Kirschbuch Verlag
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Zum Buch:

Mai­ke freut sich auf den Ur­laub mit ihrem neu­en Freund Ar­ne. Statt in die Son­ne, soll es je­doch plötz­lich in den Schwarz­wald ge­hen, um dort auf Ar­nes Oma auf­zu­pas­sen. Doch da­mit nicht ge­nug: Schnell er­fährt Mai­ke, dass Ar­ne sich je­des Jahr ei­ne neue Freun­din sucht, um die­se als »Oma-Sit­te­rin« bei der al­ten Da­me zu­rück­zu­las­sen!

 

Aber da hat er sich in Mai­ke ge­täuscht, denn Ra­che ist süß und auch Oma Mar­tha ist rüs­ti­ger als ge­dacht...

 

Der Auf­takt ei­nes aber­wit­zi­gen Roadt­rips quer über Frank­reichs Au­to­bah­nen, in dem Ver­fol­gungs­jag­den und emo­ti­o­na­le Berg- und Tal­fahr­ten we­der ei­ne Fra­ge des Al­ters noch des Ge­schlechts sind.

Zur Au­to­rin:

Bir­git Schlie­per ist Jour­na­lis­tin und Buchau­to­rin im Be­reich Frau­en-, Ju­gend- und Kin­der­li­te­ra­tur. Sie wohnt in Zü­rich, ist ver­hei­ra­tet und hat zwei Kin­der. Mit ihrem Ro­man »Mai­ke, Mar­tha und die Män­ner« ist Bir­git Schlie­per Ge­win­ne­rin des »Best­sel­ler von mor­gen«-Schreib­wett­be­werbs des Kirsch­buch Ver­lags und der Qua­li­Fic­ti­on GmbH an­läss­lich der Frank­fur­ter Buch­mes­se 2019.

Birgit Schlieper

 

 

 

Maike, Martha und die Männer

 

 

 

Roman

 

Kirschbuch Verlag

Ver­öf­fent­licht im Kirsch­buch Ver­lag,
ein Im­print der Qua­li­Fic­ti­on GmbH
Ham­burg, März 2020
Co­py­right © 2020
by Qua­li­Fic­ti­on GmbH, Ham­burg
Um­schlag­ge­stal­tung: Qua­li­Fic­ti­on GmbH
Satz: Qua­li­Fic­ti­on GmbH
ISBN 9783948736019

 

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Pa­ris is al­ways a good idea.
Audrey Hepburn

»Schwarz­wald?«

Ich wie­der­ho­le das Wort ganz vor­sich­tig. Of­fen­bar ha­be ich mich ver­hört. Wahr­schein­lich hat Ar­ne »Schwarz­meer« ge­sagt. Wo war das gleich? Süd­lich auf je­den Fall. Ist das Schwar­ze Meer das mit dem ho­hen Salz­ge­halt, auf dem man stun­den­lang her­um­düm­peln kann? Oder ist das das Ro­te Meer? Oder doch das To­te Meer?

»Ge­nau. Schwarz­wald. Es wird herr­lich.«

Er lehnt sich zu­rück, streckt sich und ent­blößt ober­halb des Jeans­bunds ei­nen brau­nen Strei­fen Haut mit klei­nen blon­den Haa­ren.

Ich leh­ne mich nach vor­ne und rüh­re in mei­nem Chai Lat­te. Vor mei­nem geis­ti­gen Au­ge lö­sen sich die Bil­der von Strand und Son­nen­un­ter­gän­gen lang­sam auf. Plötz­lich ste­hen da kau­en­de Kü­he auf sat­tem Grün. Ich hat­te mir im In­ter­net schon so sü­ße Biki­nis an­ge­se­hen und San­da­len mit bun­ten Stei­nen. Muss ich mir jetzt ei­ne Tracht oder so et­was zu­le­gen?

»Sü­ße, ich weiß, dass das to­tal lang­wei­lig und spie­ßig klingt. Aber lass dich über­ra­schen. Es ist ein­fach wun­der­schön da. Die Ber­ge, die Se­en, die Luft. Du wirst es lie­ben.«

Ich gu­cke ihn an und ver­su­che ihm zu glau­ben.

Ich lie­be das Meer und Näch­te, die nicht käl­ter als 15 Grad wer­den. Ich lie­be tro­cke­ne Luft, die im­mer ein biss­chen nach Son­nen­creme riecht. Ich mag es, wenn ich weit gu­cken kann und sich kein Berg in den Weg stellt. Ich mag es, über war­men Sand zu lau­fen. Lei­der muss ich ge­ste­hen: Ich flie­ge ger­ne. Trin­ke so­gar den halb­tro­cke­nen Sekt im Flug­zeug.

Viel­leicht lie­be ich den Schwarz­wald auch. Aber mir wür­de es rei­chen, wenn ich die­se Lie­be erst in 40 oder 50 Jah­ren ent­de­cke. Schwarz­wald klingt für mich nicht nach Ur­laub, son­dern nach Kur.

»In den Sü­den kön­nen wir auch noch über Weih­nach­ten flie­gen, wenn es hier so rich­tig grau und trüb ist. Dann aalen wir uns ir­gend­wo am Strand und fei­ern ins neue Jahr. Wenn Du willst, kön­nen wir auch so rich­tig hübsch knal­len«, hö­re ich Ar­ne sa­gen. Sei­ne Au­gen grin­sen mich da­bei an.

Das klingt doch schon viel bes­ser. Ich neh­me ei­nen Schluck von mei­nem schwin­de­lig ge­rühr­ten Chai Lat­te. Und plötz­lich wird es mir klar: Er will mich sei­nen El­tern vor­stel­len. Des­we­gen soll ich auf die Alm. Mei­ne Fü­ße wer­den kalt, mein Herz ganz warm. Ist das nicht ein biss­chen früh? Ge­nau ge­nom­men hat ja mein Stu­den­ten­le­ben noch gar nicht be­gon­nen. Das ers­te Se­mes­ter fängt im Herbst an, ich ab­sol­vie­re ge­ra­de Vor­be­rei­tungs­kur­se. Wie lan­ge sind wir zu­sam­men? Ar­ne war das neu­lich von ei­nem Freund ge­fragt wor­den und hat­te mit »Weiß nicht ge­nau. Ich glau­be, sie hat­te schon drei Mal ih­re Ta­ge« ge­ant­wor­tet. Das fand ich ir­gend­wie nicht so nett. Aber ich möch­te jetzt auch noch nicht die Po­si­ti­on ‹Schwie­ger­toch­ter in spe› ein­neh­men.

»Ha­ben dei­ne El­tern mich ein­ge­la­den?«, fra­ge ich vor­sich­tig und so ne­ben­bei wie mög­lich.

»Ge­nau. Dich und mich. Wir ha­ben das gan­ze gro­ße Haus qua­si für uns al­lei­ne.«

»Sie sind al­so gar nicht da«, stel­le ich fest.

»Nee. Die flie­gen im Som­mer im­mer nach Ma­dei­ra.«

So viel zum The­ma, der Schwarz­wald ist im Som­mer ein­fach herr­lich. Wie­so flie­gen die nicht im Win­ter gen Sü­den?

»Vom Schwarz­wald ist es doch nach Frank­reich nicht weit, oder?«

Ich hof­fe, mit mei­ner Ein­schät­zung nicht völ­lig da­ne­ben zu lie­gen. Of­fen­bar ha­be ich Geo­gra­phie doch zu früh ab­ge­wählt.

»Nicht all­zu weit. War­um?«

»Dann kön­nen wir doch auch mal für ein paar Ta­ge nach Frank­reich. Wo­zu hat­te ich sei­nerzeit auf der Schu­le Leis­tungs­kurs Fran­zö­sisch? Dann kannst du in den Ge­nuss mei­ner enor­men For­mu­lie­rungs­kunst kom­men«, grin­se ich.

Ich den­ke an klei­ne Ca­fés, an klei­ne Bou­tiquen, fran­zö­si­sches Flair in der Luft, an l’amour.

»Klingt ver­lo­ckend. Al­ler­dings wird dar­aus nichts. Ich ha­be mei­nen El­tern ver­spro­chen, dass wir uns auch ein biss­chen um Oma Mar­tha küm­mern.«

»Wie bit­te?«

Ich fan­ge wie­der an, in mei­nem Glas zu rüh­ren. Die­ses Mal mit der lin­ken Hand. Ich ha­be mal ge­le­sen, dass man da­mit die eher un­ter­drück­te Ge­hirn­hälf­te ak­ti­vie­ren kann. Das gilt na­tür­lich nur für Rechts­hän­der. Ich muss jetzt ganz drin­gend mei­ne an­de­re Ge­hirn­hälf­te in Schwung brin­gen und zwar die, die für die Ra­tio ver­ant­wort­lich ist. Manch­mal es­se ich des­we­gen auch mit der lin­ken Hand Sup­pe oder put­ze mir mit links die Zäh­ne. Ganz in­ter­es­san­te Er­fah­run­gen kann man da­mit auch auf der Toi­let­te ma­chen.

Ar­ne tut so, als hät­te er mich nicht ge­hört und gibt der Kell­ne­rin ein Zei­chen. Ich muss wohl ein biss­chen lau­ter wer­den.

»Wie bit­te? Was soll das hei­ßen, dass wir uns ein biss­chen um Oma Mar­tha küm­mern? Müs­sen wir sie im Roll­stuhl rum­schie­ben oder reicht es, wenn wir mal auf ei­nen Plausch in ihr über­hitz­tes Wohn­zim­mer kom­men?«

»Ha­be ich dir noch nie von ihr er­zählt? Das ist die Mut­ter mei­nes Va­ters, die bei mei­nen El­tern lebt. Die kön­nen halt nur in den Ur­laub fah­ren, wenn ich mich ein biss­chen um sie küm­me­re. Aber mach dir dar­über kei­ne Ge­dan­ken. Oma ist stein­alt. Über 80 be­stimmt schon. Ent­we­der die schläft oder sie döst vorm Fern­se­her oder auf der Ter­ras­se. Die stört uns mit Si­cher­heit nicht. Möch­test du auch noch was?«

Die Kell­ne­rin hat sich er­barmt und steht vor un­se­rem Tisch. Sieht es ko­misch aus, wenn ich jetzt ei­nen Schnaps be­stel­le? Wahr­schein­lich ja. Da­bei könn­te ich wirk­lich ei­nen ge­brau­chen.

Ich schütt­le nur stumm den Kopf. Die­se Nach­rich­ten muss ich erst mal tro­cken ver­ar­bei­ten.

 

 

Du fährst mit Ar­ne in ein ver­schla­fe­nes Kuh­dorf, um dich da um sei­ne se­ni­le Groß­mut­ter zu küm­mern?«

Li­sa sitzt im Schnei­der­sitz auf mei­nem So­fa und starrt mich mit of­fe­nem Mund an.

»Du tust so, als woll­te ich mit ihm in die Uk­rai­ne, um da Kriegs­grä­ber zu pfle­gen.«

»So ganz groß ist der Un­ter­schied ja nicht, oder?«

»Im­mer­hin lebt Ar­nes Oma noch.«

»Nach­dem du zwei Wo­chen für sie ge­kocht hast, wahr­schein­lich nicht mehr. So wirst du dich in der Fa­mi­lie nicht sehr be­liebt ma­chen«, lacht sie.

»Ich muss für die Frau nicht ko­chen«, be­haup­te ich und bin mir gar nicht so si­cher. Sie wird wohl kaum 23 Stun­den dö­send im Halb­schlaf ver­brin­gen und dann plötz­lich auf­ste­hen, sich ein fri­sches Ge­mü­se­süpp­chen zu­sam­men­schnip­peln, um sich dann an den Ess­tisch zu set­zen, oder? Ich muss un­be­dingt Ar­ne da­nach fra­gen. Na­tür­lich wür­de ich ihm am liebs­ten so­fort ei­ne Whats­app schrei­ben, aber das bringt nichts. Ar­ne ist ein Whats­app-Au­tist. Meist ant­wor­tet er Stun­den spä­ter und nur mit kryp­ti­schen Ab­kür­zun­gen. Li­sa hat sich in­zwi­schen aufs Bett ge­legt und ki­chert. »Ich stel­le mir ge­ra­de vor, wie ihr drei da abends im Wohn­zim­mer sitzt und euch ei­nen Ro­sa­mun­de-Pil­cher-Film rein­zieht. Oder gab es nicht mal ei­ne Serie über ei­ne Schwarz­wald­kli­nik? Die hat Oma be­stimmt auf VHS.«

Ich wer­fe ein Kis­sen nach Li­sa.

Doch sie hört nicht auf. »Viel­leicht könnt ihr ja spä­ter al­lei­ne noch ein paar Dok­tor­spie­le ma­chen. Aber im­mer schön lei­se sein«, prus­tet sie. »Zu­min­dest so lan­ge, bis Oma das Hör­ge­rät ab­ge­stellt hat«.

Li­sa darf das. Sie ist mei­ne bes­te Freun­din – seit der ach­ten Klas­se schon. Da­mals hat­ten wir zu­sam­men ei­nen ab­so­lu­ten Lach­flash be­kom­men und zwar bei dem Satz »Je vais cher­cher la sou­pe«. Das soll­te hei­ßen »Ich ge­he die Sup­pe ho­len«. Aber ge­nau ge­nom­men heißt es »Ich ge­he die Sup­pe su­chen«. Ich hat­te mir vor­ge­stellt, wie ich mit­tags nach Hau­se kom­me und mei­ne Mut­ter vom Tisch auf­steht und sagt: »Na, dann ge­he ich jetzt mal die Sup­pe su­chen. Wo ha­be ich sie nur heu­te wie­der ver­steckt?« Mit Li­sa ver­bin­den mich ein­fach so vie­le ers­te Ma­le. Auf ei­ner Par­ty bei ihr ha­be ich den ers­ten Zun­gen­kuss be­kom­men. Sie hat mir die Haa­re aus dem Ge­sicht ge­hal­ten, als ich (auf der­sel­ben Par­ty) spä­ter ei­nen län­ge­ren Be­such auf dem WC ein­le­gen muss­te. Sie hat zehn Mi­nu­ten nach­dem ES pas­siert war, er­fah­ren, dass ich kei­ne Jung­frau mehr bin. Sie hat mich nach der ers­ten er­folg­lo­sen Füh­rer­schein­prü­fung ge­trös­tet. Li­sa hat bei der Be­er­di­gung mei­nes Opas mei­ne Hand ge­hal­ten. Es war die ers­te Be­er­di­gung über­haupt für mich. Li­sa und ich ha­ben uns mit 17 Jah­ren die Haa­re blau­schwarz ge­färbt und sa­hen ein­deu­tig dro­gen­krank aus. Da­mals fan­den wir, dass wir ge­heim­nis­voll und tief­grün­dig wirk­ten. Und Li­sa weiß als ein­zi­ger Mensch auf der gan­zen Welt, dass ich mal für Mats Hum­mels ge­schwärmt ha­be.

Ich den­ke sehn­süch­tig an den letz­ten Som­mer­ur­laub zu­rück. Li­sa und ich hat­ten ein klei­nes Haus­boot in Ams­ter­dam ge­mie­tet. Der gan­ze Ur­laub war ein ein­zi­ges Schau­keln. So schön.

 

Li­sa wirft das Kis­sen zu­rück und guckt mich di­rekt an.

»Du bist schon ziem­lich ver­knallt in Ar­ne, oder?«

Ich ni­cke nur und in mei­nem Bauch krib­belt es.

 

 

Geo­mor­pho­lo­gisch wird vor al­lem zwi­schen der Ost­ab­da­chung mit wei­ten Hoch­p­la­teaus und dem in­ten­siv zer­tal­ten Ab­bruch zum Ober­rhein­gra­ben hin un­ter­schie­den. Die Tä­ler sind meist eng, oft schlucht­ar­tig, sel­te­ner be­cken­för­mig.«

Drei Mal ha­be ich die Sät­ze schon ge­le­sen und fra­ge mich, was wohl ein zer­tal­ter Ab­bruch ist und ob ich in en­gen Schluch­ten nicht bin­nen kür­zes­ter Zeit in De­pres­si­o­nen ver­fal­len wer­de. Un­ter die Fra­ge »Was wird Oma es­sen?« schrei­be ich: »Wo ge­nau fin­det un­ser Ur­laub statt? Auf ei­nem son­ni­gen Pla­teau oder in ei­nem fins­te­ren Tal, wo nie­mals die Son­ne scheint?«

 

 

Mei­ne Mut­ter kommt aus dem La­chen nicht mehr raus. Ich muss das Te­le­fon ein paar Zen­time­ter von mei­nem Ohr weg­hal­ten, um mein Trom­mel­fell zu scho­nen. Ich zäh­le bis 67, dann end­lich macht mei­ne Mut­ter ei­ne klei­ne Pau­se. Ich ver­su­che ein­fach mal ein an­de­res The­ma an­zu­schnei­den und fra­ge freund­lich, wie es Pa­pa denn geht. Sie igno­riert es.

»Kannst du dich noch an Ös­ter­reich er­in­nern?«, japst sie.

»Du hast erst beim Kin­der­sor­gen­te­le­fon an­ge­ru­fen und dich über die­se ewi­gen Wan­de­run­gen be­schwert. Dann hast du dich mit ei­nem ro­ten Ed­ding an­ge­malt und be­haup­tet, du hät­test ei­ne an­ste­cken­de Krank­heit. Du hast das Fie­ber­ther­mo­me­ter in fast ko­chen­des Was­ser ge­hal­ten.«

»Ma­ma, da­mals war ich zehn oder so.«

»Du woll­test so­gar in den Hun­ger­streik tre­ten und hast, glau­be ich, so­gar wirk­lich ei­ne gan­ze Mahl­zeit aus­ge­las­sen«, ki­chert sie wei­ter.

»Ist bei euch auch das Wet­ter so schlecht?«, ver­su­che ich noch­mals matt das The­ma zu wech­seln.

»Die­ser Ar­ne muss ja wirk­lich ein Wahn­sinns-Typ sein, dass er dich in die deut­sche Berg­welt be­kommt. Ich bin schon to­tal ge­spannt, ihn ken­nen­zu­ler­nen.«

»Klar, den nächs­ten Ur­laub ma­chen wir dann bei euch. Stellt doch schon mal ei­ne Lie­ge in mei­nem al­ten Zim­mer auf«, gif­te ich erst zu­rück und fan­ge mich dann wie­der: »Ich fin­de es gar nicht so ver­kehrt, das ei­ge­ne Brut­to­in­lands­pro­dukt zu stär­ken. Ur­laub im ei­ge­nen Land ist to­tal in – al­lein schon we­gen des Kli­ma­wan­dels. Kann ja sein, dass dich das nicht mehr in­ter­es­siert, aber ich sor­ge mich um das Kli­ma und den Er­halt der Na­tur.«

»Schön, dass du so­gar in den Fe­ri­en pa­tri­o­tisch und öko­no­misch denkst. Darfst du denn mit in Ar­nes Kin­der­zim­mer schla­fen oder musst du ins Gäs­te­zim­mer? Ich könn­te mir vor­stel­len, dass die lie­be Omi erz­ka­tho­lisch ist und es nicht dul­den kann, wenn un­ter ihrem Dach vor­ehe­li­cher Ge­schlechts­ver­kehr voll­zo­gen wird.«

Mir bleibt kurz der Atem weg, ich wer­de aber von mei­ner Mut­ter ab­ge­lenkt, die mir wei­ter­hin mit­teilt, dass nächs­te Wo­che bei Tchi­bo Wan­dern die The­men­welt sei und mich fragt, ob sie mir ei­ne Kom­plett-Aus­stat­tung kau­fen sol­le. Ich leh­ne dan­kend ab und no­tie­re die Fra­ge »Wo schla­fe ich? Hast du al­te Pos­ter von zweit­klas­si­gen Fuß­ball­clubs oder Bra­vo-Star­schnit­te in dei­nem Zim­mer hän­gen?« auf mei­ner Lis­te.

Ex­akt ei­ne Stun­de nach dem Te­le­fonat mit mei­ner Mut­ter mel­det sich Mer­le.

»Ich ha­be ge­hört, dass du ver­reist. Kann ich in der Zeit in dei­ne Stu­den­ten­bu­de kom­men? Hier ist die Si­tu­a­ti­on ge­ra­de et­was an­ge­spannt. Ich muss mich mal ir­gend­wie aus der Schuss­li­nie brin­gen. Ein biss­chen räum­li­che Di­stanz zwi­schen Ma­ma, Pa­pa und mir wä­re da be­stimmt sehr hilf­reich.«

»Die Si­tu­a­ti­on zwi­schen Ma­ma, Pa­pa und dir ist seit Jah­ren an­ge­spannt. Da hel­fen dir zwei Wo­chen Köln nicht wei­ter«, er­klä­re ich mei­ner gro­ßen Schwes­ter.

»Im­mer­hin bist du nicht ganz un­schul­dig an der Stim­mung. Seit­dem du weg bist, stür­zen die sich mit ihren gan­zen ver­spä­te­ten Er­zie­hungs­ver­su­chen auf mich. Das ist nicht aus­zu­hal­ten.«

»Du tust so, als hät­te ich dich mit ei­nem Ru­del hung­ri­ger Wöl­fe in Si­bi­ri­en zu­rück­ge­las­sen. Klei­ner Tipp: Du kannst auch aus­zie­hen. Du über­legst dir ein­fach end­lich, was du wirk­lich stu­die­ren willst, mie­test dir auch ein hüb­sches klei­nes Stu­den­ten­zim­mer und schon ha­ben sich 80 Pro­zent dei­ner Pro­ble­me er­le­digt.«

»Fängst du jetzt auch an? Ich will nicht stu­die­ren. Das ha­be ich ver­sucht. Das ist nichts für mich. Im Herbst ma­chen wir ei­ne klei­ne Tour. Und wenn wir erst­mal die ers­te CD auf dem Markt ha­ben, wer­den Ma­ma und Pa­pa sich auch ent­span­nen. Bis da­hin muss ich durch­hal­ten.«

Aus dem Hin­ter­grund hö­re ich mei­ne Mut­ter mit ei­nem wü­ten­den »Mer­le, warst du das?«.

»Was hast du ge­macht?«, fra­ge ich neu­gie­rig.

»Ich ha­be un­se­re Müll­ton­nen an­ge­malt. Die­ses Grau hat mich ganz me­lan­cho­lisch ge­macht. Ich hat­te nur noch ganz düs­te­re Ge­dan­ken, wenn ich die ge­se­hen ha­be. Of­fen­bar ge­fällt es Ma­ma nicht«, stöhnt sie.

»Dann noch ei­nen schö­nen Abend«, wün­sche ich ihr.

Kei­ne Fra­ge: Ich lie­be mei­ne Schwes­ter. Aber auf Dau­er ist sie mir ein­fach zu le­ben­dig. Sie ist ei­ne ein­zi­ge Wun­der­tü­te. Je­der, der sich ein­sam und ver­las­sen fühlt, soll­te zwei Ta­ge mit mei­ner Schwes­ter ver­brin­gen und wird fest­stel­len, dass al­lei­ne zu sein gar nicht so schlimm ist. Mer­le ist wie der weib­li­che Ju­li­en Bam auf Ec­sta­sy. Sie macht im­mer drei Sa­chen gleich­zei­tig, zieht sich vier­mal am Tag um und re­det un­un­ter­bro­chen. Par­al­lel pos­tet sie al­les, was sie denkt und meint, auf Ins­ta­gram und Face­book. Haupt­be­ruf­lich ist sie Sän­ge­rin bei der Kin­der­band mit dem Na­men ‹Band­sa­lat›. Zu­sam­men mit ei­nem zer­zau­sel­ten Key­boar­der und ei­ner Schlag­zeu­ge­rin, für die die Be­zeich­nung ‹Kampf­les­be› er­fun­den wur­de, macht sie echt gu­te Kin­der­rock­mu­sik. Ei­ne Mi­schung aus Rolf Zuc­kow­ski und Me­tal­li­ca. Ei­gent­lich ist das nur ein Hob­by. Aber da sie be­ruf­lich ge­ra­de gar nichts macht, gibt sie das als Be­ruf an. Zwei Mal schon hat Mer­le ein Stu­di­um be­gon­nen. Weil sie Kin­der nun mal so mag, hat­te sie es mit Grund­schul­päd­ago­gik pro­biert. Es war mir klar, dass sie zwi­schen die­sen an­de­ren Pri­mar­mäu­sen vor Lan­ge­wei­le stirbt. Dann hat­te sie sich auf So­zi­al­päd­ago­gik ge­stürzt. Nach vier Wo­chen hat­te sie be­haup­tet, ei­ne aku­te All­er­gie ge­gen Strick­pull­over, Ju­te­sä­cke, Selbst­ge­ba­tik­tem und Filz­bro­schen zu ha­ben. Um sich von dem Schock zu er­ho­len, hat­te sie für ein Jahr als Au-pair-Mäd­chen ge­ar­bei­tet. In Finn­land. Seit­dem ist sie sehr trink­fest, kann Holz ha­cken und auf Fin­nisch flu­chen. Das bringt ei­nen be­ruf­lich in Deutsch­land nur eben auch nicht wei­ter. Ich bin ein biss­chen ziel­stre­bi­ger als sie. Die Tin­te auf mei­nem Abizeug­nis war noch nicht ganz tro­cken, da ha­be ich mich ins Stu­den­ten­le­ben ge­stürzt. Ein klei­nes Ap­par­te­ment in ei­nem re­no­vie­rungs­be­dürf­ti­gen Wohn­heim an­ge­mie­tet, das da­durch be­zahl­bar war, und sämt­li­che Vor­be­rei­tungs­kur­se in Sa­chen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaf­ten ge­bucht, die in den Se­mes­ter­fe­ri­en an­ge­bo­ten wer­den.

 

 

Lisa kommt mit ei­nem di­cken Grin­sen und ei­nem Rei­se­ka­ta­log ins Ca­fé. »Sei­te 17«, sagt sie nur. Ich schla­ge die Sei­te auf und le­se, wie ent­span­nend Ur­laub auf Kor­fu sein kann. Se­he Strand, Pool, glü­ck­li­che und braun­ge­brann­te Men­schen mit bun­ten Drinks in der Hand. Ich le­se, dass man bei un­ter­ge­hen­der Son­ne Ae­ro­bic am Strand ma­chen kann oder mit den Moun­tain­bi­kes die Ge­gend er­kun­den. Ich le­se von Märk­ten, klei­nen Or­ten, hei­mi­schen De­li­ka­tes­sen. Das woll­te ich.

»Klar, ge­gen den Schwarz­wald kann Kor­fu na­tür­lich nicht an­stin­ken. Aber ir­gend­wo muss ich mich ja auch er­ho­len. Hat ja nicht je­der das Glück, ei­nen Lover mit An­we­sen im sieb­ten Him­mel zu ha­ben«, er­klärt sie mir la­chend.

»Hast du jetzt echt ge­bucht?«, stau­ne ich.

»Soll ich im ver­wais­ten Köln blei­ben? Ha­be echt ein Schnäpp­chen ge­fun­den. Klei­nes Ho­tel in Strand­nä­he mit Pi­la­tes und Zum­ba im Sand.«

»Kön­nen wir bit­te das The­ma wech­seln«, stöh­ne ich nur und schlie­ße ihren Ka­ta­log.

Und an­de­re The­men ha­ben Li­sa und ich ei­gent­lich stän­dig.

 

 

Auf dem Weg in mein Wohn­heim fra­ge ich mich, ob es wohl ir­gend­ei­ne Mög­lich­keit gibt, die grü­nen Berg­wie­sen Süd­deutsch­lands ge­gen Kor­fus lan­ge Sand­strän­de ein­zu­tau­schen. Wenn ich Ar­ne jetzt ab­sa­ge, sieht das doch to­tal ober­fläch­lich aus. Als woll­te ich nur schnel­len Spaß und wür­de so­fort knei­fen, wenn ich mal ei­nen Hauch an Ver­ant­wor­tung über­neh­men soll. Ganz hin­ten links in mei­nem Kopf weiß ich, dass das auch stimmt. Nicht das mit dem schnel­len Spaß, aber das mit der Ver­ant­wor­tung. Ich füh­le mich oft ge­nug schon mit der Ver­ant­wor­tung für mein ei­ge­nes Le­ben über­for­dert. Aber im­mer­hin be­mü­he ich mich, dass das nie­mand merkt. An­stren­gend ge­nug. Ich fand es gar nicht so schlecht in der Schu­le. Da hat­te ich ei­nen fes­ten Stun­den­plan und be­kam mit­tags ei­ne war­me Mahl­zeit. Jetzt muss ich mir mei­nen Stun­den­plan sel­ber zu­sam­men­puz­zeln und ent­schei­den, ob ich noch Fleisch es­se. Ob ich mein Ge­mü­se in Plas­tik ab­wie­ge. Ob ich noch Kla­mot­ten tra­ge, die in Bang­la­desch ge­fer­tigt wur­den. Wie oft ich bei ei­ner Vor­le­sung, die mon­tags um 8 Uhr be­ginnt, wohl feh­len darf. Ob ich zum Lach-Yo­ga ge­he oder zur Acht­sam­keits-Me­di­ta­ti­on oder doch ins Fit­ness-Stu­dio. Ich hät­te echt ger­ne ei­ne Be­die­nungs­an­lei­tung für mein Le­ben. Mein Va­ter hat ein Dis­play in sei­nem Au­to, da er­scheint manch­mal die Auf­for­de­rung ‹Pau­se ein­le­gen›. So et­was in der Art.

Ich bin am Abend schon fast ein­ge­schla­fen, als mir noch ei­ne ganz drin­gen­de Fra­ge für mei­ne Lis­te ein­fällt: Auch wenn Oma ih­re Ta­ge nur sit­zend oder lie­gend in ei­ner Art Wach­ko­ma ver­bringt, kann sie doch wohl noch al­lei­ne auf Toi­let­te ge­hen, oder?

Oder?

 

Ar­ne lacht laut auf, als ich ihn am Mor­gen um sechs Uhr an­ru­fe. Er ver­si­chert mir, dass Oma Mar­tha ei­gen­stän­dig aufs WC ge­he und sich auch an­sons­ten re­gel­mä­ßig um ih­re Kör­per­hy­gi­e­ne küm­me­re. Ich sa­ge nicht, dass ein­mal mo­nat­lich feucht un­term Arm her­wi­schen auch ei­ne ge­wis­se Re­gel­mä­ßig­keit ha­be. Auch auf die Fra­ge nach mei­ner Schlaf­stät­te be­kom­me ich ei­ne be­ru­hi­gen­de Ant­wort. Er ha­be schon mit 16 ein XXL-Bett be­kom­men, über dem kei­ne Star­schnit­te von ir­gend­wel­chen Fuß­bal­lern hin­gen. Ich fra­ge nicht, war­um er kurz nach der Pu­ber­tät schon ei­ne Spiel­wie­se ge­braucht ha­be. Es ist ein­fach nie gut, wenn man zu viel weiß. Bei der nächs­ten Fra­ge mei­ner Lis­te kommt Ar­ne ins Sto­cken. Da­bei ha­be ich nur ge­fragt, wie der Ort denn ge­nau hei­ße, in dem ich mei­nen Som­mer­ur­laub ver­brin­ge. Er hus­tet et­was, das nach ‹Sexau› klingt.

»Wie hieß der Ort? Ich ha­be ori­gi­nal Sexau ver­stan­den«, la­che ich laut.

»So heißt der Ort auch«, sagt er ganz ru­hig.

Ich ni­cke nur und fra­ge mich, wie lan­ge ich die­se In­for­ma­ti­on wohl vor Li­sa ge­heim hal­ten kann.

 

Ich ha­be im­mer noch ihren un­gläu­bi­gen Ge­sichts­aus­druck vor Au­gen, als ich ihr sei­nerzeit mit­ge­teilt ha­be, dass ich mit Ar­ne zu­sam­men sei. Sie hat mich an­ge­se­hen, als hät­te ich ge­stan­den, kurz vor ei­ner Ge­schlechts­um­wand­lung zu ste­hen. Ich hat­te ver­sucht, es bei­läu­fig ein­flie­ßen zu las­sen. Blö­der­wei­se mit­ten in ei­ner Bi­blio­theks-Füh­rung. Sie hat­te mich ge­fragt, ob ich abends mit ins Ki­no kom­me. Ich hat­te ge­flüs­tert: »Kann lei­der nicht. Bin mit Ar­ne ver­ab­re­det. Wir sind üb­ri­gens zu­sam­men.«

Sie hat­te »MIT AR­NE?« in ei­ner Laut­stär­ke ge­brüllt, die ich nur von Punk-Kon­zer­ten ken­ne. Es war der Hor­ror. Ich mag es schon nicht, wenn mir beim Ge­schen­ke­auspa­cken Men­schen zu­gu­cken. Das ist mir zu viel Mit­tel­punkt. Den zwei­ten Teil der Füh­rung ha­be ich aus­ge­las­sen.

Da­bei konn­te ich Li­sa ver­ste­hen. Ei­gent­lich bin ich sel­ber im­mer noch ein biss­chen un­gläu­big. Ich ver­ste­he nicht wirk­lich, was Ar­ne an mir fin­det. Ich will ihn auch nicht fra­gen. Hin­ter­her fällt ihm auf, dass er das auch nicht weiß. Ir­gend­wann wird er von al­lei­ne her­aus­fin­den, dass ich für ihn zu durch­schnitt­lich bin. Bis da­hin war­te ich ein­fach und ma­che mir ei­ne gu­te Zeit. Ir­gend­wo ha­be ich mal ge­le­sen, dass Men­schen sich im­mer ei­nen Part­ner mit glei­chem At­trak­ti­vi­täts­le­vel aus­su­chen. Ar­ne hat das wohl nicht ge­le­sen. Ich bin jetzt nicht häss­lich wie die Nacht. Aber Ar­ne sieht schon ein biss­chen zu gut für mich aus. Er stu­diert nicht nur Sport. Er ist der Sport­ler schlecht­hin, spielt Bas­ket­ball, liebt Ki­te-Sur­fen, Ski fah­ren und Squash. Und so sieht er auch aus. Ich be­we­ge mich auch ganz ger­ne. Aber nicht so schnell. Ich bin wohl eher der Typ ‹au­to­ge­nes Trai­ning›. Und Denk­sport fin­de ich gut. Und Tan­zen. Da kann es nicht schnell und wild ge­nug sein. Wenn Li­sa und ich in die Dis­co oder in den Club ge­hen, stür­men wir so­fort die Tanz­flä­che und sind nach zehn Mi­nu­ten völ­lig ver­schwitzt. Ich ver­ste­he nicht, wie man in ei­ne Dis­co ge­hen und den gan­zen Abend auf ei­nem Ho­cker kle­ben kann. Wie lang­wei­lig. Li­sa ist da­bei ab­so­lut im Vor­teil. Sie kann mit ihren lan­gen blon­den Haa­ren her­um­wir­beln. Ja, ich ha­be da­für Lo­cken. Aber kei­ne, die fluf­fig fal­len. Eher so Lo­cken, die in die Hö­he wach­sen. Wenn ich nicht recht­zei­tig zum Fri­seur ge­he, se­he ich aus wie Struw­wel­pe­tra. Da­für kann ich die ganz gut mit Tü­chern bän­di­gen. Ich fin­de, das hat ein biss­chen was wil­des und un­ge­zähm­tes. Das ge­fällt mir.

Ar­ne und ich ha­ben uns auf ei­ner Par­ty ken­nen ge­lernt. Ich lie­be Par­tys. Ich bin im­mer die, die nachts um drei in der Kü­che steht und ein­fach nicht nach Hau­se will. Ich lie­be auch Nu­del­sa­lat mit Ma­yon­nai­se und tan­ze so­gar zu 80er Jah­re Deutsch­rock. Und ich lie­be den Mor­gen da­nach. Ich ha­be mit Li­sa beim Früh­stück manch­mal schon län­ger über die Par­ty ge­quatscht, als die im Ori­gi­nal ge­dau­ert hat. Der Mor­gen nach der Ar­ne-Ken­nen­lern-Par­ty war et­was an­ders. Ge­gen halb drei in der Nacht stell­te sich ge­nau in der Par­ty­kü­che her­aus, dass er of­fen­bar kei­ne Schlamm­bow­le ver­trägt. Kurz: Er war stern­ha­gel­voll. Weil die Par­ty bei mir um die Ecke war und al­le Schlaf­plät­ze in der WG schon ver­ge­ben wa­ren, ha­be ich ihn da­mals un­ter­ge­hakt und zu mir nach Hau­se di­ri­giert. Das mag auf den ers­ten Blick nach Ab­schlep­pen aus­ge­se­hen ha­ben, war aber wirk­lich nur ein Akt der Nächs­ten­lie­be. Im Ernst: Ar­ne war ein­fach ei­ne Num­mer zu groß für mich. Im wahrs­ten Sin­ne. Ich war nass ge­schwitzt, als ich ihn end­lich in mei­nem klei­nen Ap­par­te­ment hat­te. Vor der Couch muss­te ich ihm nur ei­nen kur­z­en Stup­ser ver­set­zen und schon lag er schnar­chend danie­der. Was Ar­ne bis heu­te nicht weiß: Ich ha­be in der Nacht Fo­tos von ihm ge­macht. Ha­be so­gar vor­her sei­nen of­fe­nen Mund ge­schlos­sen und den Sab­ber ab­ge­wischt. Ich dach­te, wenn man schon mal so ein Pracht­ex­em­plar an Land und aufs So­fa ge­zo­gen hat, kann man das auch für die Nach­welt fest­hal­ten.

Am nächs­ten Mor­gen, ei­gent­lich ge­gen Mit­tag, ist Ar­ne auf­ge­stan­den und ein­fach ge­blie­ben. Ich ha­be Kaf­fee ge­kocht, dann Früh­stück ge­macht. Ir­gend­wann spä­ter auch Mit­tag­es­sen (Spa­ghet­ti mit Thun­fischsau­ce). Am Abend ha­ben wir ne­ben­ein­an­der auf dem So­fa ge­ses­sen und uns quer durch al­le Sen­der ge­zappt. Ich ha­be mich die gan­ze Zeit ge­fragt, wann er wohl end­lich wie­der in sein ei­ge­nes Le­ben ge­hen wol­le. Woll­te er aber nicht. Am nächs­ten Tag hat er mich zum Ei­ses­sen ein­ge­la­den, und ich ha­be mich wie 14 ge­fühlt. Der ers­te Kuss schmeck­te nach Strac­cia­tel­la. Ich ha­be mitt­ler­wei­le ei­ne The­se, war­um Ar­ne mit mir zu­sam­men ist:

 

Ich wer­de den Teu­fel tun und sport­li­che Am­bi­ti­o­nen, die ich nicht be­sit­ze, vor Ar­ne aus­le­ben. Na­tür­lich bin ich auch ei­fer­süch­tig. Die Vor­stel­lung, dass er an ir­gend­ei­nem Strand mit Frau­en ab­hängt, de­ren Neo­pren­an­zug noch die Form der Brust­war­ze er­ken­nen lässt, be­sorgt mich ein biss­chen. Aber ich ha­be auch ei­nen sehr ge­sun­den Ver­drän­gungs­me­cha­nis­mus. Falls ich Ar­ne ir­gend­wann un- oder zu leicht be­klei­det mit ei­ner an­de­ren Frau vor­fin­de, wer­de ich mir DANN da­zu Ge­dan­ken ma­chen. Vor­her nicht. Wir ha­ben ein ein­zi­ges Mal ge­mein­sa­men Sport ver­sucht. Ar­ne hat­te mich ge­fragt, ob ich Lust auf ei­ne Rad­tour hät­te. Hat­te ich. Als er klin­gel­te, hat­te ich mein Hol­land­rad mit Drei-Gang-Schal­tung schon vor die Tür ge­stellt. Er stand da mit Rad­ler­ho­se (iiii­ih), Helm, Hand­schu­hen und ei­nem Renn­rad. Wir hat­ten uns ge­gen­sei­tig an­ge­se­hen und ge­lacht. Die Tour führ­te dann nur zur nächs­ten Eis­die­le. Für mich ist es kein Pro­blem, wenn er frei­tags ein Spiel hat und am Wo­chen­en­de auf ir­gend­ei­nem See Was­ser­ski aus­pro­bie­ren will. Ich ha­be ger­ne viel Zeit für mich. Ich wür­de jetzt ger­ne be­haup­ten, dass ich dann Her­mann Hes­se oder Faust 1 und 2 le­se. Das stimmt lei­der nicht. Ich las­se mich ein­fach ger­ne durch den Tag trei­ben. Dann ha­be ich plötz­lich das drin­gen­de Ver­lan­gen, ein Lied von Sil­ly zu hö­ren, das auf ir­gend­ei­ner selbst ge­brann­ten CD aus dem letz­ten Jahr­hun­dert ist. Die muss ich dann erst fin­den. Oder ich be­pflan­ze al­le Blu­men­töp­fe auf mei­nem Bal­kon neu und kau­fe kurz­ent­schlos­sen noch ein paar Qua­drat­me­ter Kunst­ra­sen da­zu. Oder ich ha­be auf dem Sperr­müll ei­nen tol­len Holz­stuhl ge­fun­den, den ich noch ab­bei­zen will. Oder ich te­le­fo­nie­re und über­le­ge da­bei, ob ich nicht ei­ne Wand mei­nes Zim­mers mit gel­ber Far­be und Wisch­tech­nik auf­pep­pen soll. Oder ich ma­che Lis­ten. Das lie­be ich. Ich schrei­be auf, was ich nächs­te Wo­che al­les er­le­di­gen will. Wen ich zu mei­ner nächs­ten Ge­burts­tags­par­ty ein­la­de. Wem ich un­be­dingt mal wie­der mai­len will. Was ich wem zu Weih­nach­ten schen­ke. Ich lie­be mei­ne Lis­ten. Ich ma­che auch im­mer klei­ne Sym­bo­le davor. Und wenn ich was er­le­digt ha­be, ma­che ich ei­nen Ha­ken rein. Das sieht so struk­tu­riert aus. Ich ha­be ein­fach kei­ne Zeit, Ar­ne auf den We­cker zu fal­len. Ich glau­be, das ge­fällt ihm am bes­ten.

 

 

Ich star­re auf mei­ne neu­en Schu­he. Be­son­ders zu dem Homer-Simp­son-Schlaf­an­zug se­hen die brau­nen Mons­ter al­bern aus. Die Ver­käu­fe­rin hat­te ge­sagt, ich müs­se sie auf je­den Fall ein­lau­fen, ehe ich da­mit auf den Berg gin­ge. Ich sit­ze sie jetzt erst­mal ein. Viel­leicht hilft das ja auch schon. Dass die­se Schu­he ei­nen schlan­ken Fuß ma­chen, kann man auf je­den Fall nicht be­haup­ten. Im Ge­gen­satz zu den Riem­chen-San­da­len, die Li­sa sich am Nach­mit­tag bei un­se­rem ul­ti­ma­ti­ven Ur­laubs-Ein­kaufs­bum­mel ge­kauft hat. Ei­gent­lich wür­de ich jetzt lie­ber ih­re neu­en Er­run­gen­schaf­ten in mei­nem Kof­fer wis­sen. Das kur­ze Blüm­chen­kleid, die är­mel­lo­se Blu­se und das gro­ße Tuch, das von Strand­la­ken bis zu Wi­ckel­kleid al­les dar­stel­len kann. Ich bin jetzt im Be­sitz von kack­far­be­nen Wan­der­schu­hen und ei­ner Trek­king­ho­se im Ge­gen­wert von an­dert­halb Fri­seur­be­su­chen.