum. Raum, Zeit und auch ihr schnell verebbendes Interesse widerlegten meinen Eindruck zügig und unmissverständlich.

Ich litt eine Weile sehr und dann war sie mir egal, was ich bis heute kaum glauben kann, denke ich an das ganze Drama zurück. Dabei hatten das natürlich alle vorher so vorausgesagt, mir Cat Stevens vorgespielt und Sarah Connor: Klar, so ist das beim ersten Mal, da glaubt man der Chemie und all ihren Versprechungen und Vertuschungen und Flunkereien und derben Lügen. Sie haben ja auch geübt. Hormone: 500 Millionen Jahre Bio-Sales-Experience.

Seitdem aber, seit ich also das notwendige Misstrauen in meine Gefühle entwickelt habe, das man gemeinhin Erwachsensein nennt, seitdem drängen sich mir die Grenzen der Zuneigung meines Gegenübers unmittelbar auf. Ein Stirnrunzeln, ein schiefes Lächeln, eine ironische Spitze, ein Offenbarungseid zu viel oder zu wenig und ich meine zu wissen, wie das die Straße runtergeht. Nicht, dass ich nicht trotzdem geliebt hätte, nicht, dass ich solche Beziehungen nicht geführt hätte. Aber immer mit der Hypothek zu wissen, dass sie ein Ablaufdatum haben, dass ich schon weiß, dass diese Liebe enden wird.

Das ist natürlich eine Zumutung, das merkt eine Partnerin sicherlich auch. Und man schleppt sich mit einem Regime aus Schuldgefühlen und Trennungsängsten durch die Monate und Jahre und weiß, es ist unabwendbar. Die Frage ist nur, welche Ausfahrt nehme ich, diese oder warte ich noch auf die nächste? Horror, wirklich, Jenny. Das habe ich bis heute nicht verwunden, dass ich jemandem so etwas angetan habe, jemandem, den ich meinte zu lieben. Mehreren.

Aber wahrscheinlich ist das gar nicht, was du meinst, mit Liebe. Und du magst mit deinem Einwand recht haben: Das Wort »Liebe« wäre wohl auch in seiner nüchternsten Interpretationsweise nicht auf eine derart dekonstruierte und romantisch-amputierte Zuneigung zu reduzieren.

Liebe braucht ja diese Totalität, die sie nie einlösen kann. Zumindest nicht aus sich heraus. Liebe ist eine extensive Emotion, sie verbraucht sich schneller, als sie regeneriert. Sie muss die alltäglichen Abklärungen und Notwendigkeiten schultern, sich von neuen Bekanntschaften und Lebensphasen in Frage stellen lassen. Das Gefühl Liebe selbst ist also nicht totalitär, sondern immer nur konditional.

Ihre Absolutheit muss erst hergestellt werden, sie muss entschieden werden. Erst die Entscheidung zur Liebe transzendiert ein spontanes Gefühl ins Unendliche: Du bist mein Partner, meine Partnerin, ich stehe zu dir, für immer. Die totale Liebe ist ein Versprechen, das man sich selbst gibt und damit erst glaubwürdig macht.

Gefühle verändern sich, das ist eine Binsenweisheit. Die Entscheidung, sich einem anderen Menschen auf immer hinzugeben, bleibt. Dieser Wille zur Fürsorge und Loyalität vergeht nicht. Das klingt vernünftig und abgeklärt, aber für mich ist das viel romantischer als eine Liebe, die sich aus sich selbst heraus schöpfen soll. Die nimmt ja die eigene Kontingenz in Kauf, weiß, dass sie kommt und vergeht und macht den Menschen dahinter völlig austauschbar. Eine Liebe kann nur zu Ende gehen, wenn man nicht die*den Partner*in liebt, sondern nur die Liebe selbst: L’amour pour l’amour. L’amour pour moi seule.

Ich fühle mich da zeitgeistig manchmal etwas deplatziert. Commitment wird ja viel auch als beengend empfunden. Das kann ich schon verstehen, vor allem, wenn man die ewige Zweisamkeit zu Hause bei den Eltern so erlebt hat. Ich kenne das nicht, keine pathogenen Partnerschaften, die ihre Erträglichkeitsgrenze längst überschritten haben, keine Zweckehe und keine Scheidungsdramen.

Meine Eltern waren immer getrennt. Ich kenne von zu Hause nur serielle Monogamie und Patchwork, die strukturellen Kondensate der Liebe für die Liebe. Wenn die Liebe vorbei war, ging sie woanders, mit einem anderen Menschen weiter. Das ist in Ordnung, mir aber zu profan. Ich habe mich für die eine Liebe entschieden. Steffen, für welche Liebe hast du dich entschieden?

Steffen • Für den Helm, Mads, immer für den Helm.

Wenn ich »Entscheidung« lese, sehe ich einen Motorradhelm vorm inneren Auge. Entscheidungen sind Helme. Ich weiß nicht, warum sie bei mir stecken geblieben ist, die Helm-Geschichte. Ich las sie 2005 in der Titanic. Da erzählt Oliver Nagel von einem Preisausschreiben in seinen frühen Jugendjahren, Hauptgewinn: ein Motorradhelm, alternativ 600 DM in bar. Natürlich gewinnt der Autor, und entscheidet sich, vor die Wahl gestellt, für den Helm. »Wie wenig durchdacht jedoch, ja wie geradezu verblüffend idiotisch diese Entscheidung war«, schreibt Nagel, »fiel am nächsten Morgen zunächst meiner Mutter auf: ›Den‹, sagte sie, ›kannst du ja nicht einmal verkaufen!‹ Und tatsächlich: Nicht nur hatte ich mich für den Helm entschieden, sondern auch noch für einen, der auf meinen vierzehnjährigen Kopf passte, aber kaum auf einen halbwegs ausgewachsenen.«

Ich erinnere mich an das Jahr, in dem ich die Geschichte las, nur hinter einem grauen Schleier, eigentlich ging es mir die meiste Zeit schlecht, ein Festsitzen in meiner Heimatstadt, aber diese Anekdote, zu finden in der Rubrik »Vom Fachmann für Kenner«, begleitet mich seit fast eineinhalb Jahrzehnten. Ich las sie noch im Bus auf dem Weg von der Innenstadt in meinen Vorort, Saarbrücken-Klarenthal, Linie 15, das Heft erworben in der Karstadt-Passage, kurz bevor ich von zu Hause weggezogen und zum Studieren ein Drittel Deutschland weiter nach Norden gegangen bin. Ich erschloss mir ein neues Umfeld, ein neues Denken und einen neuen Körper.

Die Anekdote ist geblieben. Der Helm wurde, ein wenig mehr, als mir lieb ist, ein Teil meiner Identität, meiner Erzählung von mir selbst, »I’m a loser baby, so why don’t you kill me«, das ewige melancholische Chaplin-Scheitern als Narrativ, so dated wie ein Titanic-Witz aus dem Jahr 2005. Bloß habe ich kein schöneres finden können, keines, das weniger eklig gewesen wäre. Ich weiß nicht, was mutiger ist, das ruhig gelingende Leben oder das inszenierte Slacking. Die Lieder sind auf unserer Seite besser, aber da drüben leben die Leute ein wenig länger.

Ich hatte, um deine Frage zu beantworten, nie den Eindruck, mich entschieden zu haben, weil ich in diesen Dingen, natürlich, nicht an Entscheidungen glaube. Dass ich von meinen fast dreieinhalb Jahrzehnten nicht einmal netto zwei Jahre in einer Beziehung gewesen bin, ist vielleicht, natürlich, so könnte es sein, Entscheidung für Freiheit, für den Moment, das Ungeplante, das Fließende, für Dazwischen und ewiges Werden, gegen Sicherheit, gegen ein kapitalistisch-patriarchales Konzept, klar, vielleicht aber auch einfach eine feige Entscheidung für die Entscheidungslosigkeit, die Passivität, gegen die Intensität von Emotionen. Schmerzvermeidungsentscheidung. Oder schlicht: Das Ergebnis des Aufwachsens mit zwei Elternteilen, die irgendwie ineinander stolperten, zusammenblieben, aber nicht zu wissen schienen und scheinen, dass Liebe mehr ist als das.

Ich muss zugeben, dass mir meine Haltung oft schal wird. Denn sie ist natürlich auch eine für das Lügen, mir selbst gegenüber, meinen Bedürfnissen. So, wie ich seit Ewigkeiten Freiberufler bin und seit ewig unzufrieden, mich ständig irgendwo bewerbe, aber mich dabei stets sabotiere durch unmögliche Anschreiben oder fehlende Unterlagen, ist mein Single-Sein oft genug Selbstsabotage. In vier Wochen, an Weihnachten, werde ich zum ersten Mal seit über einem Jahr eine Frau treffen, für die ich mich tatsächlich entschieden hätte, hätte sie die Entscheidung für mich getroffen. Sie lebt mittlerweile auf einem anderen Kontinent. Ich konnte »ja« sagen, damals, weil sie es nie und nimmer konnte.

Wir näherten uns an, blieben beieinander wie jene Mathe-Grundkurs-Asymptote, in der sich der Graph einer Funktion einer Linie immer weiter annähert, ohne sie je zu schneiden. Wir haben die Unendlichkeit der Nichtberührung dann etwas forciert zu durchbrechen versucht. In einem Sommer vor drei Jahren zog ich zusammen mit ihr in eine Wohnung in einer anderen Stadt, nach Leipzig, zwei Zimmer, Küche, Bad zur Zwischenmiete im Westen. Sie ließ mich dort alleine, sie kam einfach nicht. Zurück in Berlin, Monate später, sahen wir uns kaum noch. Der Sommer war aber immerhin gut wie selten einer davor oder danach, freedom’s schließlich just another word for nothing left to lose, und ich war jung, allein und woanders.

Das ist mein »Ja«, ein drehbuchreif dramatisches, aber dennoch recht eigentlich, gegenüber deiner Entscheidung, Mads, für die eine Liebe und eine Familie, traurig risikoloses. Und klar, da sind Feigheit und Lügen. Dass ich in der letzten Woche eine Frau besucht habe, die ich, zum Beispiel, eine »Geliebte« nennen könnte, habe ich der Frau in Berlin, mit der ich mich gerade vielleicht beinahe auf eine Beziehung zubewege, nur sehr durch die Blume gesagt, ich Klischee-Dude. Dass ich euch hier davon erzähle, sagt einiges darüber aus, wie wenig ich darauf vertraue, dass eine der beiden noch da ist, wenn das Buch rauskommt.

Ich wünschte, ich könnte öfter eine Entscheidung für die eine Liebe treffen, auch wenn es bloß eine serielle eine Liebe ist. Aber ich bin in diesem Fehlen stabil und, ja, irgendwie glücklich. Ich lasse mich auf Leute schnell ein, teile eine mir selbst unheimliche, aber verführerisch kribbelnde Intimität mit vielen Menschen, genieße jedes Vertrautwerden neu, jede Begegnung, jede Sicherheit für Minuten. Ich wachte nie neben einem Menschen auf und schämte mich meiner selbst, nie neben einem Menschen, mit dem ich mich nicht wohl gefühlt hätte. Meine Liebe kennt keinen Walk of Shame, aber viel Wärme. Ich möchte auch nach Jahren bei OkCupid keine meiner Begegnungen missen. Die vielen sind nie wahllos gewesen, die meisten waren sehr total und ehrlich.

Um Selbstbestätigung geht es dabei, das möchte ich mir gerne glauben, schon lange nicht mehr, ganz sicher aber auch nie um Sex, sondern, tatsächlich, um den Moment. »Freedom is a verb«, hat der Klezmer-Punk Daniel Kahn in einen Song geschrieben, Liebe auch, etwas, was sich durch Handlungsweisen herstellt, in denen ich mich wohlfühle. Viele Menschen, die heute enge Freund*innen sind, trafen mich als Funken von Liebe und manchmal als Feuerwerk. Die Entscheidung gegen die Liebe – oder für eine andere Liebe, viel eher, andere Temperaturen von Liebe – ist natürlich ein Helm. Davon abgesehen, dass es doof ist, den Helm zu wählen, hält er aber doch auch safe and warm. Er minimiert das Risiko bei einem Leben, das auf Sicherheit gern verzichtet.

Vielleicht mehr noch als Nagels Geschichte ist mir die im gleichen Titanic-Heft wenige Zeilen weiter unten stehende Nacherzählung von Stefan Gärtner in Erinnerung, eine andere Perspektive auf jenen Abend in Frankfurt, an dem Oliver Nagel die Geschichte ausbreitete. »Die ganze Runde hat über die Geschichte vom Helm so endlos und erkenntnisvoll und tatsächlich glücksnah gelacht, daß an diesem Wirtshaustisch, in später dialektischer Verschränkung, auf einmal alles richtig war, auch jene schlimm entscheidenden Momente, die da waren und die da noch kommen und in denen wir, aus melancholischer Ergeben- oder einfach sturer Blödheit, sagen werden, und zwar mit allem Stolz, dessen wir noch fähig sind: Ich nehme den Helm. Den Helm! Den Helm her, Sie Arschloch!«

Dieses Glück verstehe ich auch, ich kenne es. Überhaupt: Vielleicht müssen wir darüber reden, statt über die Art, wie wir unsere Liebe rationalisieren. Fabian, geh du voran: Wann warst du, wann bist du glücklich?

Fabian • Ich bin glücklich, Steffen, wenn J Mascis in »Whatever’s Cool With Me« beim Übergang von der Bridge in den Refrain ein Gitarrensolo schrubbt und dann doch noch die Kurve kriegt und, lakonisch halt, sagt, »Can’t figure out a way to play / it up so that you wanna say / whatever’s cool with me«.

Musik macht mich glücklich, vor allem, wenn sich in ganz bestimmten Momenten meine Kopfhaut ganz oben so anfühlt, als würde sie abrupt vollflächig einschlafen, es kribbelt dann ohne Ende und von den Haarwurzeln fließen feste Signale ins Hirn und von dort aus weiter runter, sodass ich erstmal ganz tief Luft holen muss. Bei einem Konzert ist das dann so, dass sich der ganze Magenbereich zuzieht und ich das Atmen vergesse, ein bisschen so, wie wenn man kurz vorm ersten Mal Kotzen ist, wenn man etwas Schlechtes gegessen hat.

Ich bin glücklich, wenn ich mir ein Mal im Jahr ein richtig, richtig geiles Essen leisten kann. Im Berliner Restaurant Panama war ich zuletzt, mit meiner Freundin. Und, boy, es war verrückt gut. Das Tartar, dieses Schabefleisch, rohes Hackfleisch vom Rind in vornehmer Portionierung, ich habe es, ernsthaft, beim Essen in den Extremitäten gespürt. Glücklich bin ich besonders, wenn ich immer wieder feststelle, wie gern ich mit meiner Freundin zusammenlebe.

Glücklichsein ist aber kein anhaltender Zustand, es flackert auf, im besten Fall aus diffuser Zufriedenheit heraus. Der Begriff »Glück« selbst bezieht sich entweder auf ein positives Schicksal oder auf einen positiven Zufall. So steht es zumindest irgendwo im Internet. Menschen wären demnach sowieso nur eingeschränkt in der Lage, ihr eigenes Glück zu schmieden. Glück ist vielleicht vielmehr auch, wenn man es in einem bestimmten Moment als solches erkennen kann. Und seit Kai Strittmatters Gebrauchsanweisung für China weiß ich auch: »Das chinesische Wort für Glück ist kuai le: ›die flüchtige Freude‹ […].«

Neulich war ich zur Familie, Onkels, Oma, Cousins, Tanten, eingeladen. Unsere Familientreffen reduzieren sich aufgrund weiter Entfernungen meist auf einen halben, mal einen ganzen Tag. Wir kommen zusammen, wir sitzen an Tischen, wir essen, wir trinken Kaffee, es wird viel und laut geredet und manchmal geht’s zum zwischenzeitlichen Durchatmen Richtung Klo oder die Treppe rauf und wieder runter. Vielleicht ist das dieses Ding Zugehörigkeit vs. Autonomie. Ich will ja dazugehören und trotzdem hab ich Fluchtreflexe, will für mich und allein sein. Und die Familie soll man ja lieben, darin sollen ja auch Glück und Glücklichsein liegen. Das ist aber eben auch schwer und anstrengend manchmal, kann man sich ja nicht aussuchen, um das jetzt mal zu klischeeisieren. Und diese Spannung tut weh.

Kurz vor einem geplanten Besuch, 2019 war das, sagte ich ab. Infekt, Stress, da kam alles auf einmal und dann brach ich zusammen, flennte wie sonstwas. Ich hab mich so beschissen gefühlt, so weit weg, zu selten da, vielleicht. Daran wollte ich was ändern und schließlich fuhren wir nicht nach Italien oder Frankreich, sondern tingelten im Sommerurlaub die Familie ab. Da hab ich vielleicht auch ein bisschen an meinem Glücklichsein gebastelt.

Was mich natürlich auch immer wieder zufrieden bis glücklich macht, sind Freund*innen. Menschen, die ich schon seit dem Kindergarten oder seit der Grundschule kenne und mit denen und deren Kindern ich heute Silvester feiere. Ab und zu frage ich mich, ob es diese ganz besonderen Menschen, solche ganz engen Bindungen, ob es das nur in der Schule und im Kindergarten wirklich gab oder ob sie nur sein können, weil sie schon so lange dauern: Wer ist dein*e beste*r Freund*in, Jenny?

Jennifer •

(Er)

Er war jeden Tag da und ich habe es nicht gemerkt.

Jetzt ist er weg und ich merke es jeden Tag.

Ob man noch »ich liebe dich« sagt, hast du gefragt, Fabian.

Ja, in den falschen Momenten, habe ich geantwortet.

Zum Beispiel?

Nachdem ich gemerkt hatte, dass er jeden Tag da gewesen war.

Bevor er aufhörte, jeden Tag da zu sein.

Ob man noch »ich liebe dich« sagt, hast du gefragt.

Ja, in den falschen Momenten, habe ich geantwortet.

Zum Beispiel?

Als wir begannen zu merken, was wir sind.

Und aufhörten zu sein.

(Sie)

Ich liebe dich.

Weil mir keine Beispiele für falsche Momente zwischen uns einfallen.

Weil ich weiß, dass wir nichts mehr oder weniger sein werden, wenn ich es sage.

Als beste Freundinnen.

Mads • So Jenny, jetzt ist aber auch mal gut. Klar, es gibt Dinge, die lassen sich nicht in klaren Worten, in vollendeten Argumenten oder auch nur vollständigen Satzkonstruktionen ausdrücken. Aber das hier ist deine zweite Antwort in diesem Kapitel und es ist wieder nur (sic!) ein Gedicht. Das ist doch poetisches Hakenschlagen. Ich rieche Angst! Als hättest du nicht die Sprache zu sagen, was du denkst, als fehlten dir sonst die Worte und Bilder. Ich glaube dir das nicht. Also deine Worte schon, ganz sicher, aber ich glaube dir nicht, dass die Lücken, die Abstraktion, das Ungefähre hier mehr erzählt, als wenn du einfach erzählen würdest.

Gut, ich glaube das meistens nicht. Ich halte einen Großteil von dem, was man Lyrik, Kunst oder auch nur Ästhetik nennt, für feige Ausrede, für den Rückzug ins Ungefähre, für Nebelbomben und reine Angst vor der Banalität der eigenen Gedanken.

Das, und das haben ja schon Klügere gesagt, das kann man ja immer gar nicht glauben, dass die eigenen Gedanken völlig banal sind und dann verdreht man sie in der Sprache oder malt was an oder schweißt Altmetall zu Türmen auf. Und versucht, auch den letzten Furz ästhetisch zu transzendieren. Und klar: Jeder Text ist klüger als seine Autorin. Es steckt immer mehr Kultur und Zeitgeist in der Ästhetik des Mediums als in gefeilten Argumenten. Da liest sich mehr raus, als mal reingesteckt wurde. Aber das trifft hier doch nicht zu. Das ist sicher nicht banal, wovon du da sprichst. Ich verwette meine Leertaste darauf, dass du mehr sagen könntest, als du willst. Und wenn du nicht willst, auch ok, aber dann sag das doch!

Jennifer • Mads, touché, aber die Sache ist die: Das ist kein Furz für mich, das ist das Gegenteil. Kontrolle nämlich. Nein: vermeintliche Kontrolle, denn geklappt hat das ja nie. Liebe ist nicht die schönste Sache der Welt, Liebe ist Bedrohung. Deswegen stelle ich mich tot. Es gibt nämlich nur eine Sache, die noch gefährlicher ist als Liebe: verbalisierte Liebe. Da steht man auf der Lichtung, da wird man verletzt. Immer. Wir sind da alle angeschossen, aber manche regenerieren sich eben schneller. Für mich gilt: Die Wunde ist nie ganz verheilt und die Narbe zieht, sobald Gefahr im Anmarsch ist. Ein Mensch, den ich mögen könnte, reicht da schon. Über Ansätze einer Beziehung möchte ich gar nicht nachdenken. Und wenn ich Beziehung sage, meine ich alle Formen. Eine*r gibt ja immer mehr, aber die mit »Ich liebe dich«-Potenzial drohen mich wirklich umzubringen. Also bringe ich sie vorher um.

Kennst du die Waage mit Autonomiestreben auf der einen und Verlustangst auf der anderen Seite? Sie kippt stabil, seit ich die Rechtschreibfehler in Thomas G.s Liebesbrief angestrichen habe. Mit sieben. Ich schiebe weg, ich ziehe ran, ich flüchte, ich klammere – und nie bin ich: genug. Wie soll ich also ich selbst bleiben, wenn ich Platz für jemand anderen machen muss? Im niedlichsten Fall bin ich ein flimmerndes Glühwürmchen, im Normalfall eine tickende Zeitbombe. Mit dem Unterschied, dass ich ausschließlich implodiere, weil ich niemanden mit reinziehen möchte. Also gaukele ich mir vor, dass keiner Wind davon bekommt, wenn ich innerlich krepiere, während wir aufeinanderliegen. Jede Partnerschaft meine kleine Supernova.

Aber ich bin dran, Mads, ich habe es nämlich gesagt. Neulich, nachdem ich es wieder nicht sagen konnte, obwohl ich es fühlte. Neulich, nachdem ich damit wieder jemanden sehr verletzt habe, der eigentlich das Gegenteil verdient hat. Und der sich trotzdem die Zeitbombe ans Bein bindet. Und sie streichelt, als sei sie aus Watte. Nicht die aus Zucker. Starke, unverwüstliche Powerwatte. Als sei da gar nichts Bedrohliches, obwohl er wahrscheinlich die gleiche scheiß Angst hat. Denn sicher hatte er auch kleine Supernovä in seinem Leben, zumindest hat er Narben, die ziehen. Aber er kann das eben besser mit der Waage. Und im Zweifelsfall so gut, dass er zwei Waagen ins Gleichgewicht bringt. Zumindest ein Graffiti und eine Paradiescreme lang, eine Schallplatte, die zur Übernachtung wächst, zu einer Woche in Exarchia. Für Momente, die irgendwann Zeit ergeben.

Und wie ging gleich dieser Klugscheißerspruch mit der Zeit und der Heilung? Ich werde niemals aufhören zu ticken, aber im besten Fall explodieren wir irgendwann zusammen. Ich liebe dich nämlich, du süßes Risikogeschäft mit kalten Knien und Sommersprosse unter dem rechten Auge (von mir aus links). Und außerdem hast du recht: Wir leben jetzt, warum nicht on the edge? Also koch mir endlich deine Spezialerdnusssoße aus Erdnusssoße und Öl und ich verspreche: Ich werde sie äußerlich lieben, auch wenn ich innerlich krepiere.

Das war jetzt wieder so ein Gedichtverschnitt, Mads. Sorry dafür, aber der Rest war doch ganz konkret und irgendwo braucht man ja eine Plattform. Denn wir wissen ja alle, wie es um den Markt für solche Textausbrüche steht, besonders Steffen. Sonst würde er nicht jedes Mal um sein Leben schreiben. Speaking of sich nackig machen und vermeintliche Kontrolle, Fabian: Wann und woran hast du gemerkt, dass aus Freundschaft romantische Liebe wurde? Und fiel es dir schwer, zu unterscheiden?

Fabian • Jenny, das war so: Wir waren auf dem Gymnasium in der gleichen Stufe, küssten uns einmal auf dem Bolzplatz. Dann hatte sie ältere Freunde. Die fanden wir alle toll, deswegen kam niemand auf die Idee, dass sie einen von uns auch toll finden könnte. Im Leistungskurs Deutsch, verriet sie später, merkte sie, dass sie mich gut fand. Wir saßen nebeneinander. Ich fand sie auch gut. Richtig sexy fand ich sie dann erst nach der Schule. Sie hatte auch keine älteren Freunde mehr.

Wir lebten schon in unterschiedlichen Städten. Ich besuchte sie, sie besuchte mich, wir saßen zusammen daheim bei Freund*innen auf der Terrasse und merkten, dass da etwas kam. Aber wie gesagt, Jenny, es war nicht schwer zu unterscheiden. Ich zog dann in ihre Stadt, war in ihrem Leben, das ging auch eine Weile gut und war schön. Irgendwann wurde es weniger.

Dann war ich auf der anderen Seite der Welt, sie besuchte mich. Am Flughafen rutschte mir dieser Satz raus: »Irgendwie ist es so selbstverständlich, dass du hier bist.« Was ich meinte, waren the wonders of traveling, setz’ dich in einen Flieger und sei sechs Stunden später da, wie gebeamt, schön dass du hier bist, ich habe mich dir gar nicht so fern gefühlt, die ganze Zeit, vielleicht ein bisschen. Ich konnte es nicht richtigstellen. Während ihres Besuchs beendeten wir die Beziehung.

Später verliebte sie sich dann in einen Freund und stellte fest, dass sie immer wieder Menschen gut findet, die sie schon lange kennt. Dann verliebte sie sich wieder in einen Freund. Heute haben sie zwei coole Kinder und es scheint alles gut zu sein. Zwischen uns ist es auch okay, aber distanziert. Ein Freund sagte mal, er schließe ein Buch nach dem letzten Kapitel. Das kann ich verstehen, finde es aber auch ein bisschen traurig, deswegen fahre ich die Zwischenlösung, wenn man so will. Wie siehst du das, Mads? Wie erhältst du Freundschaften?

Mads • Nee, da glaube ich auch nicht dran, an dieses letzte Kapitel. Freundschaften, Partnerschaften, Beziehungen, whatever haben ja keinen Leineneinband oder gar dickes Leder, das man mit Wucht auf die letzte Seite werfen könnte, sodass der Staub wie ein letzter Atemzug aus dem vergilbten Pergament weht. Was ich meine: Beziehungen haben keine natürlichen Grenzen. Menschen werden geboren und sterben, klar, aber das hängt nur in Ausnahmen mit dem Beginn und dem Ende einer Beziehung zusammen, eigentlich nur bei engen Verwandten. Und auch da freut man sich ja schon auf die neuen, liebt sie schon, bevor sie eintreffen und betrauert die alten, hält Zwiesprache, unterwirft sich ihrem Urteil, selbst wenn sie längst nicht mehr da sind.

Die meisten Beziehungen finden irgendwo dazwischen statt, zwischen Geburt und Tod, sie beginnen und enden. Aber welche Geschichte sie erzählen und welches jetzt auch wirklich das verdammt letzte Kapitel ist, oder wenigstens das beste Ende unter verschiedenen möglichen, das weiß doch niemand. Also gut, man kann es ahnen, wenn man sich eh schon lange nichts mehr zu sagen hatte, wenn die Gesten immer mechanischer werden, wenn die Uhr und nicht die Gespräche die Dauer der Begegnungen zu bestimmen beginnt. Niemand möchte lebenserhaltende Maßnahmen, aber wann weiß man denn, dass es so weit ist? Ich wäre nicht bereit, den Stecker zu ziehen, wenn sich da noch so viel ergeben könnte, so viel Schönes.

Das ist natürlich etwas absurd, dass ich das jetzt schreibe, ich, der keinen Kontakt mehr hat zu irgendeiner seiner ehemaligen Partnerinnen. Ich finde das selbst befremdlich, ich kann es aber auch nicht erklären. Irgendwie war das Ende dann doch zu brutal für mindestens eine*n von uns, als dass man da am nächsten Tag hätte sagen können: »Und, gut geschlafen?«, »Hast du den Tatort gesehen?«, »Könntest du vielleicht meine Katze füttern, während ich mich drei Tage in die Pannebar lege?«

Andererseits habe ich das auch nie ganz verstanden, dieses »gute Freunde bleiben«-Ding. Wir waren ja aus gutem Grund nicht befreundet. Wir waren ja verliebt. Wenn Steffen erzählt, was für tolle Menschen er übers Daten kennengelernt hat, und wie schön das ist, mit alten Partner*innen noch befreundet zu sein, dann klingt das für mich, als wäre Freundschaft nur die Sparversion von Liebe, als sei beides eigentlich das Gleiche, höchstens graduell unterscheidbar.

Das verstehe ich nicht. Für mich hat beides wenig miteinander zu tun. Natürlich wird mir warm ums Herz, wenn ich alte Freund*innen sehe, aber das hat ja nichts von der Tragik der Liebe, mit dem wehmütigen Gefühl, der*dem anderen nie so nahe sein zu können, wie die eigene Sehnsucht reicht.