Richard F. Conrad

HAMILKARS
RACHE

Zeitenwenden
Turn of Eras

Band 1

Die Gegenwart ist die lebende Gesamtsumme der Vergangenheit

Thomas Carlyle

Der Mensch lebt nicht nur sein persönliches Wesen als Einzelwesen, sondern, bewusst oder unbewusst, auch das seiner Epoche und Zeitgenossenschaft …

Thomas Mann, Der Zauberberg

Prolog – Das Ende

Nahe Sevilla, 9. Dezember 2054, Montag, am frühen Nachmittag

Seht ihr? Niemand wird überleben! Eine jugendlich und sportlich wirkende Frau erreicht mit ihrem Auto das Parkplatzgelände des Kraftwerks. Ihr Plastikausweis an der Bluse weist sie als Mitarbeiterin eines iberischen Ingenieurbüros aus.

Dr. Regine Arach fühlt sich wohl in ihrem gegenwärtigen Körper. Tatkräftig, frisch, gesättigt und zufrieden. Mit federnden Schritten geht sie sofort von dem Parkplatz zum neben dem Solarturm befindlichen Kontrollzentrum. Nur zwei Mitarbeiter einer baskischen IT-Unternehmung tauschen einen der vielen Monitore in dem Raum aus. Kein Wachpersonal, keine Kontrollen, keine Zutrittsberechtigungssysteme. Ob aus Sorglosigkeit oder wegen einer fortschreitenden tödlichen Grippeepidemie im iberischen Staat, das ist ihr gerade völlig egal.

Sie setzt sich an die Tastatur im Zentrum des Raums. Montag, Ruhetag. Trügerische Ruhe. In den begleitenden Universitäten und Energieunternehmen werden die Testdaten des Wochenendes ausgewertet. Für das Solarturmkraftwerk der Tag des Abwartens, an dem sich kaum ein Mitarbeiter auf dem Gelände befindet.

Die Steuerungsbefehle neu zu programmieren stellt für sie überhaupt kein Problem dar. Regine Arach hat die Logik mit einem Blick erkannt. Simpel. Das Projekt – eine Zusammenarbeit mehrerer großer iberischer Unternehmen unter Führung der Verplancke AG – ist fürwahr sehr erfolgreich, stellt sie mit einem gewissen Ekel fest. Straffe Zeitplanung, gute Koordination, professionelles Management. Sie zieht ihre Augenbrauen hoch. Eindrucksvolle Testergebnisse. Und jetzt gleich alles vergeblich. Sie gestattet sich ein spöttisches Grinsen. Das Ende kommt näher. Rasant näher. Unwiderruflich näher.

Seht ihr? Niemand wird überleben!

Wenn jemand Regine Arach genauer beobachtet hätte, dann wäre ihm kaum etwas Besonderes aufgefallen. Eine attraktive Frau vor dem Bildschirm, kurze braune Haare, Brille mit einem modernen Rahmen, auffällig dunkle, eigentlich schon schwarze Augen, etwa 35 Jahre alt, schlank, sportlich-trainierte Figur, Jeans, weiße Bluse. Sie überträgt die Steuerung der Spiegel auf ihren Minicomputer.

Der Kampf um ausreichende Energiegewinnung. Um Frieden. Um weitere Fortentwicklung. Um Überwindung der tödlichsten Krise der Menschheit. Fast gewonnen. Aber nicht hier auf diesem Planeten – und nicht heute. Nicht mit diesen Lebewesen. Diesen Menschen. Sie hat es bewiesen, die Saat wird nicht aufgehen, auch wenn es ein anderer ihrer Art vorhergesagt hat. Nein, diese Kreaturen taugen nicht. Sie sind aggressiv, unsolidarisch und dumm. Sie scheitern, wenn es darauf ankommt. Immer, wenn es wichtig wird. Es tut ihr gut, Recht zu behalten

Sie sterben aus.

So, wie sie es geplant hat.

Das erste Solarturmkraftwerk der Welt. Der Testbetrieb hat schon begonnen. Die entscheidende Frage der Menschheit, wie genügend Energie für alle produziert werden kann, könnte beantwortet werden.

Vielleicht doch noch eine Wende zum Guten? Nach unzähligen schrecklichen bewaffneten und politischen Konflikten auf der ganzen Erde. Aggressionen, die nun zu einer nahezu völligen Zerstörung des Planeten geführt haben. Zum Untergang fast aller menschlichen Zivilisationen.

Nach drei Weltkriegen ist nur noch der seit Jahrzehnten neutrale iberische Bundesstaat zu derartigen technischen Entwicklungen in der Lage. Der letzte funktionierende Staat auf der Welt. Sonst leben nur noch vereinzelte, nomadisch lebende sterbende Menschen auf dieser Erde.

Weit mehr als 600 riesengroße Spiegel. Halbrund angeordnet ähnlich wie die Sitzblöcke in einem antiken Amphitheater. Jeder Spiegel über eine Fläche von über 120 m2 verfügend. Alle Spiegel beweglich auf einer Längs- und einer Querachse, zentral steuerbar.

Vergleichbar der antiken Bühne befindet sich im Mittelpunkt des Spiegel-Halbrunds ein 115 Meter hoher Turm. Mit einem gigantischen offenen Tor unterhalb der Spitze, auf dessen Eingang die zentrierte Energie der vielen Spiegel gerichtet werden kann. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, einen gemeinsamen gewaltigen Brennpunkt zu erzeugen. Es entstehen Temperaturen von weit mehr als tausend Grad. Ein Absorber aus Keramik erhitzt Luft, die Wasser verdampfen lässt. Der Dampf erzeugt über Turbinen elektrischen Strom.

Wenn der Prototyp erfolgreich arbeitet, sollen im iberischen Bundesstaat in kurzer Zeit zehn weitere Solarturmkraftwerke entstehen. Der ständige Engpass – die Energiegewinnung – wäre für immer beseitigt.

So könnte es sein. Doch so wird es nicht sein.

Zufrieden klappt sie ihren kleinen Laptop zusammen, schaltet den Monitor auf dem Tisch ab, steht auf und verlässt mit schnellen Schritten den klimatisierten Raum.

Sie braucht draußen nicht zum Himmel zu schauen, um zu wissen, dass heute wieder einmal keine Wolke das strahlende Blau unterbricht oder das Sonnenlicht stört. Im Süden der iberischen Halbinsel scheint tatsächlich wieder häufiger die Sonne. Die Natur erholt sich nach den Kriegen. Die Menschheit dagegen vergeht.

Sie braucht auch nicht zum Turm hochzublicken, um durch das riesige Tor den technischen Geschäftsführer des Projektes, Javier Obispo, zu erkennen. Den Mann, der sogar am Ruhetag arbeitet und die letzten Probleme des Absorbers analysiert. Die konvexe halbkreisförmige Keramikkonstruktion, die das gebündelte und hochkonzentrierte Sonnenlicht empfangen soll, verursacht Javier einige Probleme.

Sie braucht sich schon überhaupt nicht an weit, an sehr weit zurückliegende Zeiten erinnern. An ihre kleineren und größeren Manipulationen in der Geschichte der Menschen. An ihre kleineren und größeren Erfolge.

Stattdessen sieht sie sich kurz die 624 Spiegel an, die noch alle gleichartig im Ruhemodus horizontal ausgerichtet sind. Flach wie Flundern, um dem leichten Wind so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Das wird nicht mehr lange deren Position sein, das weiß sie genau.

Regine Arach öffnet ihren Minicomputer erneut und beginnt, Steuerungsbefehle einzugeben. Jeder einzelne große Spiegel kann genau der Sonne mit maximaler Fläche zugewandt und dem jeweiligen Sonnenstand nachgeführt werden. Der Funkbefehl funktioniert problemlos, alle Spiegel gehorchen ihrem Kommando. Kein Mensch wird sie entdecken, wie sie schon seit Äonen nie entdeckt oder enttarnt worden ist.

Sie hört, wie die leisen Motoren der Spiegel mit ihrer tödlichen Arbeit beginnen, und grinst wieder zufrieden. In kurzer Zeit würde eine zweite Sonne scheinen, aber nicht am Himmel, sondern oben, am Ende des Turms. Der Turm wird zerstört, denn die Stromgeneratoren sind abgeschaltet. Die unvorstellbare Energie kann nicht entweichen. Die verheerende Explosion wird das ganze Gelände verwüsten.

Genießen wir bald die neue Sonne Andalusiens. Das wird der unwiderrufliche, der endgültige Sieg sein. Wie viele Ewigkeiten hat sie an diesem Ziel gearbeitet. Die Saat endgültig zerstört. Ich bin nicht gekommen, um euch das Licht zu bringen, sondern um das Licht endgültig zu beseitigen.

Zufrieden und gemessenen Schrittes geht Regine Arach zurück zu ihrem parkenden Auto. Der letzte Schritt. Alles ist getan. Sie hat es vorhergesagt.

Seht ihr? Niemand wird überleben!

In über hundert Metern Höhe misst Javier Obispo sorgfältig und akkurat den Absorber, der aus vier fünf Meter breiten und zwölf Meter hohen Keramikelementen besteht. Und das ist zugleich sein Problem, das ihn sogar am Montag auf die Anlage des Kraftwerks geführt hat: Die Anbringung der vier Elemente wurde nicht exakt genug vorgenommen. Der Wirkungsgrad hat immer noch nicht die neunzig Prozent erreicht, die er vorab ausgerechnet hatte. Die vier Elemente sind einfach nicht genügend synchron aufeinander abgestimmt. Aus unterschiedlichen Perspektiven fotografiert er mit einer Spezialkamera den Halbkreis, um die Störung der vorausberechneten theoretischen Wärmeabstrahlung zu entdecken. Eine Geduldsprobe. Wo sind die Fugen fehlerhaft? Wo stimmen die Zwischenräume nicht überein? Wo muss der Absorber nachgeschliffen werden?

Geduld ist eine seiner zwar nicht angeborenen, aber erlernten Fähigkeiten. Mit zwei älteren Schwestern aufgewachsen, hatte er früher oft das Gefühl, insgesamt drei Müttern gegenüberzustehen.

Lucinda de Sortiento, seine älteste Schwester, lebt mit ihrem Mann hier in Sevilla, hat mit ihren drei Töchtern, Kimmi, Zaide und Rana, viel zu tun und ist inzwischen selbst schwer erkrankt.

Seine Schwester Corazon Verplancke wohnt mit ihrem vermögenden Ehemann und den beiden Kindern, Sofia und Alexander, in Barcelona.

Bleiben noch seine Eltern. Die Familie Obispo besitzt und betreibt seit vielen Generationen in der Extremadura ein riesiges Landgut, das von dem Anbau und der Ernte besonderer Oliven geprägt ist: Die Cornicabra-Olive gilt bis heute als besonders pikante, schmackhafte Olive, die die äußere Form eines Ziegenhorns hat, der ganze Stolz der vielen Generationen von Obispo-Familien, die diese Landwirtschaft leidenschaftlich liebten und lieben. Ein besonderes Produkt, die Königin aller Früchte, so war es Javier schon bald nach seiner Geburt und dann fortlaufend beigebracht worden, mit besonderen Kräften.

Aber Javier mag keine Oliven, auch keine Cornicabra-Oliven, keinen Anbau von Olivenbäumen, keine Ernte der Früchte, nicht einmal das Olivenöl.

Dass seine beiden Schwestern das Landgut nicht übernehmen wollten, war für seine Eltern keine Überraschung. Dass jedoch Javier sich standhaft weigert, die Familientradition fortzusetzen, ist für seine Eltern unbegreiflich und nicht zu akzeptieren.

Für sie ist es kein Trost, dass er in der Schule durch seine besondere naturwissenschaftliche Begabung auffiel. Kein Trost, dass er schon mit siebzehn Jahren sein Physikstudium begann. Kein Trost, dass er einer der besten Absolventen Iberiens war, promovierte, habilitierte und eine beeindruckende Karriere in einem der größten spanischen Anlagebau-Unternehmen absolvierte, das sich im Eigentum der Familie seines Schwagers in Barcelona befindet. Bis heute hoffen seine Eltern und arbeiten darauf hin, dass er zurückkommt, um die traditionelle Landwirtschaft zu übernehmen.

Die Obispo-Familie kann nicht nur geduldig, sondern durchaus auch starrsinnig sein.

Vor allem das Zentrum der Absorption gefällt Javier gar nicht. Dort, wo die vier Elemente zusammengefügt worden sind, fehlt die notwendige Präzision. Ausgerechnet an dieser Stelle. Er fährt sich gedankenverloren durch seinen schwarzen Vollbart. Kein Beinbruch, aber es sollte dringend korrigiert werden.

An seinen Assistenten Rafael gerichtet meint er: „Der Abschattungseffekt ist immer noch viel zu hoch. Wenn wir 100.000 kg/h gesättigten Dampf bei über 250 °C produzieren wollen, müssen wir die Auslegungsbedingungen harmonisieren. Die Konvektion der projizierbaren Fläche muss einen Absorbierungsgrad von mindestens …“

„Ihre Schwester hat angerufen.“

Javier spürt beinahe einen physischen Kopfschmerz, wenn seine Gedankengänge unterbrochen werden.

„Ist das jetzt so wichtig?“, fragt er dann unwirsch. Wenn er etwas auf der Welt hasst, dann ist es, aus seinen Überlegungen gerissen zu werden. Das wissen seine Mitarbeiter. Und sein engster Mitarbeiter und Assistent, Rafael, ein vielversprechender Absolvent der Technischen Universität von Toledo, erst recht.

Rafael überlegt kurz. „Ja, ich denke schon!“

„Welche Schwester, erinnern Sie sich an ihren Namen?“

Der junge Mann denkt einen Moment nach. „Es war die, von der sie einmal erzählt haben, dass sie auch die Anomalie geerbt hätte, so wie sie. Der Ringfinger länger als der Mittelfinger, das hat es doch in Ihrer Familie schon manchmal …“

„Corazon?“

„Ja, genau. Und zufällig der gleiche Nachname wie unsere Firma, habe ich noch gedacht …“

„Was wollte sie?“ Javier ist immer noch ungehalten. Er schätzt Rafael sehr, doch für derartige Ablenkungen hat er jetzt überhaupt keine Zeit.

„Also, es hörte sich etwas wirr an. So viel ich verstanden habe, ist sie sehr ängstlich und furchtbar erschrocken. Irgendeine alte Prophezeiung. Drei Leichenwagen. Wie schwarze Löcher. Sie sollten unbedingt heute noch versuchen, zu ihr zu kommen. Das klang schon sehr panisch …“

Weiter kommt er nicht. Javier hat schon die Fahrstuhltür hinter sich geschlossen. Sofort zum Flughafen Sevilla, war sein erster Gedanke. Es muss doch noch heute einen Flug nach Barcelona geben. Er sieht auf die Armbanduhr. 15.34 Uhr. Sehr spät. Ich muss Corazon helfen. Die alte Warnung. Drei schwarze Löcher. Ich muss sofort zu ihr.

Javier kann kaum abwarten, bis sich endlich die Fahrstuhltür öffnet. Er reißt die große Eingangstür zum Turm von innen auf und blinzelt in das draußen grell scheinende Sonnenlicht. Keine Zeit für Sonnenbrillen.

Sofort weiter zu seinem Auto auf dem Parkplatz vor dem Gelände. Er greift nach seinem Kommunikator in der Hosentasche. Der Weg zum Parkplatz ist nicht sehr weit. Schnell die verschlossene Zauntür öffnen … Warum ist sie nicht abgeschlossen?

Aus dem Augenwinkel nimmt er die über sechshundert einzelnen Spiegel wahr. Irgendetwas stört ihn an dem Anblick. Er beginnt, langsamer zu laufen. Vor der Zauntür stoppt er. Jetzt wirft er einen genaueren Blick zurück auf die riesige Farm der Spiegel. Dann begreift er, was ihn stört.

Die Spiegel stehen nicht mehr wie bisher gleichgerichtet, alle mit der geringsten seitlichen Angriffsfläche flach gegen den Wind orientiert.

Die jetzige Veränderung hat nichts mehr mit der Minimierung der Windkraft zu tun, die auf die Spiegel trifft. Vielmehr suchen die 624 Spiegel nun die maximale Reflexion der Sonne, jeder Spiegel sich auf seiner individuellen Position verändernd, sehr langsam, kaum zu erkennen, aber schon fast vollendet. Die 624 Strahlen werden sich jetzt in ganz kurzer Zeit zu dem Brennpunkt auf dem Solarturm formieren.

Welcher Idiot hat die zentrale Steuerung des Kraftwerks verändert? Javiers Gedanken überschlagen sich. Verärgert will er zum Kontrollzentrum zurücklaufen.

Dann blickt er erschrocken zum Turm hoch. In wenigen Augenblicken, in deutlich weniger als einer Minute, würde ein gigantischer Sonnenstrahl auf den Absorber treffen, hochdosierten Wasserdampf erzeugt werden, aber die abgeschalteten Turbinen wären nicht bereit, die Energie in Elektrizität umzuwandeln. Eine verheerende Detonation wäre die Folge. Monatelange Aufbauarbeit vernichtet.

Ein neuer Test? Nicht mit mir abgestimmt?

Er versteht es überhaupt nicht. Kein Personal, das die Automatik stoppen könnte. Keine genaue Protokollierung der spezifischen Umgebung und der Ergebnisse. Einfach Unsinn. Die Turbinen müssen freigegeben werden. Schnell!

Er rennt zum Kontrollzentrum und presst die Lippen zornig zusammen. Wie kann in meinem Kraftwerk ein derartiger Fehler unterlaufen?

Er sieht noch einmal zum Absorber hoch. Eine kleine Gestalt in dem zwanzig Meter hohen und zwanzig Meter breiten Turmfenster ist jetzt zu erkennen, die ahnungslos in über hundert Metern Höhe weitere Fotos der Konvektionsfläche anfertigt. Sein Assistent. Mein Gott, Rafael!

Javier schluckt hektisch, um seine trockene Kehle zu befeuchten. Es geht nicht nur um eine gewaltige Explosion, es droht noch etwas viel Schlimmeres. Wie viel Zeit bleibt jetzt noch bis zum Entstehen des Brennpunkts? Keine!

Er beginnt, panisch zu schreien. „Weg vom Absorber! Achtung! Aufpassen! Rafael, die Spiegel, sieh dir die Spiegel an!“

Javier hält inne.

Was macht der Mann da oben? Tatsächlich reagiert der junge Mann oben im Turmfenster zwar, aber ganz anders als von Javier beabsichtigt. Statt schnellstens von oben in Richtung des Fahrstuhls zu verschwinden, dreht sich Rafael langsam zu ihm um und hebt die rechte Hand, wie, um ihn zu grüßen.

Javier zuckt vor Schreck zusammen, macht hektische Armbewegungen, um das Weglaufen zu signalisieren, und schreit weiter: „Raus da, Rafael, raus. Schnell! Es ist keine Zeit mehr! Sofort raus da!“

Keine Reaktion. Verdammt, hört er mich nicht? Was kann ich tun? Ein letzte Mal brüllt er: „Lauf, du musst …“ Er bricht ab.

Wie gelähmt beobachtet er jetzt den Prozess, den er so gut kennt und schon seit so langer Zeit erforscht hat.

Durch den leichten Sandstaub, den der Wind aufgewirbelt hat, sind die Sonnenreflexionen jedes einzelnen Spiegels gut sichtbar. Wie Laserstrahlen fügen sich die gewaltigen Energieströme zentral zum Solarturm gerichtet zusammen.

Javier verfolgt hilflos, wie sich 624 einzelne überirdisch hell leuchtende Strahlen auf ihren Brennpunkt oben im Solarturm konzentrieren. Ein unvergleichliches Energiezentrum entsteht, eine zweite Sonne. Javier schützt seine geblendeten Augen mit der Hand und zittert unkontrolliert.

„Ja, genau das ist es! Gebündeltes Sonnenlicht“, sind Rafaels letzte Gedanken, „angereicherte Tachyon-Strahlung, Überlichtgeschwindigkeit, die Zeiten verschwimmen. Die einzige Möglichkeit, die Menschen noch zu retten. Den Ablauf der Geschichte zu korrigieren. Die Anschläge von ihr abzuwehren. Sie hat böswillig viele unserer Regeln verletzt. Vielleicht haben wir dann alle noch eine Chance auf dieser Welt. Doch wo fange ich an?“

Dann verschwindet er im Fluss der Zeit. Ein Fluss, der gelegentlich anschwillt, Stromschnellen entwickelt, alles mitreißt, voranstürmt, unaufhaltsam, immer schneller werdend, wild, verrückt, rau, ohne Gelegenheit zum Atemholen. Oder sich auch manchmal gemächlich und sanft fortbewegt, zum Verweilen einlädt, ruhig wird, fast zum Stillstand kommt, die Ufer bewässert und fruchtbar macht, idyllisch wirkt, heiter und gelassen erscheint.

Iberien – um 230 v. Christus

1. Der Axtdämon

In der Nähe von Hispalis, dem heutigen Sevilla, Iberien, im Sommer 229 v. Chr.

Es war völlig windstill. Auch jetzt am späten Abend nahm die schwüle, drückende Hitze des Sommers kaum ab. Im Schatten der hoch gebauten Schankwirtschaft konnte zwar niemand der fiebrigen Glut des Tages entrinnen, wohl aber den Durst stillen oder den Tag einfach vergessen.

Hätte Beles, der Häuptling von Ennergenses, geahnt, dass er schon in kurzer Zeit das nächste Opfer des Axtdämons werden würde, dann wäre seine Bestellung in dem Wirtshaus wahrscheinlich umfangreicher ausgefallen.

Er aß und trank für sein Leben gern, liebte die Frauen, war gesellig und gab reichlich Trinkgeld. Ein gern gesehener Gast in der Schenke am Baetis; füllig geworden, schwerfällig und mit einer stark geröteten Nase gezeichnet, sehr zahlungskräftig. Ein idealer Kunde für jeden Gastwirt, oft sehr hungrig und sehr durstig, immer gut gelaunt, etwas zu laut, ziemlich ehrlich. Und völlig ahnungslos. Zugleich das ideale Opfer des Dämons.

So bat Beles nur um einen zweiten Krug vom besten Rotwein, tätschelte wie gewohnt das Hinterteil des Schankmädchens, nahm ein halbes Brot mit viel roter Wurst und würzigem Schafskäse in der ihm sehr vertrauten Schänke zu sich, rülpste mehrfach und beendete bald sein Abendessen. Danach saß er allein draußen an einem Holztisch mit dem letzten Becher Wein seines Lebens.

„Ihr seht unzufrieden aus“, meinte das Schankmädchen kokett. „Kann ich noch etwas für euch tun?“

„Ich habe nur an meine Frau gedacht.“ Beles lachte leise und winkte müde ab.

Er genoss den Blick auf den mächtigen und schon an dieser Stelle unheimlich breiten Fluss Baetis, der sich in den letzten Sonnenstrahlen des Tages träge fortbewegte. Das Wasser schillerte im schwächer werdenden Abendlicht wie die hellen Funken eines verglühenden riesigen Feuers aus Reisig. Ein würdiger, wunderschöner letzter Anblick, den Beles allerdings nur beiläufig wahrnahm, in Unkenntnis seiner nahen Zukunft.

Der tagsüber kräftig wehende Wind war schon lange vorher entschlafen, die unablässigen Gesänge der Vogelwelt bereits verklungen, selbst Grillen und Zikaden erstarrt. Gespannte Ruhe. Auch der große Fluss schien still zu stehen. Kein Laut. Wenn Beles in der Lage gewesen wäre, die Zeichen der Natur zu lesen, dann hätte er sich Sorgen gemacht. Aber Beles verhielt sich ähnlich wie der Fluss, den er so gern betrachtete: behäbig, satt und wenig interessiert, seine Lage zu verändern. Er war nun reich – und er war ein bedeutender Mann geworden.

Der Zustand in seiner Heimat hatte sich sehr schnell verändert, für Beles ein äußerst vorteilhafter Wandel.

Seine Sippe gehörte zum iberischen Volk der Turdetaner, die sich vor mehr als acht Sommern mit anderen iberischen Verbündeten der großen Invasion widersetzt hatten. Truppen aus Karthago landeten westlich der Säulen des Herakles in Nadir und forderten die Anerkennung ihrer Oberherrschaft. Die einzige Schlacht am Roten Fluss war nach wenigen Stunden für die Iberer verloren, der legendäre karthagische Feldherr Hamilkar Barkas wurde als neuer Hochfürst anerkannt, seine Befehle befolgt. Seitdem ging es den Turdetanern immer besser.

Als einzige Steuer forderte Hamilkar die Erzeugnisse der Silberminen des Baetis-Tales, eines sehr lang gestreckten Gebietes, in dem auch die Siedlung Ennergenses lag, der Beles als Häuptling vorstand.

Soweit Beles es verstanden hatte, waren die Karthager selbst gezwungen, Reparationszahlungen aufzubringen, weil sie vor einiger Zeit einen langen Krieg gegen ein anderes fernes, östliches Reich verloren hatten. Mit dem Silber konnte die vertraglich auferlegte Strafe an den östlichen Sieger entrichtet werden. Als Gegenleistung wurden den Turdetanern Stoffe, handwerkliche Geräte sowie Keramikarbeiten versprochen und tatsächlich in vereinbarter Menge und Qualität bei jeder Lieferung übergeben.

Aber die Karthager forderten nicht nur eine erträgliche Menge Silber zu jedem Vollmond. Die der Armee folgenden zahlreichen karthagischen Händler interessierten sich neben der Silberproduktion für Eisen- und Kupfererz und zahlten sehr gute Preise. Und die zusätzlich in den Küstengebieten arbeitenden karthagischen Handwerker investierten in viele große Waffenschmieden, um die Invasionsarmee zu versorgen. Sie konnten gar nicht genug Holz für ihre Betriebe erwerben. Die neuen Herrscher waren erstaunlich zuverlässige Handelspartner, sorgten für die Einhaltung der Verabredungen und brachten den Turdetanern – so auch Ennergenses und seinem Häuptling Beles – einen völlig unerwarteten Wohlstand.

Besonders für die große Siedlung Ennergenses lohnte sich die Arbeit. Beles betrieb mit seinen weitverzweigten Sippen zwei Eisenerzminen und eine sehr ergiebige Silbermine, früher unbeachtliche Erzeugnisse, die jetzt im Zentrum des Interesses der Kaufleute standen. Von Arrias, dem Fürsten der Turdetaner, bekam er in dessen Hauptstadt Hispalis für die monatlichen den Karthagern zu überbringenden Silberlieferungen die vereinbarten Wagenladungen mit Lebensmitteln, Tuch und Keramik als Entschädigung. Für das Eisenerz konnte er in Hispalis von karthagischen Händlern eine für ihn sehr erstaunliche Menge Gold eintauschen. Die Sippe war vermögend geworden, seine Frau bestätigte stolz immer wieder seine wachsende Geschicklichkeit im Handeln und im Bett, seine Seitensprünge interessierten sie nicht mehr. Beles konnte seinen Erfolg auf sehr unterschiedliche Weise genießen.

Langsam erhob er sich, um dem drallen Schankmädchen wie immer einen letzten ausgiebigen Klaps auf ihr einladendes Hinterteil und ein großzügiges Trinkgeld zu geben. Dann ging er leicht angeheitert den breiten Weg entlang des Flusses, den auch die Fuhrwerke benutzten. Beles fühlte sich auch nach mehr als vierzig Sommern kräftig und nach der letzten Nacht wieder einmal auf der Höhe seiner Manneskraft, die Gedanken an die immer häufiger schmerzenden Gelenke gern verdrängend.

War das jetzt wirklich ein kühler Windhauch? Fast fröstelte es ihn. Nach diesem heißen Sommertag? Er atmete tief ein und spürte plötzlich den Druck auf seiner Blase. In dieser Nacht würde er nicht mehr nach Ennergenses heimkehren, sondern wie stets noch ein zweites Mal mit seinen beiden Begleitern, die schon vorausgeeilt waren, eines der örtlichen Schankhäuser in Hispalis aufsuchen. Ein besonderes Haus mit einer besonderen Frau.

Das wussten er und der Axtdämon, der ihn nicht aus dem Auge verlor. Als Beles sich einer Baumgruppe abseits des Weges näherte, fiel die Entscheidung des Axtdämons blitzschnell. Jetzt war der richtige Moment gekommen. Er hatte sehr geduldig darauf gewartet. Lautlos zog er seine Axt aus dem Gürtel.

In Wirklichkeit war es immer noch sehr schwül von der Tageshitze, als sich Beles an einem Baum erleichterte. Und schon fast völlig dunkel. Er hörte ein leises Rauschen und spürte eine Bewegung in seiner Nähe. In den Blättern der Bäume? Vom Fluss her? Ein Tier? Wind? Keine Zeit für eine Reaktion. Nicht einmal Zeit zu erschrecken. Vielleicht nur in einem allerletzten Moment ein leises Erstaunen. Die Schneide traf ihn hinten im Nacken, spaltete zwei Wirbel, durchschnitt die Nervenstränge und die Wirbelsäule, die Halsschlagader und fast die Kehle.

Wäre der Schlag noch ein wenig heftiger durchgeführt worden, hätte er auch seine letzten Muskelstränge durchtrennt, und sein Kopf wäre völlig vom Rumpf abgetrennt worden.

Beles war schon tot, als sein Gesicht ungebremst auf dem kargen Boden vornüber aufschlug. Sein Blut spritzte pulsierend aus der riesigen Wunde. Der Axtdämon drehte ihn um, griff den schwarzgrauen Haarschopf seines Opfers und zog ihn zur Kontrolle ein klein wenig hoch. Er wartete in der Hocke noch eine kurze Zeit und überlegte, diesmal den Kopf mitzunehmen. Nein, unnötig. Er ließ Beles Kopf los, der mit einem unangenehm schmatzenden Geräusch zurück auf den Boden schnellte und sich dann in einem grotesken Winkel zum leblosen restlichen Körper befand. Tot. Kein Zweifel. Trotz der einsetzenden Dunkelheit war sich der Axtdämon völlig sicher. Seine Aufgabe war zu ihrer Zufriedenheit erfüllt worden. Sie würde stolz auf ihn sein. Ihn wie versprochen ausgiebig belohnen.

Der Axtdämon stand auf und sah sich wieder um. Niemand zu sehen oder zu hören. Er hob die Axt an ihrem fein geschnitzten Griff hoch, um sie erst im Gras und dann in einiger Entfernung im Flusswasser zu säubern. Kein Zittern, keine große Aufregung, keine Reue, eher Frieden. Es war nicht anstrengend gewesen, nein, es war wie von ihm geplant verlaufen. Der Geruch von Blut. Sehr vertraut. Es war gut so. Es war richtig.

Leben am Limit. Ihr Satz hatte sich ihm eingebrannt. Er nickte und machte sich auf den Weg. Fast hätte er begonnen, ein altes Kinderlied zu summen, das ihm gerade eingefallen war.

2. Fürst Arrias

Es war nicht leicht, Fürst Arrias vom Stamm der Turdetaner zu beeindrucken.

Ein erfahrener Mann, über sechzig Sommer alt, seit langer Zeit regierend, der schon viel gesehen hatte, von hagerer Gestalt, mittelgroß, mit längeren schlohweißen Haaren, bartlos, sorgfältig rasiert. Mit einem zerfurchten Gesicht, geprägt von wachsamen, klaren grüngelb gesprenkelten Augen.

Das Heerlager der Karthager hatte wirklich rund um ihre Hauptstadt Leuke Akra ein wahrhaft erstaunliches Ausmaß angenommen. Zelte, Hütten, Pferdeställe, steinerne oder hölzerne Wege, Häuser aus Stein und braunen Ziegeln, riesige Mannschaftsunterkünfte, Viehweiden, Pferdekoppeln, Lagergebäude, Gehege für Kriegselefanten. Wahrsager aus Pergamon, Schlangenbeschwörer aus Persien, dressierte Affen der Numider, vor allem aber eine schier unübersehbare Menschenmenge, teilweise kaum voneinander zu unterscheiden, mit ganz unterschiedlichen Hautfarben, Rüstungen und Kleidungen. Ein Lärmpegel, der alles überstieg, was Arrias bisher erlebt hatte.

Mehrere große Söldnergruppen anderer iberischer Stämme schienen sich den Karthagern und ihren verbündeten numidischen Reitern angeschlossen zu haben. Leuke Akra, weit nördlich von Nadir und ebenfalls am großen Meer gelegen, war der neue Mittelpunkt des punischen Reichs auf der iberischen Halbinsel. Der Hochfürst, Hamilkar Barkas, herrschte über ein immer größeres Gebiet. In den letzten zwei Sommern hatte er viele iberische Stämme im Norden unterworfen und sogar jenseits des Ebros eine neue Stadt gegründet und nach seiner Familie benannt: Barkelino.

Die neuen Herrscher, die Barkiden, waren als streng, aber auch als gerecht bekannt. Neben Hamilkar Barkas selbst hatte Fürst Arrias dessen älteren Bruder, Hasdrubal den Schönen, kennengelernt und von Hamilkars drei fast erwachsenen Söhnen gehört. Zudem residierte im fernen Karthago dem Vernehmen nach ein jüngerer Bruder Hamilkars, der Himilko Barkas hieß und im dortigen obersten Rat der Dreihundert des phönizischen Reichs die führende Position innehatte. Eine mächtige Familie führte nun das Reich der Phönizier, den legendären punischen Staat, geeint und gut organisiert. Ein Reich voller Händler, das sich nun mit ihrem sagenhaften Reichtum auch militärisch in der Welt durchsetzen wollte.

Aus der Sicht von Fürst Arrias hätten sie diesen Teil der Welt besser in Ruhe gelassen. Sie verfolgten einen gewaltigen Eroberungsplan, das ahnte er, konnte jedoch die Erfolgsaussichten überhaupt nicht beurteilen. Arrias war kein Träumer. Die Realität hatte sich verändert und er sich in ihr. Die Karthager herrschten in Iberien, ob er es für gut hielt oder nicht. Wann sie wieder verschwinden würden, das konnte nicht einmal die Hohepriesterin der Tar vorhersagen. Niemand.

Der Ritt seiner kleinen Gesandtschaft – fünf Begleiter und doppelt so viele Ersatzpferde – hatte vier Tage gedauert. Gut befestigte Straßen wechselten sich mit schmalen Pfaden ab, Furten durch kleinere Flüsse waren genauso zu überqueren wie mehrere Steigungen und Gipfel. Ständige Begleiter waren Staub und brütende Sommerhitze, weshalb sie sich mehr in der Nacht als am Tage fortbewegten. Und immer wieder die Frage, die ihn am meisten bewegte: Lohnt sich das? Geht der Plan auf? Jetzt waren sie in der Morgendämmerung am Ziel eingetroffen. Leuke Akra – die weiße Stadt.

Es dauerte fast bis zur Mittagszeit. Sonnenlicht, weiß wie eine plötzliche Stichflamme am Lagerfeuer. Die Bäume im heißen Wind wie ausgedörrt, Blätter wie Pergament. Das Gras welk; gelbes Stroh, das vor dem menschlichen Auge in der Hitze wie Flammen flackerte. Die Luft schmeckte nach Kupfer, Eisen, saurem Schweiß und einem leicht fauligen, salzigen Meeresaroma. Arrias seufzte lautlos. Ekelhaft.

Warum habe ich mich auf diesen Weg begeben? Freiwillig? Zum Anführer seiner Besatzer geht man nur, wenn sich gar kein anderer Ausweg mehr findet. Wenn das irgendjemand wissen sollte, dann wohl besonders ich. Doch es muss sein. Es gibt keine andere vernünftige Lösung. Jetzt oder nie.

Er atmete trotz der mit scheußlichen Gerüchen geschwängerten Luft tief ein und aus, wie um sich selbst noch einmal endgültig zu entschließen.

Nur langsam durfte Fürst Arrias mit seiner kleinen Delegation die Grenzposten passieren, wurde immer wieder durchsucht (Bei Tar, wie furchtbar können karthagische Soldaten stinken?) und schließlich hinauf zum Palast des Hamilkar Barkas geführt. Arrias fühlte sich gleichzeitig erschöpft und aufgekratzt. Die beiden Morde an seinen turdetanischen Häuptlingen beschäftigten ihn sehr, die Audienz bei den Karthagern hatte eine wahrhaft hohe Bedeutung für ihn. Er bereitete sich intensiv darauf vor.

Nach einer letzten gründlichen Durchsuchung wurden sie endlich in die riesige Empfangshalle vorgelassen. Nur langsam stellten sich die Augen von Arrias auf den durch einige große Fensteröffnungen erhellten, sich nur im Halblicht befindlichen Raum um. Selbst seinen reich verzierten silbernen Fürstenstab hatten sie ihm abgenommen, aus Angst vor versteckten Waffen. Ohne seine gewohnte Insignie der Fürstenwürde kam er sich irgendwie verloren vor. Das Symbol der höchsten turdetanischen Ehre – zurückgelassen. Auch ein Zeichen der neuen Zeit. Fremd im eigenen Land.

Sein Widerwillen vergrößerte sich, doch gab es jetzt kein Zurück mehr. Zurück wäre blanker Unsinn.

Zwei Gesandtschaften befanden sich noch vor Arrias. Zeit, sich ein letztes Mal vorzubereiten. Am gegenüberliegenden Ende des Saals befand sich, gut sichtbar für alle, der marmorne, goldverzierte Thron des Hochfürsten, deutlich erhöht, nur über zehn breite und hohe Stufen nach oben erreichbar. Um ihn herum seine schwerbewaffnete Leibwache, die Unsterblichen Zehn. Hier hielt Hamilkar Barkas fast jeden Vormittag Gericht, empfing Bittgesuche oder verhandelte Staatsangelegenheiten.

Es stank auch in der ganzen Halle nach abgestandenem Männerschweiß, längst verglühter Asche, feuchtem Leder und in gewaltigen Mengen verzehrtem Alkohol, abgestandenem Essen – für einen Turdetaner abstoßend und ekelerregend, aber Arrias ließ sich äußerlich nichts anmerken. Das übliche Zeremoniell musste eingehalten werden.

Was macht diesen Hamilkar Barkas aus? Ein militärisches und politisches Genie, das über die halbe bekannte Welt herrscht? Eine Vision von einer Zukunft, die andere Menschen nicht wollen und die er trotzdem allen aufzwingt? Der Wille, sich mit allen Mitteln durchzusetzen und das Unmögliche zu schaffen? Ein Realismus, der den Willen in erfolgreiche Tat umsetzt? Schöpferische Begabung, um alle Widrigkeiten zu besiegen? Jedenfalls der gefährlichste Verhandlungspartner, den ich mir vorstellen kann.

Arrias musterte den Hochfürsten aus der Entfernung. Kaum verändert in den letzten Sommern. Hamilkar war zwar etwas kleiner als er selbst, aber der gewaltige Brustkorb, die beachtliche Arm- und Beinmuskulatur, durch die Lederrüstung noch betont, und vor allem das energische Gesicht mit den blitzenden, prüfenden tiefblauen Augen im Zentrum hatten schon manchen Gesprächspartner verstummen lassen. Es war dieser Blick, der viele gegenüberstehende Bittsteller so beeindruckte und mächtige Feinde ängstlich werden ließ: wissend, kritisch, befehlsgewohnt, herrisch, selbstbewusst, keinerlei Widerspruch duldend, energisch. Barkas – der Blitz.

Es ging jetzt überraschend schnell. Die Reihe war an Arrias. Ein punischer Dolmetscher näherte sich über die ausladenden Stufen, verneigte sich kurz und sprach Arrias in iberischem Dialekt an: „Darf ich Euch meine Übersetzungsdienste anbieten, edler Fürst Arrias?“

Hamilkar ist auf alles gut vorbereitet, jedoch nicht sehr gut.

Arrias dankte höflich und wehrte ab: „Ich habe inzwischen versucht, die Sprache meines Herren zu lernen, und weiß auch, dass der Hochfürst schon Teile unserer Sprache beherrscht. Wir werden uns gut verstehen.“ Schließlich seid Ihr ja nicht nur gekommen, um zu plündern und zu erobern, sondern um uns zu kolonialisieren wie Eure anderen Völker auch. Dazu braucht Ihr unsere Sprache, Ihr räudigen Hunde! Er lächelte den Dolmetscher freundlich an, der sich kurz verneigte und zurückzog.

Zehn Stufen. Arrias ging allein, warf sich vor dem Thron nieder und küsste, wie jedem Gast zeremoniell vorgeschrieben, den Fuß des Hochfürsten, der allerdings schnell aufsprang und Arrias hoch half, um ihn mit einer festen Umarmung zu begrüßen. Eine hohe Ehre, die viele im Raum aufblicken ließ und ein leichtes Gemurmel erzeugte.

„Arrias, Fürst der Turdetaner, ich grüße Euch und freue mich über Euren Besuch. Wie Ihr nur bei so konstant guter Gesundheit und Statur bleibt?“ Keine Antwort abwartend kehrte sich Hamilkar um, stieg wieder hinauf zu seinem nochmals deutlich erhöhten marmornen Thron, setzte sich wieder und sah Arrias erwartungsvoll von oben herab an.

Gut, jetzt haben wir wieder den üblichen Abstand. Arrias ging nicht auf den Plauderton ein und begann leise: „Hochfürst, Ihr und Euer großes Volk habt uns Eure Hilfe versprochen, wenn wir bedroht werden. Eure Verbündeten brauchen jetzt Eure Unterstützung.“

„Selbstverständlich, wir lieben die Turdetaner, welche Bedrohung bereitet Euch Sorgen?“ Hamilkar blickte ihn abwartend, aber nicht unfreundlich an. Arrias spürte die Aura der Macht, nicht nur in Hamilkars Augen. Sein Gegenüber war nicht viel jünger, aber viel kräftiger und unvergleichlich einflussreicher als er. Die gewaltigen breiten Schultern wurden durch die Schulterklappen der schwarzen Rüstung noch unterstrichen. Ein Mann mit langer Kampferfahrung, für den seine Männer ihr Leben gaben; eine lebende Legende, dem alles zu gelingen schien und der es gewohnt war, an vorderster Front zu stehen und zu kämpfen, dem niemand widerstehen konnte.

Trotzdem begann Arrias mit fester Stimme: „Meine vier wichtigen Stämme in der Nähe von Hispalis, meiner Hauptstadt, fühlen sich bedroht. Dem Häuptling von Illerdenses wurde vor einem halben Mond mit einem Hieb fast der Kopf abgetrennt, man fand ihn in einer Herberge in Hispalis. Vor zwei Tagen wurde dem Häuptling von Ennergenses in der Nähe einer kleinen Schänke südlich von Hispalis aufgelauert, er wurde ebenfalls von hinten fast geköpft. Ihr wisst, Hochfürst, wir Turdetaner sind ein friedliches Volk, wir jagen mit Pfeil und Bogen oder mit Speeren, aber wir benutzen keine Hiebwaffen, weder Schwert noch Axt …“

„Ihr wollt sagen, dass der Mörder nicht Eurem Stamm angehört?“, unterbrach ihn Hamilkar. „Oder dass er Karthager ist?“ Die letzte Botschaft hatte einen drohenden Unterton.

Arrias zögerte kurz und beschloss dann, wahrheitsgemäß zu antworten: „Ich weiß es nicht. Wir haben keine Spuren gefunden. Aber ich weiß, dass die vier Stämme für uns beide sehr wichtig sind. Dort werden die großen Silber- und Eisenerzminen der Turdetaner betrieben. Wir Turdetaner haben ein derartiges Verbrechen noch nie erlebt und ich glaube nicht an einen Zufall.“ Auch Arrias konnte seiner Stimme die Nuance eines Vorwurfs verleihen.

Hamilkar antwortete sofort. Er war gewohnt, seine Urteile schnell zu treffen, und Arrias wurde die Entscheidung sofort mitgeteilt: „Wenn die Silberlieferungen bedroht werden, sind die feigen Morde auch Anschläge gegen Karthago. Wir werden uns um den Schutz Eurer Siedlungen kümmern.“

Arrias verneigte sich. „Es wäre eine große Ehre, wenn uns ein hoher Abgesandter oder sogar ein Mitglied Eurer Familie seinen Beistand anbieten würde. Wir stehen für immer in Eurer Schuld und erwarten Eure Befehle …“

Aber Hamilkar Barkas hatte sich schon von ihm abgewandt.

Der Anführer der Karthager beriet sich kurz mit einem seiner Krieger neben dem Thron und wandte sich wieder an Arrias: „Edler Fürst Arrias, ich sende Hiram Malchas, meinen Stellvertreter und besten Feldherrn, dessen Neffen Bomilkar und meinen ältesten Sohn Hannibal. Sie werden Euch nach Hispalis begleiten. Hiram Malchas wird in meinem Auftrag Eure Sicherheit garantieren und die Verbrecher bestrafen. Er genießt mein volles Vertrauen und ist mir nahe wie ein Bruder. Karthago lässt seine Verbündeten nie im Stich. Langes Leben in Frieden und Gesundheit.“ Der zeremonielle karthagische Abschiedsgruß.

Arrias verneigte sich tief, um abermals zum Abschied die Füße Hamilkars zu küssen.

Er musste sich sehr beherrschen, um nicht triumphierend zu grinsen. Hab ich dich, du alter Bastard. Jetzt bist du über alles informiert, und wenn Lieferverzögerungen oder Unterbrechungen der Silbertransporte auftreten, liegt die Schuld dafür nicht bei den Turdetanern. Dann hast du selbst versagt. Herrschen mag in der Theorie einfach sein, kann sich in der Praxis allerdings als durchaus schwierig erweisen.