Die Autorin

Ronja Weisz – Foto © Karin Probst Photography

Ronja Weisz ist 1987 in Frankfurt am Main geboren und bis heute heimisch. Mittlerweile lebt sie dort mit ihrem Mann zusammen und arbeitet als Sacharbeiterin in einem Chemieunternehmen. Neben dem, doch recht bieder erscheinenden, Beruf schreibt die Autorin schon seit frühster Jugendzeit Geschichten. Besonders moderne Liebesgeschichten in Kombination mit dramatischen Spannungsmomenten haben es ihr angetan. Wenn sie nicht vor dem Computer an neuen Ideen tüftelt, macht sie die Gegend mit ihrem Motorrad oder ihrem Fahrrad unsicher.

Das Buch

Schlimmer könnte es für Kaja eigentlich nicht kommen. Erst vor einem Jahr hat sie geheiratet und schon macht ihr Ehemann mit ihr Schluss. Und dann läuft sie auch noch genau der alten Freundin über den Weg, die ihr damals die erste große Liebe ausgespannt hat. Fee ist mittlerweile ein anderer Mensch und will unbedingt wieder mit Kaja befreundet sein. Dass Kaja damit auch unweigerlich ihrem Jugendfreund Sam begegnen wird, ist ihr egal. Es dauert nicht lange und zwischen Kaja und Sam brodeln die alten Gefühle auf. Doch Sam hat eine Tochter mit Fee und Kaja ist ja auch eigentlich noch verheiratet. Das Gefühlschaos scheint perfekt, wie soll Kaja sich da bloß entscheiden?

Ronja Weisz

Man küsst sich immer zweimal im Leben

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Februar 2020 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © Karin Probst Photography
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-561-6

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1. KAPITEL


TAG 1 VON 365 TAGEN …

„Ich weiß nicht, wie ich es dir am besten sagen soll, also mache ich es einfach ganz direkt“, flüsterte ich dem duftenden Marmorkuchen zu, während ich vor ihm kniete und ihn auf Augenhöhe begutachtete. „Ich glaube nicht, dass wir beide füreinander bestimmt sind.“

Das Ticken der Uhr an der Wand. Das anhaltende Rauschen des Straßenlärms von draußen. Ansonsten war es mucksmäuschenstill in der schicken Neubauwohnung im Frankfurter Europaviertel. Ich starrte zum Kuchen. Der Kuchen starrte leblos zurück.

„Fühlt sich scheiße an, was?“

Noch immer keine Antwort vom Kuchen. Ich war kurz davor, ihn mit dem nächsten Anflug von Wut vom Esstisch zu fegen, doch ich wusste, dass mir das keine Genugtuung verschaffen würde. Ich wusste es, weil direkt neben dem Tisch bereits ein Schokokuchen wie ein großer Erdhaufen auf dem Boden lag. Erleichterung hatte es mir keine verschafft, sondern nur die Erkenntnis, dass ich einen neuen Kuchen würde backen müssen. Dieser stand nun duftend vor mir und wartete darauf, verpackt und ins Pflegeheim transportiert zu werden.

Ich richtete mich auf und fuhr mit den Händen über mein Gesicht, die Handflächen auf den geschlossenen Lidern. So verharrte ich einen Moment in kompletter Dunkelheit. Meine Augenlider waren schwer, die Augen ausgetrocknet und gereizt von den Tränen, die ich die ganze Nacht über nicht hatte unterdrücken können. Ich sah aus, als hätte ich eine allergische Reaktion, da hatten auch die Eiswürfel auf den Schwellungen nichts ausrichten können. Wichtig war lediglich, dass ich jetzt nicht schon wieder zu heulen anfing. Denn ich hatte nur noch knapp eine Stunde Zeit, um mich in eine Frau zu verwandeln, die ihr Leben absolut im Griff hatte. Eine Frau, die sich nicht gerade vollkommen überraschend am ersten Tag des Trennungsjahres wiederfand, weil sie am gestrigen Abend von ihrem Ehemann verlassen worden war. Mit gerade mal achtundzwanzig Jahren. Nach einem Ehejahr und zehn Beziehungsjahren.

„Nein, nein, nein, nein. Verdammt!“ Verzweifelt wedelte ich mir mit den Händen Luft zu, um die Flut abzuwenden, die meine Augen zu füllen begann. Als würden die Tränen sich dann denken: Hey, ist ziemlich stürmisch hier draußen. Lasst uns lieber abhauen, Leute!

Ich weinte also. Schon wieder. Und die Tatsache, dass ich weinte, obwohl ich beschlossen hatte, es zumindest für die nächsten vier Stunden nicht zu tun, ließ mich gleich noch stärker weinen.

Schluchzend trottete ich in Richtung Badezimmer, den Blick starr zu Boden gerichtet. Die gesamte Wohnung war ein Minenfeld für mein instabiles Wesen. Jannis‘ Krempel lag überall verteilt. Lediglich die Sachen, die er für die knapp zweiwöchige Geschäftsreise brauchte, fehlten. Den Rest würde er holen, sobald er zurück war, hatte er gesagt. Vollkommen ruhig erklärte er mir, dass er sofort ausziehen müsse, damit das Trennungsjahr offiziell beginnen könne. Alles klang danach, als hätte er die Vernichtung unserer gemeinsamen Zukunft akribisch geplant – genau so wie eins seiner Arbeitsprojekte.

Heutiger Termin: Kick-off der Kaja Schilling, ehemals Kaja Marx.

Der Gedanke ließ mich wütend werden. Wut war, neben Trauer, eines der zwei Gefühle, die sich seit gestern Abend in meinem Körper im fliegenden Wechsel befanden. Ihr war auch der erste Kuchen zum Opfer gefallen. Zum Glück war der zweite aktuell außer Reichweite, sodass es nur Jannis‘ Ersatzparfum erwischte, das mit einem Klirren und einem Knurren meinerseits gegen die weißen Badfliesen knallte und in tausend Teile zersprang. Augenblicklich durchströmte ein moschushaltiger Geruch das Bad. So stark, dass es in der Nase brannte. Ich hustete.

Mein Anblick inmitten des Chaos war vermutlich ziemlich erbärmlich, doch das war mir egal. Ich schälte mir die Klamotten vom Leib und schleppte mich in die bodentiefe Dusche. Hier war der Geruch von Jannis‘ Parfum weniger stark, doch mich beschlich die Vermutung, dass ich ihn trotzdem noch einige Zeit mit mir herumtragen würde.

Dieser Tag konnte unmöglich noch schlimmer werden. Immerhin stoppten die Tränen, als ich zu meinen gewohnten Handlungen überging. Haare waschen. Spülung rein. Beine rasieren.

Ich verharrte, als ich den Rasierer ansetzte. Es war Februar und ich lebte seit gestern in Trennung. Wen interessierten da die paar Stoppeln unter der Strumpfhose?

Entschlossen legte ich den Rasierer wieder weg. Dann trat ich aus der Dusche, schnappte mir mein Zeug und verließ eilig das nach Jannis stinkende Badezimmer.

Ich tat alles so wie immer. Schminkte mich dezent, vielleicht mit einem Hauch mehr Abdeckstift unter den Augen als normalerweise, und schlüpfte in eines der fröhlichen Blumenkleider. Dann zog ich den passenden mintgrünen Cardigan darüber und bearbeitete meine Haare für einige Minuten mit Lockenstab und Schaumfestiger.

Die Routine half mir, meine Gedanken von dem fetten Elefanten mit Namen Scheidung abzulenken, der mir seit gestern auf Schritt und Tritt durch die Wohnung folgte. Ich musste raus hier, um etwas frische Luft und klare Gedanken in den Kopf zu bekommen. Also packte ich den Kuchen in einen Kuchenbehälter, schnappte mir meine Handtasche und den beigen Trenchcoat samt Schal und verließ die Wohnung mit flinken Schritten, als käme ich zu spät zu einem Termin.

Streng genommen tat ich das auch, denn ich hatte versprochen, am frühen Nachmittag im Pflegeheim zu sein. Genau zur Kaffee- und Kuchenzeit, wie es sich gehörte. Jannis‘ Oma liebte ihre Gewohnheiten und besonders am heutigen Tag, an ihrem Geburtstag, wollte ich mich daran halten.

Mir war natürlich klar, dass ich nach dem gestrigen Abend nicht mehr verpflichtet war, mich um Jannis‘ Oma zu kümmern, doch ich hatte zugestimmt, sie heute zu besuchen. Hauptsächlich, weil sie Geburtstag hatte und seine Geschäftsreise bereits lange zuvor geplant gewesen war. Wie hätten wir Jannis‘ Oma erklären sollen, warum auch ich nicht vorbeikam? Ich hatte mir extra einen Tag freigenommen, weil seine Eltern weiter weg wohnten und sich ohnehin kaum um sie scherten. Und es gehörte zu den Dingen, die ich schon von Anfang an für Jannis getan hatte. Ich war die perfekte Freundin für ihn gewesen, dann die perfekte Ehefrau. Herrgott, ich rasierte mir sogar nach zehn Jahren immer noch jeden Tag die Beine!

Und was tat er?

„Nein, nein, nein, nein!“, murmelte ich energisch und machte um den fetten Elefanten, der plötzlich mitten im Weg stand, einen großen Bogen. Wenn ich etwas nicht tun würde, dann in der Öffentlichkeit heulen wie ein kleines Kind, das sein liebstes Spielzeug verloren hatte.

Es waren nur noch wenige Tage, bis der März beginnen und der Frühling endlich Einzug halten würde. Die Luft war nicht mehr ganz so einschneidend kalt, auch wenn es hier in der Großstadt sowieso nie wirklich Winter wurde. Ich war in einem Vorort von Frankfurt aufgewachsen und dort zur Schule gegangen. Es war nie mein Plan gewesen, mein Leben lang hier zu bleiben, aber ich hatte auch nie ausreichend Fernweh empfunden, um aus Frankfurt wegzugehen. Wenn ich jetzt durch die Straßen lief, die U-Bahnen und Straßenbahnen wie ferngesteuert benutzte, dann beruhigte mich die gewohnte Umgebung. Nicht alles hatte sich seit gestern verändert. Die Welt war immer noch die gleiche, die Wege befanden sich an Ort und Stelle und die Bahnen fuhren wie geplant. Zumindest ab und zu.

Dass sich diese Stadt so vertraut anfühlte, war ein kleiner Trost.

Das Pflegeheim, in das Jannis‘ Großmutter vor etwa zwei Jahren nach einem schweren Sturz gezogen war, befand sich im Frankfurter Nordend an einer der Hauptverkehrsstraßen. Die dottergelbe Fassade war seit Ewigkeiten nicht mehr renoviert worden und hatte sich aufgrund der Abgase gräulich verfärbt. Ich war nicht gerne hier, aber wer war das schon? Trotzdem hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, mich um Jannis‘ Oma zu kümmern. Auch, weil er so viel unterwegs war und ich als Geschäftsleitungsassistentin einen wesentlich planbareren Beruf hatte. Seine Familie war auch meine. Das war von Anfang an selbstverständlich für mich gewesen und hatte sich nach unserer Traumhochzeit im vergangenen Jahr nur bestätigt. Ich stellte es auch jetzt nicht infrage, als ich das Pflegeheim betrat.

Es war wie üblich viel zu warm in dem Gebäude, sodass ich mich gleich aus dem roten Strickschal schälte und ihn samt Mantel über meinen Unterarm legte. Ich grüßte die Frau am Empfang freundlich und sie erwiderte den Gruß.

Man kannte mich schon. Vermutlich sogar besser als Jannis, auch wenn er erst vor einer Woche das letzte Mal hier gewesen war, um sein heutiges Fehlen bei seiner Großmutter zu entschuldigen. Er war damals den gleichen Weg gelaufen wie ich nun. Hatte er da schon darüber nachgedacht, wie er mich verlassen würde? Ich schüttelte den Gedanken ab und lief weiter, bis ich das Zimmer erreichte, das Carla Schilling bewohnte. Ich klopfte an, und weil die alte Frau das sowieso nie hörte, trat ich einfach ein.

Sie saß in ihrem gemütlichen Sessel, auf dessen Lehne sich ein selbst gemachtes Häkeldeckchen befand, vor dem Fernseher und sah irgendeine schnulzige Soap. Doch sie bemerkte mich sofort, schaltete eilig den Fernseher aus und sah freudestrahlend in meine Richtung.

„Kaja, Schätzchen! Es ist so schön, dich zu sehen.“

Bei der herzlichen Begrüßung hätte ich beinahe wieder zu weinen begonnen, aber ich hielt mich mit eisernem Willen zurück. Wenn ich jetzt in Tränen ausbrach, wäre das ganze Schauspiel schlagartig vorbei. Heute ging es nicht um mich und um den Schutthaufen, den meine Ehe nun darstellte, sondern um Carlas Geburtstag.

Ich stellte den Kuchen ab, legte meine Jacke über die Stuhllehne und kam zu ihr hinüber. So herzlich ich konnte umarmte ich Jannis‘ Oma, deren schwerer Sturz und alte Knochen sie dazu zwangen, ihr Leben hauptsächlich sitzend und liegend zu verbringen. „Alles, alles Gute zu deinem Geburtstag! Ich wünsche dir noch ganz viele tolle Jahre.“

„Du solltest mir stattdessen einen schnellen, schmerzlosen Tod wünschen, Liebes. Seit Vladimir hier nicht mehr arbeitet, gibt es keinen Grund mehr für mich zu leben.“ Carla seufzte theatralisch, als ich sie losließ. Ich schmunzelte, während ich den Kuchen holte.

Vladimir, der nicht wirklich so hieß, aber laut Carla dem jüngeren Klitschko-Bruder ähnelte, war einer der Pfleger hier gewesen. Und ein passionierter Bodybuilder mit Gesichtszügen wie aus Stein gemeißelt. Oft genug hatte er Carla vom Sessel aus ins Bett getragen, auch wenn sie diese Strecke mit dem Rollator noch gut bewältigen konnte. Doch immer wenn er Schicht hatte, hatten Carlas Beine und ihre künstliche Hüfte ihr besonders große Probleme bereitet. Einmal war ich sogar Zeugin geworden, als Jannis‘ Großmutter schmachtend in den überaus muskulösen Armen des Osteuropäers gelegen hatte, die faltige Hand besitzergreifend um seinen massiven Bizeps geschlungen. Das Bild bekam ich bis heute nicht aus dem Kopf.

Seit der Pfleger nun aber nicht mehr im Heim arbeitete, hielt Carla die Traurigkeit, die sie darüber empfand, kaum zurück. Auf den ersten Blick schien es fast so, als würde sein Verlust sie sogar mehr mitnehmen als der ihres Mannes, der vor fünf Jahren verstorben war.

„Wäre Kuchen denn ein Grund für dich, ein paar Minuten länger zu leben?“ Ich nahm die Plastikhaube ab und präsentierte meinen Marmorkuchen. Zugegeben, gemessen an dem, was ich sonst so auf die Beine stellte, war er ziemlich erbärmlich anzusehen. Ein simpler, ungedeckter Marmorkuchen ohne jegliche Dekoration. Doch Carla sah sowieso nicht mehr sonderlich gut. Was erklären könnte, warum sie Vladimir stattdessen lieber angefasst hatte. Ich schüttelte den Gedanken schaudernd ab.

„Ein Stück deiner Backkunst hebt meine Stimmung doch immer“, erklärte Carla.

„Schön. Dann lass mich nur Kaffee und Teller aus der Küche holen. Ich bin gleich wieder da.“

Ich verließ das Zimmer, um im Aufenthaltsraum der Pfleger Besteck und Kaffee zu besorgen. Es war eigenartig, wie normal sich die Situation anfühlte, als hätte sich nicht etwas Grundlegendes in meinem Leben verändert. Ich lächelte den Bewohnern freundlich zu, die mir mit ihren klapprigen Rollatoren entgegenkamen, und das fiel mir nicht einmal schwer.

Weil du es noch nicht realisiert hast und es nicht wahrhaben willst, warnte mich eine innere Stimme.

Doch ich verdrängte sie sofort und konzentrierte mich auf das, was ich in diesem Moment tun wollte. Kaffee und Kuchen. Einen Schritt nach dem anderen.

Ich betrat den Aufenthaltsraum in der Mitte des Ganges und entdeckte dort eine Pflegerin, die am Fenster stand. Sie hatte mir den Rücken zugewandt und das Fenster war weit offen, was erklärte, warum die Tür zum Raum geschlossen war und warum ich sofort zu frieren begann. Ich bemerkte eine hektisch nach draußen gepustete Qualmwolke und sah, wie ein glimmender Zigarettenstummel aus dem Fenster verschwand. Hier war Rauchen verboten, das wusste ich genau, weil auch Jannis ein Raucher war und deswegen stets die zwei Stockwerke nach unten ging. Es war anzunehmen, dass das auch die schwarzhaarige Pflegerin wusste.

Ich war gerade dabei, den Mund aufzumachen, um etwas zu sagen, da drehte sie sich um und sah mir in die Augen. Und mir blieb jedes Wort im Halse stecken.

Hatte ich vor Kurzem nicht erst gedacht, dass dieser Tag unmöglich noch schlimmer werden konnte? Nun, er konnte. Und der Grund dafür stand vor mir und machte eine mindestens ebenso überraschte Miene wie ich.

„Kaja?“, fragte sie und verzog bei meinem Anblick ihr Gesicht so ungläubig, als stünde ein Geist vor ihr.

„Fee.“ Meine Stimme barg dagegen keine Verwirrung. Es war eine reine Feststellung. Die dunkle Schminke um ihre Augen und der Ring in der Unterlippe waren definitiv neu, aber es bestand keinen Zweifel daran, wer hier vor mir stand. Fee Fröhlich. Die Person, deren Eltern sich während der Namensfindung wohl zu viel von den grünen Pflanzen gegönnt hatten.

„Heilige Scheiße.“ Fee verschloss ihren Mund mit ihrer winzigen Hand. Überhaupt alles an ihr war winzig und zierlich, das konnten die derbe Aussprache, die starke Schminke und die abgewetzten Chucks auch nicht ändern. „Was ist mit dir passiert?“

„Wie bitte?“ Es fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. War das ihr gottverdammter Ernst? „Hast du mal in den Spiegel geschaut? Was zur Hölle ist mit dir passiert?“

„Nein, wirklich.“ Fee machte einen Schritt auf mich zu und ich wollte sie am liebsten anschreien, nicht näher zu kommen. Es gab keinen Menschen auf dieser Welt, den ich mehr hasste und bereits häufiger zum Teufel gewünscht hatte als Fee Fröhlich. „Du siehst aus wie aus einem 50er-Jahre-Traum entsprungen. Es fehlt nur der Petticoat. Karneval ist schon vorbei, oder nicht?“

„Wow. Du bist noch immer das gleiche Miststück wie früher.“ Ich wandte mich ab, um den Raum zu verlassen. Es war mir egal, dass ich dann ohne Geschirr und Kaffee wiederkommen würde. Sollten wir doch stattdessen mit den Händen essen und Blumenwasser trinken, ich würde jetzt keine Sekunde länger mit Fee in einem Raum verbringen.

„Warte.“

Doch ich ließ die Tür hinter mir zufallen und lief den Gang zurück. In mir brodelte es. Wie war das nach all der Zeit überhaupt noch möglich? Sollten solche Gefühle nicht längst vergessen sein? Oder lag es an meiner aktuell äußerst instabilen Verfassung, dass ich Fee am liebsten augenblicklich die Augen ausgekratzt hätte, obwohl ich sie seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte?

Hinter mir öffnete sich die Tür und quietschende Schuhe eilten über den Linoleumboden. Fee raste an mir vorbei, vollzog eine Drehung und versperrte mir mit erhobenen Händen den Weg.

„Das kam eben falsch rüber, sorry.“ Sie war außer Atem, was erschreckend war angesichts der kurzen Distanz, die sie gesprintet war. Muss wohl an den Zigaretten liegen. Geschieht ihr ganz recht.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, blieb aber stehen und sah Fee abwartend an.

„Ich wollte nur sagen, dass du dich echt verändert hast.“ Sie betonte das Wort echt so, dass es erneut nach einer Beleidigung klang.

„Meine Grunge-Phase liegt im Gegensatz zu deiner eben lange hinter mir.“

Das schien Fee jedoch nicht zu verletzen, denn sie lächelte. Ein freches Lächeln, das schon immer etwas Anzügliches gehabt hatte. „Ja, stimmt. Deine Grunge-Phase war der Hammer. Gott, hab ich dich und deine saucoole Art damals vergöttert.“

„Ach ja?“ Ich hob fragend die Augenbrauen und fixierte Fee mit finsterem Blick. „War das der Grund, warum du dann auch mit meinem Freund geschlafen hast?“

2. KAPITEL


„Okay. Das habe ich verdient.“ Fee fuhr sich mit der Hand über den Hinterkopf, zuckte dann mit den schmalen Schultern. „Dachte nur nicht, dass du nach all der Zeit noch so nachtragend bist.“

„Nachtragend?“ Ich hätte mich beinahe vor Entrüstung an dem Wort verschluckt. Es ging immerhin nicht darum, dass Fee damals über meinen fetten Hintern gelästert hatte, sondern um die schlimmste Phase meines Lebens.

Zumindest bis zum gestrigen Tag.

Ich schüttelte fassungslos den Kopf und schlängelte mich an Fee vorbei, um zu Carla zu kommen. Ich hatte keine Zeit und erst recht keinen Nerv, um mich weiter mit dem größten Albtraum meiner Teenagerzeit zu beschäftigen.

„Hey, Kaja … komm schon“, rief Fee mir hinterher.

„Nein! Ich komme nicht.“ Ich wirbelte ein letztes Mal zu ihr herum. „Und wie wäre es, wenn du einfach deinen Job machst und uns Kuchenbesteck und Kaffee bringst.“

„Streng genommen gehört es nicht zu meinem Job, dich zu bedienen.“

„Schön, dann lass es.“

Ich drehte mich wieder um, vernahm aber noch das laute Seufzen hinter mir. „Welches Zimmer?“

„105“, rief ich wütender als beabsichtigt über meine Schulter zurück, ohne mich nach meiner ehemaligen Mitschülerin umzusehen. Am liebsten hätte ich mich jetzt erst mal in eine ruhige Ecke verzogen, um die letzten Minuten zu verarbeiten, doch ich spürte Fees Blick auf mir. Und ich wollte auf gar keinen Fall, dass sie sah, wie mich ihr Auftauchen beschäftigte. Außerdem hatte ich Carla wirklich genug warten lassen.

Carla sah auf, als ich das Zimmer betrat, und bemerkte im nächsten Moment, dass ich mit leeren Händen wiedergekommen war.

„Es gab kein sauberes Geschirr. Man bringt uns gleich etwas.“

„Schön. Ich freue mich schon sehr auf deinen Kuchen. Jannis hat eine wahre Meisterkonditorin geheiratet. Ich schwelge noch immer jeden Tag in Erinnerungen an eure Hochzeitstorte.“

Ich hatte dafür nur ein gestelltes Lächeln übrig. Hätte die alte Frau eine bessere Sehkraft, dann würde sie bemerken, dass das Lächeln meine Augen bei Weitem nicht erreichte. Ich wollte nicht an unsere Hochzeit denken, die in allen Belangen perfekt gewesen war. Die Hochzeitstorte hatte ich selbst gebacken und sie war ein Traum in weißer Schokolade und Aprikose geworden, den eine professionelle Konditorin nicht besser hätte gestalten können. Was hatte ich dafür geübt! Jannis hatte durch das Probebacken einige Kilos mehr auf die Rippen bekommen, doch am Schluss war alles genau so geworden, wie wir es zusammen geplant hatten.

Und jetzt? Jetzt musste ich mir verbieten daran zu denken, weil ich sonst zusammenbrechen würde wie ein Kartenhaus im Sturm. Doch das durfte ich Carla unter keinen Umständen zeigen. Zum einen, weil das heute ihr Tag war, und zum anderen, weil ich mich längst nicht bereit fühlte, das Versagen unserer Ehe laut auszusprechen. Wer wusste schon, wie die Situation aussehen würde, wenn Jannis von seiner Geschäftsreise wiederkam. Er würde mich vermissen, denn das tat er immer, wenn er unterwegs war, und das würde ihm vielleicht die Augen öffnen. Ihm würde klar werden, dass er einen riesigen Fehler gemacht hatte, den er umgehend korrigieren musste. Er müsste sich natürlich ins Zeug legen, denn ich würde ihm erst mal nicht verzeihen können, dass er mich so durch die Hölle geschickt hatte. Doch am Schluss würde alles gut werden. Dieses Szenario war immerhin nicht ausgeschlossen. Warum sollte ich also Carla in etwas einweihen, was sich vielleicht wieder geben würde?

Ich half ihr zu dem kleinen Esstisch, als es an der Tür klopfte. Ich öffnete und blickte in Fees große, grüne Augen, die durch die schwarze Umrandung nur noch heller erschienen. Oder lag es daran, dass sie sie eigenartig weit aufgerissen hatte?

Sie schob einen Servierwagen in den Raum hinein, auf dem Geschirr und eine Kanne Kaffee standen.

„Oh, Kaja, Liebes, kennst du schon Frau Fröhlich? Sie ist neu hier bei uns und ein echter Scherzkeks. Ich könnte stundenlang über ihre Witze lachen.“ Die alte Frau kicherte vergnügt.

Ich warf Fee einen abfälligen Blick zu. „Ja, sie war schon immer ein echter Witz“, murmelte ich. Im nächsten Moment jedoch erschrak ich, dass diese Worte tatsächlich meinen Mund verlassen hatten.

Carla hatte sie zum Glück nicht gehört, doch als ich zu Fee sah, hob diese amüsiert ihre Augenbrauen und formte mit ihrem Mund lautlos das Wort Wow. Es schien beinahe, als erntete ich von ihr Respekt für diese Beleidigung.

„Möchten Sie nicht ein Stück Kuchen mit uns essen? Ich bin mir sicher, dass wir den niemals allein schaffen werden, und meine Schwiegerenkeltochter ist eine grandiose Bäckerin.“

„Oh nein, vielen Dank, Frau Schilling, das ist nicht nötig.“

„Doch, doch. Sie müssen etwas essen, sonst brechen Sie mir noch zusammen. Sie ist viel zu dünn, findest du nicht, Kaja?“ Carla wandte sich an mich, während ich damit beschäftigt war, den Marmorkuchen zu schneiden und auf zwei Teller zu verteilen. Fee hatte auch nicht mehr mitgebracht.

„Das ist ihre Entscheidung“, sagte ich und vermied damit jeglichen Kommentar über Fees Statur. Es könnte mich nicht weniger interessieren, ob Fee zusammenbrach oder nicht.

„Na, dann nehme ich gerne etwas.“ Fee sprang förmlich nach vorne, schnappte sich das Messer und schnitt sich ein großes Stück ab, das sie auf eine Serviette packte.

Ich sah sie fassungslos an. War ihr denn nicht klar, dass ich sie hier nicht haben wollte und das vor Carla nur nicht so deutlich sagen konnte? Anhand ihres breiten Lächelns war zu erkennen, dass ihr das wohl durchaus klar war; es war ihr nur gleichzeitig ziemlich egal. Ich brodelte vor Wut. Was bezweckte sie mit ihrem Verhalten? Wollte sie mich tatsächlich so lange reizen, bis ich ihr schließlich an die Gurgel springen würde?

Ich rief mich innerlich zur Ruhe, atmete kontrolliert ein und aus und schenkte Carla eine dampfende Tasse Kaffee ein. Die alte Frau lächelte herzerwärmend, als sie sich mit der Gabel etwas von dem Kuchenstück nahm. Ich liebte es, sie dabei zu beobachten, wie sie meine Leckereien verschlang. Ich konnte gut backen, dessen war ich mir bewusst, aber Carla übertrieb jedes Mal vollkommen, wenn sie mein süßes Gebäck probierte. Es war stets ein wunderbares Schauspiel, bei dem mir das Herz aufging.

Carla schob sich ein Stück Kuchen in den Mund, kaute ein paarmal darauf herum, doch in ihren Gesichtszügen spielte sich rein gar nichts ab. Sie wirkte irritiert, nahm noch einen Bissen und schluckte ihn geräuschvoll hinunter.

„Also … Na ja, das schmeckt …“

„… beschissen“, ergänzte Fee hinter uns mit vollem Mund.

Ich wirbelte auf dem Stuhl zu ihr herum und funkelte sie wutentbrannt an.

„Ehrlich“, versicherte sie, „du solltest selbst mal probieren. Der geht kaum runter.“

Ich sah zu Carla, doch diese nickte bedauernd.

Das war absolut unmöglich! Bislang hatte immer alles geschmeckt, was ich gebacken hatte. Und Carla hatte es erst recht geliebt, selbst wenn ich es nur als okay empfunden hatte. Ich schnitt mir ein Stück Kuchen ab und schob mir die Gabel in den Mund. Es passierte … rein gar nichts. Mein Mundraum war mit einem massiven Brei gefüllt, der, außer einer feinen Kakaonote, keinerlei Geschmack abgab. Wenig elegant spuckte ich den Kuchen wieder auf den Teller zurück.

„Ich hab den Zucker vergessen“, stellte ich resigniert fest.

„Ach, Liebes, das kann doch jedem mal passieren.“ Carla legte ihre kühle Hand auf meine und drückte sie behutsam.

Erneut war mir zum Heulen zumute. Die Tränen kämpften sich bereits sauer die Kehle hinauf. Ich dachte an den ersten Kuchen, der zu Hause auf dem Küchenboden lag. Dann erinnerte ich mich daran, warum er sich überhaupt dort befand und warum ich so kopflos gewesen war, dass ich sogar den Zucker vergessen hatte. Ich erhob mich schlagartig, um mich abzulenken, und sah weder zu Fee noch zu Carla, als ich begann, den Kuchen unter der Haube zu verbergen. Ich konnte ihn nicht einmal ansehen.

„Weißt du, was der Hammer wäre? Wenn wir Nutella oder Marmelade draufschmieren. Lass ihn mir, bevor du ihn wegschmeißt“, sagte Fee mit einer ungewohnt sanften Stimme.

Ich konnte noch immer nicht zu ihr sehen und begann, sinnlos umherzuräumen. Wir hatten nicht einmal einen Schluck Kaffee getrunken.

„Das ist eine sehr gute Idee, Frau Fröhlich. Sie haben sicherlich Verwendung dafür. Frau Fröhlich hat nämlich zu Hause ein ganz bezauberndes Mäulchen zu stopfen, nicht wahr?“

Nun sah ich doch zu Fee. Und Fee sah zu mir.

„Ja … ja. Richtig“, stotterte sie.

„Wie alt ist sie noch mal, Ihre kleine Tochter?“

Fee schluckte merklich und senkte nun doch den Blick, um, so schien es, meinem zu entgehen. Als sie aufsah, lächelte sie Carla an. Es war ein Lächeln, das ich von ihr nicht kannte und das sie schlagartig von der jung gebliebenen Rebellin zu einer reifen, erwachsenen Frau werden ließ. Mit einem geheimnisvollen Leuchten in den Augen, das von all den Erinnerungen zeugte, die nur sie kannte und durchlebt hatte.

Und das mein Herz innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein zweites Mal brechen ließ.

Weil es Fees Erinnerungen waren und nicht die meinen.

„Sie ist jetzt fast zwölf Jahre alt.“

3. KAPITEL


Jeder Schritt nach Hause fühlte sich schwerer an als der vorherige. Ich schlich in der einsetzenden Dämmerung durch die Großstadt. Ich nahm nicht die Bahn, sondern lief zurück zu meinem verlassenen, einsamen Zuhause, um Zeit zu vertrödeln und einen klaren Kopf zu bekommen.

Was ist das nur für ein grauenhafter, merkwürdiger Tag gewesen?

Auf Fee Fröhlich zu treffen, am absoluten Tiefpunkt meines Lebens, erschien mir wie der blanke Hohn. Oder aber jemand spielte mir den geschmacklosesten Scherz aller Zeiten. Mittlerweile befanden sich so viele Gedanken in meinem Kopf, die ich lieber nicht denken wollte, dass es mich müde und erschöpft machte. Das andauernde Heulen trug seinen Teil zur Müdigkeit bei.

Zumindest bis mein Handy in der Handtasche vibrierte und ich mich schlagartig wach fühlte. Es war abends. Vielleicht war Jannis‘ Konferenz schon vorbei und er saß im Hotelzimmer, wo er an mich dachte. Nun rief er an, wie er es sonst auch immer tat. Hektisch wühlte ich in der Handtasche nach meinem Handy und fühlte den Schlag der Enttäuschung in der Magengegend, als ich auf dem Display lediglich die Nummer meiner Eltern erkannte.

„Hey, Paps.“

„Mäuschen, du bist auf Lautsprecher“, schrie mein Vater mich förmlich an, als würde ich dadurch schlagartig schlechter hören. Instinktiv hielt ich das Handy etwas weiter von mir weg.

„Halloho!“, rief nun meine Mutter überfröhlich.

„Die ist doch nicht taub.“ Mein genervter, dreizehnjähriger Bruder Levi.

„Geht’s dir und Jannis denn gut?“, fragte meine Mutter etwas leiser, ihre Standardfrage zu Beginn eines jeden Telefonats.

Ich ließ mich auf einer Holzbank vor dem Eingang zum Hauptfriedhof nieder, an dem ich gerade entlanggelaufen war. Mit Mühe und Not schaffte ich es, ein Seufzen zu unterdrücken. „Natürlich. Und bei euch ist auch alles gut?“

Es klang nicht sonderlich überzeugend, aber dem quirligen Haufen Familie, dem ich entsprang, waren solche Feinheiten sowieso noch nie aufgefallen. Meine Eltern waren die optimistischsten Menschen, die ich kannte. Du bist traurig? Dann hör doch einfach auf, traurig zu sein! Dein Freund hat dich mit der Schulstreberin betrogen? Solche Dinge geschehen nun einmal, schauen wir uns lieber diesen atemberaubenden Sonnenuntergang an!

Lediglich mein kleiner Bruder, der geboren wurde, als ich ein Teenager war, brachte auch mal schlechte Stimmung in die Familie. Eigentlich tat er das andauernd und ich liebte ihn dafür. Er war wie eine stets miesepetrige Regenwolke, die in einem Haus voller Sonnenschein von Zimmer zu Zimmer schwebte und der meine Eltern eifrig in Dauerschleife hinterherwischten.

Natürlich dachte ich kurz daran, ihnen von Jannis‘ und meiner Trennung zu erzählen, doch den Gedanken verwarf ich sogleich wieder. Ich würde alles wieder in den Griff bekommen, sobald Jannis zu Hause wäre, und außerdem waren meine Eltern die letzten Menschen, mit denen ich über Beziehungsprobleme sprechen wollte. Bis heute wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie mein Erwachsensein und meine Ehe belächelten, wie man es bei einem Kleinkind tat, das mit Puppen Hochzeit spielte. Doch eigentlich nahmen sie diese Seiten des Erwachsenenlebens nur grundsätzlich nicht ernst. Ebenso wenig wie ihre Steuererklärung, Geldanlagen und Rentenvorsorge. Seit ich Jannis kannte, fragte ich mich immer wieder, wer eigentlich die Erwachsenen in unserer Familie waren.

„Uns geht es wirklich sehr gut, auch wenn wir alle finden, dass du dich ruhig häufiger bei uns melden könntest“, zwitscherte meine Mutter.

„Ich nicht“, brummte Levi und entlockte mir ein Schmunzeln. Ich war tatsächlich ewig nicht mehr zu Hause gewesen, dabei lebten sie gerade mal eine halbe Stunde mit der S-Bahn von uns entfernt. Kurz erwog ich die Möglichkeit, zu ihnen zu fahren. Doch in meiner aktuellen Situation waren die esoterischen Kalendersprüche meiner Eltern nur schwer zu ertragen.

„Ja, du weißt schon. Die Arbeit und so.“

„Natürlich, Mäuschen. Hauptsache, du bist glücklich und verfolgst deinen Weg, dann sind wir die zufriedensten Eltern der Welt.“

Ich sah Levis Augenrollen förmlich vor mir, ebenso wie seinen Blick, der vermutlich konstant in Richtung Fernseher wanderte, wo sich seine Playstation befand. Die hatte er zu Weihnachten geschenkt bekommen, verknüpft mit der Bedingung, einmal im Monat etwas Gemeinnütziges mit unseren Eltern zusammen zu unternehmen. Diesen Monat waren sie an der Autobahn Müllsammeln gewesen. Zumindest bis die Polizei neben ihnen hielt, um sie darüber aufzuklären, dass sich keine Fußgänger dort aufhalten durften. Ihr wundert euch manchmal über die Warnhinweise im Radio, dass Menschen auf der Autobahn unterwegs sind? Wenn man aufgewachsen war wie ich, hoffte man in diesen Momenten nur, dass es nicht erneut die eigenen Eltern betraf.

„Wir rufen dich eigentlich nur an, um dir großartige Neuigkeiten mitzuteilen“, sprach meine Mutter.

„Worum geht es?“ Ich hörte lediglich mit einem Ohr zu, denn die Müdigkeit ergriff erneut von mir Besitz. Vielleicht sollte ich mich morgen krankmelden und das Bett nicht mehr verlassen, bis es mir besser ging. Also vermutlich nie wieder.

„Es war ja schon immer unser Traum, irgendwann mal an einen wärmeren Ort zu ziehen.“

War es das? Ich runzelte irritiert die Stirn.

„Und … na ja, dein Vater hat uns bei dieser Sendung angemeldet, wo sie Auswandererfamilien mit der Kamera begleiten. Die kennst du doch bestimmt. Jetzt haben sie sich bei uns gemeldet und ein Telefoninterview mit uns gemacht. Sie sind ganz angetan und wollen uns bei unseren Plänen unterstützen.“

Ich blinzelte ein paarmal, um mich aus der Verwirrung zu befreien. Dann schüttelte ich den Kopf. „Welche Pläne?“

„Na, die von unserem veganen Bio-Café auf Mallorca.“

„Ist das ein Scherz? Haben wir schon April?“

Meine Mutter lachte, als fände sie meine Verwirrung lediglich süß und nicht vollkommen nachvollziehbar. „Ach, Mäuschen, wir haben doch letztes Weihnachten darüber gesprochen. Erinnerst du dich nicht mehr?“

Doch, daran erinnerte ich mich tatsächlich noch. Aber auch daran, wie Jannis eindrücklich dargelegt hatte, warum das bei ihrer finanziellen Lage eine ziemlich schlechte Idee war. Daraufhin hatte einen Moment unangenehme Stille am Tisch geherrscht, bis meine Mutter schließlich das Thema gewechselt hatte. Ich war davon ausgegangen, dass diese Geschichte damit beendet war, da meine Eltern ihr Leben lang schon mit irgendwelchen wahnwitzigen Ideen um die Ecke kamen. Eine Zeit lang hatten sie eine eigene Hühnerhaltung auf dem kleinen Rasengrundstück hinter ihrem Reihenhäuschen, inklusive zahlreicher Nachbarschaftsbeschwerden. Zwei weitere Monate lebten sie als Frutarier und zwangen sogar Levi dazu. Bis er bei mir auftauchte und um Chips bettelte, als ginge es um Wasser in der Wüste. Ideen hatten sie tatsächlich schon viele, seit ich denken konnte, aber sie waren schlussendlich immer zurückgerudert, weil sie permanent an der Realität scheiterten. Doch irgendwie hatten sie trotzdem nie den Willen verloren, es wieder und wieder zu versuchen.

„Kaja, bist du noch dran?“ Mein Vater.

„Ja … ich … Ich verdaue das gerade.“

„Noch ist ja nichts entschieden. Wir haben ein paar interessante Objekte über das Internet gefunden, die wir uns genauer anschauen wollen. Bis dahin halten wir uns das offen. Aber durch das Kamerateam werden sich sicherlich viele Dinge auftun.“

„Was ist mit Levi?“, wollte ich wissen.

„Gute Frage!“, blökte Levi ins Telefon, wurde aber wohl gleich vom Hörer weggezogen, als hätten sie Angst, dass er etwas sagen könnte, was ihren tollen Plan in den Schmutz ziehen würde.

„Wir sagen ja, dass noch nicht alles entschieden ist. Wir würden ihn natürlich gerne bei uns haben und er lernt ja auch schon etwas Spanisch in der Schule.“

„Das ist Latein!“, dröhnte Levi aus dem Hintergrund, in den er verbannt worden war.

„Wie auch immer.“ Meine Mutter seufzte. „Wir wollten dich nur so früh wie möglich einbinden und dich wissen lassen, dass wir da etwas ganz Tolles planen. Es wäre natürlich schön, wenn wir auf deine Unterstützung zählen können, sobald das Fernsehteam vorbeikommt.“

Was hätte ich darauf antworten sollen? Dieser Tag wurde mit jeder Sekunde schlimmer und schlimmer. Ich sollte nach Hause gehen, mir die Bettdecke über den Kopf ziehen und einfach nie wieder aufstehen. Das wäre vermutlich das Beste.

Ich wünschte mir, dass Jannis hier wäre und ich mich auf der Couch an ihn schmiegen könnte, während wir irgendeine seiner Anwaltsserien schauten. Ich würde ihm von diesem Telefonat erzählen und er würde mir in allen Punkten recht geben. Vielleicht würde er sogar mit meinen Eltern sprechen und ihnen erneut erklären, warum das keine gute Idee war. Zumindest aber wäre er einfach für mich da und wenn auch nur in Form einer starken Schulter, an der ich mich anlehnen konnte.

Doch zu Hause war niemand. Ich war ganz alleine und würde das vielleicht für immer bleiben. Was blieb mir in meiner Situation anderes übrig, als gleich von der Bank aufzustehen, zum nächsten Supermarkt zu laufen und mir eine riesige Portion Schokoladeneis zu kaufen, die ich vermutlich noch heute komplett verputzen würde? Denn exakt so würde fortan mein Leben aussehen. Welches Recht hatte ich also, anderen Menschen vorzuschreiben, wie sie ihr Leben leben sollten? Ich bekam ja offenbar nicht einmal mein eigenes auf die Reihe.

„Kaja?“ Die Stimme meiner Mutter war leise, beinahe zögerlich.

Während ich auf der Parkbank saß, wischte ich mir mit dem Handrücken eine verlaufene Träne von der Wange, dann atmete ich tief ein und aus. „Ich bin immer für euch da. Das wisst ihr doch.“