Furchtbar lieb

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Manche Menschen finden auf einen Schlag zu sich selbst, wie bei einer Explosion. Vielleicht bei einer Rucksacktour im Himalaya oder auf einem LSD-Trip. Manche Menschen studieren die Kunst der Selbstfindung und machen nach Jahren fleißigen Lernens ihren Abschluss – oder auch nicht. Ich selbst habe Stück für Stück zu mir selbst gefunden, mehr oder weniger durch eine Reihe von Zufällen.

Das erste Stück habe ich in einem Zelt auf dem West Highland Way gefunden. Meine beste Freundin Sarah schlief. Ihr Mann lag neben ihr, und ich schluckte sein Sperma.

Ich entdeckte das nächste Stück von mir am Grund einer Klippe, als ich Sarahs toten Körper dort entlangschleifte, während ihr Kopf gegen die Felsen schlug. Sarah, meine beste Freundin seit Kinderzeiten, die ich verraten und ermordet hatte.

Und dann, in der Dunkelheit des Dachbodens meiner Eltern, fand ich den Rest von mir.

***

Bis vor einer Woche hatte ich in meinem Leben nur einen einzigen wirklich bedeutsamen Fehler begangen. Ich wusste, dass ich Schwächen hatte. Kleinigkeiten wie die, dass ich eitel war und ungeduldig und zwanzig Einheiten Alkohol in der Woche trank; was eine Lüge ist, denn es müssen mindestens fünfundzwanzig gewesen sein; und auch das ist eine Lüge. Aber ich hatte nur ein einziges Mal etwas getan, wofür ich mich wirklich schämte.

Ich war nach Teneriffa gefahren, mit Marj von der Arbeit, die

Wir sahen uns einen Augenblick lang an und lächelten, weil wir beide genau dasselbe zu genau derselben Zeit dachten. »Endlich jemand, der mich versteht.«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Ich hatte ihn gefunden!

Er berührte meine Schulter voll echter Liebe, und ich ertastete sein Gesicht mit meinen warmen Fingern. Dann nahm ich seine Hand, ging seelenruhig zur Damentoilette, schob ihn in die Kabine, rollte meinen schwarzen Tanga über die Beine und drückte seinen Kopf hinab und in mich hinein. Er tauchte mit überraschender Schnelligkeit wieder auf, und wir liebten uns an der reinen, weißgekachelten Wand dieses wunderbaren, weichen Ortes. Wir sahen uns in die Augen, hielten uns an den Händen und liebten uns.

Es ist seltsam, wie der Katzenjammer über einen kommt. Meiner kam im selben Moment wie der Mann mit den weißen Zähnen. Fast wie ein Schuss drangen Erschöpfung, Augenschmerz und schlechter Atem in mich ein. Bumm. Ich war verkatert, und ich sah, dass die weißen Fugen zwischen den Kacheln in Wahrheit mit feuchten, grauen Pissedämpfen beschlagen waren, dass die Toilette braun von Scheißespritzern war, und dass der Mann, meine schöne wahre Liebe, irgendetwas Orangefarbenes zwischen seinen Schneidezähnen stecken hatte.

Ich wünschte, dass er meinen Schleim aus seinem Gesicht wischen würde, und ich musste dringend Wasser trinken.

Bis vor einer Woche war das der einzige große Fehler, den ich jemals begangen hatte. Das Einzige, was ich wirklich bereute. Auf diese Weise mit dem kleinen Robbie schwanger geworden zu sein. Mit meinem kleinen Baby Robbie.

Es war Sarah, die mir durch die Schwangerschaft half. Unsere Freundschaft hatte eine lange Vorgeschichte – mit der Zeit hatten wir uns den Anspruch auf die bedingungslose Liebe des anderen erworben. Und obwohl wir einander unendlich auf die Nerven gingen – vor allem, als wir uns mit den Jahren immer mehr in unsere Mütter verwandelten –, empfanden wir echte Liebe füreinander. Wenn die Politesse kein Einsehen hatte, dann war es Sarah, die ich wehklagend anrief. Wenn ich ein eingewachsenes Haar hatte, das entfernt werden musste, dann war es Sarah, die Krankenschwester, die mich operierte. Wenn ich auf dem Sofa sitzen und nicht sprechen wollte, dann war es Sarah, die stillschweigend die besonders guten Chips bereitstellte. Sie war mein Fels in der Brandung, meine Beschützerin.

Sarah und ich hatten uns kennengelernt, als wir vier Jahre alt waren. Ich mochte sie auf Anhieb, weil sie hübsch war und gepflegtes, glänzend blondes Haar hatte und strahlend blaue, puppenhafte Augen. Sie war auf dem Spielplatz nie allein, machte sich nie Sorgen darüber, ob die Leute sie mochten oder nicht, und ihr Anblick war so beruhigend wie das Meer.

Sarah war alles, was ich nicht war. Sie war vernünftig und fuhr niemals auf Rollschuhen einen steilen Abhang hinab oder verschüttete Saft auf dem Rechtschreibheft. Sie war mädchenhaft. Wenn ich vom Weihnachtsmann Wasserpistolen und Gartenrechen bekam, brachte er Sarah flauschige rosa Sachen und Puppen, die pinkelten und weinten (und mich in den Wahnsinn trieben). Aber der vielleicht größte Unterschied zwischen uns war, dass Sarah sich gern drinnen aufhielt. Sie konnte den ganzen Tag damit verbringen, in ihrem Zimmer mit ihrer

Ich hingegen hasste es, drinnen zu sein. Ich spielte auf der Straße, im Pollok-Park, in der Einkaufspassage, in den Gärten meiner Freundinnen. Aber wenn ich bei Sarah spielte, blieben wir fast immer drinnen. Wenn ich es während unserer Kindheit überhaupt einmal schaffte, Sarah zum Spielen nach draußen zu locken, dann unter der strikten Bedingung, dass Kullertränchen auch mitkam, und während ich ein Minibaumhaus baute, in das die Puppe entfliehen konnte, fütterte Sarah sie mit Porridge, wischte ihr das Gesicht ab, wechselte ihre Windeln und wiegte sie in den Schlaf.

***

Arme Sarah. So lange ich denken konnte, war ein Baby alles, was sie jemals wirklich gewollt hatte. Als Sarah schwanger werden wollte, rief sie anfangs aufgeregt ihren Mann Kyle in der Praxis an, und brachte ihn dazu, nach Hause zu kommen und es mit ihr zu treiben, weil der Zeitpunkt gerade richtig sei – ihr Sekret klar, ihre Körpertemperatur hoch und sie selbst unheimlich geil. Nachher kicherten sie, wenn er sein Stethoskop auf ihren Bauch legte, um »ihm beim Schwimmen zuzuhören«.

Aber als die Zeit verging, glaubte Kyle, dass er seine Patienten nicht warten lassen dürfe, oder dass er Hausbesuche machen müsse, und Sarah fragte sich, ob ihr Eisprung vielleicht schwerer zu bestimmen sei, als sie geglaubt hatte. Nach einer Weile kam sie zu dem Schluss, dass er unsichtbar durch den Monat streife und dass sie und Kyle, um ihn zu fangen, jeden Abend Sex haben sollten.

Das ging zwei Jahre lang so. Sie wurden gut darin. Wer braucht schon Gleitcreme? Ein schmerzhafter Stoß zu Beginn ist ein geringer Preis für Effizienz.

Aber nach vierundzwanzig Monaten, in denen sie jeden

Also gab Sarah ihre Stelle auf, denn sie war zu dem Schluss gekommen, dass der Stress auf der Intensivstation sich nachteilig auf ihre Eierstöcke auswirke. Dann nutzte Kyle seinen Einfluss als dienstältester Allgemeinmediziner in der Gemeinschaftspraxis von South Shawlands, um für Sarah eine schnelle Überweisung zum besten Fruchtbarkeitsspezialisten Großbritanniens zu bekommen. Sarah nahm ihre Medikamente, fühlte sich krank und war mürrisch. Sie pflegte ihren Garten nicht mehr mit der gewohnten sanften Fürsorglichkeit, legte die Renovierungspläne für ihr Wochenendhaus bei Loch Katrine auf Eis und klagte ihrer ältesten und besten Freundin – mir – jeden Abend am Telefon ihr Leid.

»Kyle arbeitet die ganze Zeit! Wieso? Wieso? Wieso?«

Als sie das erste Mal anrief, schlug ich ihr vor, dass wir miteinander ausgehen und uns betrinken sollten.

Sarah schrie auf: »Willst du, dass das Baby ein Zwerg wird?«

Als Nächstes schlug ich ihr vor, gemeinsam essen zu gehen. Nachdem sie mir Muscheln Marinara mit ihrer Bakterienangst auf immer verleidet hatte, machte ich diesen Vorschlag nie mehr.

Jetzt schäme ich mich zutiefst dafür, aber nachdem Sarah Monat um Monat angerufen hatte, wurde ich der Sache allmählich überdrüssig. Ich hatte ihr wirklich lange mit echtem Interesse zugehört und ihr Ratschläge erteilt. Ich hatte mit ihr geweint, meiner Freundin, deren unerklärlicher Drang nach Mutterschaft in ihrem Innern explodiert war, ohne dass sie die nötige Befähigung dazu gehabt hätte. Ich hatte ihr homöopathische Mittel geschenkt, Bücher, Nikotinpflaster, Nikotinkaugummi und Nikotininhalatoren. Wie wäre es hiermit? Damit? Sieh zu, dass Kyle sich untersuchen lässt. Untersuch mal deine Dehnbarkeit da unten. Klar und elastisch. Am wichtigsten: Entspann dich.

Aber nichts davon hatte funktioniert, und ich wurde der Sache überdrüssig.

Im Gegenzug wurde die Flucht vor ihren Eierstöcken das einzige Ziel meiner Unterhaltungen. »Wie geht’s mit der Steinmauer in Loch Katrine voran?«, fragte ich sie eines Wochentags um 22 Uhr 33.

»Ich habe mit der Arbeit daran aufgehört«, sagte sie. »Es könnte sein, dass die Belastung meinen Eierstöcken schadet.«

***

Als Sarah eines Abends um 23 Uhr 03 anrief, um zu sagen, dass Kyle es nicht mehr mit ihr treiben wolle, schnauzte ich sie leider an und sagte ihr, sie solle sich zusammenreißen. Ich sagte ihr, keinen Sex zu haben sei vermutlich ein recht bedeutsamer Faktor, wenn man nicht schwanger werde, und fragte, wer es Kyle verübeln könne, dass er sich von ihr zurückzöge, wenn sie mit sich selbst nicht im Reinen sei?

Sie legte grußlos auf.

Ich schämte mich für meinen Ausbruch und rief zurück. Sie nahm nicht ab. Ich rief noch einmal an. Und schließlich ging Kyle dran und sagte konspirativ: »Sie kann jetzt nicht sprechen.«

Also ging ich bei ihnen vorbei und klopfte an die Tür. Kyle öffnete mit der ärgerlichen Miene, die er manchmal hat. Ich erinnerte mich an diese Miene aus Studentenzeiten, als ich mir eine Wohnung mit Kyle und Chas, einem Freund von uns, teilte.

Ich hatte Chas getroffen, als ich in Goa mit der rechten Hand Dhal aß. Er lebte damals auf einem Baum, wie man das

Chas zog wenig später bei mir ein und verbrachte seine Zeit damit, zu singen und gelegentlich Wahrheiten über Sachen wie das Wesen der Schönheit zu verkünden. Wenn die Milch oder das Klopapier ausgegangen waren, äußerten wir offen unseren Unmut über den anderen, und zum Frühstück lasen wir in wohltuender Stille die Zeitungen.

Mit Kyle zusammenzuwohnen, war meistens angenehm. Er konnte die Titelmelodie zu jeder Polizeiserie aus den Siebzigern pfeifen, und das betraf nicht etwa nur die üblichen Verdächtigen wie »Kojak« oder »Die Füchse«. Nein, wir sprechen hier von »Rookies«, »Die knallharten Fünf« und »Barnaby Jones«. Aber wenn er eine Prüfung hatte und Chas und ich im Wohnzimmer zu laut waren, kam er herein und setzte sich mit einer Miene aufs Sofa, bei der sich der gesamte Bereich um die Nase zu einer Grimasse blutleerer Anspannung verzogen hatte. Wir

Kyle war der Einzige in der WG, der wirklich viel für die Uni arbeiten musste. Ich hatte an der Uni einen Lehrgang in Sozialarbeit belegt und musste nie besonders hart arbeiten. Und Chas hatte sein Medizinstudium nach einem Jahr abgebrochen, sich ganz seiner schlechten Laune hingegeben und angefangen, Unmengen von Dope zu rauchen – offensichtlich mit dem langfristigen Ziel, nach seinem Studium der Depression auch einen Abschluss in Schizophrenie zu machen.

Ich sah Kyle nach all den Jahren an und dachte mir: Warum kannst du nicht einfach sagen, was du fühlst? »Meine Frau treibt mich in den Wahnsinn, und es wäre mir lieber, wenn du sie nicht aus der Fassung gebracht hättest.« Stattdessen stand er da wie immer, wenn er Kummer hatte. Ein Tornado von Emotionen tobte in ihm, und er hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte.

Er winkte mich in die Küche, und es gab einen peinlichen Moment, als wir dort standen und zu plaudern versuchten, als ob nichts Schlimmes passiert wäre.

»Was macht die Arbeit?«, fragte er mich.

»Viel los! Schrecklich!«, antwortete ich.

Auf einmal kam mir in den Sinn, dass Kyle und ich vermutlich das erste Mal allein waren, seit er und Sarah sich kennengelernt hatten.

Wir waren alle einundzwanzig gewesen, als die beiden sich zum ersten Mal trafen. Sarah war eines Tages nach der Arbeit auf einen Sprung bei mir vorbeigekommen, und Kyle hatte die Tür geöffnet. Er hatte gerade geduscht, und sein Oberkörper war nackt. Chas und ich spürten auf der Stelle die sexuelle Spannung zwischen den beiden, und so brachten wir unsere Entschuldigungen vor und gingen ins Pub. Wir waren aufgekratzt und kichrig bei dem Gedanken, dass unsere zwei Freunde ein Paar sein würden.

Später an diesem Abend, und während des ganzen folgenden Liebesfrühlings, versorgten unsere jeweiligen Kumpel uns

Wenn es nach Sarah ging, dann hatten sie an jenem ersten Abend vier Tassen Kaffee getrunken und sich drei Stunden lang über Krankenhäuser unterhalten.

Wenn es nach Kyle ging, dann hatte sich Sarah nach vorn gebeugt und ihm einen unzweideutigen Blick in ihren Ausschnitt gewährt.

Wenn es nach Sarah ging, dann war Kyle alles, was sie jemals gewollt hatte – ein anständiger, fleißiger, ehrlicher Mann.

Wenn es nach Kyle ging, dann war Sarah die schönste Frau, die er je gesehen hatte.

Sarah gefiel es, dass Kyle so geduldig und respektvoll war.

Kyle sagte, dass er zu dem Zeitpunkt, als Sarah zustimmte, es mit ihm zu tun, einen Wichskrampf hatte.

Kyles Heiratsantrag war alles, wovon Sarah jemals geträumt hatte …

Und, Scheiße noch mal, hatte der Ring ein Vermögen gekostet.

Sarah gab eine fantastische Braut ab. Ihr Haar war so blond gelockt und glänzend wie in Kindheitstagen, und sie strahlte vor Glück über das ganze Gesicht. Kyle konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Die perfekte Hochzeit für das perfekte Paar. Die Hochzeitsfeier war ein Meer von großen Hüten, Kilts und steifen Kostümen. Ich trug ein leuchtend malvenfarbenes Kleid und kam mir vor wie ein Teletubby. Sarahs Mutter brachte all ihre Schauspielkunst auf, um mit dem Vortrag eines Shakespeare-Sonetts in der Universitätskapelle Gefühle hervorzukitzeln. Kyles bester Freund Derek hielt eine Ansprache voller derber sexueller Anspielungen.

»Sarah wird die perfekte Arztfrau abgeben«, sagte er. »Große, Sie wissen schon, Ideen, und ein echter Feger, wenn man den Patienten im Royal glauben darf! Aber Spaß beiseite …«, sagte er in Richtung eines zur Hälfte schweigenden, zur Hälfte glucksenden Publikums, »also mal im Ernst, sie sind wirklich ein wunderschönes Paar … und sie geht ab wie ein Häschen.«

Nach den Flitterwochen verkauften sie Sarahs Wohnung in Southside und erwarben eine Vierzimmer-Wohnung im schicken West End, die Sarah herrichtete. Zwei Jahre später verkauften sie die Wohnung für einen horrenden Preis, kauften sich ein Haus mit fünf Zimmern etwas weiter draußen (»wo die guten Schulen sind«) und begannen mit ihren Versuchen, Babys zu machen.

Da Sarah außerstande war, ihr Fortpflanzungssystem zu kontrollieren, konzentrierte sie sich auf Dinge, die sie kontrollieren konnte. Für Außenstehende sah es so aus, als ob sie ihren Mann zur selben Zeit renovierte wie das Haus. Sie verschönerte die alten Fenster mit sorgfältig ausgewählten Stoffen, verweiblichte die Bettwäsche und das Badezimmerzubehör, riss Küchen heraus und baufällige Anbauten ab, ließ das Dach neu decken und tilgte Stück für Stück alle Spuren des Alten. Als das Haus fertig war, war nirgendwo etwas von Kyle zu sehen. Keine Spur von ihm im Schlafzimmer, auf dem Dachboden, im Wohnzimmer oder im Schuppen. Er war genauso übertüncht worden wie die scheußlichen Fünfzigerjahretapeten.

Sarah erkannte, dass sie immer pingeliger und zwanghafter wurde. Bei der Einweihungsfeier ihrer Küche gestand sie mir, dass sie Kyle einen »nichtsnutzigen Scheißkerl« genannt hatte, weil er Kartoffelschalen in den Normalmüll geworfen hatte. Sie hasste es, dass sie so kontrollierend wurde; sie konnte spüren, dass sie Kyle damit vertrieb, aber sie schaffte es einfach nicht, damit aufzuhören.

Ich gab ihr die Nummer einer Therapeutin, von der meine Arbeitskollegin Marj gehört hatte. Nach ihren Sitzungen kam Sarah auf ein Glas Wein und eine nachträgliche Einsatzbesprechung bei mir vorbei. Ihren Angaben zufolge war die Therapeutin Anfang dreißig, hatte Kinder (das Foto stand auf ihrem Schreibtisch) und einen liebevollen Ehemann (das Foto stand auf ihrem Schreibtisch). Für Unsummen hörte sie zu, wenn

Gemeinsam hatten Sarah und die Therapeutin erarbeitet, dass es Sarah wegen dieser gestörten Bindungsfähigkeit an Vertrauen fehle. Sie hatten erarbeitet, dass Sarah sich vor allem deshalb ein Baby wünsche, weil sie das Unrecht ihrer eigenen Kindheit korrigieren wolle, und dass dies nicht gesund sei. Sie hatten auch erarbeitet, dass Sarah sich schuldig fühle, ein kleines Geschenk des Katholizismus.

Sarah erzählte mir, sie habe sich ganz allein die Erkenntnis erarbeitet, dass Therapie eine sehr teure Methode sei, um sich selbst sogar noch mehr zu verachten, als sie es zuvor schon getan hatte.

***

Mit Kyle in seiner ehelichen Küche zu sprechen, fühlte sich unbehaglich an. Der Kyle, den ich von der Universität kannte, war größtenteils verschwunden und durch Mr. Ernst, Mr. Arbeitet-ununterbrochen, Mr. Liest-seine-Zeitung-freudlos-und-zu-lange, Mr. Warum-zum-Teufel-kannst-du-meine-Freundin-nicht-schwängern ersetzt worden.

Früher hatte er andere Eigenschaften gehabt, wirklich angenehme Eigenschaften, und deshalb war ich auch so begeistert gewesen, als er und Sarah zusammengekommen waren. Er war nicht nur unglaublich fit gewesen (mit der stärksten

Nach einer gefühlten Stunde Smalltalk ließ mich Kyle in der Küche stehen und ging Sarah holen. Sie tauchte mit geröteten Augen auf, und ihre Lippen begannen zu beben, als sie auf mich zukam.

Wir umarmten uns und redeten miteinander, und ich entschuldigte mich überschwänglich und sprach besänftigend auf sie ein.

Als ich nach Hause kam, rief Sarah an, um mir zu sagen, dass sie und Kyle gerade den unglaublichsten Sex miteinander gehabt hätten, und dass es richtig von mir gewesen sei, gesagt zu haben, was ich gesagt hatte.

Sie tat mir wirklich sehr leid, aber ich fragte mich auch, ob ein dauerhafter Umzug in ihr Ferienhaus vielleicht keine so schlechte Idee sei.

Man kann sich vorstellen, wie saublöd es für Sarah war, als ich sie anrief, um ihr meine Neuigkeit mitzuteilen.

»Ich bin schwanger«, sagte ich und konnte es selbst noch nicht ganz glauben. »Scheiße, ich bin schwanger.«

Ich hätte nicht so damit herausplatzen sollen. Es lag teils am Schock und teils an meiner Angst vor ihrer Reaktion. Außerdem hatte ich einen Albtraumtag hinter mir, denn ich hatte ein Mädchen namens Jess in Pflege gegeben, dessen Mutter dauernd ins Pub ging und den winzigen Knirps allein zuhause zurückließ. Sie hielt sie eingesperrt wie ein Kaninchen und hatte mit Tesafilm eine Milchflasche an die Sprossen des Laufställchens geklebt, aus der Jess trinken sollte, wenn sie durstig war.

Bei der Anhörung an jenem Tag hatte ich Jess’ Fall skizziert und darauf gewartet, dass die Mitglieder des ehrenamtlichen Komitees eine Entscheidung darüber träfen, ob sie meine Empfehlung, Jess in Pflege zu geben, annehmen wollten.

Einer aus dem Komitee, ein Arsch mit Haartolle, vermutlich nicht älter als achtundzwanzig, ohne Kinder und ohne einen Schimmer von Kindererziehung, hatte sich sogar noch mehr über mich entrüstet als die Mutter. Während die Mutter dasaß und zuhörte und zugab, dass sie nicht klarkam, fing er an, mich anzugreifen. Er sagte:

Ich war stinksauer. Der Arsch schien sich mehr Sorgen um die Mutter als um das Kind zu machen, und das empörte mich mehr als alles andere.

Ich hatte mich immer zu gefährdeten Kindern hingezogen gefühlt. Und obwohl ich selbst keine Mutter sein wollte, hegte ich feste Überzeugungen über Mutter-Kind-Beziehungen. Meine eigene Mutter, so glaubte ich, hatte ein gutes Vorbild abgegeben, wie man mit Elternschaft umgehen sollte. Sie hatte immer mit vollem Einsatz versucht, mir ihre Freundschaft anzubieten und mir meine Grenzen aufzuzeigen, und sie hatte ihr eigenes Leben weitergelebt, während sie sich gleichzeitig mir widmete, so dass es auf beiden Seiten keinen schwelenden Groll gab. Sarahs Mutter dagegen hatte Sarahs Kindheit voll und ganz vermasselt. Sie war kaum je da gewesen, und wenn doch, dann hatte sie zu viel getrunken. Als Sarah sieben war, hatte sie sich zum zweiten Mal scheiden lassen. Und sie war so selbstbezogen, dass es einem den Atem verschlug. Die Folgen für Sarahs Selbstwertgefühl waren furchtbar. Wie heißt es bei den Jesuiten? »Zeige mir einen Jungen, ehe er sieben ist, und ich zeige dir, was für ein Mann er sein wird.«

Ich war überzeugt, dass ich Kindesvernachlässigung aus einer Meile Entfernung riechen könne, und ich empfand es als meine Pflicht, Kinder davor zu bewahren. Ich hatte wohl zwangsläufig Sozialarbeiterin werden müssen.

Jedenfalls konnte ich mich durchsetzen, und zwei der drei Komiteemitglieder (der Arsch gab nicht nach) stimmten zu, dass das Kind nicht nach Hause zurückkehren solle.

Später, im Foyer, sagte der Arsch mit der Haartolle: »Es ist schwierig, unvoreingenommen zu sein, nicht wahr? Aber wir alle sollten es versuchen.«

Er ließ los und seufzte, als die Mutter mir einige von Jess’ Sachen für die Pflegeeltern mitgab. Sie weinte nicht einmal.

***

Ich ging von der Anhörung direkt zur Ärztin, und es dauerte nicht lange, bis sie zu dem Schluss kam, dass meine Gewichtszunahme und meine Erschöpfung nicht auf Stress zurückzuführen seien. Ein schneller Urintest räumte alle Zweifel aus. Als ich es Sarah erzählte, befand ich mich in einem Schockzustand.

Ich konnte einfach nicht glauben, dass ich schwanger war. Ich hatte jeden Monat meine Regel gehabt, aber meine Ärztin hatte mir erklärt, dass das bloß falsche, vorgebliche Blutungen gewesen seien. Verfluchte Lügen! Ich war schon im fünften Monat, und es war zu spät, etwas dagegen zu unternehmen.

Sarah antwortete auf meine ungeschickte Enthüllung mit Schweigen. Dann legte sie auf. Ich verbrachte einen Tag damit, mich im Kopf mit ihr zu streiten. In schneidend kurzen Repliken sagte ich ihr, wie wenig sie für mich da gewesen sei, als ich sie gebraucht hätte, und dass unter keinen Umständen von mir erwartet werden könne, dass ich mich entschuldigte oder den ersten Schritt tat.

Aber im Grollen bin ich nicht besonders gut, und am nächsten Tag nach dem Mittagessen rief ich sie von der Arbeit aus an und entschuldigte mich.

Sie sagte, es tue ihr auch leid, und dass sie nicht hätte auflegen sollen, aber dass meine Neuigkeit zu einem ganz, ganz schlechten Zeitpunkt eingetroffen sei.

Es stellte sich heraus, dass Kyle und sie eine Stunde vor meinem Anruf von einer Sozialarbeiterin befragt worden waren, die ihre Eignung für das Adoptionsverfahren einschätzen sollte.

»Sie ist erst einundzwanzig«, sagte Sarah, »und eindeutig eine Lesbe. Sie hat auf unserem Sofa gesessen, ihren Nasenring

Nach dem Gespräch wurde mir klar, dass der gesamte Anruf sich um Sarahs Eierstöcke gedreht hatte – und nicht um meine, in denen zu meinem anhaltenden Schrecken ein rauschendes Fest gefeiert wurde.

***

Das Adoptionsverfahren von Sarah und Kyle entwickelte sich gleichzeitig mit meinem Bauch. Es gab viele weitere Befragungen durch Sozialarbeiter mit und ohne Nasenring. Familienstammbäume wurden gezeichnet, Geschichten geschrieben, Liebesleben, Bewältigungskompetenz und soziale Einbindung genau untersucht. Schließlich machte irgendwer irgendwo ein Häkchen und erteilte Sarah und Kyle die Genehmigung, ein fremdes Kind aufzunehmen.

Wir feierten im Café Rosso mit einer Flasche Chianti (ja, ich weiß, aber wenigstens war mein Fötus nicht auf Heroin wie bei vielen Müttern, mit denen ich bei der Arbeit zu tun hatte), drei Gängen und einem Streit über den Mittleren Osten. Der perfekte Abend.

***

Kurze Zeit nach unserem gemeinsamen Abendessen holte Sarah bei ihrer örtlichen Sozialstelle ein sechsjähriges Pflegekind ab und nahm es für das Wochenende mit nach Hause. Es war nicht ganz wie im richtigen Leben, nur ein kurzes Wochenende, »um die Kinder einzuarbeiten«, wie Sarah sagte.

Kyle wartete schon auf Sarah und das Kind, als die beiden ankamen. Sarah hatte vorher Kekse und verdünnten Bio-Schwarze-Johannisbeersaft gekauft, außerdem drei DVDs über die Tier- und Pflanzenwelt Afrikas.

»Kann ich auf Toilette?«, fragte der Junge nach einigen Minuten verlegener Stille.

Sarah brachte ihn zu seinem eigens-für-das-Wochenende-gestrichenen Zimmer mit Bad und schloss mit dem Seufzer einer liebenden Mutter die Tür hinter seinen zarten kleinen Gesichtszügen.

Er kletterte aus dem Fenster.

Ehe Sarah und Kyle auch nur Zeit hatten, den Biosaft in die eigens-für-das-Wochenende-gekaufte Plastiktasse-mit-coolem-Strohhalm zu gießen, war er vermutlich eine halbe Meile weit weg. Sie bekamen nichts davon mit, ehe Kyle alle Trailer auf der ersten DVD über Afrikas Tierwelt gesehen hatte.

Danach kam Sarah zu dem Schluss, dass Pflegeelternschaft eine schlechte Idee sei – unwiederbringlich lädierte rotblonde Unterschichtenware und so weiter. Also konzentrierte sie sich auf das schneckenhafte Vorwärtskriechen auf der Adoptionsliste. Und auf mich. Sie fing an, mich bei jeder pränatalen Untersuchung zu begleiten. Sie strich mein Gästezimmer, schrieb endlose Besorgungslisten, nahm Mixtapes auf, die ich während der Geburt hören sollte, half mir, meinen drogenfreien Geburtsplan zu schreiben und kochte Unmengen von gefrierfertigen Mahlzeiten für die Zeit danach.

***

Auf Sarahs Drängen hin hörte ich drei Wochen vor dem Tag X mit Arbeiten auf.

Meine Kollegen kamen zusammen, um mir Gutscheine

»Glückwunsch an Krissie und ihren Ehem… – ach, Scheiße … ich meine, nach allem, was man hört, wirst du großartige Eltern, Mutter … ach, Scheiße. Auf Krissie!«

***

Nachdem ich mit der Arbeit aufgehört hatte, kam ich zu dem Schluss, dass so eine Mutterschaft eine fantastische Sache sei. Ich schlief aus, ging spazieren, aß mittags in Cafés, schaute mir »Quincy« an, las Bücher und vertilgte mindestens einen kompletten Bananenkuchen am Tag.

Ich lachte und lachte mit meinen neuen pränatalen Freundinnen, traf mich mindestens zweimal in der Woche mit Sarah und Kyle zum Abendessen, bummelte mit Mum und Marj durch die Geschäfte, und ging ins Kino. Ich hüpfte beim Aqua-Aerobic herum, aß Currys, trank Himbeertee, gab dem verzweifelten Drang nach Blumenkohl nach, und dann, gerade als ich mich zu langweilen anfing, kam das Kind.

Es fing an, als ich mein Treppenhaus in der Gardner Street hochging – insgesamt achtzig Stufen –, und lauter atmete, als ich je in meinem Leben geatmet hatte. Mein Gesicht war so empfindlich wie ein versteckter Pickel, der verschont worden ist, um perfekt zu reifen, und der bei geringstem Druck aufplatzen und sein überaus befriedigendes Inneres freigeben kann. Folgendes hatte ich über mich ergehen lassen: die Demütigung einer Vaginaluntersuchung, als ich in der zweiundzwanzigsten Woche Blutungen hatte; die Erniedrigung, mir in der dreiunddreißigsten Woche in die Hose zu pinkeln, als das Mädel an der Kasse von Sainsbury’s einen unheimlich lustigen Witz riss; die Entwürdigung, vor meiner Kollegin »Fräulein Ich-habe-keine-Körperfunktionen« furzen zu müssen, als ich mich während der Arbeit vorbeugte, um eine Akte aufzuheben; die Peinlichkeit, während einer »Gebärmutterhalsattacke« in Ohnmacht zu fallen.

Nach neun Monaten und zehn Tagen Schwangerschaft rechnete ich jeden Moment mit dem Platzen der Fruchtblase. Nicht gerechnet hatte ich damit, dem neunundzwanzig Jahre alten, Bass spielenden Marco aus dem Stockwerk unter mir in die Arme zu laufen.

Ich hatte seit ungefähr einem Jahr mit Marco geflirtet. Eines Abends hatte ich durch meine Bodendielen gehört, wie er und sein Kumpel improvisierten, und mich entschlossen, an seine Tür zu klopfen. »Ihr braucht ein bisschen Rhythmus«, hatte ich gesagt, ehe ich mit meinem Tamburin hereingetanzt war.

Ein oder zwei ergebnislose Stunden verstrichen, ehe mir klar wurde, dass der Abend sich ausschließlich um Musik drehte,

Ich war Marco danach oft über den Weg gelaufen, und wir hatten ein paar Minuten lang auf der Treppe geplaudert. Er hatte mich gefragt, wie es mit meinem Rhythmusgefühl voranginge, und ich hatte gesagt, »gut«, und ich hatte ihn gefragt, ob er mit seinen Songs Fortschritte mache, und er hatte gesagt, »gute«, und die ganze Zeit hatte ich mich darüber gewundert, dass er die zwischen uns knisternde sexuelle Spannung nicht zu bemerken schien.

Als die Zeit voranschritt und mein Bauch immer größer wurde, hatten wir das Spiel »Wer kann die wachsende Kugel besser ignorieren?« gespielt. Wir hatten einander direkt in die Augen geschaut und uns ernsthaft unterhalten: »Wie geht es mit dem Rhythmusgefühl voran?« »Machen deine Songs Fortschritte?« Mein Blick war so entschlossen gewesen, dass jeder Versuch von ihm, die Augen abwärts zu richten, eine klare Gesetzesübertretung gewesen wäre.

Diesmal jedoch wurden die sexuelle Spannung und das besorgte Mustern durch ein deutlich hörbares Ploppen unterbrochen.

»Was war das?«, fragte Marco.

»Ich denke, das war mein Schleimpfropfen«, sagte ich.

Ich ließ einen trocken würgenden Marco auf der Treppe zurück, ging in meine Wohnung, zog meine Unterhose aus, untersuchte sie und rief Sarah an.

***

Sarah traf ungefähr eine halbe Stunde später ein. Sie war mit der Hebamme schon übereingekommen, dass ich nicht ins Krankenhaus gehen solle, ehe es »wirklich ernst« würde. Später

Vier Stunden lang spielte Sarah mir Kassetten vor, machte Tee, massierte meinen Rücken und ließ mir Bäder ein.

»Die sind ja wohl Pipikram!«, sagte ich, als ich ein unregelmäßiges Bauchstechen mit korrekter Atmung überstanden hatte. »Damit komme ich den ganzen Tag lang klar!«

Ich hatte immer geglaubt, über eine sehr hohe Schmerztoleranz zu verfügen. Ich konnte zwar kein Blut sehen, aber mit so ziemlich allem anderen kam ich klar. Als Kind hatte ich bei keiner einzigen Impfung geweint. Als ich mir beim Windsurfen die Nase gebrochen hatte, war ich ruhig und klar und vernünftig geblieben, obwohl es die schlimmste Fraktur war, die der Arzt im Krankenhaus von Stirling jemals gesehen hatte. Ich habe nie den ganzen Wirbel um Regelschmerzen verstanden. Andere Frauen kamen mir immer wie Waschlappen vor. Und ich fand regelmäßig blaue Flecken auf meinen Beinen und hatte keine Ahnung, wo die herkamen. Alles sichere Anzeichen dafür, dass ich über eine übermenschliche Schmerztoleranz verfügte.

Es war höchste Zeit, ins Krankenhaus zu fahren.

Sie sagen das, weil sie gottverdammte Lügner sind.

Ich hatte das Gefühl, dass ein Außerirdischer an meiner Titte nuckelte.