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Kinderbuchreihe

VOR- UND SELBERLESEN

Edition Gegenwind

Beyerlein, Gabriele:
Lara und das Geheimnis der Mühle
ISBN 978-3-8448-7629-1

Dieses Buch erschien erstmals unter gleichem Titel 2004 im Thienemann Verlag Stuttgart und wurde für die vorliegende Ausgabe überarbeitet.

Einband- und Innenillustrationen: Susanne Smajić

Die Schriftart 'Druckschrift BY WOK' entstammt dem kostenlosen Programm 'Lesen Lernen' von Wolfram Esser, www.derwok.de

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Copyright ©2011 by Gabriele Beyerlein, Darmstadt
Alle Rechte vorbehalten.

 

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  Edition Gegenwind

  Books on Demand

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Die böse Fee

Der Tag fing an, wie ein Ferientag anfangen sollte. Die Sonne schien und Lara frühstückte mit Mama im Garten der alten Mühle, in der die drei wohnten: Mama und Lara und Blacky, ihre schwarze Katze. Der Tag ging weiter, wie ein Ferientag weitergehen sollte. Lara und Mama töpferten in Mamas Werkstatt, während Blacky sich auf dem Fensterbrett von der Sonne wärmen ließ.

Lara formte einen Zwerg aus Ton und Mama arbeitete an einer Gans mit dickem Bauch und dabei erzählte sie Laras Lieblingsmärchen: „Dornröschen“. Wie immer rieselte Lara ein Schauer den Rücken hinunter, als im Märchen die böse Fee Dornröschen verzauberte, sodass es sich in den Finger stechen und tot umfallen sollte. Als Dornröschen dann doch nur hundert Jahre schlafen musste, seufzte Lara zufrieden auf. Alles war gut, bis Mama den Briefkasten leerte und den Brief von der Sparkasse las.

In diesem Augenblick kam es Lara vor, als ob die böse Fee aus dem Märchen trat und Mama in Stein verwandelte.

Mama saß stumm da und rührte sich nicht mehr, hielt den Brief zusammengeknüllt in ihren versteinerten Händen und hatte diesen komischen Blick, der gar nichts sah. Sie hörte auch nicht, als Lara mit ihr redete.

„Mama?“, versuchte Lara es noch einmal. „Haben alle Zwerge eine Mütze auf?“

Mama antwortete nicht.

Da ging Lara leise aus der Werkstatt. Bevor sie selber auch noch aus Stein wurde.

Wenn sie nur wüsste, was man gegen so eine böse Fee tun könnte! Klar, Mama war nicht Dornröschen und sie schlief auch nicht hundert Jahre, sondern saß nur eine Zeit lang so starr da. Und Märchen waren auch nicht die Wirklichkeit, sondern eben Märchen. Aber irgendetwas wie eine böse Fee musste es sein, eine, die man nicht sehen konnte und nicht hören und nicht riechen.

Das erste Mal war Mama im Frühling so komisch gewesen, dass es Lara vorgekommen war, als hätte eine böse Fee sie in Stein verwandelt. Damals hatte ein Hochwasser das Erdgeschoss der ehemaligen Mühle überschwemmt und in der Werkstatt alles kaputt gemacht. Und als das Wasser wieder abgeflossen und der größte Dreck beseitigt gewesen war, hatte Mama auch so stumm dagesessen wie heute.

Doch bei dem einen Mal war es nicht geblieben.

Seit dem Hochwasser war Mama überhaupt anders.

Dauernd redete sie davon, dass sie einen neuen Brennofen brauchte und kein Geld dafür hatte - vor allem, wenn Oma und Opa da waren. Und manchmal redete sie eben gar nicht mehr - so wie jetzt.

Lara blieb am Hoftor vor dem Schild stehen, auf dem zu lesen war: „Töpferwaren und Kunstgewerbe. Verkauf in der Werkstatt.“ In den letzten Tagen war kein Mensch mehr da gewesen, um etwas zu kaufen. Das war schlecht, ganz schlecht, denn Leute, die viel kauften, vertrieben die böse Fee. Dann lachte Mama wieder und summte bei der Arbeit vor sich hin.

Lara starrte auf das Schild. Konnte sie etwas tun, damit Käufer kamen? Vielleicht Blumen neben das Schild stellen, damit es Wanderern besser auffiel? Und damit diese dann Lust bekamen, in die Werkstatt zu gehen und etwas zu kaufen: Gänse mit dicken Bäuchen oder blaue Hühner oder Bäume zum An-die-Wand-Hängen oder Krüge und Becher. Damit Mama wieder normal wurde.

Lara rannte in den Garten hinter der Mühle. Sie pflückte gelbe Blumen und rote und blaue und weiße.

Dann zögerte sie. Die lila Blumen dort drüben sahen so schön aus!

Aber sie wuchsen an einer Stelle, die Lara gar nicht mochte: dicht an dem finsteren Graben zwischen Mühle und Garten. Lara wusste, dass in diesem Graben früher einmal das Mühlrad gehangen hatte.

Aber es gab schon seit langem kein Mühlrad mehr, denn die Mühle war gar keine wirkliche Mühle mehr, und der Graben war nur noch unheimlich.

Langsam ging Lara näher. Sie versuchte nur auf die Blumen zu achten, auf nichts anderes. Aber sie spürte trotzdem die Kälte, die aus dem tiefen Graben aufstieg. Und noch etwas anderes fühlte sie, etwas, was ihr den Atem nahm. Sie schauderte zusammen.

Auf einmal war ihr, als würden feine Stimmchen ihr zuflüstern: „Geh nicht zum Graben!“ - und als würden kleine zarte Händchen sie zurückhalten. Vielleicht wohnte dort ja die böse Fee? Wenn es die etwa wirklich gab …

„Du kriegst mich nicht!“, sagte sie in Richtung Graben. Ihre Stimme klang heiser.

Sie räusperte sich. „Und überhaupt, du sollst meine Mama in Ruhe lassen, das wollte ich dir nur mal sagen!“ Eine Gänsehaut lief ihr den Rücken hinunter. Sie drehte sich um und rannte weg. Aber dann rief sie noch laut über die Schulter zurück: „Glaub bloß nicht, dass ich Angst vor dir hab!“

Rasch holte sie aus dem Haus eine Vase und stellte den Strauß neben das Schild am Hoftor. Er war auch ohne die lila Blumen schön bunt.

Kurz guckte Lara durch die offene Tür in die Werkstatt. Mama saß immer noch so stumm auf ihrem Stuhl.

Und es war keiner da, mit dem Lara darüber hätte reden können. Nicht einmal Blacky war zu sehen.

Jetzt gab es nur noch eines, wo Lara Trost finden konnte: bei ihrem Lieblingsplatz unter der Trauerweide.

Lara überquerte auf der Brücke den kleinen Fluss und lief dann durchs Gras auf die Trauerweide zu, die mitten in der Wiese stand. Die letzten Schritte zu ihrem Baum ging sie langsam und leise. Weil dies ein besonderer Ort war.

Bis zum Boden hingen die Zweige der Trauerweide herab. Durch einen Vorhang aus Blättern trat Lara unter den Baum.

Sacht streichelten die Zweige ihre Haare und ihre Arme und schlossen sich wieder hinter ihr. Sie sperrten die Sonne aus und die Welt und die Sorgen. Sie bildeten eine geheimnisvolle grün schimmernde Höhle, in der alles anders war.

Lara atmete tief auf. Hierher in ihre grüne Höhle kam keine böse Fee. Hier war alles gut.

Und Blacky war auch hier!

Die schwarze Katze schlief zusammengerollt im Gras. Nun hob sie den Kopf, blinzelte Lara an, gähnte und streckte sich. Dann legte sie den Kopf wieder auf ihre Vorderpfoten.

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Lara setzte sich dicht neben Blacky und kraulte sie an der Stirn. Die Katze drückte ihren Kopf gegen Laras Hand und schnurrte. Ganz schummerig wurde es Lara von diesem Schnurren. Sie lehnte sich an den Baumstamm und sah den blauen Himmel durch die Blätter und hörte das Brummen einer Hummel und das Rauschen des Flusses und das Zwitschern der Vögel. Die Augen fielen ihr zu. Da hörte sie noch etwas, ein zartes Wispern und leises Kichern. Und sie wusste: Sie waren da.

Lara hatte diese sie noch nie gesehen. Aber gespürt hatte Lara diese sie hier unter der Trauerweide schon oft. Und manchmal hatte Lara ganz leise ihr Wispern und Kichern gehört. So wie jetzt.