(1/1) Wer ist der Staat?

F. Max, hör mal. Kannst du mir sagen, wer der Staat ist?

M. Aber klar doch, Fred, der Staat sind wir selber, sagt jedenfalls unser Altbundespräsident Richard von Weizsäcker. Also du, ich, Frau Gscheidle von neban, der Alt- und Neubundespräsident, die Bundeskanzlerin, unsere Neubürger, ja das ganze Volk ist der Staat.

F. Ob Richard von Weizäcker das wirklich so meinte?

M. Kann schon sein, vielleicht verstand er das Wir als pluralis majestatis, also wie die Könige, dann hatte er im prinzip ja recht.

F. Trotzdem, du und ich zusammen mit den Andern der Staat? Da stimmt doch etwas nicht.

M. Laut Umfragen antworten die meisten der Gefragten tatsächlich so: wir, das Volk sind der Staat.

F. Wir waren ja schon Papst, warum sollten wir nicht auch Staat sein.

M. Scherz beiseite, Fred, die Ursache, warum so viele Menschen meinen, sie seien auch Staat und nicht nur Steuerzahler, west in deren Köpfen, verstehst du, im Bewußtsein, im Denken, in der Sprache. Genau da hat sich der Staat sozusagen eingenistet. Unsere Sprache ist vollgestopft mit Staatsvokabeln.

F. Ja, da gibt es einige: Staatspräsident, Staatskarosse, Staatsgeheimnis, Rechtsstaat, Wohlfahrtsstaat, Staatsbürger, Staatsoberhaupt, Staatsdiener, Staatsgrenze, Staatenloser, Staatsfeind.

M. Staatshaushalt, Staatsvolk, Staatengemeinschaft, Staatsbürgerschaft, Staatsgebiet, Staatsfeind, Staatsbürokratie, Obrigkeitsstaat, Unrechtsstaat, Schurkenstaat, Staatsgewalt, Staatsanwalt. Ond em Schwäbische gibts no an Oberstaatsdackel.

F. Staatsbegräbnis, Staatssicherheitsdienst, Staatsbürgerkunde, Staatsraison, Staatsterror, Staatenloser, Staatsempfang, Staatsbegräb...

M. Mensch Fred, hör auf, es reicht. Ehrlich, ich kann die aufdringlichen Staatsvokabeln nicht mehr hören! Aber eines mußt du wissen, Fred, die Sprache hat es in sich, sie bestimmt weitgehend unser Bewußtsein. Genau da liegt der Hund begraben. Sprache gibt unserem Denken Gestalt und macht die Welt begreifbar, mit Begriffen. Verstehst du? So kommt unser Bewußtsein zustande, das infolge dauerhafter Berieselung staatstragender Wörter nun meint, wir seien selber der Staat und uns gleichzeitig vorspiegelt Volk und Staat seien ein und dasselbe.

F. Ganz schön blöd, das Volk - und du und ich und der Altbundespräsident. Aber ist es überhaupt möglich, Staat und Volk auseinanderzuhalten?

M. Wenn du genau hinschaust, schon. Laß dir mal das Wort Staatsvolk auf der Zunge zergehen. Eine Genitivkonstruktion, bei der man fragt: Wessen ist das Volk? Antwort: des Staates, also: Volk des Staates. Im Klartext: das Volk gehört dem Staat. Desgleichen der Staatsbürger, das Staatsgebiet oder die Staatsgrenze. Täglich werden wir mit solchen Worten überschüttet und sind am Ende überzeugt, dem Staat gehöre alles, oder schlimmer, der Staat sei alles, auch ich und du und Müllers Kuh.

F. Alles Unfug. Schließlich leben wir in einer Demokratie, wo die Herrschaft vom Volke ausgeht und nicht vom Staat. Das lernt heute jeder Hauptschüler.

M. Leider in der falschen Sprache und mit verkehrten Begriffen, die dem Schüler sonstwas vorgaukeln. Um die Sache ins Lot zu bringen und um der Wahrheit näher zu kommen, müßte man zuerst die Sprache ausputzen, sie gleichsam demokratiekompatibel machen und beispielsweise Staatsvolk zu Volksstaat umtaufen und den Staatsbürger zum Bürgersstaat. Zugegeben, das klingt komisch, aber jetzt würde das Genitivus Possessivum klar anzeigen, daß der Staat dem Bürger gehört und nicht der Bürger dem Staat.

F. Das wäre dann beim Volksstaat auch der Fall, obwohl mir der Ausdruck gar nicht gefällt.

M. Fred, bei diesen Begriffen geht es nicht um Schönheit, sondern um Wahrhaftigkeit, denn solange wir mit Wörtern denken und sprechen, die uns ein X für ein U vorgaukeln, gedeiht in unseren Köpfen auch kein Bewußtsein, das die faktische Wirklichkeit erkennt. Oder?

F. Leuchtet ein. Aber zurück zum Staatsvolk. Hier wird ja, grammatisch gesehen, das Volk dem Staat zugeordnet, oder besser, untergeordnet. Offensichtlich stehen bei dieser Wortzusammensetzung zwei unterschiedliche Begriffe in einer bestimmten Zuordnung, was besagt, daß beide Begriffe nicht ein und dasselbe zum Ausdruck bringen. Richtig? Also kann der Staat nicht gleichzeitig das Volk und das Volk nicht gleichzeitig der Staat sein.

M. Knallhart geschlossen. Und damit hast du den Altbundespräsidenten widerlegt. Ich setze dem noch was drauf und behaupte, Staat und Volk stehen in einem ungleichen Abhängigkeitsverhältnis, wobei das Volk im Grunde ohne Staat existieren kann, aber der Staat nicht ohne Volk.

F. Ein Staat ohne Volk wäre wie ein Häuptling ohne Indianer, die ihren Chief. wenn er zu frech wird, an den Marterpfahl binden könnten.

M. Nicht schlecht das Beispiel. Und wenn die Chiefs gegeneinander Krieg führen wollten, blieben die Indianer zu Hause und würden die Friedenspfeife rauchen, in der stillen Hoffnung, daß sich die Häuptlinge auf dem Felde der Ehre gegenseitig die Köpfe einschlagen.

F. Eine herrliche Vorstellung. Noch eine Frage, die mich beschäftigt. Wer war eigentlich zuerst da, der Staat oder das Volk?

M. Sag mal, willst du mich auf den Arm nehmen? Natürlich das Volk. Oder glaubst du, da sei, wie einst Zarathustra, ein von Höhenluft berauschter Kopf von lichten Bergeshöhen herabgestiegen und habe dem lärmenden Volkshaufen verkündet: ›Seht her, ich bringe euch den Staat, der Ordnung schafft!‹ Nein, so hat sich die Geschichte bestimmt nicht zugetragen. Ich glaube eher, der Staat wurde dem Volk aufgepfropft, und zwar von klar denkenden Machtmenschen, die genau wußten, wie das Volk am besten zu lenken und auszubeuten ist.

F. Mir scheint eher wahrscheinlich, der Staat steckt seit jeher im Volk, quasi als Keim einer stillen Sehnsucht nach einem Herrn oder Führer, der ihm sagt, wo das Paradies auf Erden liegt. Als dann die Zeit reif war, der Boden fruchtbar und das Klima günstig, brach der Keim auf zu klebrigen Fäden, die sich um die Menschen eines Volkes schlangen und sie schließlich zusammenleimten, nämlich zum Staat.

M. Ein schlechtes Bild, Fred, weil da am Ende Staat und Volk wieder ein und dasselbe ist. Anscheinend hast du nichts dazu gelernt.

F. Ein anderes Bild. Vielleicht war der Staat ursprünglich ein herrschsüchtiges Kind des Volkes, das allmählich über seine Eltern hinauswuchs, zum Monster wurde, seine Erzeuger ins Joch zwang und sich schließlich machtvergessen selbst als Schöpfer des Volkes ausgab und sich so zum Vater Staat machte.

M. Das könnte schon eher der Fall gewesen sein. Wie auch immer, Fred, ich bleibe bei meiner These: Schlaue Herrscher haben den Staat dem Volk aufgepfropft, um es zu beherrschen und effektiv auszubeuten. Mit Versprechungen und Heilslehren verdrehten sie dem leichtgläubigen Volk den Kopf, bis es den Staat vergötterte und am Ende sogar glaubte, er sei selber ein Gott. Um dem Irrtum nicht zu verfallen, sollten wir den Nebel in unseren Köpfen lichten und die Begriffe Staat und Volk strikt auseinanderhalten. Verstehst du, was ich meine?

F. Ich arbeite daran. Jedenfalls dürfte nun klar sein, daß Staat und Volk zwei verschiedene Stiefel sind, die wie jedes Paar Schuhe zusammengehören.

M. So ganz bin ich mit dem Bild nicht einverstanden, weil es verschweigt, daß ein Volk ohne Staat durchaus denkbar ist. Aber nicht bei einem Paar Schuhe, wozu ja immer ein linker und rechter gehört. Ein einzelner Schuh würde wohl nur bei einem Einbeinigen Sinn machen. Außerdem gibt es bei einem Paar Schuhe kein Machtverhältnis, wo der eine Schuh dem andern sagt, wie und wohin er zu gehen hat.

F. Okay, Max, du hast mal wieder recht. Sei’s drum. Aber ich gehe jetzt Eine rauchen.

M. Wenn du’s brauchst, du Suchtbeutel. Dann ziehe ich mir zur Entspannung einen Blues rein, und zwar: B. B. King mit Blues boys.

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(2/1) Regierung und Staat

F. Wo sind wir stehen geblieben? Ach so, bei der Begriffsklärung Staat und Volk. Komisch, wenn ich an Staat denke, fällt mir automatisch unsere Kanzlerin, die Minister und dieser ganze Regierungsapparat ein. Sag mal, Max, ist die Regierung nun ein Teil vom Staat oder der Staat ein Teil der Regierung, wie unterscheiden sich Staat und Regierung?

M. Sagen wir mal so, Fred, Regierungen kommen und gehen, aber der Staat bleibt mehr oder weniger derselbe.

F. Also sind Staat und Regierung ebenso wenig identisch wie Staat und Volk?

M. Korrekt. Mathematisch gesprochen ist die Regierung eine Variable und der Staat eine Konstante. Egal, wer regiert, ob König, Kaiser, Papst, Diktator oder eine demokratisch gewählte Regierung, der Staat bleibt mehr oder weniger konstant. Wechselt die Regierung, tauscht sie gewöhnlich Minister und ein paar Spitzenbeamte aus. Hier und dort werden ein paar Querdenker rausgeworfen und Günstlinge untergebracht, aber der Staat arbeitet gelassen weiter, als sei nichts passiert.

F. Und das Volk guckt zu und läßt sich alles gefallen.

M. Meistens ja, aber nicht immer. Unter Umständen muckt es sogar auf.

F. Dann kriegt es einen auf den Deckel, und zwar von der Staatspolizei, den Wach- und Spürhunden der Regierung.

M. Die das Volk in die Waden beißen, wenn es nicht pariert.

F. Dabei ist die Regierung sozusagen das Herrchen, dem die Hunde gehorchen.

M. Genau, mit dem Bild hast du das Verhältnis von Regierung und Staat ziemlich genau getroffen. Wenn du jetzt die Regierung als Schäfer siehst und den Staat als Schäferhund, der die Hammelherde, also das Volk, zusammenhält, dann ist das Bild perfekt. Konkret gesagt, der Staat ist das Herrschaftsinstrument, mit dem die Regierung das Volk regiert und damit in seiner Gewalt hält. Daher der Ausdruck Staatsgewalt.

F. Auch in einer Demokratie, wo, wie es so schön heißt, das Volk der Herr und Souverän ist?

M. Klar doch. Ich sagte ja, egal welche Regierung, der Staat kriegt seine Anweisungen, die er in bewährter Weise ausführt. Der Staat macht seinen Job, mal so, mal so, doch imgrunde bleibt alles beim alten. Okay, die Fassade paßt man natürlich der politischen Mode an; das gehört sich so.

F. Du meinst, der Staat verändert sich im Grunde kaum?

M. Wozu auch, der Staat hat sich im Laufe der Zeit brauchbar entwickelt und vielfach bewährt, die Machthaber sind in der Regel zufrieden mit ihrem Staat. Natürlich gibt es hier und dort Mängel, die jede Regierung auf ihre Weise zu beseitigen sucht. Auf jeden Fall sind die Regierungen bestrebt, das Herrschaftsinstrument Staat zu optimieren, ihn auf den neusten Stand der Verwaltungs- Sicherheits- und Spionagetechnik zu bringen, und zwar im eigenen Interesse.

F. An welches Interesse denkst du?

M. Deine Fragen sind manchmal ziemlich naiv. Was glaubst du, welches Interesse jede Regierung in erster Linie verfolgt?

F. Sie will an der Macht bleiben.

M. Bingo. Und was braucht die Regierung, um an der Macht zu bleiben? Einen gut funktionierenden Staat, der das Volk fest in seiner Gewalt hat, damit es die Macht der Regierung nicht gefährdet.

F. Völlig klar, aber dazu braucht der Staat gut ausgebildetes und zuverlässiges Personal. Oder? ich denke, das sind die sogenannten Staatsdiener, also die Beamten.

M. Richtig, die Beamten sind sozusagen die funktionierende Rädchen im Staatsgetriebe. Der Staat verspricht dem Beamten lebenslange Versorgung, nimmt ihn per Diensteid in die Pflicht und erwartet unbedingten Gehorsam bis ins Grab. So einfach ist das.

F. Dafür hat der Beamte einen sicheren Jobt, sein Leben lang, egal ob sein Dienstherr Kaiser, Diktator, Präsident oder Kanzler ist. Solange er den treuen Staatsdiener spielt, schön pariert und keinen kapitalen Bock schießt, kann ihm absolut nichts passieren.

M. Etwa so wie der Lokführer, der den Zug vom Göring gefahren hatte. Nach dem Zusammenbruch fuhr er eben Güterzüge, Hauptsache, die Räder rollten. Und der Polizist, der früher Juden verhaftete, nahm später Taschendiebe fest oder regelte den Verkehr. Auch der in Ehren ergraute Amtsgerichtsrat, der im Namen des Volkes Todesurteile verhängte, verkündete wenig später Freisprüche für dieselben Vergehen. Im Namen desselben Volkes, versteht sich.

F. Stell Dir vor, man hätte nach dem Nazidesaster den gesamten Staatsapparat restlos aufgelöst und die Beamten in die Wüste geschickt.

M. Dann hätte die Regierung Adenauer ziemlich alt ausgesehen, etwa wie ein Kapitän ohne Mannschaft. seine Befehle wären im Wind verflogen. Eine „Auferstehung aus Ruinen“ hätte es in dem Fall nie gegeben. Zum Glück funktionierte der Staatsapparat noch, sowohl hüben als auch drüben, andernfalls wäre das Chaos ausgebrochen. Weißt du, das Volk brauchte klare Anweisungen, gelegentlich auch die Peitsche, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Insofern hat also der Staat immer noch funktioniert.

F. Du traust dem Volk aber auch gar nichts zu. Ist es nicht denkbar, daß sich das Volk wie Münchhausen gleichsam am eigenen Schopf aus dem Schlamassel gezogen hätte? Ohne die Maßnahmen des Staates?

M. Denkbar schon, aber wenig wahrscheinlich. Nach dem verzehrenden Krieg lag das Volk am Boden, völlig ausgepowert und bitter enttäuscht über seine eigene Dummheit. Es hungerte, es darbte und verfluchte die ganze Politikscheiße, die es in das Elend gestürzt hatte. Woher sollte es die Kraft und den Schwung nehmen, aus eigenem Antrieb die Trümmer wegzuräumen und den Wiederaufbau in Angriff zu nehmen, wo schon Angriff aus dem Wörterbuch des Teufels stammte? Es mußte eine Regierung her, die das Volk motivierte, anspornte, begeisterte, es wieder auf die Füße stellte und ihm den neuen Marsch trommelte.

F. Du kommst ja richtig in Schwung, Max, aber jetzt sage mir noch, wem der Staat eigentlich gehört, der Regierung oder dem Volk?

M. Aber Fred, was ist mit deinen grauen Zellen los, erinnerst du dich nicht? Wie haben klar festgestellt: der Staat und damit die Regierung gehört dem Volk, auch wenn der Staat vom Gegenteil überzeugt ist. Dazu kommt, daß fast alle Regierungen meinen, ihnen gehöre der Staat und damit auch das Volk. Sie betrachten es gleichsam als ihr Eigentum, mit dem sie machen können, was sie wollen.

F. Meint etwa die Bundesregierung auch, der Staat und das Volk gehöre ihr, also bei uns in einer Demokratie?

M. Selbstverständlich meint sie das, sie gibt es aber nicht zu, außerdem behauptet die Regierung steif und fest, sie sei selber ein Teil des Staates, womit die Frage, wer wem gehört, sowieso erledigt ist. In der Praxis benimmt sich die Regierung sogar so, als sei sie selber der Staat und beruft sich darauf, daß sie, die Regierung, vom Volk gewählt und deshalb legitimiert sei, zu machen, was sie für richtig halte, und zwar im Namen des Volkes. Das ist der Witz bei der Sache. Übrigens gibt es in unserer Verfassung, die immer noch Grundgesetz heißt, tatsächlich keinen Artikel, der auch nur entfernt anklingen läßt, daß der Staat dem Volk gehört. Ja, es ist sogar so, bei uns betrachtet der Staat das Volk als Personal, das ihm zu gehorchen hat. Deshalb brauchen wir ja einen Personalausweis , den wir perfiderweise aus eigener Tasche bezahlen müssen. Eine Privatfirma könnte sich das nie erlauben.

F. Aber ist es nicht so, daß sich in einer Demokratie das Volk seine Verfassung selber gibt und solche Mißstände erst gar nicht zuläßt?

M. Normalerweise schon, aber nicht in der Bundesrepublik Deutschland, da dürfen die Deutschen die Erhabenheit der Verfassung lediglich bewundern, ohne sie jemals legitimiert zu haben.

F. Und wer hat sich unsere Verfassung ausgedacht? Oder gab es da einen deutschen Moses, dem der liebe Gott auf dem Berg Sinai die in Steintafeln eingemeiselte Verfassung überreichte?

M. Mensch, Fred, das waren die sogenannten Verfassungsväter, zumeist Juristen, die im Auftrag der alliierten Besatzungsmacht ein Grundgesetz zusammenbasteln mußten, das verhindert, daß die Deutschet wieder übermütig werden. Wir reden später nochmal darüber.

F. Gute Idee, Max, weißt du...

M. Ja ich weiß, dein Nikotinspiegel. Und ich höre mir solange schöne Musik an, und zwar wieder B. B.King, diesmal mit Rock me Baby.

(3/1) Wo tritt der Staat in Erscheinung?

F. Ja, Max, allmählich scheint sich der Nebel zu lichten. Eine Sache ist mir freilich nicht klar, und du entschuldigst. wenn ich jetzt ganz dumm frage. Also sage mir bitte, wie der Staat aussieht und wo er wohnt.

M. Wirklich eine ungewöhnliche Frage, das muß ich schon sagen. Also hör mal zu, Fred, das gleich vorne weg: Den Staat gibt es überhaupt nicht, er west nur in unseren Köpfen. Verstehst du?

F. Kein Wort.

M. Staat ist zunächst nur ein Begriff wie andere Begriffe auch, und Begriffe sind abstrakt, so wie zum Beispiel Krieg.

F. Aber Krieg ist doch eine sehr konkrete Katastrophe, die man spürt, wenn einem das Haus zerbombt wird. Du hörst die Bombe platzen, und wenn du noch lebst, schaust du hinterher auf den rauchenden Trümmerhaufen und verstehst die Welt nicht mehr.

M. Klar doch, auch der konkrete Staat kann eine Katastrophe sein, wenn er zum Beispiel einen Krieg führt und du deinen Kopf hinhalten mußt. Aber lassen wir das.

F. Na dann bleiben wir beim konkreten Staat, mit dem haben wir es schließlich zu tun und nicht mit deinem abstrakten Begriff, du Obergscheidle. Also wie, wo und wann tritt der Staat in Erscheinung?

M. Dein gesamtes Leben, von der Wiege bis zur Bare, Formulare, Formulare.

F. Was soll das nun wieder?

M. Die Redensart bringt es wirklich auf den Punkt: Vom ersten bis zum letzten Tag deines Lebens ist der Staat dein treuer Begleiter, den du beim besten Willen nicht abschütteln kannst. Sofort nach dem ersten Schrei wirst du gewogen und vermessen - bald wird dir ein Chip eingepflanzt - und dann komplett beim Standesamt registriert. Weiter geht es mit Impfen, Schulpflicht, Wehrdienst, Ausbildung, Arbeitsamt, biometrischer Paß, Steuernummer, Versicherungspflicht, Strafmandate, Scheidung, Offenbarungseid, Frühpensionierung, Pflegeheim, Friedhof. Überall hat der Staat seine Finger im Spiel.

F. Okay, dafür gibt es ja die Ämter. Finanzamt, Zoll, Arbeitsamt, Jugendamt, Sozialamt, Gesundheitsamt, Amtsgericht, Veterinäramt, Forstamt, Gefängnis und natürlich die Polizeidienststelle und am Ende die Friedhofsverwaltung.

M. Weil alles seine Ordnung haben muß, so will es der Staat. Doch mit der Polizei wird der Staat plötzlich ziemlich leibhaftig. Auch mit der Politesse, wenn sie dir einen Strafzettel wegen Falschparken hinter den Scheibenwischer klemmt. Dann darfst du die unzähligen Beamten und Staatsangestellten nicht vergessen, die sich in unzählgen Ämtern gegenseitig Arbeit zuschanzen und nebenbei auch das Leben der Bürger verwalten. Denke etwa ans Finanzamt. Da sitzt ganz oben der Finanzminister mit seinen Staatssekretären und Ministerialdirektoren, dann geht es allmählich...

F. Hinunter die hierarchische Leiter bis zur Finanzamtsreinmachefrau. Du erzählst mir da nichts Neues. Die unzähligen Ämter mit ihren Heerscharen an Personal nennt man übrigens Staatsbürokratie, die sich im Laufe der Zeit zu einem ausdifferenzierten, überaus komplexen, weitreichenden und zunehmend intransparenten Staatsapparat entwickelte.

M. Der zur Prosperität eines Landes nur wenig bis absolut nichts beiträgt, sondern nur Unsummen verschlingt und im schlimmsten Falle eine komplette Volkswirtschaft in den Ruin treibt.

F. Da stellt sich überhaupt die Frage: Was nützt uns der Staat?

M Wir haben gerade den Staat ziemlich runter gemacht und ihn gleichsam als Schmarotzer dargestellt. Indes würde genau genommen eine moderne Gesellschaft ohne Staat gar nicht funktionieren. Stell dir mal vor, eine Bevölkerung von Millionen Menschen wollte seine vielfältigen Probleme und Konflikte ohne feste Regeln, ohne eine Autorität regeln, ohne eine Macht, die stark genug ist, die Einhaltung dieser Regeln durchzusetzen, dann kommt dir bestimmt ein Grauen. Der Mensch ist zwar ein soziales Wesen, das ohne Mitmenschen nicht leben kann, aber er ist auch ein Egoist mit ausgeprägtem Macht- und Geltungstrieb. Im täglichen Leben würde das zu Reibereien und Feindseligkeiten ohne Ende führen, die ohne regulierende, schlichtende sowie strafende Autorität früher oder später zur völligen Anarchie mit Mord- und Totschlag ausarten würden. Die heutige Massengesellschaft braucht einfach einen Staat, der deren vielfältigen Ansprüche, Belange, Probleme, Konflikten nach festgelegten Regeln organisiert.

F. Und wer legt die Regeln fest? Etwa der Staat selbst?

M. Früher schon, aber heute? Na ja, Demokratien haben solch ein Regelwerk, das auch den Staat im Zaume zu halten sucht, man nennt es Verfassung oder Grundgesetz, das theoretisch von der Mehrheit der Bevölkerung legitimiert sein sollte, obgleich die Praxis oft anders aussieht. Zum Beispiel bei uns in Deutschland. Da wurde der Bevölkerung die freiheitlich demokratische Grundordnung von teils selbst ernannten Verfassungsvätern einfach aufs Auge gedrückt, nach dem Motto, Vogel friß oder stirb. Immerhin weist unser Grundgesetz dem Staat mehr oder weniger schwammig formulierte Aufgaben zu, die zum Wohle des Bürgers und des Staates dienen sollen.

F. Und welche Aufgaben sind das?

M. Eine ganze Reihe, zum Beispiel Schutz des Bürgers vor Bedrohung seiner Sicherheit; die Sorge für Bildung und Ausbildung; Schaffung und Unterhaltung von Infrastrukturen, die für das öffentlicheund wirtschaftliche Leben bedeutsam sind, wie der Bau und Unterhalt öffentlicher Verkehrswege, Sicherung der Energieversorgung, Telekommunikation und so weiter.

F. Das leuchtet alles ein, ohne diese Dienste würde eine moderne Gesellschaft nicht funktionieren. Sie braucht einen Dienstleister, auf den sie sich verlassen kann. So gesehen kann man den Staat auch als eine Art Dienstleistungsunternehmen verstehen. Oder?

M. Im Prinzip schon. Oder anders gesagt, der Staat sollte ein Dienstleistungsunternehmen sein. Aber erzähl das bloß keinem Politiker, der hielte dich für völlig übergeschnappt, zumal er von deinem Geisteszustand sowieso noch nie viel gehalten hat. Genau genommen hast du freilich recht, denn in einer Demokratie ist der Demos, also das Volk, der eigentliche Herrscher, dem der Staat zu gehorchen hätte wie ein Diener seinem Herrn und nicht umgekehrt.

F. Hört sich gut an, zumindest für den Bürger. Dem dürfte in dem Fall auch das Recht zustehen, seinen Dienstleister zu überwachen und ihn falls nötig auch zu tadeln, ja vielleicht sogar zu bestrafen. Und wenn er überhaupt nicht spurt, wird er einfach gefeuert, der Dienstleister.

M. Das würde dir so passen, den Staat feuern. Zugegeben, das wäre manchmal gar nicht schlecht, trotzdem wird genau anders herum ein Schuh daraus, mein Lieber. Wenn du nämlich dem Staat nicht gehorchst, dann feuert er dich nicht nur, sondern steckt dich ins Gefängnis. So sieht die Sache aus. Weißt du, der Diener hat seinen Herrn schon lange fest im Griff, heute mehr denn je, darüber solltest du dir keine falschen Vorstellungen machen. Der Staat kennt dich mittlerweile besser, als du selbst. Was glaubst du.

F. Aber unsere Freiheit, Max, was passiert mit unserer Freiheit?

M. Wieder so eine Frage. Denk heute Abend mal darüber nach, vielleicht zehn Minuten, Fred, das schaffst du schon. Aber paß auf, daß du vorher nicht einschläfst und vielleicht noch von der Freiheit träumst. Das könnte zu falschen Schlüssen führen. Weißt du, auch wenn du die Freiheit zum Fliegen in dir spürst, bist du trotzdem kein Vogel. Denk an den Schneider von Ulm, der hat es auch probiert. Wie die Sache ausgegangen ist, muß ich dir wohl nicht erzählen. Oder?

F. Doch, die Geschichte interessiert mich. Wie war das nochmal mit dem Schneider von Ulm?

M. Ganz einfach, Fred, in die Donau ist er reingefallen und ersoffen. So kommt’s halt, wenn man die Freiheit falsch versteht.

F. Max, kannst du mir sagen. was Freiheit überhaupt bedeutet?

M. Du fragst mich noch ein Loch in den Bauch, Fred.

F. Besser dämlich gefragt, als dumm geantwortet. Du, Max, wenn ich jetzt an eine Zigarette denke, kommt mir fast das Kotzen, obwohl ich unbedingt eine brauche. Was mache ich jetzt bloß?

M. Zuerst auskotzen und dich dann ablenken lassen von der Gruppe HISS, Polka für die Welt.

F. Na ja, dann mach mal zu! - Mein Gott, ist mir schlecht.

(4/1) Wer hat den Staat erfunden?

M. So, hast dich ausgekotzt, geht’s jetzt besser?

F. Klar doch, ich habe mir in der Verzweiflung eine angesteckt, und schon kam wieder Licht in die Welt. So, Max, was ich dich noch fragen wollte, wer hat eigentlich den Staat erfunden?

M. Den Staat erfunden, den Staat erfunden, was für eine Frage. Du glaubst doch nicht, daß sich da einer den Kopf zermarterte, weil ihm der Staat fehlte. Den Staat hat niemand erfunden, der Staat hat sich entwickelt.

F. Einfach so, aus sich heraus?

M. Natürlich nicht, den Staat haben Menschen gemacht, wer denn sonst. Darüber sprachen wir schon, oder?

F. Ja, wir waren uns einig, daß der Staat irgendwie aus dem Volk stammt. Aber es muß ihm ja schließlich jemand eine Gestalt und dieser Gestalt den Namen Staat gegeben haben.

M. Okay, manche Historiker behaupten, der Engländer Thomas Hobbes sei sozusagen der Erfinder des modernen Staates, er habe als erster den Staat als ‘künstliche Person’ definiert, die losgelöst ist von der Person des Herrschers. Und dieser Person hat er dann die Gestalt des Leviathans verpaßt, ein gefräßiges Monster das bräsig auf dem Volk lastet, mit seinen tausend Tentakeln in jeden Winkel greift und dir mit seinen Saugnäpfen das Geld aus der Tasche zieht.

F. Ekelhaft.

M. Dabei hatte Hobbes lediglich eine Vision.

F. Die prompt eingetreten ist.

M. Eher schleichend, aber unaufhaltsam, nicht zu bremsen. Mit dem Franzosenkönig Ludwig XIV. ging es dann richtig los.

F. Du meinst den Sonnenkönig, der so gegen 1700 das Schloß Versailles bauen ließ, wo die Hofschranzen notfalls in die nächste Ecke kackten, weil man die Toiletten vergessen hatte?

M. Das tut jetzt nichts zur Sache. Jedenfalls hatte Ludwig XIV. (um 1670) klar erkannt, wie nützlich dieser Leviathan sein kann, wenn man ihn nur gut dressiert und vor seine Hofkarosse spannt. Der König brauchte haufenweise Geld für seine Hofhaltung und Kriege, die dazu noch ohne Ende Kanonenfutter verschlangen. Also befahl er seinen Schranzen, einen effektiven Apparat aufzubauen, der imstande ist, das Volk bis auf den letzten Blutstropfen mit Abgaben und Steuern auszuquetschen und alle jungen Männer, die einigermaßen gerade gehen können, zwangsweise zu rekrutieren, wo ihnen auf dem Schlachtfeld die Gelegenheit geboten wurde, den Helden zu spielen.

F. Soviel ich weiß, entstand der erste Staat, der kalkuliert die Massen für seine Zwecke mobilisierte, aus den Wirren des revolutionären Frankreichs. In der Zeit wurde übrigens auch das erste Gesetz der allgemeinen Wehrpflicht für Männer zwischen 19 und 26 erlassen.

M. Menschenmaterial bis zum Abwinken! Da knallten die Champagnerkorken in den Offizierskasinos. Und der Musterschüler Preußen brachte in der Folge den Staat zur Blüte. Überlege mal, gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte Preußen im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl den umfangreichsten Staatsapparat der Welt. Was glaubst du, was er damit wollte? - Keine Frage, natürlich wollte er das tägliche Treiben des Volkes voll in den Griff kriegen, was glaubst du. Er wollte das Volk möglichst komplett in seinen Dienst stellen.

F. Daran hat sich bis heute nichts verändert. Oder?

M. Es hat sich was verändert, aber hallo. Die da oben sind ja nicht doof und wissen genau, wer ihnen gefährlich werden könnte, nämlich das ›Volk, der großen Lümmel‹, wie der Dichter Heine schrieb.

F. Du meinst Aufstände, Revolutionen und so.

M. Richtig. Und was macht man mit der Kanaille, damit sie nicht aufmuckt?

F. Am Genick packen, verprügeln, einsperren. Was man mit Lümmeln eben so macht.

M. Das sagst du, weil du von Erziehung keine Ahnung hast. Das beste Mittel aufsässige Kinder zu disziplinieren und fügsam zu machen, ist das rechte Maß von Belohnung und Strafe. Also Zuckerbrot und Peitsche. Vor allem Zuckerbrot ist wichtig, und zwar in Form von Geschenken und Wohltaten. Beides schafft Dankbarkeit, Vertrauen und das vage Gefühl, etwas schuldig zu sein. Das begannen die Mächtigen zu begreifen und bescherten dem Volk so nach und nach Wohlfahrtssysteme wie Krankenkasse, Rentenversicherung, Arbeitslosengeld sowie Bildungseinrichtungen, also Schulen und Universitäten. Vor allem der Fürst von Bismarck machte sich damit einen Namen, ich meine mit der Einführung einer Sozialversicherung.

F. Aber züchtet man mit Bildung nicht automatisch Revolutionäre heran, wo doch gebildete Menschen viel kritischer sind als Analphabeten?

M. Im Gegenteil, so widersinnig das klingt. Die Tapferkeit und Siege der preußischen Truppen führte man praktisch auf den hohen Bildungsstand seiner Soldaten zurück. Die Preußenkönige waren eben clever und hatten früh erkannt, wie man durch geschickt gesteuerte Bildung die Köpfe der Untertanen für den Staat gewinnt.

F. Außerdem brauchte der heranwachsende Staat eine Unmenge Personal, vor allem gut ausgebildete Bürohengste, Juristen und andere Wortklauber. Und zwar Heerscharen, was denkst du.

M. Heute sind es eher Bürostuten, die den Hengsten ihren wohl temperierten Arbeitsplatz streitig machen. Was?

F. Dafür sorgt die Frauenquote.

M. Quatsch, doch nicht in den Ämtern. Es ist schlicht gesagt die leichte und saubere Arbeit in klimatisierten Räumen. Oder hast du schon Frauen auf dem Bau gesehen, im Wald oder bei der Müllabfuhr?

F. Fred, wir sind beim Staat!

M. Ich weiß. Wo sind wir stehen geblieben?

F. Bei Bismarck.

M. Jetzt paß auf, Fred. Das war nämlich so. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nahm die Industrialisierung einen mächtigen Aufschwung, während die Arbeiterschaft verarmte und verelendete. Das konnte die Obrigkeit keinesfalls dulden, nicht weil ihr die armen Menschen Leid taten, nein, die Obrigkeit hatte Angst vor Unruhen, Widersetzlichkeiten, Aufständen, Revolutionen. Nur deshalb begann der Staat, die schützenden Hände über das soziale und wirtschaftliche Leben zu breiten. Mit Hilfe von Gesetzen wurden die Arbeitsbedingungen erträglicher gemacht und Wohlfahrtseinrichtungen geschaffen. Der Staat zeigte sich demonstrativ tief besorgt um das Wohlergehen seines Volkes. Stell dir das vor! Den Menschen imponierte das gewaltig, und sie waren dem Staat sogar dankbar, wie er zunehmend alle Bereiche des öffentlichen Lebens unter seinen Fittich brachte.

F. Ist doch bequem, wenn der Staat für einen sorgt. Was er in die Hand nimmt, muß du schon nicht selber machen.

M. Hat leider seinen Preis, denn der Staat macht garantiert nichts umsonst. Will er mal kein Geld, dann eben ein bisserl Stück Freiheit, verstehst du?

F. Apropos Freiheit, Max, müßten wir nicht mal klären, was Freiheit überhaupt bedeutet?

M. Nicht heute, Fred. Falls du freilich nicht warten kannst, dann besorgst du dir einfach die neuste Botschaft der Freiheit unsres allseits geschätzten Bundespastors.

F. Quatsch, ich will’s von dir wissen, allein weil du politisch nicht gebunden bist, und deine Meinung sowieso nichts zählt.

M. Soll das ein Kompliment sein, oder was? Trotzdem, ich mag jetzt nicht, steck dir die Freiheit an den Hut, die Freiheit hast du immer. Oder besser, du hörst dir das bekannte Lied Die Gedanken sind frei an. Sehr frei und einfühlsam interpretiert von Judith von Hiller.

M. Fred, du fragst mich noch ein Loch in den Bauch.

(5/2) Staat und Krieg

F. Max, hör mal. Kannst du mir sagen, warum ganze Völker gegeneinander Krieg führen und nicht nur deren Staaten, die in der Regel den Krieg angezettelt haben?

M. Klar doch, Fred, nichts einfacher als das. Im übrigen kennst du die Antwort. Überleg doch mal, kann ein Staat überhaupt Krieg führen? Wie will er das bloß machen?

F. Das kann er wohl. Die beiden Weltkriege hätte es zum Beispiel nicht gegeben, ohne gut funktionierende Staaten. Nach der ersten Schlacht wäre den Soldaten die Munition ausgegangen und etwas später hätten sie nichts mehr zum Futtern gehabt und wären an Entkräftung gestorben. Damit wäre der Krieg aus gewesen. Meinst du nicht auch?

M. Etwas schlicht gedacht, mein Lieber. Also erstens sind Soldaten Menschen aus dem Volk, der Staat benutzt sie nur. Das haben wir abgehakt. Zweitens zetteln Regierungen Kriege an und nicht Staaten, die ja nur Mittel zum Zweck sind. Das dürfte auch klar sein. Aber in einem stimme ich dir zu, ohne einen tüchtigen Staat wäre ein Krieg schnell zu Ende.

F. Schön, daß du mir auch mal recht gibst. Denn jetzt kommt Hobbes Leviathan ins Spiel, der auf Geheiß der Regierung alles an sich reißt und dafür sorgt, daß der Krieg möglichst bis zum Endsieg geführt werden kann. Koste, was es wolle.

M. Genau, erst im Krieg zeigt es sich, was ein Staat wirklich wert ist. Gerade während des 1. Weltkrieges liefen die Staaten zur Hochform auf und erzielten spektakuläre Erfolge. Innerhalb kürzester Zeit brachten sie ganze Volkswirtschaften in Schwung, heizten riesige Waffenschmieden an, die unglaubliche Mengen an Kriegsgerät und Munition im Akkord produzierten. Gigantische Heere wurden ausgerüstet und versorgt. Komplette Eisenbahnnetze wuchsen aus dem Boden. Die Propagandaabteilungen hetzten das Volk auf, machten den Feind zum Ungeheuer und logen den gerechten Krieg zurecht.

F. Und vergiß nicht die zehn Millionen junge Männer, die auf den Schlachtfeldern verheizt wurden, von den Abermillionen Kollateralschäden ganz zu schweigen. Hut ab vor den Toten aber auch vor der unvorstellbaren Leistung ihrer Mörder! Das muß zuerst mal einer nachmachen!

M. Hat man wohl, im 2. Weltkriegs, und zwar ums Vielfache getoppt. Das nennt man Fortschritt! Außerdem mußten Millionen Juden und Zigeuner erfaßt, wegtransportiert, vergast und entsorgt werden. Das war eine logistische Meisterleistung, die nur ein perfekt funktionierender Staat schaffen konnte. Was glaubst du!

F. Max, jetzt reichts, dein Zynismus ist unerträglich. Vergaste Juden entsorgen. Das ist doch astreiner Antisemitismus. Außerdem wurden sie verbrannt.

M. Ja, ich weiß. Den Knüppel Antisemitismus hat man schnell zur Hand.

Übrigens, was die sterblichen Überreste betrifft: Glaubst du, deine kläglichen Reste seien Kompost für die Friedhofsblumen? Nicht umsonst gräbt man ein zwei Meter tiefes Loch, um deinen Kadaver loszuwerden. Und deine Asche ist hoch kontaminiert mit Schwermetallen, das ist erwiesen. Was von dir übrig bleibt, zählt als Sondermüll.

F. Es ist vieles erwiesen, auch die Tatsache, daß der Staat inzwischen fast jede Lebensregung des Bürgers erfaßt, digitalisiert und in Megacomputern abspeichert, die so viel elektrischen Strom fressen, wie eine mittelgroße Stadt. Merkwürdig, über den Stromverbrauch des Staates hört man so gut wie nichts, obwohl beim Staat der Strom auch nicht aus der Steckdose kommt.

M. Darüber spricht man nicht und schon gar nicht kritisch, verstehst du. Was der Staat treibt, ist immer richtig, ja sogar notwendig, und zwar stets zum Wohle des Bürgers, auch wenn der das nicht kapiert. Schließlich kann der Staat nichts dafür, wenn der Bürger zu beschränkt ist und selber nicht weiß, was ihm gut tut. Außerdem kann er ja auswandern, wenn ihm der Staat nicht paßt. Die Freiheit dazu haben wir, sie ist uns vom Grundgesetz garantiert. Was glaubst du.

F. Aber wohin auswandern? Dort wartet bestimmt der nächste Staat, der vielleicht alles noch viel schlimmer treibt.

M. Womit du rechnen mußt. Höchstens du suchst dir eine menschenleere Insel und gründest dort deinen eigenen Staat. Und zwar einen Ich-Staat mit allem drum und dran. Siegmund Freud wäre begeistert. Das triebgesteuerte Es ist der kollektive Unverstand, das Über-Ich die Regierung, und das Ich bist du in deiner ganzen Triebhaftigkeit..und damit wäre der Ich-Staat am Ende.

F. Ja, genau, weil ein Vater fehlt, der dich fest an der Hand nimmt und dich sicher durch die Unbilden des Daseins führt und dir als besorgter Vormund die Verantwortung für die Gestaltung deines Lebens abnimmt.

M. Jetzt schwafelst du wie unser Bundespastor, nur nicht so salbungsvoll. Aber zurück zum Staat, mit ihm sind wir noch lange nicht fertig .

F. Wieso, ist nicht so ziemlich alles gesagt?

M. Mein Gott, Fred, die Bibliotheken sind voll mit breit angelegten Abhandlungen über den Staat. Ein Staatsrechtler nach dem anderen, jeder zitiert jeden, und jeder hat recht. Das geht zurück bis Platon und Aristoteles. Im Grunde stimme ich dir zu, es ist tatsächlich alles gesagt und die Wahrheit schon lange am Licht. Trotzdem wird das Thema wieder und wieder durchgekaut, und was hinten rauskommt.. ach, lassen wir das. Für mich ist der Staat ein astreiner Autist, total auf sich selbst und seine Empfindlichkeiten bezogen. Es geht immer nur um ihn, sein Recht, seine Macht, seine Sicherheit; alles und jeder hat sich ihm unterzuordnen, sonst Gnade Gott. Der Staatssicherheitsdienst, sorry, der Verfassungsschutz lauert an jeder Ecke, und wehe, deine Ansichten sind zu weit links, oder manchmal auch rechts, dann bis du ein Extremist und kommst als Staatsfeind auf die Abschußliste. Verstehst du.

F. Also für meine Begriffe hat der Staat einfach schiß, das Volk könnte ihn eines Tages aus dem Sattel heben und sagen: Tut uns leid, lieber Staat, verpiß dich, jetzt sind wir selber Staat.

M. Du siehst die Sache wieder völlig falsch, Fred, schiß hat alleine die Regierung. Der Staat sitzt absolut fest im Sattel, dem kann heute keiner was. Ja, er ist wie ein Zentaur, der gleichsam mit dem Volk verwachsen ist, und deshalb glaubt, es sei selber das Volk. Und selber kann sich das Volk wohl kaum vom Sattel stoßen, oder?

F. Völlig richtig. Da siehst du wieder, wie fest man in alten Denkmustern steckt.

M. Daran wird sich auch nichts ändern, solange du nicht begreifst, daß der Staat ursprünglich als Machtinstrument in die Welt gesetzt wurde. Zwar hat er gelernt, sein wahres Gesicht hinter freundlichen Masken zu verstecken und sein Gewand der Mode anzupassen, aber im Grunde bleibt er immer derselbe Gauner.

F. Was ich noch fragen wollte, Fred: Traust du dem Staat auch was Gutes zu?

M. Fred, du fragst mich noch ein Loch in den Bauch den Bauch.

F. Besser dämlich gefr...nein, ich wollte sagen, heute bestimme ich, wer die Musik spielt.

M. Jetzt hats gschnaklt. Also, was schwebt dir denn so vor.

F. Reinhard Mey, Sei wachsam. Wenn’s recht ist.

(6/2) Wer schütz uns vor dem Staat?

F. Also Max, die Sache mit dem Staat besorgt mich schon. Wenn nun der Staat so etwas wie ein Raubtier ist, dann sage mir bitte, wer schützt den Bürger vor dem Staat.

M. Das ist einfach gesagt, Fred, der Staat schützt uns, er gibt uns Sicherheit. Das ist eine seiner vornehmsten Aufgaben.

F. Max, du hast meine Frage nicht verstanden. Ich meine, gibt es in unserer Gesellschaft eine Einrichtung, die mich und dich und die Andern vor der Willkür des Staates schützt?

M. Okay, Max, die Sache ist ziemlich kompliziert, aber ob du es glaubst oder nicht, es ist tatsächlich der Staat, der uns vor dem Staat schützt, beziehungsweise schützen sollte.

F. Das wäre etwa so, als würde ein Dieb auf mein Haus aufpassen, damit er nicht einbricht und mich bestiehlt. Das ist doch absurd.

M. Der Vergleich hinkt, der Staat ist kein Dieb, der klaut, wo und was er will. Sondern dem Staat sind klare Grenzen gesetzt, und zwar durch die Verfassung, die sich im Grunde der Staat selber gegeben hat. Verstehst du?

F. Nö, überhaupt nicht. Am besten du gibst ein Beispiel.

M. Zum Beispiel die Menschenrechte wie Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Recht auf Meinungsfreiheit, Recht auf Versammlungsfreiheit, Recht auf Bildung, Recht auf Arbeit undsoweiter. Damit also die Menschenrechte eingehalten werden, dafür hat der Staat zu sorgen, und zwar mit entsprechenden Gesetzen und der Polizei. Oder nehmen wir die Europäische Menschenrechtskonvention, wo ausdrücklich geschrieben steht, daß niemand gezwungen werden darf, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten. Im selben Atemzug heißt es aber, Wehrpflicht und Militärdienst sind davon ausgenommen. Ein weiteres Beispiel, Artikel 4 Grundgesetz „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

F. Hört sich alles sehr bürgerfreundlich an. Aber auch sehr juristisch, mit Hintertürchen und so. Da bleibt wohl am Ende von der guten Absicht nicht mehr viel übrig, oder?

M. Weißt du, Fred, auch die Menschenrechte wurden von Juristen ausgeklügelt, und was dabei herauskam, sind natürlich gewaltige Wortlabyrinthe, in denen sich jeder normal denkende Mensch hoffnungslos verirrt. Dahinter steckt Methode, Fred, denn was für dich und mich zunächst einfach und verständlich klingt, sieht der Jurist meist wesentlich differenzierter. Außerdem gehört es zum Beruf des Juristen, sich auf keinen Fall festzulegen. Der Jurist leidet berufsbedingt unter Begriffsklaustrophobie, er braucht einfach Hintertürchen, durch die er sich, wenn’s eng wird, hinauswinden kann.

F. Das blick ich schon. Aber warum schreibt man anstatt Kriegsdienst mit der Waffe nicht einfach Kriegsdienst? Wo ist da der Haken?

M. Überleg doch mal, du bist Wehrdienstverweigerer, und der Krieg beginnt. Dann wirst du trotzdem ganz rechtmäßig zum Kriegsdienst eingezogen, nur, das ist der kleine Unterschied, drückt man dir kein Gewehr, sondern einen Spaten in die Hand und befiehlt dir, an vorderster Front einen Schützengraben auszuheben. Jetzt frage ich dich, ist der Spaten eine Waffe?

F. Kommt darauf an.

M. Sagst du, aber nicht der Jurist. Für ihn ist der Spaten ein Gartengerät. Fertig. Und wenn du dich weigerst, den Befehl auszuführen, wirst du vor ein Kriegsgericht gestellt und wegen Befehlsverweigerung erschossen. So einfach ist das.

F. Und mein Recht auf Leben, das unwiderrufliche Menschenrecht?

M. Kannst du in der Pfeife rauchen, denn im Krieg gelten Sonderregelungen, sogenannte Notstandsgesetze, verstehst du. Da haben Lügen Hochkonjunktur und deine Menschenrechte sind keinen Pfifferling wert.

F. Das heißt, im Kriegsfall sind wir dem Staat auf Gedeih und Verderb ausgeliefert?

M. Absolut. Im Übrigen heißt das Verteidigungsfall und nicht Kriegsfall.

F. Logisch, deshalb haben wir auch ein Verteidigungsministerium und kein Kriegsministerium.

M. Und zwar weltweit! Die internationale Staatengemeinschaft hat sich ohne wenn und aber, und zwar einstimmig, auf Verteidigungsministerium geeinigt; die Kriegsministerien wurden abgeschafft. Außerdem gelten nach der Nürnberger Konvention Angriffskriege als Verbrechen gegen die Menschheit. Und welcher Staat will in der Welt schon als Verbrecher verschrien sein.

F. Ein Glück für die Menschheit. Damit dürften Angriffskriege Geschichte sein. Wenn niemand angreift, muß sich auch keiner verteidigen, logisch. Endlich Friede auf Erden!

M. Wenn’s nur wahr wäre, aber da sind ja unsere grundhuman gesinnten Politiker, denen, glaubt man ihren Worten, der Frieden, die Freiheit und das Wohl der Menschen über alles geht, und die einfach nicht ertragen können, wenn zum Beispiel in einem rohstoffreichen Land ein Diktator seine Bürger knechtet, schändet und massakriert.

F. Ja, ich weiß, schweren Herzens müssen dann eben diese herzensguten Politiker solchen Schurkenstaaten den humanitären Verteidigungskrieg erklären und sie in die Steinzeit zurück bomben, siehe Irak, Afghanistan, Libyen.

M. Genau auf dieser Schiene fuhr damals unser Kriegsminister Struck: Deutschlands Freiheit wird am Hindukusch verteidigt.

F. Kurze danach bekam er einen Schlaganfall.

M. Göttliche Strafe oder Zufall, wir wissen es nicht.

F. Max, hör mal.

M. Ja, Fred.

F. Du weichst aus, Max, ich habe eine Frage gestellt.

M. Ach so, wer uns vor dem Staat schützt. Ich sagte ja, der Staat mit seiner Verfassung. - Aber irgendwie gefällt mir die Antwort auch nicht.

F. Also nach meiner Meinung gibt es nichts, was uns wirklich vor der Willkür des Staates schützt. Außer wir schützen uns selbst.

M. Fred, fast hätte ich es vergessen, da gibt es doch eine Einrichtung, die uns schützen könnte, zumindest theoretisch, nämlich das Parlament mit entsprechenden Gesetzen. Nur, das ist die Frage, will das Parlament den Bürger tatsächlich vor der Willkür des Staates schützen?

F. Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, wo doch die Mehrheit der Abgeordneten in der Regel brav den Maßnahmen der Regierung zustimmt. Tun sie das nicht, sind sie ziemlich schnell ihren Job los. Oder?

M. Weißt du, Fred, Abgeordnete müssen ein sehr elastisches Gewissen haben, das ihnen erlaubt, ohne innere Konflikte stets die Meinung ihrer Parteiführung zu vertreten.

F. Aber sollen Abgeordnete nicht den Willen ihrer Wähler, also des Volkes vertreten?

M. Natürlich sollten die das, sie tun’s aber nicht. Herrgott nochmal. Zur Ablenkung brauche ich jetzt einen Blues: Blues is a feeling gespielt von der blues company.

(7/2) Wer kontrolliert Regierung und Staat

F.Hör mal, Max. Kannst du mir sagen, wer in einer Demokratie Regierung und Staat kontrolliert?

M. Aber klar doch, Fred, nichts einfacher als das. Regierung und Staat kontrolliert das Volk, so steht’s im Grundgesetz.

F. Das wissen wir inzwischen. Nein, Max, ich meine Regierung und Staat. Wer kontrolliert die beiden?

M. Das Volk, sagte ich ja. Du mußt einfach besser zuhören, Fred.

F. Drück dich mal deutlicher aus. Vorschlag, Max, laß uns doch einfach Staat sagen, wenn wir Regierung und Staat meinen, das ist einfacher, und wir wissen ja, daß beide gemeint sind. - Was sagst du, das Volk kontrolliert den Staat? Ich dachte anders herum wird ein Schuh daraus?

M. Nein, Fred, jetzt spreche ich von der Idee, verstehst du, vom Grundgedanken, auch wenn die Wirklichkeit ganz anders aussieht.

F. Dann ist mit der Wirklichkeit wohl einiges schief gelaufen, was?

M. Ja, natürlich, das ist immer so. Zuerst hast du eine Idee; dann versuchst du die Idee ins praktische Leben umzusetzen, und irgendwann merkst du, daß du meilenweit von der Idee abgetriftet bist.

F. Klar, das ist etwa so wie bei einem Kapitän, der den Kurs auf die Azoren in seinen automatischen Rudergänger eingibt, sich dann einen hinter die Binde kippt und sein Schiff fröhlich nach Westen laufen läßt. Weil er aber pennt, merkt er nicht, wie Wind und Strömung das Schiff weit nach Süden versetzen, bis es schließlich auf ein Riff vor Madeira knallt und untergeht.

M. Gutes Beispiel, schlechter Kapitän. Aber es stimmt, wenn man den Staat nicht ständig kontrolliert, läuft er schließlich aus dem Ruder und ratzfatz haben wir den totalen Maßnahmenstaat - Demokratie adele, tschüsle, wär ja so schön gewesen. Gel.

F. Wer ist man?

M. Was man?

F. Du hast gesagt, ›wenn man die Entwicklung des Staates nicht ständig kontrolliert...‹. Ich möchte wissen, wer sich hinter dem man versteckt.

M. Ach so, dann sag es doch gleich. Also man ist ein unpersönliches Fürwort, das...

F. Weiß ich. Komm bitte zur Sache.

M. Warum bist du plötzlich so aggressiv? Wenn dir die Thematik zu komplex ist, können wir meinetwegen über Linsen und Spätzle reden.

F. Jetzt spiel bloß nicht die beleidigte Leberwurst. Also wer ist man?

M. Sei bitte nicht so ungeduldig, ich muß ja auch zuerst überlegen. Also im Prinzip steht man für Volk.

F. Jetzt sag bloß nicht, das Volk paßt auf den Staat auf wie ein Bienenschwarm auf seine Königin.