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T. Stern

A Fate of Love & Trust





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Titel

 

 

 

 

T. Stern

Handlung

 

Krähenwandler Noah und Wolfswandler Leano sind beide traumatisierte Jugendliche und verdanken es dem Projekt Hope for us, dass sie nun voller Zuversicht auf weitere Veränderungen hoffen dürfen.

Der Weg führt sie, an der Seite von Wandler-Empathiker Dario Garcia und dessen Gefährten Kian, in das Areal des Waldflussrudels. Dort soll ihnen beiden geholfen werden.

Stück für Stück werden der Tiefenempathiker Noah und sein gesplitteter Partner Leano lernen müssen, mit der Vergangenheit abzuschließen und neue Pfade zu beschreiten. Ein langer und harter Weg, denn wo bisher nur zerstört wurde, fällt der Aufbau von Vertrauen besonders schwer.

Als Missverständnisse und Selbstschutz kollidieren, eskaliert die Situation und die zwei jungen Wandler sehen ihr frisches Gefährtenband reißen.

Kann die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft die Liebe nähren, auf dass das Vertrauen zwischen den beiden sich wieder festigt?

Und welcher Idiot hat den Tannenzapfen geschmissen?

Vorwort

 

Herzlich willkommen beim sechsten Band der „A Fate of“-Reihe. Die Geschichte von Noah und Leano war tatsächlich der Wunsch einiger Leser. Man durfte die beiden bereits in Band 5, der Story von Arina und Liv, kennenlernen. Dort waren sie Zöglinge der beiden Powerfrauen. Nun sind sie in die Obhut von Dario und Kian übergegangen. Wohin sie das führen wird weiß vielleicht nicht jeder, aber so mancher kann es sich bestimmt denken.

„The mighty Blaubeerbusch“ erhält Unterstützung von „The holy Tannenzapfen“. :D

„A Fate of Love & Trust“ ist ein Herzprojekt, welches den Lesern gewidmet ist, die sich die Geschichte um Noah und Leano wirklich von Herzen wünschten.

Aus Sicherheitsgründen (ich möchte nicht ver-elite-möbelt werden), empfehle ich das bereitlegen eines Augentuches (Taschentuch), für eventuelle Tränchen (des Mitgefühls oder der Verzweiflung).

Ich wünsche allen viel Spaß beim Erkunden des Waldes, beim Wiedertreffen alter Bekannter oder gar einfach beim Kennenlernen aller Charaktere.

Viel Vergnügen beim Lesen.

Danksagung

 

Tausend Dank an meinen Mann, ebenso an treue Freunde, meine Katzen & meinen Wasserkocher. ^^

 

Zutiefst herzlicher Dank an meine Elite, die ihr mich mal wieder mit Rat und Tat unterstützt habt. Habt vielen Dank für eure Zeit, euer Engagement, eure Worte, Lob und anregende Kritik, viele Lacher und noch mehr wunderschöne Momente.

Diesmal hat sich die liebe „Ellie Sandberg“ ans Ausmerzen der katerlichen Fails gewagt. Uh, da war auch viel markiert, das sag ich euch. Dennoch gilt wie eh und je, noch vorhandene Fehler gehen selbstverständlich auf meine Kappe.

 

Und wie immer – lieber Leser – gebührt ein großes Dankeschön natürlich dir, für deine Unterstützung. <3

Prolog

 

Hope for us.

So nennt sich das Projekt, welches sich um traumatisierte Jungwandler kümmert. Es widmet sich dem Auffangen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die mit ihrem Leben, aus welchen Gründen auch immer, überfordert sind. Krankheiten, egal ob physischer oder psychischer Natur, werden behandelt und es soll geholfen werden, jedem Individuum so viel Kraft zu geben, dass es die Hoffnung für seine Zukunft zurückerlangt. Bei manchen funktioniert das verhältnismäßig schnell und gut, bei anderen eher nicht. Ich zähle mich zu der Fraktion, bei der es nicht so klappt wie gewünscht. Zumindest verbuchte keine meiner bisherigen unfreiwilligen Teilnahmen einen Erfolg.

Doch diesmal kam alles anders.

War ich zu Beginn wohl eine unangenehme Überraschung für unsere Betreuerinnen, muss ich nach drei Monaten in ihrer Obhut gestehen, dass sie für mich eine Positive waren. Was sie erreicht haben, ist für mich schwer zu begreifen, geschweige denn zu beschreiben.

Ich war einer von vier Zöglingen – so nannten sie uns immer. Sie, das sind: Dr. Arina Silla, Ärztin für Formwandler, wie ich einer bin, und Liv Tulok, ihre Helferin. Aber sie waren mehr. Nein, sie sind mehr. Für mich haben diese beiden Frauen einen Status, den ihnen niemand mehr nehmen kann. Nicht mal ich selbst, egal wie sehr ich versuche, die beiden in meinen Gedanken schlecht zu reden, damit ich nicht immer an sie denken muss.

Arina und Liv.

An sie denkend, richte ich den Blick aus dem Fenster und beobachte die vorbeiziehende Landschaft. Es ist ein ganz komisches Gefühl, welches mich heimsucht und nicht mehr freigeben will. Gestern noch war ich bei ihnen, heute bin ich gefühlt am anderen Ende der Welt. Wahrscheinlich bin ich das auch. Der Reisezeit nach zu urteilen könnte es wirklich hinkommen. Seufzend schließe ich die Augen und schlucke schwer. Egal wie sehr ich mich hart und unnahbar gebe, ich kann nicht leugnen, dass ich Arina und Liv schon jetzt vermisse. Ebenso Enya und Minou. Die Zwei waren neben Noah und mir ein Teil des Quartetts, um welches sich Arina und Liv die letzten Monate kümmerten. Sie empfingen und mit offenen Armen, einem Lächeln auf den Lippen und schafften es binnen kurzer Zeit, was niemandem zuvor gelungen war. Minou war die Jüngste von uns. Sie ist gerade mal vier Jahre alt und hat ein Jahr zuvor ihre Eltern verloren. Das kleine Kätzchen verstand die Welt nicht mehr, konnte einfach nicht damit umgehen, dass ihre Eltern nicht mehr von der Arbeit nach Hause kamen. Sie wurde in ein Heim gesteckt, war aber in ihrem psychischen Zustand nicht zu vermitteln. Also kam sie zu Hope for us. Ebenso Enya, eine vierzehnjährige Ricke, die von ihren Eltern verstoßen wurde und nie darüber hinwegkam, dass diese sie nicht haben wollten. Sie fühlte sich abgelehnt, verstoßen, ungeliebt und nicht verstanden. Alleine gelassen und ohne Liebe. Ihre körperliche Entwicklung überforderte sie und letztlich stürzte sie sich in eine Magersucht. Nicht zu vergessen der bezaubernde Krähenwandler Noah. Mit seinen fünfzehn Jahren total überfordert von der Welt und als verrückt abgestempelt. Ein verschüchterter, in sich gekehrter Junge, der sich so ungeliebt und deplatziert fühlte, dass er keinen anderen Ausweg sah, als den seelischen Hilfeschrei in seine Haut zu ritzen.

Und natürlich ich, der ich sicherlich auch mein Päckchen aus der Vergangenheit mit mir herumschleppe, aber dazu möchte ich jetzt nicht mehr sagen.

Fakt ist, dass Arina und Liv das Unmögliche erreicht haben. Für mich immer noch ein unbegreifliches Wunder.

Wir waren alle vier verlorene Seelen. Irgendwo schon abgestempelt als ohnehin am Ende oder auf die Ersatzbank geschoben, frei nach dem Motto, irgendwann sind sie ja zum Glück weg. Spätestens mit achtzehn sind die Jugendheime nicht mehr für uns zuständig. Dann geht es in ein betreutes Wohnen oder noch besser, die inzwischen jungen Erwachsenen hauen einfach ab und verschwinden von der Bildfläche. So sah unsere Zukunft aus. Verrottend in Jugendheimen oder dergleichen, bis das Alter von achtzehn unsere Ketten sprengen würde, um uns immer tiefer ins Nichts gehen zu lassen. Da war keine Zukunftsoption. Für keinen von uns Älteren. Minou hätte mit ganz viel Glück sicherlich noch eine Chance auf eine Familie und damit ein halbwegs glückliches Leben gehabt, wenn sich denn jemand gefunden hätte, der sich nicht daran stört, dass sie eine Formwandlerin ist. Nach wie vor ist unsere Art eher ein lustiges Spielzeug, als eine anerkannte Lebensform. Erfahrungen, die prägen. Auf jeden Fall haben Arina und Liv nicht nur Berge versetzt und das Meer geteilt, um jedem von uns individuell zu helfen, nein, sie haben die ganze Welt gesprengt und eine neue erschaffen. Eine, in der jeder von uns irgendwie eine Zukunft haben kann.

Kann. Noch ist keiner von uns über dem Berg, der einen Erfolg und eine stabile Orientierung für ein langes Leben gewährleistet. Aber keiner von uns vier desorientierten, verlorenen Seelen muss sich weiterhin alleine gelassen fühlen.

Was Arina und Liv so besonders macht, ist, dass sie wirklich mehr erreicht haben als alle anderen vor ihnen. Wie gesagt, es war nicht mein erstes Mal, dass ich an dem Projekt teilgenommen habe. Solche Fälle wie mich wünscht man wohl keinem, der voller Enthusiasmus helfen möchte. Nichtsdestotrotz haben sie es geschafft, mich von meinem bisherigen Weg abzubringen, mir etwas zu geben, was ich glaubte niemals wieder besitzen zu können.

Hoffnung.

Nicht zwingend für mich, denn ich sehe mich nach wie vor als einen eher hoffnungslosen Fall, aber für jemanden, der mir sehr viel bedeutet. Natürlich sind Minou und Enya mir auch wichtig. Meine Freude darüber, dass Minou eine Familie bei Livs Zwillingsbruder Levi und dessen Gefährten Mattis mitsamt bereits vorhandenem Sohn Finn gefunden hat, ist unermesslich. Ebenso bin ich froh, dass Enya endlich, nach vierzehn Jahren qualvoller Einsamkeit eine Familie bei Arina und Liv gefunden hat. Dinge, die niemand für möglich hielt. Der Großteil von uns dachte immer – ich denke noch immer so – dass niemand freiwillig eine zerstörte, komplex verworrene Missgeburt wie uns haben will. Doch drei von uns vier haben bald Familie. Nicht nur auf Papier, sondern tief im Herzen.

Drei von uns vier. Das bringt mich zum Dritten, dem mir Wichtigsten, dem ich die Hoffnung zukommen lasse, die ich für mich selbst nicht mehr aufbringen kann.

Noah.

Unauffällig drehe ich den Kopf nach rechts. Zumindest versuche ich es, aber wieder mal spürt er ganz genau, wenn ich ihn ansehen will. Ziemlich zeitgleich richten wir unser Augenmerk auf unser Gegenüber und während ich eisern standhalte, knickt er ein und beißt sich auf die Unterlippe.

Was Noah so besonders für mich macht?

Seine Bedeutung in meinem Leben, welches bisher alles andere als vorzeigbar war. Bedingt durch einige Vorfälle und Begebenheiten, verlief meine Vergangenheit – wie man sich denken kann – weniger gut. Eigentlich hatte ich mit dem Thema Lichtblick für die Zukunft schon abgeschlossen und wollte mich nur noch dem tatenlosen Abwarten widmen. Es änderte sich, als ich Noah sah.

Zwar war der Drang, meine drei Mitstreiter zu beschützen, sehr groß, aber am größten war er zweifelsohne bei ihm. Vielleicht spürte ich da schon, dass Noah für mich mehr ist. Mehr, als ich mir je hätte vorstellen oder wahrnehmen können. Dass mir letztlich die Augen geöffnet wurden, verdanke ich ebenso Arina und Liv. Vor allem aber den beiden Männern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, meiner Krähe zu helfen, eine hoffnungsvolle und wunderschöne Zukunft haben zu können. Und mir.

Einen Erfolgsgarant für mich gibt es nicht – denn den jahrelangen Berg der Lasten der Vergangenheit kann man nicht einfach wegzaubern. Ich weiß, dass bei mir viel kaputt ist. Vielleicht zu viel. Dennoch sitze ich mit im Wagen, bin Teil einer Fahrt ins Ungewisse. Zumindest für Noah und mich. Wir wissen, was uns erwartet und doch wissen wir rein gar nichts.

Was mich dazu bewegt hat überhaupt mitzukommen, ist natürlich Noah. Denn, wie erwähnt, ist der für mich etwas Besonderes.

Mein Gefährte.

Der vom Schicksal für mich bestimmte Partner. Mein Gegenstück.

Auch wenn ich das wahre Ausmaß dieser Bedeutung noch nicht verstanden habe, so weiß ich dennoch, dass Noah mein Leben verändert hat und es noch viel mehr verändern wird. Alleine, dass ich hier neben ihm sitze ist Beweis genug dafür. Ich hatte mich aufgegeben. Nun wage ich, an so etwas wie Zukunft zu denken.

Der Gedanke, diese in Einsamkeit zu verbringen, darauf wartend, dass mein Leben irgendwann ein jähes Ende finden wird, wirkt auf einmal abwegig und abartig.

Ich kann nicht für mich kämpfen. Dazu fehlt mir nach so vielen Jahren der Antrieb, der Wille und der Wunsch.

Aber ich kann für ihn kämpfen. Für meinen Gefährten. Meine Krähe.

Diesen wunderschönen und bezaubernden jungen Mann, dessen fragiles und zartes Wesen mich sofort angesprochen hat. Nein. Es hat mich angeschrien und um Hilfe angefleht. Noah hat förmlich um Rettung gebettelt, weil er sich selbst nicht mehr zu helfen wusste.

Doch ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm hätte helfen können. Ich weiß, dass man niemandem von jetzt auf gleich die Lasten vergangener Jahre abnehmen kann. Bestes Beispiel bin ich selbst. Ich trage meine Lebensgeschichte auf den Schultern, schleife sie hinter mir her und fühle mich in der Gegenwart ausgebremst, weil ich nicht vom Fleck komme. Das Ziel – eine Zukunft – ist nicht mal ansatzweise in Sicht.

Was sich verändert, wenn man weiß, dass man jemanden hat, der von einer höheren unbestimmten Macht an einen gebunden ist?

ALLES! Und doch nichts. Zumindest nicht, wenn man selbst nicht bereit ist, etwas zu ändern.

Wir sind beide noch sehr jung und begreifen die wahre Bedeutung dieser ganzen Gefährten-Sache wahrscheinlich noch nicht mal ansatzweise. Aber wir spüren sie. Beide.

Ich für meinen Teil habe gemerkt, dass ich nicht länger vor mir selbst weglaufen kann. Etwas tief in mir will sich all den Monstern der Vergangenheit stellen.

Nicht zwingend wegen mir selbst, sondern für Noah.

Er ist ein Tiefen-Emphatiker. Nach fünfzehn Jahren voller Qualen durch das pausenlose Wahrnehmen der Gefühle und Gedanken anderer Wesen um sich herum, fand Dario binnen eines Blickes heraus, was meiner armen Krähe so zusetzte, dass es seine zerbrechliche Seele zerriss. Alleine kommt er nicht damit zurecht, kann nicht lernen, seine Fähigkeit so zu nutzen, dass sie ihn selbst nicht Stück für Stück zerfrisst. Unter anderem ein Grund, weswegen wir unterwegs sind in das Zuhause von Dario und Kian. Den Männern, die meiner kleinen Krähe eine abgesicherte Zukunft ermöglichen wollen. Und werden. Daran zweifle ich nicht. Denn Dario und Kian sind anders. Genauso anders, wie Arina und Liv es sind.

Dario und Kian werden Noah das Umfeld bieten, welches er benötigt, um sich in dieser doch recht brutalen Welt zurechtzufinden. Ich werde dabei sein, ihm den Rücken stärken, an seiner Seite sein und mich jederzeit schützend vor ihn stellen.

Wo zuvor nichts als Hass war, herrscht nun das Wissen, dass ich jemanden beschützen muss. Mehr denn je.

Aus meinen Gedanken reißt mich eine zärtliche Geste. Sofort richtet sich der Fokus meiner Augen auf die Ursache. Noahs Finger schieben sich zwischen meine, hält er meine Hand und ich blicke auf, werde sofort von seinen dunkelbraunen Iriden gefangen genommen.

Wieder mal hängen ihm lange schwarze Haarsträhnen wild ins Gesicht. Wenn er unsicher ist, versteckt er sich hinter seinen Haaren. Was eine absolute Schande ist, denn mein Noah hat ein wunderschönes Gesicht. Er ist ein bildhübsches Kerlchen, welches nicht nötig hat sich zu verstecken. Dennoch tut er es nach wie vor.

Nichts kann diesen jungen Mann in meinen Augen entstellen. Nicht mal die unzähligen Narben an seinen Armen.

Als würde er mal wieder meine Gedanken lesen, hebt er die andere Hand und wischt sich die Haare aus dem Gesicht, offenbart den Anblick der weichen Konturen darin. Ein kaum sichtbares Lächeln huscht über seine Lippen. Dieser flüchtige Moment frisst sich auf ewig in meinen Kopf, wie so viele andere auch.

Noah hat mein Leben verändert. Wenngleich ich selbst noch nicht bereit bin, genau das zu akzeptieren.

„Endlich angekommen“, murrt Dario und lässt den Motor verstummen. Wir stehen. Angekommen.

Die Nervosität, die mich heimsucht, liegt wie ein schwerer Stein in meinem Magen. Für einen Moment wird mir sogar leicht übel.

Noah geht es nicht anders. Er drückt meine Hand und schluckt schwer. In seinen Augen erkenne ich die Panik vor dem Unbekannten.

„Träum weiter, Füchslein“, murrt Kian und öffnet die vordere Beifahrertür, bereit auszusteigen. Doch ehe er genau das macht, grummelt er: „Du vergisst dauernd den zwei Stunden Marsch zum Fuchsbau, oder?“

„Miesmuschel!“, knurrt der Fuchswandler seinen Gefährten an, der daraufhin nur unbeeindruckt die Augenbrauen hochzieht und den Rothaarigen einen Moment ansieht.

„Schäferhund. Immer noch. Aber das mit den Tieren lernst du auch noch, Liebling.“

Trotz der herrschenden Anspannung bei Noah und mir schafft es die kleine Plänkelei zwischen den beiden Männern, meiner Krähe ein leises Kichern zu entlocken.

Dario stöhnt theatralisch und steigt zum selben Zeitpunkt aus dem Auto wie Kian.

Noah sieht mich an und atmet tief durch: „Bereit?“

„Bist du es?“, frage ich ihn und er nickt bestätigend. „Dann bin ich es auch.“

Unsere Hände lösen sich und Noah steigt aus. Ich rutsche auf seine Seite und kaum berühren meine Füße den Boden, erstarre ich.

Mein Wolf knurrt, sträubt das Fell und macht deutlich, dass er sich bedroht fühlt.

„Wer sind die?“, wispert Noah leise.

Ich starre noch immer auf den Boden und wage nicht, den Blick nach vorne zu richten. Was ich rieche, suggeriert mir, dass meine Augen mir etwas zeigen würden, was mich gerade alleine vom Geruch her überfordert.

„Freunde“, antwortet Dario und tritt an Noahs Seite, legt ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Entspann dich, Leano“, höre ich Kians raue Stimme und versuche, tief durchzuatmen, doch es gelingt mir überhaupt nicht.

Kian ist für mich der Anker. Er ist mein Mentor, denn er versteht den komplizierten Prozess, den ich und mein Wolf gerade durchmachen. Wie bitter allein der Gedanke doch ist, dass ich gesplittet bin. Ich weiß, wer ich bin. Ein Wolfswandler. Doch mein Tier und ich sind Fremde, obwohl wir uns eine Existenz teilen. Seit siebzehn Jahren.

Was meine Aufmerksamkeit dann doch nach vorne lenkt, ist lautes Miauen. Eine Katze? Eine schreiende Katze, die mit großen Sprüngen in unsere Richtung hechtet. „Ohoh!“, kommentiert Kian leise.

Gebannt starre ich das schwarze Bündel an, welches auf Dario zuhält und einen letzten Sprung macht, der etwas zur Schau stellt, was ich noch nie gesehen habe.

Aus dem zierlichen und unscheinbaren kleinen Kätzchen wird ein Mann.

„Dario!“, höre ich ihn freudig und bin wirklich fasziniert von allem, was ich gerade sehe.

Vor uns erstreckt sich Wald. Reihenweise Bäume, dichtes Gestrüpp und saftig grüne Büsche. Die Sonne scheint und bringt diesen Anblick beinahe zum Leuchten.

„Schön, dass ihr wieder zurück seid! Ich habe euch vermisst! Kian!“

Ich weiß nicht, wo ich zuerst hinschauen soll, bin gerade mehr als überfordert. Zum einen will ich Noah beschützen und diesen Katzenwandler noch mal unter die Lupe nehmen. Zum anderen aber auch herausfinden, woher dieser Geruch kommt, der mir bedrohlich erscheint.

„Junis! Du erdrückst mich!“, meckert Kian und ächzt übertrieben nach Luft.

Was meine Überforderung kurzweilig stumm stellt, ist die Tatsache, dass Noah leise lacht. Sofort schaue ich zu ihm, erkenne, mit welcher Wärme in den Augen er diesen Katzenwandler betrachtet, der an Kian klebt wie eine Klette. Okay, nun muss ich doch wieder hinschauen.

Er ist hübsch. Ein wenig erinnert er mich an Noah. Feingliedrig und fragil wirkend. Langes schwarzes Haar, welches wild über seine Schultern fällt. Als er in unsere Richtung schaut, kann ich nicht verhindern zu starren.

Goldene Augen?

„Das ist Junis“, stellt Dario ihn uns vor und das führt dazu, dass besagter Junis von Kian ablässt und sich zu uns dreht.

„Dieser Wald ist das Areal des Waldflussrudels. Sein Alpha ist Eric. Junis ist sein Gefährte.“

Während mich das jetzt weniger beeindruckt, ist Noah sofort hellauf begeistert. Ein einziger Blick zu ihm zeigt mir, dass er von Junis verzaubert ist. Ich kann es verstehen. Der Kater strahlt eine ruhige und warme Aura aus, welche keinerlei Bedrohung darstellt. Das tut eher der Wald, oder das, was darin auf uns lauert.

Mein Fokus wechselt auf die Bäume, welche demnach die Grenze sind, die es zu überschreiten gilt, um das Hoheitsgebiet eines Alphas zu betreten.

Ich weiß, dass es ein Wolf ist, rieche es schon die ganze Zeit. Er ist sehr nah, kommt immer näher, und ist nicht alleine. Plötzlich taucht ein großer weißer Wolf aus dem Gebüsch auf. Sofort setze ich an zu knurren, aber ebenso schnell verstumme ich wieder. Stattdessen ziehe ich den Kopf ein, stelle mich dennoch vor Noah und versuche, diesem imposanten Tier die Stirn zu bieten.

Was mir nicht einfach gemacht wird, alleine dadurch bedingt, dass dies besagter Eric ist. Es ist der Alpha!

Aus dem Dickicht treten weitere Wölfe. Sie gehen mit ihrem Alpha und …

„Was?“, keucht Noah und ich denke mir genau das Gleiche.

Mitten unter den Wölfen sind zwei Tiere, mit denen man hier wohl weniger rechnen würde.

„Aurelio!“, bricht es aus Dario heraus. Schon setzt er sich in Bewegung und geht auf eine Raubkatze zu. Diese wird schneller, eilt Dario entgegen und wandelt sich kurz vor ihm. Zwei Männer fallen sich in die Arme und freuen sich über ihr Wiedersehen. Die zweite Raubkatze bleibt stehen, verharrt an der Seite der beiden, während die Wölfe unbeeindruckt weiter voranschreiten, bis sie uns erreicht haben. Und sie wandeln sich. Alle.

Instinktiv halte ich dem Blick des Alphas stand. Zwar unterwirft sich mein Wolf, das bedeutet aber noch lange nicht, dass ich mich als Mensch ebenso unterordne.

„Eric“, schreitet Kian an, tritt einfach zwischen uns und begrüßt den Alpha mit einer Umarmung.

„Kian. Schön, dass ihr wohlbehalten zurück seid.“

Ich spüre Noahs Hand, die nach meiner greift und leicht zudrückt. Es sind so viele auf einmal. Nicht nur Noah fühlt sich ein wenig überrumpelt. Mir geht es gerade kein Stück besser.

„Hallo ihr zwei. Ich bin Junis. Mit wem habe ich die Ehre?“

Energisch fahre ich herum und starre den auf einmal sehr nah bei uns stehenden Katzenwandler an, der uns einfach die Hand entgegenstreckt.

Zu meiner Verwunderung tritt Noah auf ihn zu, greift die Hand und sieht Junis sogar ins Gesicht: „Noah. Krähenwandler.“

„Freut mich, Noah“, sagt Junis und grinst breit, ehe er mich ansieht. Ich murmle etwas, bis Noah mir einen leichten Rempler mit dem Ellenbogen verpasst.

„Leano. Wolfswandler“, grummle ich etwas genötigt, schüttle die mir entgegengehaltene Hand und versuche, den Überblick nicht zu verlieren. Insofern ich den je hatte.

„Entschuldigt, dass wir euch so überfallen. Aber als wir hörten, dass Dario und Kian wiederkommen, war die Freude schon groß. Als sie dann auch noch verkündeten, zwei Wandler mitzubringen, wollten wir alle wissen, wen wir im Waldflussrudel begrüßen dürfen.“

Ein Schatten lässt mich den Blick nach vorne richten, erkenne ich eine Hand. Diese gehört niemand Geringerem als dem Alpha. In einer Mischung aus unsicher und angriffslustig erwidere ich seinen Blick, ehe ich um des Friedens Willen zugreife.

„Willkommen im Waldflussrudel, Wölfchen“, neckt er mich und ich kann nicht anders als ein leises Knurren von mir zu geben.

„Na! Leano! Man knurrt den Alpha nicht an!“, tadelt mich Kian sofort. Doch ich erhalte Unterstützung, mit der ich nicht gerechnet habe. Der junge Mann, den Dario unbedingt begrüßen wollte, mischt sich ein: „Ich kenne jemanden, der hat Eric auch angeknurrt.“

Eric verdreht die Augen und stöhnt: „Mich knurren alle an. Das ist das tragische Los eines Alphas.“

Er schnappt nach Junis, zieht ihn an sich und fordert: „Tröste mich. Die sind alle gemein zu mir!“

„Mein armer, armer großer Wolf“, tätschelt Junis ihm den Kopf. Ich weiß nicht warum, aber ich entspanne mich.

 

1. Leano

 

Wir haben gerade erfahren, dass für den weiteren Weg eine Wandlung erforderlich ist. Die große Truppe wird sich aufteilen, so habe ich es verstanden. Ein Teil wird uns zum Fuchsbau begleiten, der andere hier warten, denn es soll noch eine Lieferung kommen. Was auch immer damit gemeint sein mag.

Unser Gepäck, so versicherte Eric, würde zu uns gebracht werden, ebenso wie die Bestellungen von Dario.

Das ist alles ganz schön viel auf einmal. Die lange Reise hierher, das Gefühl, etwas wirklich Bedeutsames zurückgelassen zu haben – nämlich Arina, Liv, Minou und Enya – und jetzt diese ganzen unverständlichen Informationen.

Eine kleine Bewegung neben mir lenkt meine Aufmerksamkeit weg von dem Tumult der vielen Menschen, hin zu meinem Nebenmann.

Noah hat den Kopf gesenkt und wirkt nachdenklich, sogar ein wenig angespannt. Wahrscheinlich prasselt gerade mal wieder ein Ozean fremder Gedanken und Gefühle auf ihn ein. Meine arme kleine Krähe.

Ich will ihn beschützen. Auch wenn es nicht nötig ist, dass ich ihn hier vor Menschen verteidige, so ist es doch wichtig, ihn vor sich selbst zu schützen. Langsam strecke ich die Hand in seine Richtung und als meine Finger seine berühren, zuckt er merklich zusammen. Es bedarf keines Blickes zu ihm, weiß ich auch so, dass er mich überrascht betrachtet.

Noch immer fällt mir schwer, gewisse Emotionen einzusortieren, weshalb ich versuche, sie einfach zu verbergen. Nicht nur vor all den Unbekannten um mich herum, sondern vor allem vor Noah. Der absorbiert diese ja ungefiltert und weiß damit immer mehr, als er wissen sollte!

Natürlich weiß er genau darum und lässt sich nicht nehmen, mir genau das mal wieder daumendick aufs Brot zu schmieren. Ein Schritt nur, schon ist der Abstand zwischen uns vernichtet. Seine Finger krallen zu, haken sich in die meinen und bereits eine Sekunde später, spüre ich seine andere Hand auf meiner Wange. Zärtlich und doch bestimmt dirigiert er meinen Kopf in seine Richtung, lässt mir Zeit, denn es erfolgt schon mit ein bisschen Zwang seinerseits. Kaum einen Sekundenbruchteil in seine Augen geschaut, schon ist alles vorbei. Machtlos, mich dem hypnotisierenden Blick seiner dunkelbraunen Iriden zu entziehen, reißt mich die Welle an Gefühlen seinerseits einfach nieder.

Ich muss aufpassen, wie sehr ich meine Emotionen und Gedanken zulasse, denn er kann sie einsehen. Wie ein Schwamm saugt er alles um sich herum auf. Er fühlt, was andere fühlen, liest in den Köpfen jeden noch so kleinen Fetzen eines verworrenen Denkmusters und filtert das in seinen Augen Essentielle heraus, um eine Analyse zu vollziehen, die einen bis auf die Haut auszieht.

Das ist – mit Verlaub – echt gruselig!

Tiefen-Empathiker. So nannte Dario es, der selbst ein Empathiker ist. Ja, auch Dario ist creepy!

Aber seine Fähigkeit war es letztlich, die Noah half, sich mit der seinen endlich auseinandersetzen zu können.

Das mindert dennoch nicht, dass sie beide unheimlich sind. Nur um das erwähnt zu haben.

„Bereitet euch vor. In fünf Minuten geht es los!“

Erics Anweisung wird von allen gehört. Auch nicht weiter verwunderlich. Der Alpha hat nicht nur eine markante Präsenz, sondern eine ebensolche Stimme.

Noah spannt sich an. Ihm behagt die Vorstellung, sich vor allen nackt zu zeigen und zu wandeln, überhaupt nicht. Zugegeben, ich kann ihn verstehen. Mir geht es nicht anders, wenngleich ich mit dem sich steigernden Gefühl des Unwohlseins anders umgehe.

Noah verkrampft sich und zittert, während ich das mache, was ich am besten kann. Knurren. Etwas, was mein Tier und ich in Perfektion beherrschen.

Es ist Darios Blick, der mich verstummen lässt. Es ist nicht sinnvoll, in der Gegenwart eines Alphas zu knurren. Schon gar nicht, wenn dessen Gefolgschaft alles tun würde, um ihn zu beschützen. Da ist es nicht von Bedeutung, warum ich geknurrt habe. Nur der Grund, dass ich es getan habe, genügt, um mir den Arsch aufzureißen. All das weiß ich. Kian hat es mir eingetrichtert. Die ganzen letzten vier Tage habe ich kaum etwas anderes zu hören bekommen, als gutgemeinte Ratschläge, wie ich mich besser NICHT verhalten sollte.

„Komm“, flüstere ich rau und setze mich in Bewegung, ziehe Noah einfach mit. Mein Ziel ist die andere Seite des Wagens, der uns ein wenig Deckung bietet.

Sich nackt zu zeigen, ist für manche Wandler kein Problem. Okay, für die meisten ist es das nicht. Aber Noah und ich sind nun mal nicht wie andere. Wir sind jung, haben beide einen gehörigen Knacks in der Rübe und tragen die Spuren der Vergangenheit auf unseren Körpern zur Schau. Solange wir nicht fähig sind, jede Narbe an uns zu akzeptieren, wird es uns nicht möglich sein, wie andere mit der Zurschaustellung unserer Körper klarzukommen. Vor allem Noah nicht. Der ziert sich ja manchmal sogar noch vor mir. Und ich bin sein Gefährte!

Hinter dem Wagen angekommen, lasse ich von Noahs Hand ab und zögere nicht wirklich lange, sondern gehe mit gutem Beispiel voran. Zwar fühle ich mich nicht wirklich wohler dabei, aber ich möchte auch nicht in Noahs Haut stecken, der viel mehr Gründe hat, mit seiner Nacktheit Probleme zu haben.

Er wurde auf Grund seines Aussehens gemobbt. Natürlich nagen Unsicherheit und Selbstzweifel an ihm.

Eine Schande, dass er sich nicht mit meinen Augen sehen kann. Noah ist ein Gedicht purer Verführung. Er besitzt so viele Reize und eine unfassbare innere Schönheit, dass jene Makel, die ohnehin nur von anderen wahrgenommen werden, verblassen.

Ich kenne seine Narben. Alle. Für mich entstellen sie ihn nicht. Sie zeigen mir nur, wie einsam dieses wunderbare Wesen war und wie verzweifelt er nach Hilfe schrie, aber nie gehört wurde.

Wenn ich mir vor Augen führe, dass wir Gefährten sind, dann denke ich mir immer wieder, dass das Schicksal einen echt seltsamen Humor hat. Wir haben einige Parallelen in unserer Vergangenheit und doch gingen wir beide komplett verschieden damit um.

Das letzte Stück Stoff ist gewichen und ich richte mich auf, atme tief durch und spüre Noahs musternden Blick auf mir. Er scannt mich mal wieder. Von oben bis unten, und wieder hoch – in der Mitte stoppend. Ein Schelm wer Böses denkt. Ich finde es nicht schlimm, schließlich mache ich es bei ihm auch immer wieder.

Wir sind jung und unerfahren, tasten uns so langsam an die ersten Hemmschwellen heran. Sicher, einige haben wir schon gebrochen – aber wir stehen erst am Anfang einer langen Reise.

„He, mein Hübscher“, flüstere ich und wage einen langsamen Schritt vorwärts. Ich lasse ihn meine Hand sehen, versuche, so zu verhindern, dass er sich erschreckt, wenn ich ihn gleich berühre. Das Zusammenzucken seines Körpers bleibt aus. Noah schmiegt seine Wange meiner Handinnenfläche entgegen und schließt genießerisch die Augen.

„Hab keine Angst“, säusle ich ihm beruhigend zu, lege die zweite Hand an seinen Bauch und schiebe sie langsam tiefer, bis ich den Saum seines Shirts zu fassen bekomme.

Als meine Fingerspitzen seine nackte Haut berühren, zieht er scharf die Luft ein und wagt nicht auszuatmen.

„In meinen Augen bist du das Schönste, was ich je erblicken durfte. Es gibt nichts, was dir vor mir unangenehm sein sollte. Für mich bist du“, kurz unterbreche ich, ziehe Noah das Oberteil über den Kopf und schaue ihm dann wieder in die Augen, ehe ich vollende, „perfekt!“

Der Knoten in seinem Brustkorb löst sich, atmet er aus und sinkt ein wenig entspannter in sich zusammen, ehe er mir ein scheues Lächeln schenkt.

„Wenn ich dir jetzt die Hosen ausziehe, würde ich in die Knie gehen. Was würden die anderen wohl alle denken, was wir hier machen?“ Warum ich so etwas sage? Weil es Noah dazu verleitet, in meinen Kopf zu blicken und was er da sieht, lässt ihn binnen einer Sekunde rot anlaufen. Nicht nur das. Hastig schnellen seine Hände an den Bund seiner Hose, zieht er sich den Rest seiner Kleidung selbst aus und sieht mich dann aus doch leicht verschüchtert an, als er realisiert, dass er nackt vor mir steht. Peinlich berührt schiebt er beide Hände an seinen Schritt und beißt sich auf die Unterlippe. Seine Muskeln beben und er schluckt schwer.

Unweigerlich denke ich an die raren, sehr kostbaren Augenblicke, in denen wir die ersten kleinen Annäherungsversuche starteten. Mit meinen Händen glitt ich über seine nackte Haut, berührte seinen filigranen Körper und liebkoste die vielen reizvollen Stellen. Sündhafte Versuchung. Natürlich war und bin ich neugierig, was das betrifft. Noah ist mein Gefährte. Ich möchte alles an ihm kennen, berühren, verschlingen, markieren. Ihn besitzen.

Aber weiter als ein wenig Erforschen sind wir noch nicht.

Nein. Es liegt nicht an Noah, dass wir trotz des Wissens um unsere Verbundenheit noch immer Distanz zwischen uns walten lassen. Viel mehr bin ich es, der ab einem gewissen Punkt nicht weitermachen kann. Es liegt wirklich nicht an ihm, auch wenn Noah das immer denkt. Vielmehr ist es, als hätte ich eine Blockade, die mich lähmt und entzweireißt. Da ist das Verlangen, welches mich drängt Noah als den meinen zu kennzeichnen. Zugleich aber auch etwas, was ich nicht benennen kann, was mir genau das immer wieder verbietet. Dario nannte es einen Schutzmechanismus, konnte oder wollte mir allerdings nicht sagen, wieso es diesen gibt.

„Wandle dich, meine Krähe“, flüstere ich sanft und streiche einige lange schwarze Haarsträhnen aus seinem hübschen Gesicht. Er macht es und ich kann den Prozess der Veränderung beobachten. Wie immer voller Faszination. Schon beim ersten Mal konnte ich nicht wegsehen. Ich wollte jedes kleine Detail in einer Momentaufnahme festhalten, um diese Zeremonie bei Bedarf immer wieder in meinem Kopf abspielen zu können.

Die Sonne scheint auf sein pechschwarzes Gefieder und bringt es zum Glänzen. Seine unergründlichen dunklen Äuglein mustern mich und er gibt ein leises „Kra“ von sich, welches mich auffordern soll, mich auch zu wandeln.

Eine Wandlung vor anderen erfordert viel Vertrauen.

Man offenbart sich in der schwächsten Form, die ein Wandler haben kann. Als Mensch und als Tier kann man sich verteidigen. Doch während des Prozesses nicht.

Ich vertraue Noah – im höchsten Maß, welches ich einem anderen Individuum gegenüber empfinden kann.

Sonst wäre ich nicht hier. An seiner Seite. Auf einer Reise ins Ungewisse. Mehr oder weniger.

Mir ist bewusst, dass Dario mit mir arbeiten wird. Er wird meine Vergangenheit wiederbeleben, um mir in der Gegenwart einen Gedanken für die Zukunft zu ermöglichen. Was er dabei alles ans Tageslicht befördern könnte, macht mir Angst.

Ich gehe soweit zu sagen, dass ich nicht freiwillig hier bin, sondern weil Noah den Aufenthalt hier benötigt und mein Platz an seiner Seite ist.

Bisher ging alles gut. Doch vermag ich nicht mal die Hoffnung zu hegen, dass es das lange tun wird.

Noahs Nähe hält mich im Zaum. Ich fühlte mich nie bedrängt, eingeengt oder bedroht von ihm. Da war nie ein unsichtbarer Käfig, der mich meines Freiraums berauben wollte. An Noahs Seite bin ich nicht der ängstliche und verbitterte Wolf, verspüre nicht den Drang, wild um mich zu beißen, um mich vor etwas zu schützen, was nicht mal wirklich da ist.

Seine Berührungen beruhigen mich, erfüllen mich mit Wärme und symbolisieren mir stetiges Verständnis, obwohl ich mich nicht erklären kann. Noah spürt, wenn ich unausgeglichen bin, geht dann vorsichtiger vor. Er merkt, wenn er eine Grenze erreicht. Er weicht von sich aus zurück, gibt mir Zeit und lässt mich atmen. Er hat mir nie eine Kette umgelegt und daran gezogen, im Wissen, mich damit zu strangulieren.

Erst seit er ein so wichtiger Bestandteil meines Lebens ist, fühle ich mich nicht mehr wie eine gefährliche Bestie, die man an zu kurzer Leine hält, weil man fürchtet, sie würde um sich beißen. Genau das habe ich aber immer getan, weil ich fürchtete, nicht mehr atmen zu können. Ich wurde erstickt. Das erste Mal seit wirklich langer Zeit konnte ich durchatmen, als Noah mich vor wenigen Wochen aus einem Käfig befreite. Dieser kleine, unscheinbare, schwach wirkende Kerl wuchs über sich selbst hinaus und befreite mich aus der Gefangenschaft.

Er riss die Kette von mir und ließ mich atmen.

Noahs Wert in meinem Leben benennen? Er ist die Luft, die durch meine Lungen strömt. Mit jedem Atemzug mein Herz schlagen lässt.

Genau das führte letztlich dazu, dass ich ohne jeglichen Zwang oder Druck freiwillig an seiner Seite ging. Ohne Leine.

All dem, was Noah für mich getan hat, will ich gerecht werden. Deshalb bin ich hier. Denn ich kann das nur erreichen, wenn ich stärker werde. Für ihn.

Es gibt zwei Dinge im Leben, vor denen man nicht weglaufen kann, egal wie schnell man rennt.

Die Vergangenheit und die Wahrheit.

Ich habe es begriffen. Dario und Kian werden uns beiden helfen.

Und ich werde lernen müssen, dass ab und an eine härtere Hand bei mir erforderlich sein wird. Aber ich fürchte diese nicht. Denn weder Dario noch Kian haben mich bisher verletzt, egal wie oft ich mit strafenden Schlägen oder Tritten für mein Ungehorsam rechnete. Immer wieder tätschelten sie mir den Kopf und erklärten mir in aller Ruhe, mit Geduld und den Worten, die man einem kleinen Kind gegenüber verwenden würde, warum mein Verhalten falsch war.

„Hey! Ihr Gedanken-Tiefseetaucher! Beeilt euch!“, ruft Dario in unsere Richtung. Ich sehe Noah an, der bereits ungeduldig mit den Flügeln schlägt.

„Entschuldige, Noah“, flüstere ich und schließe die Augen.

Mich wandeln. Gar nicht so leicht. Ich habe noch immer Schwierigkeiten damit. Mal läuft es recht gut und dann will es einfach gar nicht klappen.

Als sich nichts regt, steigert sich meine Nervosität. Allerdings nicht für lange. Sie wandelt sich sehr schnell in eine Art Wut um, weil etwas nicht so funktioniert, wie ich es möchte. Ich will mir hier nicht die Blöße geben, dass ich ein Wandler bin, der zu dumm ist sich zu …

„Leano“, höre ich Kians Stimme dicht bei mir. Ich schaue zur Seite und sehe ihn an. Beschwichtigend hebt er die Hände und verringert den Abstand zwischen uns soweit, bis er eine Hand auf meinen Bauch legen kann.

„In den Bauch atmen, Leano. Ganz ruhig und entspannt. Atme ein und aus. Noch einmal. Es ist okay.“ Seine tiefe und ruhige Stimme wirkt Wunder. Wie immer.

Kian ist es, der mir sehr nahe steht. Er versteht meine Lage, weiß um den Kampf, den ich zu den ungünstigsten Augenblicken in mir austragen muss. Beeinflussen kann ich es nicht.

Mein Tier und ich sind gesplittet. Wir sind eins und doch sind wir es nicht. Dieser Zustand treibt Wandler auf kurz oder lang in den Wahnsinn.

Kian erging es auch so. Er versteht mich auch ohne Worte, was er gerade wieder beweist.

„Dein Wolf passt auf. Vertraue ihm. Er hat immer aufgepasst, Leano. Nicht er hat dir wehgetan, es waren andere Personen. Und sie haben ihn genauso verletzt. Ihr seid eins. Lass ihn frei.“

Verzweifelt schaue ich zu Noah, dann doch wieder zu Kian: „Ein Rudel. Ich werde mich zum Narren machen und mich blamieren.“

„Nein. Das wirst du nicht, Leano. Vertraue mir. Ich weiß, es ist schwer. Aber ich pass auf dich auf. Versprochen.“

Hastig schließe ich die Augen, schlucke diesen immensen Druck in meinem Hals, zumindest versuche ich es. Gelingen will es mir nicht. Ich spüre die Feuchtigkeit unter meinen Lidern, wie sich ein Zeichen der Schwäche und Verzweiflung an meinem rechten Auge in den Augenwinkel drückt.

Nein. Ich weine nicht! Nie wieder!

Plötzlich passiert es. Der Mensch tritt hastig zurück und lässt dem Wolf den Vortritt. Mein Tier prescht schier in den Vordergrund und ich wandle die Form.

Zu schnell.

Mir ist schwindelig und meine Beine zittern.

Missmutig grummle ich und lasse den Kopf hängen.

Es ist so anstrengend. Ein Wandler bereitet seinen Körper normalerweise auf so einen Akt vor. Ich tue das irgendwie nie. Von jetzt auf gleich vom Mensch zum Tier. Oder umgekehrt.

In meiner animalischen Form stehe ich taumelnd da und spüre dann etwas in meinem Nacken, was mich sanft aber bestimmt niederdrückt. Aus den Augenwinkeln erkenne ich Kian in seiner Tierform. Der Schäferhund hat mir seine Pfote in den Nacken gelegt und dafür gesorgt, dass ich mir noch einen Augenblick Ruhe gönne. Wahrscheinlich würde ich sonst nach fünf Schritten einfach umkippen und wie eine Schildkröte auf dem Rücken liegend nicht mehr hochkommen.

„Kra“, höre ich Noah und schon tapst die Krähe an meinen Kopf und schmiegt sein kleines Haupt gegen meinen Schädel. Ich drücke meine schwarze Nase an seine Federn, ziehe seinen Duft ein und sinke dann doch ergeben der Schwäche in meinem Körper nieder, um noch etwas Kraft zu tanken.

Ein Rudel. Ich werde gleich das erste Mal mit einem Rudel laufen. Je mehr ich darüber nachdenke, umso aufgeregter bin ich.

Wahrscheinlich hege ich gerade unvorstellbar hohe Ansprüche an etwas, was nicht anders ist, als mit Kian, Dario und Noah durch die Gegend zu laufen. Aber mein Wolf ist ganz aus dem Häuschen.

Die Präsenz des Alphas wirkt auf meine animalische Seite viel stärker, als auf meine menschliche. Mein Tier ist sofort von dem Gedanken begeistert irgendwo dazugehören zu dürfen. Rudel. Das ist ein mächtiges Wort. Vielleicht habe ich die Wandlung nicht vollziehen können, weil mein Mensch fürchtet, dass der Wolf dann Sehnsüchte entwickelt, die der humanen Seite Probleme bereiten könnten.

Ich war schon immer ein Einzelgänger. Zu Beginn erzwungen, irgendwann aus freien Stücken. Zumindest glaubte ich das bisher. Wenn ich mir jetzt aber meinen Wolf so ansehe, wie er mich drängelt, sofort aufzustehen und die Wölfe zu begrüßen, dann fürchte ich sehr vieles.

Kian stupst mich mit der Nase an, öffne ich die Augen und erstarre. Neben meinem Noah sitzt eine schwarze Katze – Junis – und schnuppert an meiner Krähe.

Noah gibt ein leises „Kra“ von sich, worauf von der schwarzen Katze ein leises „Mau“ erfolgt. So geht das ein paar Mal, schon schmusen die beiden sich an und das schwarze Kätzchen zieht wieder von dannen.

Ratlos schaue ich zu Kian, der den Kopf schief legt und ein leises Fiepen von sich gibt, welches mir sagt, dass er auch keine Ahnung hat. Sind wir immerhin schon mal zwei Dumme. Das ist beruhigend.

Ich rapple mich auf und mache die ersten zwei Schritte, als ich doch abrupt stehen bleibe. Der Grund dafür ist, dass Noah vor mir her hopst und ich diesen Anblick einfach immer genießen muss. Ich liebe es, ihn so freudig hopsen zu sehen. Ohne Scheu steuert er um den Wagen und hüpft weiter auf die wartende Meute Tiere zu. Ich aber bleibe auf einmal stehen und betrachte mit weit aufgerissenen Augen, was ich sehen muss.

Da steht dieser große weiße Wolf, umringt von vielen anderen Wölfen. Die Raubkatzen sind dabei und der mir bekannte Rotfuchs sitzt mittendrin und scheint mit dem schwarzen Kater herumzualbern.

Ein Rudel. So schön und doch zu beängstigend.

Kian versucht mich etwas anzuschieben, aber ich sinke demonstrativ auf den Hintern und setze mich hin. Unsicher schaue ich ihn an und fiepse.

Jetzt kneift mein Wolf doch den Schwanz ein! Na super!

Ein Schatten baut sich auf und ich richte den Blick wieder nach vorne. Da steht der Alpha und sieht mich prüfend an. Im ersten Moment noch entweicht mir ein Knurren, doch erstickt es, als ich seine starke Aura wahrnehme. Sofort sinke ich auf den Boden, unterwerfe mich und fühle mich gänzlich verstört.

Das bin nicht ich. Das ist der Leano, der ich all die Jahre war. Was passiert mit mir?

Schnaubend tritt der weiße Alpha näher, schnuppert an mir und grummelt mich dann an. Vorsichtig blinzle ich zu ihm, den Kopf tief nach unten gedrückt und nach wie vor nicht fähig aufzustehen und freudig zum Rudel zu rennen.

Plötzlich spüre ich einen vorsichtigen Biss im Nacken. Erics Maul hat mich gepackt und zerrt leicht an mir, als wolle er mir suggerieren, dass ich mich endlich bewegen solle. Insgesamt macht er das dreimal, dann gebe ich nach und kämpfe mich auf die zitternden Beine.

Ich fühle mich gerade wie ein Welpe, der das erste Mal dem Rudel gezeigt wird. Sie entscheiden, ob sie mich akzeptieren werden oder nicht. Bisher wurde ich nie akzeptiert. Versteht man nun meine Befürchtungen und Ängste?

Die Meute setzt sich in Bewegung, steuert den Wald an. Eric geht vor, nimmt wieder den Platz an der Spitze ein. An meiner Seite geht Kian. Noah spreizt endlich die Flügel, stößt sich in die Luft und hebt ab, fliegt langsam über uns.

Zwei vollkommen neue Dinge. Ein Rudel. Ein Wald!