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Slavcho Slavov

Meine vielen Wege zum Glück

Die Geschichte eines Strassenkünstlers

CAMEO

 

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Nach Italien

Mestre

Venedig

Neapel und züruck

München

Asyl

Im Flüchtlingsheim

Kopenhagen, Dänemark

Bulgarien

Griechenland

Zurück nach Venedig

Nizza

Pisa

Lourdes

Wieder in Nizza

Villeneuve-Loubet

Matz kommt

Cannes

Zurück nach Lourdes

Nach Norden

Stockholm

Bern

Marfi

Dokumente

Meine Odyssee mit Lourdes und Matz

Die Buchpräsentation

Das Leben geht weiter

 

Dieses Buch ist meinen Freunden aus der Schweiz gewidmet, die in den schwierigsten Zeiten immer für mich da waren.

Auch an eine Person, die nicht in der Schweiz lebt, er brachte mir das Malen bei und legte den Grundstein für meine künstlerische Arbeit.

Prolog

Anne hat mich angerufen und mich zum Abendessen eingeladen. Sie hat sich immer nach meinem Leben erkundigt, hatte besonderes Interesse daran, wie ich nach Europa geraten bin und wollte, dass ich ihr Einzelheiten erzähle. Im Unterschied dazu war ihr Ehemann Ralph nicht so neugierig. Der hat mir nicht so viele Fragen gestellt, aber das finde ich normal. Ralph ist Professor an einer Uni und stellt seinen Studenten den ganzen Tag Fragen. Infolgedessen ist er am Ende des Arbeitstages schon müde.

«Du willst alles so ausführlich wissen, als ob du dich dafür entschieden hast, ein Buch zu schreiben», hat Ralph gescherzt.

«Ja. Aber nicht ich. Sein Leben ist sehr interessant, und weißt du was: Ich glaube, dass ein Buch über seine Erlebnisse eigentlich sehr gut wäre», hat Anne ernstlich erwidert und, an mich gewendet, weiter nachgefragt. – «Slavo, was war der Grund, weshalb du Bulgarien verlassen hast?»

Darüber musste ich nicht lange nachdenken. «Es könnte seltsam klingen – die Politik, die die heutigen, bestechlichen Politiker machen.»

«Ich verstehe dich nicht», mischte sich Anne ein. «In Bulgarien herrscht doch Demokratie, oder?»

«Demokratie. Was bedeutet Demokratie? Dass man das Recht hat zu wählen?» Ich musste zynisch lachen. «Während des Sozialismus konnte man auch wählen. Die Frauen auch. Männer und Frauen waren gleichberechtigt. Niemand wurde in diesem Sinne diskriminiert. Damals gab es eine Mittelklasse in Bulgarien. Jetzt gibt es sie nicht mehr. Die Demokratie als Ideologie ist etwas Hervorragendes. Eine Demokratie gibt es nur in der Schweiz. Ihr wählt jedes Gesetz mit einem Referendum, bevor es in Kraft tritt. Etwas Ähnliches gibt es nirgendwo in der Welt. Vieles, was über die Diktatur und über die Repressalien gesagt und geschrieben worden ist, war meiner Ansicht nach eine glatte Erfindung – oder genauer gesagt ein im Voraus ausgedachtes Szenarium. So meine ich.»

«Ja, aber dennoch wurden durch das Gesetz viele unschuldige Leute verfolgt …»

«Es gab ein Gericht, dort wurden viele Urteile gefällt. Alle Papiere, für jeden Verurteilten, liegen im Staatsarchiv. Nach so vielen Jahren stelle ich mir immer die gleiche Frage: Warum ist kein Kommunist für die Übeltaten, die während der Zeit der Repressalien passiert sind, verurteilt worden? In Bulgarien wurde kein Kommunist aus der höchsten Hierarchie der Kommunistischen Partei verurteilt. Folglich galten all diese Personen als unschuldig. Alle mündlichen und schriftlichen Informationen über sie waren also eine Lüge, was dann auch noch durch die Gerichtsverfahren bewiesen wurde. Ist das die Demokratie, die das eigene Volk eines Landes belügt, beschuldigt und täuscht? Die die Kultur, die Traditionen und die Wirtschaft eines Landes unbestraft vernichten darf?»

«Die Demokratie ist …», setzte Anne an, doch ich fiel ihr ins Wort.

«Entschuldige, dass ich dich unterbreche, Anne. Ich weiß, was Demokratie ist. In Wirklichkeit verdammte der Übergang in die Demokratie in Bulgarien viele Leute zu Hunger und Armut. Während des Sozialismus exportierte der gleiche Staat seine Waren in die ganze Welt und brauchte keine ausländischen Investitionen. Wir hatten unsere eigene Wirtschaft aufgebaut.

Vor 1989, vor der Demokratisierung, war Bulgarien ein Industrieland: Die Landwirtschaft ist modernisiert worden; hatte man vorher von Hand, mit Sicheln, geerntet, übernahmen jetzt Maschinen diese Arbeit. Fabriken, Kombinate, Computer- und Elektronikbetriebe sind gebaut worden, kilometerlange Obstgärten wurden angelegt, Viehzucht, Tourismus, Schutzgebiete – alles war da. Die Waren aus der Landwirtschaft, aus den Betrieben und aus den Fabriken wurden weltweit exportiert. In diesen Jahren war jedes Dorf elektrifiziert und asphaltiert, oder anders gesagt: Bulgarien war zivilisiert. Sogar in den kleinsten Dörfern wurden Schulen und Gesundheitszentren gebaut.

Überall gab es Sporteinrichtungen. Viele Bulgaren wurden Europa- und Weltmeister in verschiedenen Sportdisziplinen. Nach dem Ende des Sozialismus hat man Sportsäle in Einrichtungen für Hasard- und Glücksspiele verwandelt. Es wurden Schulen und Kulturzentren geschlossen. Bevor wir ein demokratisches Land wurden, gab es keine Korruption, oder ganz wenig, nur in den höchsten Kreisen der Machthabenden. Bulgarien als Staat hatte damals keine Außenschulden wie heute. Jetzt werden alle Waren importiert, und die Schulden des Staates sind riesig. Überall herrscht die Korruption.»

«Gut, wo sind diese Fabriken und Betriebe heute?» Annes Neugier ist einzigartig.

«Zurzeit werden sie als Filmaufnahmeplätze verwendet.»

«Weshalb als Drehorte?»

«Die ganze Wirtschaft gehörte dem Staat. Alles, was nicht zerstört wurde, wurde privatisiert. Die Fabriken und die Betriebe verwandelten sich in ideale Schauplätze, die von Filminvestoren nicht unbemerkt bleiben konnten. Was für eine Freude war es für uns, als Hollywood-Filmstars in Bulgarien gedreht haben! Aber niemand schenkte der Tatsache Aufmerksamkeit, dass es ehemals Fabriken waren, in denen produziert wurde, die jetzt als Filmkulissen verwendet wurden. Die Demokratisierung in Bulgarien erwies sich als Mörder der Wirtschaft. Bald sah man die Folgen der zerstörten Wirtschaft.

Bevor ich Bulgarien verließ, sah ich jeden Tag, wie gefolterte und verzweifelte Menschen Mülltonnen durchsuchten … Dieser Müll hatte nichts mit dem Müll zu tun, der in Europa weggeworfen wird. Wir sprechen hier über die Reste, die nach dem Essen vom Tisch geworfen wurden. In Behältern, in denen es viele verschiedene stinkende Abfälle gab, wühlten Menschen nach einer Brotkruste.

Die Politiker haben die Geschichte umgeschrieben und unsere Nationalhelden eliminiert. Auf diese Weise töteten sie unsere Würde und machten uns zu einer Schafherde. Wenn die Geschichte eines Volkes vernichtet wird, wird dieses Volk in einigen Jahrzehnten nicht mehr existieren. Sie haben unser Land in eine langfristige Arbeitslosigkeit geführt, die Hunderttausende aus dem Land vertrieben hat. Und dies nicht, weil sie eine Reise oder eine Ausbildung machen wollten, sondern weil sie sich in ihrem eigenen Land nutzlos gefühlt haben. Über 2 Millionen Menschen haben Bulgarien verlassen.

Bulgarien hat in seiner 1.300-jährigen Geschichte alle möglichen Prozesse ertragen, aber Bulgarien ist derzeit eines der Länder der Welt, das sein eigenes Volk vertreibt – und das ist das Schlimmste. 1989 lebten in Bulgarien neun Millionen Menschen, jetzt sind wir noch etwas mehr als 5 Millionen.

Das ist der Grund, aus dem ich im Jahr 2005 Bulgarien verlassen habe. Deshalb möchte ich nicht in mein Heimatland zurückkehren.»

«Über welche Informationen verfügtest du über Westeuropa, bevor du dich entschieden hast, hierher zu gehen?», wollte Anne wissen.

«Ich hatte keine Informationen. Es ist einfach so am Busbahnhof in Sofia passiert. Ich habe Freunde getroffen, die nach Venedig reisen wollten, und ich wollte einfach mit und habe auch ein Ticket gekauft.»

Nach Italien

Reise ins Ungewisse

Früh um 3 Uhr stieg ich am Bahnhof Plovdiv in den Nachtzug, der nach Sofia, der Hauptstadt Bulgariens, fuhr. Ich wollte nicht schlafen und ging aus dem Abteil zum Restaurant des Zuges. Am Ende des Ganges sah ich eine Schachtel «Marlboro» liegen. Ich beugte mich herunter und nahm sie an mich. Darin waren 4 Zigaretten und irgendwelche Geldscheine. Ich nahm die Scheine heraus und wollte meinen Augen nicht trauen – drei Stück, je 100 Euro! Ich steckte sie in mein Portefeuille und ging weiter zum Restaurant. Mein Herz schlug aber so schnell, als ob es mir aus der Brust springen wollte. So ein Zufall! Von einem solchen Glück konnte ich normalerweise nicht einmal träumen. Ich kam kaum über die Runden, lebte in einer ewigen finanziellen Misere. Arbeit hatte ich keine und war ständig auf der Suche danach. Obwohl ich arbeiten wollte, sagte man mir immer gleich ab, wenn man mich sah. Man suchte kräftige Männer, ich aber war ein Invalide – mein linker Arm ist über dem Handgelenk amputiert. Niemand nannte mir den Grund, weshalb man mich ablehnte; manche gaben mir Geld und schickten mich weg.

Nachdem ich einen Kaffee im Zugrestaurant getrunken hatte, ging ich ins Abteil zurück. An Schlaf war nicht zu denken, und so wartete ich ungeduldig auf unsere Ankunft in Sofia. Ich war aufgeregt. Etwas sagte mir, dass sich mein Leben ändern wird …

Am Bahnhof von Sofia kam ich etwa um 6 Uhr früh an. Es war der 21. April 2005 – dieses Datum vergesse ich nie. Zwei Tage zuvor hatte ich auch meinen Pass bekommen; damals war Bulgarien noch kein Mitglied der Europäischen Union.

Auf der Suche nach Arbeit

In Sofia gab es eine Firma, die Leute zum Arbeiten nach Italien vermittelte. Man versprach den Menschen, dass, nachdem sie einen Pass bekommen haben, ihnen Arbeit auf einem Bauernhof in Italien vermittelt werden würden. Vor dem Bahnhof gab es Büros vieler Buslinien, deren Fahrzeuge in EU-Länder fuhren.

Ich traf eine mir bekannte Familie – Marija und ihren Mann Toni.

«Hallo, wie geht es euch?», begrüßte ich sie, froh auf Menschen zu stoßen, die ich kannte.

Auch die beiden schienen erfreut zu sein, dort auf mich zu treffen und umarmten mich. «Hallo, Slavo! Danke, gut. Wir fahren nach Italien! Durch eine bulgarische Firma haben wir Arbeit auf einem Bauernhof in Italien gefunden, nicht weit von Venedig.»

«Gibt es da jemanden, der euch in Italien empfängt?», fragte ich neugierig nach.

«Ja, natürlich!», erwiderten die beiden wie aus einem Mund.

Unser Gespräch wurde jäh unterbrochen, als plötzlich Dinko, ebenfalls ein alter Bekannter aus meiner Heimat, auftauchte.

«Was macht ihr denn hier? Werdet ihr irgendwohin fahren?», fragte er aufgeregt und sichtlich froh, uns zu sehen.

Toni erzählte ihm dasselbe, was er mir schon mitgeteilt hatte.

«Und du, Slavo?», wandte sich Dinko an mich.

«Dinko, ich habe nichts zu verlieren. Hier fühle ich mich nutzlos. Meine Mutter ist Rentnerin. Meine Kinder bekommen auch eine Halbwaisenrente, weil ihre Mutter gestorben ist. Und ich? Was bekomme ich? Ich kriege weder Sozialhilfe noch eine Rente. Eine ständige Arbeit habe ich auch nicht. Ich falle allen zur Last. Immer öfter greife ich zum Alkohol … Toni, habt ihr schon Tickets?», wechselte ich das Thema.

«Noch nicht. Wir warten, bis das Büro aufmacht. Gebucht haben wir sie aber schon. Und du, was hast du vor? Wirst du auch fahren?»

«Warum denn nicht?», beschloss ich spontan. «Dort, wo es einen Bauernhof gibt, sollte es auch andere geben. Irgendwo bekomme ich vielleicht Arbeit. Ihr wisst schon, wie mein Leben hier aussieht. Zwei Kinder habe ich zu Hause.» Ich erzählte den drei Bekannten von meinem Glücksfund im Zug. «Es sieht so aus, als wäre es ein Zeichen von oben. Und jetzt seht, ich habe auch euch getroffen. Also, ich gehe mit!»

«Ich fahre auch mit», sagte darauf auch Dinko. «Mir reicht aber das Geld für die Reise nicht. Werdet ihr mir helfen? Ich gebe es bald zurück. Meine Frau hat mich geschickt, Arbeit zu suchen. Meine Lage ist katastrophal.»

«Wie viel brauchst du?», fragte ich Dinko.

«Etwa 50 Euro.»

«Die kann ich dir auslegen», bot ich ihm an, was mein Bekannter dankbar annahm.

«Fahren wir alle!», beglückwünschten wir uns zu diesem Unternehmen.

Dinko und ich kauften die Tickets für den Bus und Nahrungsmittel für die Reise, Marija und Toni hatten schon alles beisammen. Wir stiegen in den Bus, und das war unser Aufbruch. Alles lief super, bis wir am österreichischen Zollamt ankamen.

Aus dem Lautsprecher klang die Stimme des Busfahrers: «Liebe Fahrgäste, bitte halten Sie je 350 Euro parat, falls die Zollbeamten Sie auffordern, das Geld zu zeigen. Und auch die Pässe zur Kontrolle.»

Ich rief die Busbegleiterin, weil ich nicht alles verstanden hatte. «Sollen wir die Euro zusammen mit den Pässen abgeben?»

«Nein, nein. Nur für den Fall, dass die Beamten das Geld sehen wollen, müsst ihr es zeigen.»

Wir erreichten das österreichische Zollamt und stiegen aus. Ein Beamter pickte sich ein paar Leute zur Kontrolle heraus, aber zum Glück geriet niemand von uns in diese Gruppe. Keiner von uns vieren hatte so viel Geld bei sich. Beruhigt, diese Hürde genommen zu haben, fuhren wir weiter nach Italien.

Mestre

Betrogen und alleingelassen

Am 22. April 2005 gegen 17 Uhr kamen wir am Bahnhof Mestre in Venedig an. Toni ging zu einem Telefonautomaten, um von dort aus die Nummer anzurufen, die man ihm bereits in Bulgarien gegeben hatte. Wir anderen standen beiseite und warteten auf ihn.

Als er sich umdrehte und zu uns zurückkehrte, rief er entsetzt: «Man hat mich um 1.000 Euro betrogen! Was soll ich jetzt tun? Ich habe nicht einmal Geld für die Rückreise!»

Niemand wartete auf meine Landsleute, das Telefon blieb stumm. Die Firma, die den Menschen alles versprochen hatte, war ein Phantom, eine Scheinfirma.

Auch andere Mitreisende sind betrogen worden. Es herrschte ein richtiges Chaos. Einige Frauen weinten, rauften sich die Haare, verfluchten die Leute, von denen sie betrogen worden sind. Viele von ihnen hatten einen Kredit aufgenommen, um diese Reise finanzieren zu können, und wussten nicht, wie sie diesen jetzt zurückzahlen sollten.

Bereits zu Hause, in Bulgarien, hatten sie mehrere Kredite und Schulden. Sie glaubten, sie würden im Ausland arbeiten und genug Geld verdienen können, um die Schulden zu tilgen und ein normales Leben zu beginnen.

Ich betrachtete diese Menschen, fühlte mit ihnen, konnte ihnen aber nicht helfen. Selbst hätte ich auch Hilfe gebraucht und jetzt stieß ich auf so viel Unbekanntes für mich. In diesem Augenblick wollte ich fort von diesem Ort, vor allem um damit zu verhindern, dass die Panik auch mich überwältigte. Dinko und ich schauten uns an.

«Dinko, bloß weg von hier!», schlug ich daher vor. «Gehen wir ins Zentrum von Venedig. Sicher sehen wir dort auch die berühmten Gondeln!»

«Ja, du hast recht. Wir sind ja hier in Venedig.»

Ich blickte mich um und bemerkte ein Schild, auf dem CENTRO geschrieben stand und das durch einen Pfeil die Richtung anzeigte, in die wir gehen sollten.

«Dinko, sieh mal, dort ist das Zentrum», wies ich darauf. «In dieser Richtung. Siehst du das Schild? Gehen wir!»

Dinko lächelte und sagte zu Toni: «Toni, wir beide, Slavo und ich, gehen ein wenig spazieren. Wir kommen später zum Bahnhof zurück.» Und an mich gerichtet: «Da kommt auch bereits die Polizei. Los, Slavo, gehen wir!»

Wir bewegten uns in Richtung Zentrum. Dinko meinte scherzhaft: «Nach Venedig kommen und die Gondeln nicht sehen – das soll uns nicht passieren!»

Ich lachte, obwohl mir in diesem Moment eigentlich nicht nach Scherzen zumute war. «So ein schlimmes Abenteuer, so etwas ist mir noch nie passiert. Sprichst du wenigstens Englisch?»

«Nein, außer Bulgarisch spreche ich keine andere Sprache. Und du?», fragte mich Dinko ratlos. «Was werden wir machen, wenn wir uns in der Stadt verlaufen? Wie fragen wir nach dem Weg? Welche Sprachen hast du in der Schule gelernt?»

«Deutsch und Russisch. Aber was soll ich sagen? Nichts davon ist in meinem Kopf geblieben. Besonders das Deutsche nicht», musste ich zugeben.

Das Gespräch mit Dinko machte mich nervös und ich entschied mich, Passanten nach den Gondeln zu fragen. Im Bus nach Italien hat die Busbegleiterin Italienisch gesprochen. Ich hatte sie gebeten, mir ein paar Ausdrücke aufzuschreiben, die ich mit Mühe auswendig gelernt hatte. Einen uns entgegenkommenden Mann hielt ich an und fragte auf Italienisch: «Guten Abend, mein Herr, Gondeln?» Mit dem Finger zeigte ich in die Richtung, in der ich die Boote vermutete.

«Venezia», sagte er nur und ging weiter.

«Slavo, was hat der Mann gesagt?», fragte mich Dinko verständnislos.

«Hast du nicht gehört? Venezia, also Venedig.»

«Doch, habe ich. Aber wir sind ja in Venedig.»

«Wir fragen noch jemanden, Dinko», beschloss ich. «Komm, wir finden diese Gondeln.»

Wir hielten weitere Passanten an und erhielten immer die gleiche Antwort: Venezia. Ein Bus, die Nummer 2, fuhr an uns vorbei. Auf ihm stand Venezia geschrieben.

«Da stimmt doch etwas nicht. Vielleicht müssen wir zurück zum Bahnhof?», schlug ich vor.

In Dinko stieg Panik auf. «Warum? Wo hat man uns hingebracht, Slavo?»

«Das werden wir noch erfahren. Jetzt spielt das keine Rolle mehr. Es gibt die versprochene Arbeit nicht. Gehen wir zurück, wir brauchen hier nicht weiter herumzulaufen.»

Ich gebe nicht so schnell auf

«Wie, um Gottes willen, wie fahre ich zurück nach Bulgarien?»

«Bist du hierhergekommen, um zurückzufahren, oder um Arbeit zu suchen?», fragte ich ihn und schaute ihn eindringlich an. «Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich gebe aber nicht so schnell auf. Zu essen haben wir, auch ein paar Euro in der Tasche. Also, es ist noch nicht alles verloren.»

Es gelang mir, Dinko ein wenig zu beruhigen. Mir war allerdings auch nicht sehr froh zumute. Im Unterschied zu den anderen hatte ich niemanden, der mir Geld für eine Rückreise schicken könnte. Zurück nach Bulgarien konnte ich nicht. Die Situation war wirklich schrecklich.

Auf dem Weg zum Bahnhof liefen wir schweigend nebeneinander her. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt. Gedanken, die wir auch später niemandem mitteilen konnten.

Als wir ankamen, rauchte Toni eine Zigarette auf dem Bahnsteig.

«Wo ist Marija?», fragte ich ihn.

«Im Warteraum des Bahnhofes, Slavo. Sie weint, kann sich nicht beruhigen. Was soll ich bloß tun? Wenn ich wenigstens allein wäre wie du, dann wäre ich ein wenig ruhiger.»

«Weißt du, Toni, im Bus habe ich ein Gespräch belauscht. Einer erzählte, dass Menschen zu den Bussen kommen, die Arbeit für die Neuangekommenen haben und sie einstellen. Sind hier keine Bulgaren aufgetaucht?»

«Nein, Slavo. Ich habe niemanden Bulgarisch reden hören.»

«Dann hör dich um!», riet ich ihm. «Wie viel muss man hier für die Toilette bezahlen?»

«Es ist kostenlos», sagte Toni.

«Aha, wenigstens eine gute Nachricht für heute», scherzte ich.

«Was für eine gute Nachricht? Dass die Toilette gratis ist?», lachte auch Toni.

«Worüber lacht ihr?», fragte Dinko, der sich zu uns gesellt hatte.

«Ein Geheimnis», meinte ich, und wir lachten weiter.

Plötzlich tauchten verschiedene Leute auf, darunter offenbar auch Landsleute.

«Seid ihr Bulgaren?», sprach Dinko sie an.

«Ja, was ist los?», sagte einer der Männer.

Dinko erzählte, was an diesem Tag geschehen war.

Ein kleines Wunder

«Seid ruhig. So schlimm ist es nicht. Ihr werdet sehen, bald werden Menschen kommen und euch Nahrung und Kleidung bringen. Es kommt auch ein Arzt.»

Wir schauten ungläubig. «Scherzt ihr?», fragte ich.

«Nein, da! Da sind sie doch schon!», meinte er und zeigte auf mehrere Personen.

Woher die Menschen gekommen waren, konnte ich in dem Moment gar nicht sagen. Sie fingen an, belegte Brötchen und Kaffee zu verteilen. Auch Kleidung gab es. Und ein Arzt war dabei. Ich traute meinen Augen nicht, als wäre es ein Wunder.

Nach und nach stießen auch andere Leute aus Bulgarien auf unsere Gruppe. Sie klärten uns darüber auf, dass Venedig ein paar Kilometer von Mestre entfernt sei und wir deshalb keine Gondeln sahen. Rund um die Uhr würden Busse nach Venedig fahren.

Einer der Bulgaren hieß Assen, der andere Kiril. Sie erzählten uns, dass sie nicht weit vom Bahnhof entfernt in einem leerstehenden Gebäude wohnten. Assen und Kiril gingen dorthin und schliefen dort. Wir vier blieben über Nacht im Bahnhof.

Am Morgen kam Assen zu uns. «Wollt ihr frühstücken? Wer möchte, kommt bitte mit uns!»

Dinko und ich gingen mit ihm.

«Es wird auch Mittagessen geben. Wenigstens vor Hunger werdet ihr nicht krepieren», sagte Assen auf dem Weg.

«Und gibt es hier auch Arbeit?», wollte Dinko wissen.

«Ja, ja, es gibt schon Arbeit, aber man sollte Italienisch sprechen. Ohne Sprachkenntnisse ist die Chance gleich null.»

«Und du, Slavo, warum schweigst du?», fragte Assen mich.

«Ich? Ich habe Hunger», antwortete ich, was nicht ganz stimmte. Ich hörte Assen zu und überlegte, dass ich auch hier keine Arbeit finden würde. Auch in Italien würde man mich nicht nehmen. Wer braucht schon einen behinderten Menschen, einen Invaliden?

Als ich das Essen sah, war ich erstaunt, denn zu Hause habe ich nie so reichlich gefrühstückt. Neben Milch, Kaffee, Tee, Joghurt, Butter, Konfitüre und Croissants gab es sogar Salami.

«Was ist denn das, welch ein Frühstück! Muss man dafür bezahlen?», fragte ich verwundert.

«Nein, Slavo, das ist eine Schenkung der umliegenden Lebensmittelgeschäfte. Es sind Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdauer bald abläuft. Die Läden schenken diese Lebensmittel verschiedenen Organisationen, zum Beispiel dem Roten Kreuz, und diese verteilen sie an uns.»

Wir aßen uns satt.

«Kommt ihr mit nach Venedig?», wollte unser neuer Bekannter von uns wissen.

«Ja, natürlich!», riefen Dinko und ich mit einer Stimme.

«Dann los, gehen wir», sagte Assen.

Venedig

Die romantischste Stadt der Welt

Als wir aus dem Bus stiegen, breitete Assen seine Arme aus und rief: «So, das ist Venedig!»

«Dinko, wir befinden uns in der romantischsten Stadt der Welt, und das ist die Wahrheit!» Erfasst von der emotionalen Atmosphäre fuhr ich fort: «Hier ist alles unglaublich schön. Es gibt kaum einen Menschen, der von dieser Stadt nicht verzaubert worden wäre.»

«In einer Woche wirst du die Schönheit der Stadt kaum mehr bemerken, Slavo. Ich war auch so beeindruckt, als ich Venedig das erste Mal gesehen habe. Die Frage ist: Was werdet ihr hier machen? Spielt ihr ein Musikinstrument?», fragte Assen.

«Dürfen wir auch singen?», scherzte Dinko und lachte.

«Warum lachst du? Ja, natürlich könnt ihr auch singen.»

«Assen, wegen meines Gesangs hat mich meine Frau von zu Hause weggejagt, damit ich mir weit weg einen Job suche. Willst du etwa, dass man uns auch von hier wegschickt? Wir zwei sind so schlechte Sänger, uns würde man dafür bezahlen, damit wir nicht weiter singen. Wegen unseres Gesangs würden die Touristen Venedig ganz schnell verlassen.»

«Wirklich, ist es so schlimm?», wunderte sich Assen.

«Dinko, komm, wir müssen uns umsehen und beobachten, was Menschen wie wir, ohne Geld und ohne Arbeit, hier in Venedig tun», schlug ich vor. «Dann können wir uns vielleicht einen Plan für die nächsten Tage machen.» Ich blickte mich um. «Siehst du den Mann da vorne? Er trägt die Koffer der Touristen über die Brücke und bekommt Geld dafür. Tragen können wir auch, und auch wir bekämen dafür etwas Geld.»

Assen wünschte uns viel Erfolg. «Und passt auf, dass ihr euch in den kleinen Gassen nicht verirrt. Die Gassen sehen alle so ähnlich aus», riet er uns und verschwand kurz darauf in der Masse der Touristen.

In diesem Moment fühlte ich mich wie ein Ertrinkender. Ich war bereit, mich an jeden Strohhalm zu klammern. Deshalb versuchte ich die Kräfte in mir zu mobilisieren, die mir beim Überleben helfen würden. Ich versuchte mich von überflüssigen Gedanken zu befreien und mich darauf zu konzentrieren, was um uns herum geschah, in der Hoffnung, dass, wenn ich mich orientiert habe, mir mein Selbsterhaltungstrieb helfen würde, aus dieser ausweglos scheinenden Situation herauszukommen.

Auf den Plätzen Venedigs gab es viele Straßenkünstler, die die Touristen amüsierten. Ich sah Musiker, Akrobaten, Maler und viele andere. Als ich mich weiter umblickte, sah ich auf einer Bank eine Zeitschrift liegen. Auf der Titelseite war ein Bildnis, in Schwarz und Rot, von Che Guevara. Ich nahm die Zeitschrift und sagte: «Dinko, ich werde dieses Porträt auf den Boden malen. Wir werden sehen, was dann passiert.»

«Oh, kannst du zeichnen?», wunderte sich Dinko.

«Nein, aber ich kann Schablonen machen. Das Porträt ist nur in zwei Farben gemalt, das macht es einfacher. Ich versuche es.»

«Wenn du dich unbedingt blamieren willst, ist das dein Problem.»

«Ich werde mir einen Karton suchen. In der Nähe habe ich Container für Pappe gesehen, wie diese in Mestre, die wir gefunden und auf der wir geschlafen haben.»

«Slavo, du hast wirklich ein Problem, und zwar in deinem Kopf», wies mich Dinko zurecht. «An diesem Abenteuer werde ich nicht teilnehmen. Mach, was du willst. Ich gehe Venedig besichtigen.»

«Wie du willst, Dinko», sagte ich schulterzuckend und wir trennten uns.

Mein erster Kontakt mit der Straße

Ich war allein und fühlte mich gut. Die Idee, diese Schablone zu machen und auf die Straße zu malen, hatte mich gepackt. Ich ging in eine der kleinen Gassen und fand an deren Ende die Container mit Kartons. Es hatte verschiedene zur Auswahl. Ich wählte einen möglichst festen Karton, nahm meinen Kugelschreiber aus der Tasche, teilte das Porträt von Che Guevara in gleiche Quadrate, ebenso die Pappe, diese aber in größere Quadrate. Anschließend nummerierte ich die Teile senkrecht und waagerecht. Ich wollte in jedes Quadrat das übertragen, was auf dem Porträt zu sehen war. Es funktionierte.

Den Karton schnitt ich mithilfe einer Rasierklinge. Seit langem hatte ich mich daran gewöhnt, mit den wenigen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu arbeiten, was mir in verschiedenen Situationen half.

Die Schablonen waren fertig. Für mich blieb, den schwierigsten Schritt zu machen, und zwar mich auf die Straße zu setzen und das Resultat meiner Idee zu überprüfen.

In denselben Müllcontainer, in dem ich den Pappkarton gefunden hatte, hatte jemand auch Kindersachen geworfen. Darunter fand ich neben Kinderpuppen auch Blei- und Pastellstifte und andere Dinge. Ich nahm die Pastellstifte und ging zur Hauptstraße, legte die Schablonen direkt auf die Straße und, so schnell wie möglich, füllte ich die leeren Stellen der Schablone mit Farbe. Zuerst in der ersten, dann in der nächsten Leerstelle. Als ich die Schablonen wegnahm, sah man das gezeichnete Porträt von Che Guevara.

Eine Schuhschachtel, ebenfalls aus einem der Container gefischt, stellte ich neben das Porträt von Che Guevara. In diese Schachtel, so hoffte ich, würden die vorbeigehenden Passanten ihre Münzen werfen. Tatsächlich ging mein Plan auf und die Menschen begannen, Geldstücke in die Kiste zu werfen. Ich sagte freundlich «grazie».

Als ich nach einiger Zeit einen vorsichtigen Blick in die Schuhschachtel warf, erschrak ich. Darin lag ein ganzes Vermögen! Menschen standen in der Zwischenzeit um mich herum und sahen mir beim Malen zu. Einige stellten mir Fragen, aber da ich damals nur Bulgarisch sprach, konnte ich sie nicht verstehen. Innerhalb kurzer Zeit verlief sich die Menge wieder.

Ich nahm meine Schuhschachtel und ging zu den Containern. Versteckt begann ich die die Münzen zu zählen. Es waren 58 Euro.

Was nun? Wie könnte ich die Münzen in Scheine wechseln, fragte ich mich.

Das erwies sich tatsächlich als Problem. Ich zeigte die Münzen in den umliegenden kleinen Läden herum, aber die Menschen dort begriffen mein Anliegen nicht und wollten mir zusätzliches Geld geben. Nach einigen vergeblichen Versuchen verstand mich eine Gruppe Studenten. Sie halfen mir, das Geld zu wechseln.

Das war mein erster Kontakt mit der Straße. Ich kehrte zu der Stelle zurück, an der ich gemalt hatte. Zu meiner Überraschung war sie schon von einem Mann besetzt. Wie ich war er offenbar obdachlos. An ihn wandte ich mich auf Bulgarisch, er antwortete mir auf Slowakisch. Immerhin, eine slawische Sprache. Wir hatten ein wenig Mühe, aber wir konnten uns verständigen. Er erklärte mir, er habe kein Geld für ein Bier, und bat mich, kurze Zeit an dieser Stelle bleiben zu dürfen. Betrunken wie er war, gingen ihm die Menschen allerdings aus dem Weg. Aus Mitleid gab ich ihm von meinen verbliebenen Münzen drei Euro. Er freute sich und ich, ich hatte schon einen Freund, der mir in Zukunft sehr viel helfen würde, was ich in diesem Moment nicht wissen konnte. Sein Name war Honsa.

Honsa hatte verstanden, dass ich ihm Geld gegeben habe, damit er auch mir ein Bier kaufe. Als er zu mir zurückkam, was ich überhaupt nicht erwartet hatte, stieß er mich leicht an die Schulter und zeigte auf das Bier. Ich hob meinen Kopf überhaupt nicht, kritzelte mit den Pastellstiften auf den Boden und hörte nur den Klang der Münzen, die die Passanten in die Kiste fallen ließen. Ehrlich gesagt freute ich mich auf das Bier, und zwar vor allem, weil ich Durst hatte. Schließlich sammelte ich meine Münzen ein und folgte Honsa.

Ganz in der Nähe gab es einen Park. Dort traf ich Dinko wieder, der auch Gesellschaft gefunden hatte und ein Bier trank. Er fragte mich, ob ich etwas Geld verdient hätte. Als ich ihm erzählte, was passiert war, glaubte er mir nicht. Er dachte, dass ich ihn anlüge.

Am frühen Abend, so gegen sieben Uhr, begleitete mich Honsa zu einer der vielen Sozialstationen in Venedig, wo man uns Schlafsäcke, Kleidung und warmes Essen gab. Auch Duschen gab es an diesem Ort für uns. Das war für mich etwas Merkwürdiges, und ich fragte mich, ob ich mich im Wunderland befände.

Abends kehrten Dinko und ich zum Bahnhof in Mestre zu Toni und Marija zurück. Ich erzählte Toni alles, was mir an diesem Tag passiert war, und berichtete von der Sozialstation, wo man duschen sowie ein warmes Essen bekommen konnte.

Ich lerne Italienisch

Am dritten Tag auf der Straße in Venedig kam ein Mann zu mir, er mag etwa 50 Jahre alt gewesen sein, und reichte mir die Hand. «Hallo, Giovanni», sagte er und deutete auf sich. So stellte er sich mir vor.

«Ich bin Slavo, guten Tag», entgegnete ich freundlich.

Giovanni reichte mir einen Zettel mit den wichtigsten Wörtern und Wendungen auf Italienisch, dazu ein Wörterbuch Bulgarisch/Italienisch. Ich freute mich sehr über dieses Geschenk und bedankte mich herzlich bei ihm auf Bulgarisch. Er lachte, winkte mit der Hand, klopfte mir dann freundlich auf die Schulter und ging mit einem Lächeln weiter.

Mich kannten schon viele Leute. Offensichtlich war ich ihnen sympathisch, weil sie keine Möglichkeit ausließen, mit mir zu scherzen und ein bisschen über mich zu lachen. Das machte ihnen Vergnügen und mir auch.