Der Autor

Michael Junge, geboren 1960 in Berlin, Verlagskaufmann, seit den Achtzigerjahren mit der Neuoffenbarung Jakob Lorbers vertraut.

Kontakt: junge.michael@hotmail.de

Literaturhinweise

Es gibt eine Vielzahl von Untersuchungen zu Jakob Lorber, darunter nicht nur religionswissenschaftliche Analysen, sondern auch Schriften aus anderen Fachrichtungen. Zum Weiterlesen seien insbesondere folgende – überwiegend lorberkritische – Werke empfohlen:

BÖHM, JOHANNA: Jakob Lorber. Eine kritische Durchsicht. o. O. 2011, online unter http://www.jakoblorber.de/inhalte/jakoblorber.pdf (12.08.2013).

DAXNER, ANDREA: Wi(e)der die Wahrheit. Neuoffenbarungsbewegungen am Beispiel der Lorber-Bewegung. Eine Herausforderung für Seelsorge, Beratung und Forschung, Dissertation, Universität Wien, 2003.

DIEMLING, PATRICK: Neuoffenbarungen. Religionswissenschaftliche Perspektiven auf Texte und Medien des 19. und 20. Jahrhunderts. Dissertation, Universität Potsdam, 2012.

FINCKE, ANDREAS: Jesus Christus im Werk Jakob Lorbers. Untersuchungen zum Jesusbild und zur Christologie einer „Neuoffenbarung“. Dissertation (unveröffentlicht), Universität Halle-Wittenberg, 1992.

KÖNIG, HENRIKE: Jakob Lorber und die Sonnenheilmittel. Dissertation, Universität Graz, 1999.

NOACK, THOMAS: Die Neue Kirche und das Phänomen Jakob Lorber. Ein geschichtlicher Überblick mit einer persönlichen Stellungnahme. In: Offene Tore 55.2011,1, S. 21–31.

PÖHLMANN, MATTHIAS: Lorber-Bewegung – durch Jenseitswissen zum Heil? Konstanz 1994.

PÖHLMANN, MATTHIAS (Hrsg.): „Ich habe euch noch viel zu sagen… “ Gottesboten – Propheten – Neuoffenbarer. EZW-Texte Nr. 169, Berlin 2003.

RINNERTHALER, REINHARD: Zur Kommunikationsstruktur religiöser Sondergemeinschaften am Beispiel der Jakob-Lorber-Bewegung. Dissertation, Universität Salzburg, 1982.

STETTLER-SCHÄR, ANTOINETTE: Jakob Lorber. Zur Psychopathologie eines Sektenstifters. Dissertation, Bern 1966.

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Martin Luther und Jakob Lorber

Gottes Geist versus „die lebendige Stimme“

Fast vier Jahrhunderte liegen zwischen dem Mönch und Reformator Martin Luther (1483–1546) und dem Komponisten und Neuoffenbarer Jakob Lorber (1800–1864); Welten jedoch sind es, die sich zwischen ihren verschiedenen Glaubensverständnissen auftun.

Martin Luther studierte Rechtswissenschaft, trat ins Augustinerkloster ein und promovierte als 29-Jähriger zum Doktor der Theologie. Er studierte die Bibel umfassend und ließ sie zu sich sprechen, die Heilige Schrift sah er als die alleinige Quelle der Offenbarung Gottes und somit als Grundlage der protestantischen Theologie. Er lehrte, dass das Heil allein aus dem Glauben (sola fide) an Jesus Christus (solus Christus) und ohne Zutun von menschlichen Werken (sola gratia) erlangt wird; er gab die Heilige Schrift (sola scriptura) an das Volk zurück.

Luther nahm sich selbst als Sünder und zugleich als Begnadeter wahr. Er entdeckte das Evangelium als eine Kraft Gottes, die selig macht, und verkündete die Freude über die Frohbotschaft. Die Trinität war für Luther eine unumstößliche Glaubenstatsache. Er vertraute dem Heiligen Geist, ohne den nach seiner Überzeugung kein Glaube an Jesus Christus möglich ist. Man hat den Theologen nie leichtfertig über Gott reden hören.

Luther war auch ein begnadeter Musiker. Er dichtete und komponierte zahlreiche Lieder in deutscher Sprache – in dem Wissen, dass die Glaubenswahrheit über die Musik tief in die Seele dringt. Viele seiner Lieder werden noch heute in Gottesdiensten gesungen und zu Liedpredigten genutzt.

Seit Veröffentlichung seiner 95 Thesen im Jahr 1517 diente Luther als Reformator seiner neuen Glaubensüberzeugung noch 29 Jahre bis zu seinem Tod. Mutig verteidigte, vertrat und verkündete er seinen Glauben vor den Menschen – sei es vor Studenten, vor der Gemeinde oder auch vor den Landesfürsten –, selbst wenn er sich immer wieder mit Anfeindungen konfrontiert sah und Schicksalsschläge hinnehmen musste. Luthers Frau, die aus dem Kloster geflohene Nonne Katharina von Bora, war ihm gerade bei seinen persönlichen Problemen eine große Hilfe und seelische Stütze. Luthers reformatorische Grundsätze bilden das Fundament für Millionen von Christen.

Der Grazer Musiker und Mystiker Jakob Lorber stammte aus einer katholischen Bauernfamilie in der Untersteiermark. Früh interessierte er sich für religiöse Themen. Nachdem er als Lehrergehilfe und Organist in Marburg an der Drau tätig war, weckte ein Kaplan in St. Johann in ihm das Interesse am Priesterberuf. Lorber besuchte das Gymnasium, zunächst in Marburg, dann in Graz, bewarb sich erfolglos als Lehrer und wurde schließlich Musiker und Komponist. Später beschäftigte sich Lorber nachweislich mit freimaurerischem, spiritistischem und theosophischem Gedankengut. Er las neben Schriften von Jakob Böhme und Johann Tennhardt auch die kirchenkritischen Bücher von Johann Baptist Krebs alias Johann Baptist Kerning (1774–1851), der für die „Erkenntnis und Wiederbelebung einer prophetischen Kraft im Menschen“ plädierte. Zwar gehörte Lorber bis zu seinem Tod der katholischen Konfession an, distanzierte sich aber von der Kirche und praktizierte seinen Glauben nicht; vom Besuch der Messe wird nichts berichtet, und außer zu seinen Grazer Freunden und Förderern pflegte er keine Glaubensgemeinschaft. Lorber wird von Zeitgenossen als bescheidener, ruhiger und umgänglicher Mensch beschrieben.

Kurz bevor er Aussicht auf eine Festanstellung hatte, am 15. März 1840, vernahm Lorber erstmals eine „lebendige Stimme“ in der Gegend des Herzens, die ihn zum Schreiben aufforderte. Er war überzeugt, dass Jesus Christus selbst es ist, der ihm seine Worte diktierte, und bezeichnete sich als „Knecht des Herrn“.1 Im Zuge dieses „inneren Diktats“ schrieb Lorber in den verbleibenden 24 Lebensjahren geschätzte 10 000 Druckseiten, darunter sein unvollendetes zehnbändiges Hauptwerk „Das große Evangelium Johannis“. Verfasst in der 1. Person Singular, gibt Jesus darin einen detaillierten Bericht über seine drei Lehrjahre. Lorber hat den außerordentlichen Anspruch, den „wahren inneren Sinn“ des Johannes-Evangeliums aufzudecken; seine Erklärung bricht allerdings im 4. Kapitel nach dem 42. Vers ab.

Lorbers Freunde, aber auch kritische Zeitzeugen gaben an, dass Lorber beim Diktat keine Bücher genutzt habe, sie hätten nur eine Bibel gefunden. Dass er diese beim Diktat benutzt hat, ist nicht belegt. Widersprüchliche Aussagen finden sich ebenso zu der Frage, ob von Lorber oder von seinem Biograf Karl Gottfried Ritter von Leitner Ergänzungen oder Korrekturen vorgenommen wurden.2 Die Freunde von Jakob Lorber verbreiteten seine Werke zunächst handschriftlich; nach und nach entstanden lokale Lorber-Freundeskreise, aus denen schließlich die Lorber-Bewegung erwuchs.

Die Schriften Jakob Lorbers und das Phänomen der „lebendigen Stimme“ sind sowohl zu Lorbers Lebzeiten als auch nach seinem Tod kontrovers diskutiert worden – unter Anhängern wie unter Kritikern. Die einen bescheinigen ihm höchste Erleuchtung, die anderen halten ihn für geisteskrank. Das vorliegende Buch versteht sich nicht primär als Beitrag zu dieser Diskussion. Vielmehr geht es darum, anhand eines Quellenvergleichs exemplarisch zu zeigen, wie weit Lorbers Neuoffenbarung von der biblischen Botschaft entfernt ist und wie sie religiös Suchende letztlich von der Bibel wegführt.

1 Um 1920 taucht erstmals die Bezeichnung „Schreibknecht Gottes“ auf. Vgl. Diemling 2012, S. 164.

2 Vgl. dazu insbesondere Rinnerthaler 1982, S. 29–30.

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Das Johannes-Evangelium

Luthers Auslegung und Lorbers Erklärung im Vergleich

Luther bezeichnete das Johannes-Evangelium als das höchste aller Evangelien. Lorber hingegen beansprucht für sein neuoffenbarte Johannes-Evangelium, den von Gott diktierten „wahren inneren Sinn“ aufzuzeigen – „allen, die da würdig sind, daran teilzunehmen“ (Kapitel 1, Vers 3). Der folgende Quellenteil veranschaulicht detailliert den Gegensatz zwischen dem lutherischen und dem lorberschen Anspruch.

Die Auslegungen Martin Luthers und die Erklärungen Jakob Lorbers werden im Original dargestellt.3 Die einzelnen Verse sind mit einer Einschätzung versehen, jedes Teilkapitel endet mit einem Kommentar. So bleibt genügend Raum, sich selber den Werken zu stellen oder auch sie vollständig im Original zu lesen. Zum kritischen Reflektieren möge der Reichtum der dargestellten Aussagen ermutigen.

Große Unterschiede werden sich nicht nur auf inhaltlicher Ebene zeigen, sondern auch beim Blick auf den Umfang beider Werke: Lorbers Erklärungen sind um ein Vielfaches ausführlicher als Luthers Auslegung (vgl. Tabelle 1).

  Kapitel Verse
Biblisches Johannes-Evangelium, Kapitel 1 1 51
Lorbers Erklärung 9 133
Biblisches Johannes-Evangelium, Kapitel 2 1 25
Lorbers Erklärung 7 113
Biblisches Johannes-Evangelium, Kapitel 3 1 36
Lorbers Erklärung 8 102
Biblisches Johannes-Evangelium, Kapitel 4 1 54
Lorbers Erklärung 7 96

Tabelle 1: Textumfang von Luthers Auslegung und Lorbers Erklärung

Viele Worte sind also offenbar nötig, um den „wahren inneren Sinn“ zu vermitteln, wie Lorber bzw. die „lebendige Stimme“ es anstrebt. Ob dieser Anspruch tatsächlich erfüllt wird, soll der detaillierte Quellenvergleich zeigen.

2.1 Das erste Kapitel

2.1.1 Quellen und Einschätzungen

Lutherbibel, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 1, Vers 1

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

Erwin Mülhaupt (Hrsg.), D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Vierter Teil: Das Johannes-Evangelium mit Ausnahme der Passionstexte, Göttingen 1961, Seite 6 [Weihnachtspostille 1522]

Was meinet er für einen Anfang als den, davon Moses sagt: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erden“? Das ist der Anfang, da die Kreaturen ihr Wesen angefangen haben; sonst ist kein Anfang zuvor gewesen; denn Gott hat nicht angefangen zu sein, sondern er ist ewig. So folgt, daß das Wort auch ewig ist, dieweil es nicht angefangen hat im Anfang, sondern es war schon im Anfang, sagt hie Johannes. Es fing nicht an, sondern da alle Dinge anfingen, da war es schon, und sein Wesen ging nicht an, sondern es war dabei, da aller Dinge Wesen anging. Wie vorsichtig redet der Evangelist, daß er nicht sagt: Im Anfang ward das Wort, sondern: es war da und ward nicht. Es hatte einen anderen Ursprung seines Wesens als Werden oder Anfangen. Dazu spricht er: „Im Anfang.“ Wäre er vor der Welt gemacht, wie die Arianer wollten, so wäre er nicht im Anfang gewesen, sondern er wäre das Anfangen selber gewesen. Nun aber steht St. Johannes fest und klar: „Im Anfang war das Wort“, und er ist nicht das Anfangen gewesen. Woher hat St. Johannes solche Worte? Aus Mose, wie gesagt ist Genesis 1,3: „Gott sprach: Es werde ein Licht.“ Aus dem Text folgt handgreiflich dieser Text: „Im Anfang war das Wort“; denn hat Gott gesprochen, so mußte ein Wort da sein. So er’s denn im Anfang sprach, als die Kreaturen anhuben, so war es ja schon im Anfang und hat nicht angefangen mit den Kreaturen… Darum ist’s meisterlich gesagt: „Im Anfang war das Wort“; damit ist angezeigt, daß es nicht angefangen hat und also notwendig vor dem Anfang ewig gewesen ist.

Jakob Lorber, Das große Evangelium Johannis, Band 1, Bietigheim 1967, Kapitel 1, Vers 5–8

Sehr unrichtig und dem innern Sinn sehr verhüllend ist der Ausdruck „Im Anfange“; denn dadurch könnte sogar der Gottheit ewiges Dasein bestritten und in Zweifel gezogen werden, was auch von einigen älteren Weltweisen geschehen ist, aus deren Schule die Gottesleugner dieser Zeit auch so ganz eigentlich hervorgegangen sind. So wir aber nun diesen Text recht geben werden, da wird die Hülle nur sehr dünn erscheinen, und es wird nicht schwer sein, den inneren Sinn durch solche leichte Hülle recht wohl und manchmal sehr genau zu erspähen.

Also aber laute die richtige Übersetzung: Im Urgrunde, oder auch in der Grundursache (alles Seins), war das Licht (der große heilige Schöpfungsgedanke, die wesenhafte Idee). Dieses Licht war nicht nur in, sondern auch bei Gott, d. h. das Licht trat als wesenhaft beschaulich aus Gott und war somit nicht nur in, sondern auch bei Gott und umfloß gewisserart das urgöttliche Sein, wodurch schon der Grund zu der einstigen Menschwerdung Gottes gelegt erscheint, was im nächstfolgenden Texte auch schon von selbst ganz hell ersichtlich wird.

Wer oder was war denn so ganz eigentlich dieser große Gedanke, diese heiligste Grundidee alles künftigen, wesenhaften, freiesten Seins? – Es war unmöglich etwas anderes als eben Gott Selbst, weil in Gott, durch Gott und aus Gott unmöglich etwas anderes als Gott Selbst nur Sich in Seinem ewig Vollkommensten Sein darstellte; und so mag dieser Text auch also lauten:

In Gott war das Licht, das Licht durchfloß und umfloß Gott, und Gott Selbst war das Licht.

Einschätzung

Nach Luthers Auslegung ist Gott ewig, das Wort ist vor dem Anfang gewesen, und die Kreaturen haben einen Anfang. Lorber dagegen möchte im Anfang mit im Urgrunde und das Wort mit das Licht übersetzt wissen. Der Wörteraustausch erklärt den inneren Sinn, führt jedoch in die Zweifelsfrage: Hat Gott dies gesagt beziehungsweise stimmen die Worte des Johannes-Evangeliums überhaupt? Die unhaltbaren Segnungen beginnen damit, dass uns die Augen geöffnet werden für den inneren Sinn der Schrift und wir neue Erkenntnisse daraus gewinnen, und gipfeln in der hochmütigen Lüge: Ihr werdet sein wie Gott!

Lutherbibel, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 1, Vers 2

Dasselbe war im Anfang bei Gott.

Erwin Mülhaupt (Hrsg.), D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Vierter Teil: Das Johannes-Evangelium mit Ausnahme der Passionstexte, Göttingen 1961, Seite 8 [Weihnachtspostille 1522]

Bei Gott, bei Gott war es, und doch war Gott das Wort. Siehe, so ficht der Evangelist auf beiden Seiten, daß beides wahr sei: Gott sei das Wort und das Wort sei bei Gott, Eine Natur göttlichen Wesens, und doch nicht Eine Person allein, und eine jegliche Person völlig und ganzer Gott im Anfang und ewiglich. Das sind die Sprüche, darinnen unser Glaube gegründet ist, darin wir uns auch halten müssen. Denn es ist ja überaus zu hoch der Vernunft, daß drei Personen sein sollen und eine jegliche sei vollkommen und der ganze einige Gott, und seien doch nicht drei Götter, sondern Ein Gott. Unsere Schullehrer haben’s mit großen Subtilitäten hin und her getrieben, daß sie es ja begreiflich machten. Aber willst du dem bösen Feind nicht ins Netz fallen, so laß ihr Klügeln, Dünkeln und Subtilitäten fahren und halt’ dich an diese göttlichen Worte; da kriech hinein und bleibe darinnen wie ein Hase in seiner Steinritzen. Spazierest du heraus und gibst dich auf ihr Menschengeschwätz, so soll dich der Feind (ver)führen und zuletzt stürzen, daß du nicht wissest, wo Vernunft, Glaube, Gott und du selbst bleibst. Glaube mir als dem, der solches erfahren und versucht hat und nicht aus einem Topf4 redet; die Schrift ist uns nicht umsonst gegeben. Hätte die Vernunft vermocht recht zu fahren, die Schrift wäre uns nicht not gewesen. Laß dich Arius und Sabellius erschrecken, welche, so sie in der Schrift geblieben wären und hätten der Vernunft Spazieren gelassen, wären sie nicht solchen großen Schadens Anheber geworden. Und unsere Schullehrer wären auch wohl Christen, wenn sie ihre Possen ließen mit ihren Subtilitäten und blieben in der Schrift.

Jakob Lorber, Das große Evangelium Johannis, Band 1, Bietigheim 1967, Kapitel 1, Vers 9

So nun der erste Vers zur Genüge erleuchtet, von jedermann einigen Lichtes leicht begriffen werden kann, so erklärt sich der zweite Vers von selbst und besagt nur zeugnisweise, daß das obbeschriebene Wort oder Licht oder der große Schöpfungsgedanke nicht ein in der Folge des Urgottseins entstandener, sondern ein mit Gott als Selbst Gott gleich ewiger ist und somit nimmer irgend einen einstigen Entstehungsprozeß in sich birgt, darum es denn auch gewisserart zeugnisweise erklärend heißt: Dasselbe war im Anfange oder im Urgrunde alles Seins und alles späteren Werdens als Urgrund selbst bei, in und aus Gott, also Selbst durch und durch Gott.

Einschätzung

Luther verwendet bewusst das Verhältniswort bei. Es geht von zwei Personen aus, die er dennoch als nur einen Gott versteht. Lorber erklärt, dass zum Wort bei die Wörter in und aus zu ergänzen seien, wodurch es zur Aufhebung der zwei Personen kommt. Hier zeichnet sich bereits das künftige Unverständnis von Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist ab.

Lutherbibel, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 1, Vers 3

Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.

Erwin Mülhaupt (Hrsg.), D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Vierter Teil: Das Johannes-Evangelium mit Ausnahme der Passionstexte, Göttingen 1961, Seite 8–9 [Weihnachtspostille 1522]

Ist das nicht klar genug gesagt? Ist das nicht zu verwundern, wenn jetzt die Eigensinnigen sich nicht lassen ihren Irrtum ausreden, wie klar und grob man ihnen die Wahrheit sage? So (meinen) die Arianer, diesem hellen und klaren Spruch entgehen zu können und sprechen: alle Dingen werden durchs Wort gemacht, aber er wäre zuvor gemacht, und darnach alle Dinge durch ihn; so doch hie stracks steht: „Alle Ding sind durch ihn gemacht“; (dann ist) ohne Zweifel, daß er nicht gemacht ist, auch nicht von der Zahl der gemachten Dinge ist. Denn wer alles nennt, schließt nichts aus; wie auch St. Paulus Hebr. 2,8 den Spruch Ps. 8,7 auslegt: „Alle Ding hast du ihm unter die Füße geworfen; in dem, sagt er, daß er alle Ding ihm unterworfen hat, hat er nichts gelassen, das er ihm nicht unterworfen habe.“ Und 1. Kor. 15,27: „Er hat ihm alles unterworfen, ohne Zweifel ausgenommen den, der ihm alles unterworfen hat.“ Also muß auch hie verstanden werden: „Alle Ding sind durch ihn gemacht“, ohne Zweifel ausgenommen den, durch welchen alle Dinge gemacht sind, und ohne ihn nichts ist, das nicht gemacht ist. Diesen Spruch zieht er auch aus Mose (1. Mose 1,3,6,7), da er alle Kreatur aufzählt, die Gott gemacht hat, und spricht allemal: Gott sprach, und es ist geschehen; damit er zeigt, sie seien alle durch das Wort gemacht. Dennoch drückt St. Johannes das weiter aus und erkläret sich selbst und spricht:

„Und ohne ihn ist nichts gemacht, das gemacht ist.“

Ist nichts ohne ihn gemacht, (wie)viel weniger ist er selbst gemacht, ohne welchen nichts gemacht ist; auf daß des Arius Irrtum ja nichts möge aufbringen, wiewohl es nichts geholfen hat. Es bedarf ja keiner Glossen, daß dies Wort Gott ist und der rechte Schöpfer aller Kreaturen, weil ohne ihn nichts gemacht ist, was doch je gemacht ist… Als wollt’ er sagen: Der Dinge, die gemacht sind, ist keines ohne ihn gemacht, damit er ja klar ausdrückt, daß alle Dinge durch ihn gemacht sind und er nicht gemacht ist, und also stracks und fest erhält, daß er wahrer Gott ist, wiewohl nicht von ihm selber, sondern von dem Vater. Darum heißt er’s durch ihn gemacht und von dem Vater gemacht.

Jakob Lorber, Das große Evangelium Johannis, Band 1, Bietigheim 1967, Kapitel 1, Vers 10–12

In diesem Verse bezeugt sich das nur gewisserart als betätigt und handgreiflich, was da schon im ersten Verse sich als das „Wort“ oder „Licht“ im Urgrunde alles Seins und Werdens völlig gegenwärtig, aber noch nicht als schon ausgegangen bewerkstelligt, klar dargestellt hatte.

Es soll demnach dieser dritte Vers rein gegeben auch also lauten:

Alles Sein ward aus diesem Ursein, welches in Sich Selbst ist der ewige Urgrund Seines Seins durch und durch. Dieses Seins Licht, Wort und Wille stellte Sein höchst eigen Licht, Seine urewige Schöpfungsidee aus Sich Selbst ins feste beschauliche Dasein, und nichts gibt es in der ganzen ewigen Unendlichkeit, was nicht aus demselben Urgrunde und auf demselben Wege ins erscheinliche und beschauliche Dasein getreten wäre.

Wer nun diese drei ganz klar erläuterten Verse vollends aufgefaßt hat, dem ist der Vers 4 schon von selbst notwendig einleuchtend klar.

Einschätzung

In der lutherischen Auslegung entstammt alles Sein dem Wort; und gemäß dem ökumenischen Glaubensbekenntnis (Nizänum) ist Jesus Christus aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott gezeugt, nicht geschaffen. Lorber erklärt: „Alles Sein ward aus diesem Ursein…“, die „urewige Schöpfungsidee“ sei „aus Sich Selbst ins feste beschauliche Dasein [gestellt]“. Mit dieser Loslösung von der Heiligen Schrift geht eine allmähliche Entfremdung einher, sodass Widersprüche gar nicht mehr auffallen.

Lutherbibel, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 1, Vers 4

In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.

Erwin Mülhaupt (Hrsg.), D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Vierter Teil: Das Johannes-Evangelium mit Ausnahme der Passionstexte, Göttingen 1961, Seite 9–17 [Weihnachtspostille 1522]

Diesen Spruch beziehen sie gemeiniglich in das hohe Spekulieren und das schwere Verständnis von dem zweierlei Wesen der Kreaturen, davon die platonischen Philosophen berühmt sind; nämlich, daß alle Kreaturen haben ihr Wesen einmal in ihrer eigenen Natur und Art, wie sie geschaffen sind; zum andern in der göttlichen Vorsehung von Ewigkeit, darinnen er alle Dinge zu schaffen bei sich selbst beschlossen hat. Und also wie er lebet, so sind alle Dinge in ihm auch lebend und dasselbe Wesen der Kreatur in Gott, sprechen sie, ist edler als das Wesen in ihrer eigenen Art und Natur; denn in Gott lebet auch, das in ihm selbst nicht lebt, wie Stein, Erde, Wasser usw. Und also spricht St. Augustin5, daß dies Wort sei ein Bild aller Kreaturen und gleich eine Schatzkammer voller solcher Bilder, die sie Ideas nennen, nach welchen die Kreatur gemacht ist, eine jegliche nach ihrem Bilde, und davon soll hie Johannes gesagt haben: „In ihm war das Leben“, und knüpften den Text an den vorigen also: Was da gemacht ist, das war Leben in ihm, das ist: alles was je geschaffen ist, ehe es geschaffen ist, hat es zuvor in ihm gelebt.

Aber wiewohl ich dies nicht verwerfe, dünkt’s mich doch, es sei zu weit gesucht und ein gezwungenes Verständnis an diesem Ort; denn Johannes redet gar einfältig und schlicht, denkt uns nicht in solche spitzige und subtile Betrachtung zu führen. Mir ist auch noch nicht kund zur Zeit, ob die ganze Schrift auf irgend solche Weise von den Kreaturen rede. Sie sagt wohl, daß alle Dinge zuvor erkannt, erwählt und vor Gott eben bereit sind und leben, als wäre es schon geschehen, wie Christus Lukas 20,38 von Abraham, Isaak und Jakob sagt: „Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen; denn sie leben ihm alle.“ Aber nicht findet man dermaßen geschrieben: in ihm leben alle Dinge. Auch dieser Spruch redet von mehr als von dem Leben der Kreatur in ihm, welches vor der Welt gewesen ist; sondern auf’s allereinfältigste meint er, er sei der Brunn und Ursprung des Lebens, daß alles, was da lebet, von ihm und durch ihn und in ihm lebe, und außer ihm sei kein Leben; wie er selber sagt Joh. 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Desgleichen Joh. 11,25: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Daher ihn Johannes in seiner Epistel (1. Joh. 1,1) nennt das Wort des Lebens, und sonderlich redet er von dem Leben, das die Menschen aus ihm haben, das ist, das ewige Leben, um welches Lebens willen er das Evangelium zu schreiben angefangen hat. Das beweiset auch der ganze Text; denn von welchem Leben er rede, erklärt er selbst und spricht: „Das Leben war ein Licht der Menschen“; darin er ohne Zweifel zeigt, wie er von dem Leben und Licht redet, das Christus den Menschen durch sich selbst gibt. Darum führt er auch Johannes den Täufer ein als einen Zeugen solchen Lichts. Nun ist’s ja offenbar, wie der Täufer Johannes von Christo gepredigt hat, nicht nach der hohen Spekulation, davon sie reden, sondern einfältig und schlicht, wie Christus ein Licht und Leben allen Menschen zur Seligkeit ist.

Darum ist zu wissen, daß Johannes sein Evangelium geschrieben hat, wie die Historien sagen67