Für meine liebe Katze SPIDER,

geboren in Palisades, New York,

jetzt wohnhaft in Positano,

und meine Zellengenossin bei der

Niederschrift dieses Romans.

Es war Dienstag nachmittag, fünf nach halb vier, und die Insassen des Staatsgefängnisses kehrten aus den Werkstätten in ihre Zellen zurück. In ungebügelten, fleischfarbenen Sträflingsanzügen, jeder mit einer Nummer auf dem Rücken, strömten die Männer durch den langen Korridor von Block A, umsummt von gedämpftem Stimmengemurmel, obwohl eigentlich keiner mit seinem Nachbarn sprach. Es war ein seltsamer, unmelodischer Chor, der Carter am ersten Tag Angst eingejagt hatte – in seiner Naivität hatte er damals tatsächlich jeden Moment mit einer Häftlingsrevolte gerechnet –, aber mittlerweile nahm er das Geräusch als Eigenheit dieses einen oder vielleicht aller Gefängnisse. Die Zellentüren im Erdgeschoß und auf den vier Etagen darüber standen offen, und die Männer verschwanden einer nach dem anderen in ihren Zellen, bis der Korridor fast leer war. Jeder hatte jetzt fünfundzwanzig Minuten, um sich am Becken in der Zelle zu waschen, bei Bedarf ein frisches Hemd anzuziehen, sofern er eins hatte, einen Brief zu schreiben oder über die Kopfhörer in das Musikprogramm hineinzuhören, das zu dieser Zeit immer lief. Um vier läutete die Glocke zum Abendessen.

Philip Carter ging langsam, weil ihm vor dem Anblick und der Gesellschaft seines Zellengenossen Hanky

Hanky saß auf dem Rand seiner unteren Pritsche und hantierte mit seinem unvollständigen Schmuddelkartenspiel.

Carter nickte ihm zu und sah auf das bandagierte Gelenk. »Wie geht’s deinem Fuß?« Er knöpfte sich das Hemd auf und steuerte direkt auf das Waschbecken zu.

»So la-la. Auftreten kann ich immer noch nicht.«

Hanky hob am Fußende der Pritsche die Matratze hoch und zog zwei Schachteln Camel hervor, die er dort versteckt hatte. Carter registrierte sie im Umdrehen, während er sich mit seinem kleinen, groben Handtuch abtrocknete.

Hanky war Nichtraucher. Die Wochenration von vier Schachteln kauften die Insassen von ihrem eigenen Geld: sie verdienten vierzehn Cent am Tag, und die Zigaretten kosteten zweiundzwanzig Cent pro Schachtel. Hanky sparte seine Ration immer auf und verkaufte sie anderen Sträflingen gegen ein Aufgeld. Die Aufseher wußten von Hankys Nebenverdienst und drückten ein Auge zu, weil er ihnen ab und an auch eine Schachtel oder sogar einen Dollar zusteckte.

»Tust du mir einen Gefallen, Cart? Bring die zu Nummer dreizehn hier unten und zu Nummer achtundvierzig in der dritten Etage. Eine für jeden. Ich mag nicht so weit laufen. Sie sind schon bezahlt.«

»Klar.« Carter ergriff sie mit der einen Hand und knöpfte sich das Hemd mit der anderen wieder zu.

Ein alter Schwarzer mit weißen Haaren saß auf der unteren Pritsche.

»Zigaretten?« fragte Carter.

Der Schwarze hob die knochige Hüfte ein Stück hoch und zog einen schmalen Zettel aus der Hosentasche. Mit steifen schwarzen Fingern drückte er Carter Hankys Quittung in die Hand.

Carter schob sich das Papier in die Tasche, warf eine Schachtel Camel auf die Pritsche und ging hinaus. Er trabte durch den Korridor weiter zur Treppe nach oben. In diesem Moment kam der Aufseher, den alle Moony nannten – eigentlich hieß er Moonan –, mit raschen Schritten stirnrunzelnd auf ihn zu. Carter hielt die andere Zigarettenschachtel in der Hand. Es war klar, daß Moony sie auch sah.

»Na, Zigaretten austragen?« Moonys langes, schmales Gesicht verzog sich noch mehr. »Als nächstes bringst du den Leuten auch noch Zeitungen und die Milch, was?«

»Ich mache das bloß für Hanky, der hat sich den Fuß verknackst.«

»Her mit den Händen!« Moony griff nach den Handschellen an seinem Gürtel.

»Ich habe die Zigaretten nicht geklaut. Fragen Sie doch Hanky.«

»Die Hände her!«

Carter streckte die Hände aus.

Moony ließ die Handschellen um die Gelenke klicken. Im selben Augenblick gingen ganz in der Nähe zwei

»Rüber zum Ende vom Block!« sagte Moony laut.

Als er Carter angehalten hatte, war es in den zwei oder drei Zellen, von denen aus man sie sehen konnte, ganz still geworden, und diese Stille breitete sich nun im gesamten Erdgeschoß aus. Carter marschierte los, Moony hinter ihm. Vor ihnen, am Ende des Korridors, waren zwei Treppenaufgänge in den nächsten Stock, daneben die vergitterte Tür des Aufzugs, die Carter bisher nur zweimal hatte aufgehen sehen, wenn Leute nach oben auf die Krankenstation gebracht worden waren, und dann noch zwei blanke Metalltüren, die direkt in die Mauer eingelassen und mit großen runden Schlössern versehen waren. Die eine führte in den benachbarten Zellenblock B, die andere in den sogenannten Bau. Moony trat einen Schritt vor und löste klappernd das große Schlüsselbund vom Gürtel.

Ein leises, kollektives Stöhnen erhob sich von den Sträflingen, die der Szene zusahen, ein Raunen, so körperlos wie ein Windhauch.

»Was ist los, Moony?« Diese selbstsichere Stimme konnte nur einem anderen Aufseher gehören, das wußte Carter, ehe er sich umgedreht hatte.

Die Stufen führten nach unten. In den Bau.

Carter hielt nach einigen Stufen kurz inne. Vom Bau hatte er schon einiges gehört. Auch wenn die anderen übertrieben – und sie konnten ja nur übertrieben haben –, war das eine Folterkammer. »Aber hören Sie, was ich da angestellt hab … ich wollte doch nur Hanky einen Gefallen tun … das sind doch höchstens ein paar Strafpunkte, oder?«

Moony und Cherniver, der sich ihnen angeschlossen hatte, kicherten überheblich, als hätten sie einen Schwachsinnigen vor sich.

»Los, vorwärts«, gab Moony zurück. »Du hast schon mehr Strafpunkte zusammen, als du oder ich zählen können.« Er schubste ihn weiter.

Carter wahrte mühsam das Gleichgewicht und stieg dann weiter abwärts, sorgfältig auf die Stufen achtend; wenn er stolperte, könnte er den Sturz mit gefesselten Händen nur schwer abfangen. Auch am Einlieferungstag war er gestürzt, und damals hingen seine Handschellen an einem schweren Ledergürtel fest. Übrigens hatte er tatsächlich viele Strafpunkte, aber das lag vor allem daran, daß er noch nicht genau wußte, was man nun eigentlich durfte und was alles verboten war. Es gab Strafpunkte, wenn man beim Gänsemarsch in die Kantine aus dem Tritt kam, wenn man auf dem Weg zu den Werkstätten sprach oder sich auch nur entschuldigte (auf dem Rückweg wiederum durfte man das), sich zu ganz bestimmten Zeiten kämmte oder irgendwelche Besucher (egal, ob Mann oder Frau) durch die

Carters Fuß ertastete ebenen Steinboden. Die Luft war ungewöhnlich feucht und stank vertraut nach abgestandenem Urin.

Moony hatte eine Taschenlampe, leuchtete damit aber nur für sich und Cherniver, während Carter im Dunkeln vorausging. Rechts und links konnte er jetzt die kleinen Zellentüren ausmachen, von denen er schon gehört hatte;

»… den Gummischlauch?« fragte Cherniver leise.

»Nein, etwas Härteres. So, da wären wir. Halt! Da hinein!«

Sie standen vor einer türlosen Zelle, deren Eingangsöffnung sehr hoch war. Als Carter eintrat, hörte er aus einer Nachbarzelle ein Ächzen oder Stöhnen und ein Schnaufen. Also war mindestens noch ein weiterer Mensch hier unten, was Carter irgendwie beruhigend fand. Verglichen mit der Zelle, die Carter mit Hanky teilte, war dieser Raum riesengroß, doch er enthielt weder Pritschen noch Stühle, noch ein Klosett, nur einen kleinen runden Abfluß in der Mitte. Die Wände waren nicht aus Stein, sondern aus Metall, schwarzgrau mit rötlichem Rostanflug. Dann bemerkte Carter zwei Ketten, die von der Decke herabhingen und in schwarzen Schlaufen endeten.

»Hände her!« befahl Moony.

Carter hielt ihm die Hände hin.

Moony nahm ihm die Handschellen ab. »He, Cherny, kannst du einen Hocker auftreiben?«

»Klar«, sagte Cherniver, knipste seine Taschenlampe an und ging hinaus.

Er kam zurück mit einem viereckigen Holzschemel, der

»Los, hinauf!« befahl Moony.

Carter kletterte hinauf, Moony hinterher. Noch ehe es ihm befohlen wurde, hob Carter die Hände hoch. Die Lederschlaufen waren innen mit Gummi bezogen und hatten Schnallenverschlüsse.

»Daumen!« befahl Moony.

Gehorsam drehte Carter die Daumen nach oben, und erst da wurde ihm schlagartig klar, was Moony vorhatte. Moony legte die Schlaufen um die unteren Daumenknochen, dann zog er sie straff zu. Die Riemen waren auf der ganzen Länge im Zentimeterabstand gelocht.

Moony stieg hinunter. »Hocker wegstoßen!«

Carters Hände waren so hoch oben aufgehängt, daß er bereits auf Zehenspitzen stand und nicht auch noch den Schemel wegstoßen konnte.

Moony versetzte dem Schemel einen Tritt, so daß er mehrere Meter über den Boden schlitterte und dann umkippte. Carter baumelte. Der erste stechende Schmerz ging ihm durch Mark und Bein. Das Blut schoß ihm in die Daumenenden. Er hing mit dem Rücken zu den Aufsehern, und er machte sich auf einen Schlag gefaßt.

Moony lachte auf, dann trat ihn einer der beiden gegen den Oberschenkel, so daß Carter vor- und zurückpendelte und sich dabei leicht zu drehen begann. Als nächstes traf ihn ein Stoß ins Kreuz. Carter zwang sich, nicht aufzustöhnen. Er hielt den Atem an. Der Schweiß rann ihm von den Schläfen die Backenknochen hinab. Seine Ohren dröhnten. Er schnupperte Zigarettenrauch. Ob sie ein

Etwas klatschte ihm in den Rücken. Wasser rauschte vor ihm über den Steinboden, ein Eimer kollerte davon. Alles geschah wie in Zeitlupe. Er fühlte sich schwerer als sonst, gleichsam als hätten sich ihm die beiden Aufseher an die Beine gehängt.

»Ach, Hazel«, murmelte Carter.

»Hazel?« wiederholte der eine Aufseher.

»Seine Frau. Er kriegt jeden Tag Post von ihr.«

»Na, heute bestimmt nicht, das steht fest.«

Carter hatte das Gefühl, die Augen würden ihm aus den Höhlen quellen. Er versuchte zu blinzeln. Seine Augen fühlten sich trocken und riesengroß an. Er hatte eine flüchtige Vision von Hazel, die händeringend und gereizt in seiner Zelle vor ihm auf und ab ging, ihn hie und da ansah und etwas sagte, das er nicht hören konnte.

Die Szene wechselte zur Gerichtsverhandlung. Wallace Palmer. Wallace Palmer war tot. Nun, dann sagen Sie uns doch bitte, was er mit dem Geld gemacht hat! … Kommen Sie schon, Mr. Carter, Sie sind doch ein intelligenter Mann, Ingenieur und Akademiker … ein gebildeter New Yorker … (Euer Ehren, das ist irrelevant.) Aber man unterschreibt

»Hazel!« schrie Carter, und das war das Ende.

Mehrere Eimer Wasser ergossen sich über ihn.

Er vermeinte hinter sich ein Johlen zu hören. Johlen und Gelächter. Dann verstummte das Geräusch, und er war wieder allein. Ihm wurde klar, daß das Johlen nichts anderes war als das Pulsieren seines eigenen Bluts in den Ohren. Es kam ihm vor, als müßten seine Daumen inzwischen schon über einen halben Meter lang sein. Er war nicht tot. Aber Wallace Palmer war tot. Palmer, der hätte reden können, wenn er nicht tot gewesen wäre. Palmer war aus dem zweiten Stock vom Gerüst gefallen und neben einem Betonmischer aufgeschlagen. Inzwischen war das Schulgebäude fertig. Carter sah es vor sich, dunkelrot, vier Etagen hoch. Es hatte eine weite U-Form, etwa so wie ein Bumerang. Oben drauf flatterte die amerikanische Flagge. Das Haus stand, aber es war schlecht gebaut. Der Beton war

Zwei Männer kamen und holten ihn herunter. Carters

Moony antwortete der Stimme: »Ständig tanzt er aus der Reihe … Andauernd. Was soll man mit einem Kerl wie dem anfangen? … Sie sollten meinen Beruf haben, Doktor … Bitte, dann erzählen Sie es eben dem Direktor. Werd ihm selber einiges erzählen.«

Wieder sprach der Arzt und hob dabei Carters Handgelenk. »Jetzt sehen Sie sich das an!«

»Ach was, gibt Schlimmeres«, sagte Moony.

»Wie lange hat er gehangen?«

»Keine Ahnung. Habe ich ihn vielleicht aufgehängt?«

»Nicht? Wer denn dann?«

»Keine Ahnung.«

Ein Mann mit einer runden Hornbrille und einem weißen Kittel wusch Carter mit einem großen feuchten Lappen das Gesicht ab und drückte ihm ein Paar Tropfen auf die Zunge.

»… Morphium, Pete«, sagte der Arzt. »Geben wir ihm gleich dreißig Milligramm.«

Sie rollten ihm den Ärmel hoch und gaben ihm eine Spritze. Der Schmerz verebbte rasch, wie eine zurückweichende Flut, wie ein versickerndes Meer. Wie im Himmel. Ein wohltuendes, schläfriges Klingeln erfüllte seinen Kopf, ein leichtfüßiger Tanz, sanfte Musik. Sie machten irgend etwas mit seinen Händen, und darüber schlief er ein.

Als Carter erwachte, lag er auf dem Rücken in einem weißen Bett, ein Kissen unter dem Kopf. Die Arme ruhten auf der straff gespannten Bettdecke, und seine Daumen waren riesige Klumpen aus Bandagen, ebenso groß wie die ganze Hand. Er sah sich um. Das linke Bett war leer, im rechten schlief ein Schwarzer, der den Kopf verbunden hatte. Der Schmerz sickerte in seine Daumen zurück, und ihm wurde klar, daß er von diesem Schmerz aufgewacht war. Er wurde immer stärker, und das erschreckte ihn.

Ein Arzt kam herein. Carter musterte ihn mit vor Angst weit aufgerissenen Augen, und als er merkte, daß man ihm die Angst ansah, zwinkerte er. Der Doktor lächelte. Er war ein kleiner dunkelhaariger Mann von Mitte Vierzig.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte ihn der Arzt.

»Die Daumen tun mir weh.«

Der Arzt nickte, immer noch leise lächelnd. »Ja, die sind auch übel strapaziert worden. Ich geb Ihnen noch eine Spritze.« Er sah auf seine Armbanduhr, runzelte die Stirn und ging aus dem Zimmer.

Als er mit der Spritze zurückkam, fragte ihn Carter: »Wie spät ist es?«

»Halb sieben. Sie haben ordentlich durchgeschlafen.«

Carter gab keine Antwort. Nach der Helligkeit draußen mußte es halb sieben Uhr abends sein. »Welchen Tag haben wir heute?«

»Donnerstag. Rührei? Eingeweichter Toast? Etwas anderes sollten Sie einstweilen nicht probieren – Eiskrem? Hätten Sie darauf Lust?«

Carters Gehirn registrierte träge, daß dies die freundlichste Stimme war, die er seit seiner Einweisung ins Gefängnis gehört hatte. »Rührei.«

Carter blieb zwei Tage auf der Krankenstation, dann nahm man ihm die Verbände ab. Seine Daumen waren unförmig und krebsrot und schienen gar nicht zu ihm, zu seinen Händen, zu gehören. Die Daumennägel wirkten in diesen Fleischmassen winzig klein. Und es tat immer noch weh. Alle vier Stunden bekam er eine Morphiuminjektion, doch er hätte sie lieber in kürzeren Abständen gehabt. Zwar gab sich der Arzt betont hoffnungsfroh, doch Carter merkte deutlich, daß er sich Sorgen machte, weil die Schmerzen nicht abklangen. Der Arzt hieß Dr. Stephen Cassini.

Strafpunkte hin oder her, am Sonntag durfte Carter keinen Besuch haben, weil er in der Krankenstation lag.

Am Sonntag um halb zwei, als die Besuchszeit begann, stellte sich Carter Hazel in der großen graugrünen Vorhalle im Erdgeschoß vor, wie sie sich beschwerte: Sie sei gekommen, um ihren Mann zu besuchen, und sie werde nicht eher gehen, bis sie ihn auch gesehen hätte. Carter hatte Dr. Cassini einen Brief diktiert, in dem stand, der Besuchstag

Er holte ihre beiden letzten Briefe unter dem Kissen hervor, hielt sie mit zwei Fingern fest und las sie noch einmal.

… Timmie hält sich recht gut, Schatz, mach Dir seinetwegen keine Sorgen. Ich rede ihm jeden Tag gut zu und hoffe, daß es nicht allzu belehrend klingt. In der Schule hänseln sie ihn natürlich alle, das liegt ja wohl leider in der Natur des Menschen …

Und im letzten Brief:

Liebster Phil,

habe gerade über eine Stunde lang mit Mr. Magran gesprochen, Du weißt, das ist der Rechtsanwalt, den David schon immer statt Tutting empfohlen hat, und er ist mir sehr sympathisch. Er redet vernünftig und ist optimistisch, aber nicht (wie Tutting) so optimistisch, daß

Magran will auch an den Gouverneur persönlich schreiben, Du erhältst dann eine Kopie. Du darfst Dir keine Sorgen machen. Ich weiß genau wie Du, daß es nicht für ewig ist, nicht einmal für so lange. Sechs bis zwölf Jahre! Es werden nicht einmal sechs Monate werden …

Magran würde mindestens dreitausend Dollar Honorar haben wollen, dazu die dreitausend für die Abschrift der Protokolle, und damit wäre ihr Bargeld so ziemlich aufgebraucht. Alle diese Summen klangen astronomisch. Seine Kaution zum Beispiel: fünfundsiebzigtausend Dollar, die

Und jetzt waren seine Daumen ausgerenkt. Das war die ganze bizarre Wahrheit. Der Arzt hatte zwar einen anderen Begriff gebraucht, aber im wesentlichen lief es darauf hinaus, und Dr. Cassini zufolge würde selbst eine Operation nur wenig nützen. Das Gefängnis – von dem Carter noch vor kurzem geglaubt hatte, ein paar Wochen darin wären gut auszuhalten und nur gerade eine Episode in seinem Leben – hatte ihn nun für alle Zeit gezeichnet. Die Daumengrundgelenke würden nie mehr voll beweglich werden, und die Delle in der Haut ging auch nicht mehr weg. Er würde mit diesen komisch aussehenden Daumen herumlaufen, und viel Kraft würde er auch nicht darin haben. Es brauchte keine große Phantasie, um sich vorzustellen, was sie so zugerichtet hatte. Nie wieder würde er beim Bridge die Karten so flink wie früher austeilen oder für Timmie Pfeil und Bogen schnitzen können – aber bis er herauskam, dürfte Timmie das Interesse für Pfeil und Bogen ohnehin verloren haben. Gleich am Sonntag, schon in der ersten Stunde, nachdem ihm die Verbände abgenommen worden waren, hatte er an Hazel geschrieben, den Füller ungelenk zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, und nun mußte er ihr erzählen, was passiert war, so scheußlich es auch klang, und seine sonderbare Handschrift

Am Sonntagnachmittag gegen vier erschien Dr. Cassini zur Visite bei den gut vierzig Patienten der Station. Als er zu Carter kam, fragte er: »Nun, Carter, möchten Sie versuchen, ein bißchen zu gehen?«

»Aber sofort«, sagte Carter und setzte sich auf. Schmerzen durchzuckten seinen Rücken, doch er ließ sich nichts anmerken. Er wankte zum Fuß des Bettes und mußte sich dabei an der ausgestreckten Hand des Arztes festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Carter war froh, sich wieder setzen zu können. Ihm war schwindlig. »Wann geht das aus meinen Beinen wieder heraus?«

»Die Gerinnsel? Mit der Zeit. Und durch Massieren. Gehen Sie ruhig ein bißchen am Fuß Ihres Bettes auf und ab, aber einstweilen nicht mehr«, sagte Dr. Cassini und ging zum nächsten Patienten.

Carter saß keuchend da, wie nach einem Sprint. Er erinnerte sich an Dr. Cassinis Bemerkung vom Vortag: Er sei immerhin schon dreißig und könne nicht erwarten, sich von einem solchen Vorfall ebenso rasch wie ein Neunzehnjähriger zu erholen. Dr. Cassini hatte eine so fröhlich-sachliche Art, über den »Bau« und dessen Opfer zu reden, die er schon behandelt hatte, daß Carter das bizarre Gefühl bekam, nicht in einem Gefängnis, sondern in einem Irrenhaus zu sein – einem Irrenhaus, in dem die Wärter die Verrückten waren, wie in dem alten Witz. Dr. Cassini schien die Vorgänge im Haus in keiner Weise zu bewerten. Oder etwa doch? Dr. Cassini hatte ihn am Vortag gefragt, weswegen er hier sei, und Carter hatte es ihm erzählt. »Bei den meisten Burschen hier frage ich gar nicht erst nach«, hatte Dr. Cassini gesagt. »Da weiß ich es schon vorher: Einbruch, Betrug, ›Selbstbedienung‹, Autodiebstahl, aber Sie sind

Immer wieder las er Hazels letzte vier Briefe: den einen, der in seiner Tasche gewesen war, als sie ihn an den Daumen aufgehängt hatten, und die drei, die seither gekommen waren. Carter hielt sie mit den Fingern fest, während es in seinen dicken Daumen im Gleichtakt pochte, als wären sie stumme Trommeln zwischen seinen Augen und dem Papier. Auf ihren letzten Brief, den fröhlichsten bisher, hatte Hazel einen Tropfen ihres Parfums getan. Der Pfleger Pete kam mit der Morphiumspritze und bereitete schweigend die Injektion vor. Pete hatte nur ein Auge, das andere war eine verschrumpelte Höhle – ob infolge einer Krankheit oder einer Verletzung, wußte Carter nicht. Die Nadel glitt in seinen Arm. Schweigend entfernte sich Pete, und Carter wandte sich wieder seinen Briefen zu. Während sich das Morphium in sein Blut stahl, hörte er auf einmal Hazels Stimme ihren eigenen Brief vorlesen, und so ging er all ihre Briefe nochmals durch, als wären sie ihm völlig neu. Er hörte sogar Timmies Stimme, wie er sie unterbrach, und wie Hazel dann sagte: »Einen Augenblick noch, mein Spatz, siehst du nicht, daß ich an Daddy schreibe? – Ach so, dein Baseballhandschuh. Na, da liegt er doch, direkt vor dir. Da auf dem Sofa. Dort hat er sowieso nichts zu suchen. Nimm

Carter sah seine Träume, als spielten sie sich auf einer Bühne ab. Im Theater war er allein. Er war der einzige Zuschauer. Niemand hatte die Aufführung je gesehen. Und es würde sie auch niemand sehen, außer ihm. Die Stimmen der anderen Häftlinge waren ausgeblendet. So hatten ihm seine malträtierten Daumen wenigstens diese paar Tage der Ruhe geschenkt. Ein Schmerzenslaut von irgendwo, das Klappern einer Bettpfanne, all das klang wie Musik im Vergleich zu den Ausscheidungsgeräuschen um halb sieben Uhr morgens im Zellenblock, dem gellenden Keckern in der Nacht, das an Frauengekicher erinnerte, oder den nicht minder befremdlichen Lauten von Männern, die ihrem Trieb Erleichterung verschafften. Wer waren da die Irren?, fragte sich Carter. Wer hier drinnen? Und wie viele von den Tausenden von Geschworenen und Richtern da draußen, die diese sechstausend Männer hierhergeschickt hatten?

Erst am Mittwoch konnte Carter wieder gehen. Dr. Cassini beschaffte ihm einen neuen Sträflingsanzug, der besser paßte als der alte. Er war noch immer sehr schwach, und das machte ihm Sorgen.

»Das ist nicht ungewöhnlich«, sagte Dr. Cassini.

Carter nickte und staunte wieder einmal, wie nüchtern der Doktor über den »Bau« sprechen konnte. »Sie sagten, Sie hätten schon ähnliche Fälle gehabt – so wie meinen?«

»Ja, ein paar schon. Ich bin immerhin schon vier Jahre hier … Hören Sie, ich finde es auch nicht richtig, was die da machen. Ich habe auch schon an den Direktor geschrieben. Der verspricht, sich darum zu kümmern. Und vielleicht feuert er sogar einmal einen Aufseher, oder er versetzt ihn.« Dr. Cassini schlug die Hände über dem Kopf zusammen, dann schob er sich gereizt die Hornbrille zurecht und zwinkerte Carter zu. »Gegen Behörden kommt man einfach nicht an, es ist zum Verrücktwerden. Ich bleibe ja ohnehin nicht mehr lange hier.« Er nickte heftig, wie zur eigenen Bestätigung, was Carter sofort mißtrauisch machte. »Zeit für Ihre nächste Injektion, wie?«

Auch Carter schrieb an Direktor Joseph J. Pierson, wegen Moonan und Cherniver. Er hatte sich vorgenommen, möglichst knapp, ruhig und sachlich zu bleiben. Das

Sehr geehrter Herr Direktor Pierson,

mit Ihrer Erlaubnis möchte ich Sie davon unterrichten, daß man mich am Nachmittag des 1. März in einem der Kellerräume der Strafanstalt fast achtundvierzig Stunden lang an den Daumen aufgehängt hat. Wenn ich vor Schmerzen in Ohnmacht fiel, wurde ich jedesmal durch kalte Wassergüsse wieder zur Besinnung gebracht. Als Folge davon sind meine Daumen für immer verstümmelt, da die Grundgelenke aus den Pfannen gerissen wurden. Verantwortlich dafür waren die Aufseher Mr. Moonan und Mr. Cherniver. Mit allem Respekt ersuche ich Sie darum, in dieser Angelegenheit Ihre Autorität walten zu lassen.

Hochachtungsvoll,

Philip E. Carter (Nr. 37765)

 

PS: Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir eine vollständige Liste der Gefängnisregeln und -vorschriften zukommen ließen, damit ich in Zukunft eine Anhäufung von Strafpunkten vermeiden kann.

Von einem der Häftlinge hatte Carter gehört, Direktor Pierson bestätige zwar immer sehr gewissenhaft den Empfang jedes Briefes, eine eigentliche Antwort bekomme man aber nie darauf. Trotzdem warf Carter seinen Brief in den Schlitz mit der Aufschrift »Anstaltsintern«, und damit

Er machte sich wieder einmal an die Lektüre von Sturmhöhe und schrieb an Hazel:

Mein Liebes,

stell Dir vor, da sitze ich im Gefängnis und lese Emily Brontë! So schlimm ist es also gar nicht. Bitte mach Dir keine Sorgen, vor allem werde bloß nicht wütend, wenn’s geht. Ich war während der ersten Wochen hier ständig wütend, und es hat mir gar nichts eingebracht, nur lauter Strafpunkte und die Antipathie der Aufseher. Am besten läßt man den Ärger gar nicht an sich heran – soweit das möglich ist. Du weißt schon, so ähnlich wie die Yogis oder diese Burschen vom gewaltlosen Widerstand. Unser Gegner ist mächtiger als wir, das muß uns klar sein.

Bin sehr froh, daß Timmie jetzt besser im Lesen ist und daß er in der Schule nicht mehr so gehänselt wird. Hoffentlich stimmt das auch. Würde er es Dir auch bestimmt erzählen? Ich bin mir da nämlich nicht sicher.

Helfe in der Krankenstation mit, so gut ich kann – Bettpfannen wechseln und derlei erfreuliche Aufgaben. Mach Dir keine Sorgen wegen meiner Hände. So ungelenk schreibe ich gar nicht, wie Du siehst. Ich liebe Dich, mein Schatz,

Phil

Das Schreiben war die reinste Schwerarbeit, und die Schrift sah ziemlich schlecht aus – wackelig und fast alles Einzelbuchstaben.

»Mista Carter«, sagte der Schwarze im Nachbarbett flehentlich, »Mista Carter …«

Carter trat ans Fußende seines Bettes, hob mit den Handballen die Bettpfanne, die auf einem Tischchen dort stand, und schob sie unter die Decke.

»Danke schön, Sir.«

»Bitte, bitte«, murmelte Carter, obwohl ihn der Schwarze gar nicht hören konnte.

Am Sonntag rasierte sich Carter besonders sorgfältig. Es gehörte zu den großen Vorteilen der Krankenstation, daß er sich täglich duschen und rasieren konnte, statt zweimal wöchentlich gemeinsam mit den anderen Häftlingen zu den Waschräumen und zum Friseur getrieben zu werden.

Er betrachtete sich im Spiegel neben der Stationstür und versuchte sich vorzustellen, wie er auf Hazel wirkte. Er hatte Ringe unter den Augen, wenn auch nicht allzu tiefe. Sein Gesicht war eindeutig schmaler geworden. Und er sah nicht mehr wie dreißig aus, eher wie fünfunddreißig. Sogar seine Lippen schienen schmaler und angespannter, der Kopf wirkte hagerer, aber das lag natürlich am Häftlingshaarschnitt. Seine blauen Augen sahen ihn an wie die eines Fremden, müde, hart und irgendwie argwöhnisch.

Dr. Cassini klopfte ihm im Vorbeigehen auf die Schulter. »Da haben Sie sich ja piekfein zurechtgemacht, was, Philip?«

Carter nickte grinsend, und plötzlich schlug sein Herz vor Aufregung schneller. Eine schwindelerregende Vorfreude ergriff ihn, als ob die Zeit zurückgedreht wäre und er mit dem Taxi, einen Blumenstrauß auf dem Schoß, zu seiner

»Wollen Sie noch eine Spritze haben?«

»Nein, das geht schon so, danke.« Seine Daumen begannen gerade wieder leicht zu schmerzen, aber er wollte jetzt, um halb eins, nicht schon wieder eine Injektion. Die letzte hatte er um zehn bekommen, und er fand, das sollte bis zehn vor zwei Uhr reichen, wenn Hazels Besuch vorbei sein würde. Um zehn nach eins allerdings war das stechende Pulsieren in seinen Daumen so heftig geworden, daß Carter versucht war, sich schnell von Pete eine Spritze geben zu lassen, und er hätte ihn auch einfach nur darum zu bitten brauchen, aber er beschloß, bei seinem Vorsatz zu bleiben, daß er keine Injektion haben wollte, kurz bevor er Hazel wiedersah. Er ließ sich von Pete die Daumen bandagieren, damit sie nicht so schockiert von dem Anblick wäre.

Mit dem Laufzettel, den Dr. Cassini und Clark, der Aufseher der Krankenstation, unterschrieben hatten, fuhr Carter im Fahrstuhl nach unten. Dreimal mußte er den Zettel zeigen, und jedesmal kam eine neue Unterschrift oder Paraphe hinzu, ehe er seinen alten Block A erreichte, an dessen anderem Ende sich der Eingang zum Besuchsraum befand. Inzwischen hatte er bereits weiche Knie.

Ein Stück weiter vorn sah Carter Hankys unförmige Gestalt auf der linken Seite des Korridors dahinschlurfen, wahrscheinlich auf dem Weg zu der Zelle, die sie bis vor kurzem noch geteilt hatten. Carter verlangsamte seinen Schritt, um Hanky nicht zu überholen oder von ihm

Carter entdeckte Hazel, als er etwa sechs Meter vom Käfig entfernt war. Sie ging zu dem Stehpult auf der rechten Seite des Warteraums und zeigte dem Beamten ihren Ausweis. Carter klopfte das Herz bis zum Hals, und er wandte sich langsam ab, damit der Aufseher, der gleich rechts von ihm an der Wand lehnte, ja nicht auf die Idee käme, er starre hier fremde Leute an.

»Santoz?« rief der Aufseher beim Eingang für die Häftlinge.

»Hier!« Einer der Männer marschierte los.

Mürrische, ausdruckslose und irgendwie neidische Gesichter beobachteten, wie Männer in weißen Hemden sich aus der trägen Masse im Korridor lösten, richtig lebendig wurden und mit ihren Laufzetteln in Richtung des Besuchsraums davoneilten.

»Carter?«

Der Aufseher nahm seinen Laufzettel entgegen, kritzelte etwas darauf und winkte ihn durch. Carter stieg die schwach erhellte Treppe hinunter. Sie führte in einen langen Raum, in dem mittendurch eine gläserne Trennwand verlief, mit einem Sims in Tischhöhe und unbequemen Stühlen zu beiden Seiten. Die Stühle waren fast alle besetzt. Der Besuchereingang lag am anderen Ende des Raumes, jenseits der Glaswand. In jeder Ecke stand ein bewaffneter Aufseher. Carter behielt beim Gehen die Besuchertür im Auge und wartete auf Hazel.

Dann kam sie herein, und er ging los, ohne den Blick von ihr zu lassen, in Richtung eines freien Stuhls auf ihrer Seite der Trennwand, deutete darauf und zog dann einen leeren Stuhl für sich selbst heran. Hazel trug ihren blauen Tweedmantel, dazu ein buntes Halstuch. Carter erschien sie als ein spektakulärer Farbfleck, strahlend und wunderschön, wie Blumen oder Vogelgefieder. Auf ihren roten Lippen lag ein Lächeln, aber ihr Blick war beunruhigt. Sie sah auf seine Hände.

Carter schob die Unterlippe vor und zuckte grinsend die Achseln. »Tut gar nicht mehr weh … Du siehst wunderschön aus.« Wegen der Glasscheibe mußte er laut und deutlich sprechen.

»Nein, nichts.« Carter schluckte und sah zur Wanduhr. Er saß ganz vorn auf der harten Stuhlkante. Ehe er sich’s versah, würden die zwanzig Minuten um sein, und er vergeudete bereits wertvolle Sekunden mit Schweigen – aber immerhin sah er Hazel vor sich. »Was macht Timmie?«

»Timmie geht es gut. Alles prima.« Hazel fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Du hast abgenommen.«