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© 2017 Andreas Fries, Dr. Jens Hirt

Umschlag: Sophie Weiss, Werkstatt, München

Innenlayout und Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Druck: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-37460-4047-9

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Kommunikation

Der Weg zur Moderne

Ohne Kommunikation keine Zivilisation. Architekten, Generäle, Chirurgen und Entdecker begannen ihre Abenteuer im Kopf. Dabei griffen sie auf externe Informationen zurück, die ihnen in schriftlichen Quellen oder in Erzählungen mitgeteilt wurden. Diese Informationen mit ihren eigenen Ideen kombinierend, entwarfen sie freischwebende Kuppeln, gewannen Schlachten, retteten Menschenleben und fanden unbekannte Welten. Nach getaner Arbeit konnte man sich dann durchaus ein Denkmal errichten, indem man die eigene Geschichte erzählte. Dadurch wurde man selbst zur Quelle für Andere. »Wir sind alle Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen«, heißt es beim Kirchengelehrten John of Salisbury (1115–1180). Nicht ungewöhnlich ist hierbei der Gebrauch der Lüge, um die Sicht der Zeitgenossen auf vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Welten zu manipulieren. So wurde Generalfeldmarshall Hindenburg als »Sieger von Tannenberg« (1914) verehrt und T. E. Lawrence machte sich selbst zum Eroberer von Akaba (1917). Dabei entwickelte den Plan zu Tannenberg ein Oberstleutnant Hoffmann während Hindenburg seinem Stabschef zufolge die meisten wichtigen Entscheidungen verschlafen hat. Immerhin war er während der beschrieben Ereignisse dabei. Im Gegensatz zu Lawrence »von Arabien«, der viele Leistungen in seiner Bestseller-Autobiografie »Die sieben Säulen der Weisheit« einfach erfand. Mit Kommunikation die Vergangenheit zu verändern, ist tatsächlich eher Regel als Ausnahme. Kommunikation kann sogar noch Erstaunlicheres als die Zukunft planen und die Vergangenheit verändern.

Was wenn man auf der Grundlage völlig falscher Informationen einen völlig falschen Plan entwirft? Im 15. Jahrhundert las Don Cristóbal Colón zwei absurd ungenaue Weltkarten und kombinierte seine bereits fehlgeleiteten Vorstellungen mit den Erzählungen eines Alt-Testamentarischen Propheten. Der stellte in den Büchern »Esra« und »Amiatinus« wilde und jeglicher Basis entbehrende Vermutungen über die Zusammensetzung der Erde an, z.B. dass sie zu sechs Siebenteln aus Landmasse bestehe. Don Cristóbal vermutete deshalb in weniger als einer Woche von Andalusien nach China, Indien und Japan zu segeln, um von dort Gold mitzubringen. Dass er nach zwei Monaten Amerika entdeckt hatte, bestritt der als Columbus unsterblich Gewordene bis ins Grab. Die Art wie wir kommunizieren bestimmt unser Denken, unser Handeln und damit unser Schicksal entscheidend. Das gilt sowohl für die empfangenen wie auch für die gesendeten Informationen. Manchmal können wir sie präzise einsetzen, wesentlich häufiger treiben sie uns in völlig ungeahnte Richtungen.

Dieser Bedeutung angemessen bieten uns die Kommunikationswissenschaften mehrere 100 Definitionen für »Kommunikation«. Der Einfachheit halber stützen wir uns hier auf eine Verständliche:

»Menschliche Kommunikation kann folglich definiert werden als Prozess wechselseitig aufeinander bezogener, reflexiver und intentionaler Symbolverwendung (symbolische Interaktion) mit dem Ziel gegenseitiger Verständigung über Bedeutungen.«1

Auch diese einfache und verständliche Definition, lässt sich in viele Forschungsfelder aufteilen, mit vielen Namen anreichern und somit auf eine, deutlich komplexere, wissenschaftliche Abstraktionsebene empor heben: Von Kommunikationsprozessen sprechen z.B. Systemtheoretiker wie der Soziologe Niklas Luhmann. Die Wechselseitigkeit ist die Frage nach dem Feedback und damit ein weites Feld, auf dem sich so unterschiedliche Charaktere wie der Dramatiker Bertolt Brecht und der Medienkritiker Walter Lippmann finden. Reflexion ist eine Frage der Dialektik, Intention eine Frage der Hermeneutik. Die Verwendung von Codes zur Informationsübermittlung macht Kommunikation zu einem Feld der Technik. Bedeutungsvermittlung liegt irgendwo zwischen dem Kommunikationsforscher Friedemann Schulz von Thun und dem Hirnforscher Wolff Singer.

Unumstritten scheint immerhin das erste Wort von Klaus Becks Definition zu sein: Denn mit dem Begriff der »menschlichen« Kommunikation, hat er bereits den Sonderstatus unserer evolutionären Besonderheit betont.

Sprache

Entwicklung

Weshalb entwickelte keine der 4 Milliarden Arten – soweit wir wissen – eine dem Menschen vergleichbare Zivilisation? Seit sich unsere Vorfahren als Homo Sapiens über die primitiveren Verwandten erhoben, haben wir den Globus derart verändert, dass Forscher jetzt vom Anthropozän sprechen. Was macht uns so wirkungsvoll, dass wir den Planeten – also Flora, Fauna, Klima, Geologie usw. – seit Mitte des 20 Jahrhunderts exponentiell verändern? Die Kombination von einer langen Wachstumsphase, die eine spezielle Gehirnentwicklung mit sich bringt, aufrechtem Gang, feinmechanischen Händen, ganzjährige Zeugungsbereitschaft und sozialer Orientierung hat sich evolutionär als besonders Leistungsfähig erwiesen. Dazu kommen der Drang und die Liebe zur Kommunikation. Wir können und wollen nicht schweigen, ja wir haben Kommunikation in Dichtung, Musik und Malerei sogar zu unserer höchsten Kunstform erhoben. Deshalb wollen wir uns hier mit dem Aspekt der Kommunikation beschäftigen und einen kurzen Überblick über deren Entwicklung als Motor des Menschen geben.

Die Produkte des Gehirns und der Hände sind immer auch deshalb Produkte der Gemeinschaft weil die herstellenden Individuen ihr Wissen weitergeben. Und das Soziale erreicht seine bestmögliche Effizienz nur mit bestmöglicher Kommunikation. Nun ist Kommunikation weder auf Akustisches beschränkt noch allein dem Menschen gegeben. Alle Säugetiere beherrschen Körpersprache. Dominanz- und Demutsgesten, Drohgebärden und Zuneigungsbekundungen gehören zum Repertoire ihres Lebens. Das Erfolgsmodell »Mensch« verfügt zudem über eine komplexe akustische Sprache. Die menschliche Sprache ist einzigartig. Sie unterscheidet uns wesentlich von den anderen ca. 9 Mio. verschiedenen Arten der Erde. Mag unsere Sprache auch nicht so schön klingen wie die der Nachtigall, uns nicht zur Orientierung dienen wie einer Fledermaus, ihr Schall nicht so weit reichen wie der eines Wales und ihr Gebrüll nicht so Mark erschütternd sein wie das eines Löwen, so dient sie uns doch zur Konstruktion der Welt. Nur der Mensch gibt seiner Umwelt durch sprachliche Zuschreibungen eine strukturierte Bedeutung. Wir geben Dingen, Orten und Handlungen einen Namen. Dieser Name wird ein allgemein verständlicher Teil unserer sozialen Kommunikation. Damit erlangen wir Macht über das Bezeichnete und können es in unsere Planungen einbeziehen. Wir können uns vor gefährlichen Orten, Dingen und Lebewesen in Acht nehmen. Wir können unsere Furcht bekämpfen, indem wir phantastische Gefahren in Erzählungen und Mythen meistern. Und wir können alles zum Teil einer Strategie machen, deren Umsetzung in der Zukunft liegt. »Wie bezwingen wir sie?« »Wie nutzen wir deren Potenzial?« Bevor wir im Leben unsere Umwelt beherrschten, beherrschten wir sie sprachlich. Macht beginnt mit Kommunikation.

Von Natur aus relativ schwächlich, ziemlich langsam und mit einem eher dünnen Fell ausgestattet, war der Mensch nicht unbedingt dafür prädestiniert die Zeiten der Säbelzahntiger, Mammuts und Bären zu überleben. Geschweige denn, sich von solchen Tieren zu ernähren. Stellt man einen einzelnen Menschen neben einen Bären, erscheint es ziemlich offensichtlich, wer hier wen frisst. Also war der Mensch schon recht früh darauf angewiesen, sich zu organisieren. Organisation zur Jagd bedarf nun nicht zwingend einer komplexen Sprache. Das schaffen Wölfe, Löwen und Schwertwale auch mit einem wesentlich kleineren Artikulationsspektrum. Einen deutlich höheren Standard benötigten wir vermutlich vor allem ab jenem Zeitpunkt, an dem wir von Jägern und Sammlern zu Ackerbauern und Viehzüchtern wurden.

Diese »Neolithische Revolution« ereignete sich vor ca. 11.000 Jahren. Ackerbau und Viehzucht ermöglichten ganzjährigen Zugang zu Lebensmitteln und erforderten weniger Energie- und Zeitaufwand für die Nahrungsbeschaffung. Diese Vorteile führten letztendlich dazu, dass immer mehr Menschen zusammen lebten. Mehr Menschen benötigen mehr Organisation und mehr Organisation benötigt mehr Kommunikation. Die komplexere Struktur größerer Gemeinschaften erforderte Arbeitsteilung. Alsbald gab es Experten für dieses und jenes. Fürs Vieh, für Anpflanzung, für Essenszubereitung, für Kleidung, für Medizin usw. Experten wiederum entwickeln ihre eigene Fachsprache, es entstand Expertenkommunikation. Ohne Kommunikation wäre die Erlangung und Weitergabe der nötigen speziellen Fachkenntnisse für die jeweiligen Tätigkeiten nicht möglich. Ab dieser Zeit war, wie es der Ägyptologe Jan Assman so schön formulierte, das einzelne Individuum nicht mehr Träger der gesamten Kultur seiner Gemeinschaft.

Heute steht die »Neolithische Revolution« als großer Schritt kaum mehr in Frage. Thesen wie die des 1968 Hippie-Anthropologen Marshall Sahlins gelten als exzentrisch. Er sah diesen großen Schritt der Menschheit vor allem einen fatalen Schritt weg von den glücklichen Zeiten, als Jäger und Sammler wenig arbeiteten – unter 15 Std. die Woche – und in einem zufriedenen Zen-Zustand lebten. Denn: Erst mit dem Eigentum erfanden die Menschen Gier, Armut und Unrecht und damit auch Mord und Totschlag.2 Dennoch hat sich nicht der auf dem Baum entspannende Urzeit-Hippie durchgesetzt, sondern der schuftende, ehrgeizige Kreative. Der Mensch lieferte sich bis heute seinem eigenen Fortschritt aus. Merkantilismus und Effizienz liegen uns entweder in den Genen oder sie sind ein Pfad, den man nicht mehr verlassen kann, wenn man einmal darauf wandelt.

Der Mensch kommunizierte allerdings auch schon vor der Neolithischen Wende ausgiebig. Wieso? Brauchte er fürs Jagen und Sammeln doch nur rudimentäre Kommunikation? War die Kommunikation letztlich doch nur ein zufälliges Nebenprodukt, welches der aufrechte Gang freigesetzt hatte? Schließlich brauchten wir unseren Mund nicht mehr als Werkzeug, da jetzt ja die Hände frei waren. So die Theorie des Paläo-Anthropologen Andre Leroi Gourham in »Hand und Wort«. Eine Frage, die wir auch heute noch nicht definitiv beantworten können.

Ursprung

Die Sprache ist für den Menschen so bedeutend und die Tatsache, dass sie nur ihm gegeben wurde ist so auffällig, dass es umtriebige Geister schon immer beschäftigt hat woher die Sprache kommt. Gibt es eine »Ur-Sprache«, die in jedem Menschen schlummert? Um dieser Frage auf die Spur zu kommen war man in vergangenen Zeiten nicht eben zimperlich. Ein römisch-deutscher Kaiser, von der Kirche gerne einfach der Antichrist genannt, befahl deshalb Experimente mit Kindern. Er ließ im 13. Jh. Neugeborene ohne menschliche und vor allem sprachliche Zuwendung aufwachsen. Diese armen Kinder starben aber bald stumm geblieben, und damit ohne die Neugier Friedrichs des Zweiten von Hohenstaufen befriedigt zu haben. Zu Recht nennt man dieses Experiment heute das »verbotene Experiment«. Die Frage indes blieb bestehen. Sie beschäftigte auch den prominentesten Vertreter der heutigen Linguistik Noam Chomsky. Der hatte viele der existierenden Sprachen untersucht und kam zum Ergebnis, dass es eine universelle Weltgrammatik gebe. Da die Sprache an vielen Orten autonom entstand, müsse sie demnach bereits in der Grundstruktur des Menschen angelegt sein. Sprache sei uns also angeboren. Eine Ansicht, die vor ihm schon Charles Darwin geäußert hatte. Mit dieser These einer angeborenen Universalgrammatik widersprach Noam Chomsky dem Vater der modernen Linguistik Ferdinand de Saussure. Irgendwann, so Saussure, seien die Menschen übereingekommen, dass alle dasselbe meinen, wenn sie »Stein«, Sonne, »Mensch« etc. sagen. Damit wäre Sprache eine soziale Übereinkunft, also etwas künstlich Geschaffenes und eben nicht angeboren. Der aktuelle Stand in diesem Streit: Eine humanistische Variante des verbotenen Experimentes mit Zebrafinken und die Genforschung, genauer das defekte FoxP2-Gen auf Chromosom Nr. 7 bei Mitgliedern der so genannten KE-Familie, senken die Waage in diesem noch nicht entschiedenen Streit in Richtung Noam Chomsky. Die Voraussetzung zu sprechen ist in unser Erbgut eingeschrieben.3

Sprache ermöglicht den Menschen die Organisation von Gemeinschaften, sie gibt uns Macht über das Bezeichnete und sogar über die Zukunft, die wir planerisch verändern können – wenn auch oft nicht mit dem angestrebten Ergebnis. Gesprochene Sprache allein hat für die Kommunikationsansprüche des Menschen aber zwei gewaltige Nachteile: Ihre allzu kurze Reichweite und ihre schnelle Vergänglichkeit. Es bedurfte also einer Option, Sprache zu speichern und zu verbreiten. Speichern und/oder Verbreiten sind zugleich die beiden Hauptfunktionen von Medien. Und die Schrift sollte beide erfüllen und somit zum Motor der Zivilisation werden.

Schrift

Schrift gibt es schon lange. Vermutlich seit über 6000 Jahren. Tatsächlich diente sie in ihren Ursprüngen keinen schöngeistigen, gar literarischen Zwecken. Die ersten Schriftzeichen waren mathematischer Natur und sollten einen Überblick über Vorräte und Ernteerträge liefern. Bald folgten Gesetze und Verträge, die durch Schrift für jeden verbindlich festgehalten werden konnten. Aus solch profanen Fesseln befreit, strahlte für uns Kinder der europäischen Kultur die Weisheit der Worte zum ersten Mal mit der griechischen Philosophie, aus der Vergangenheit über die Jahrtausende bis in die Gegenwart. Doch gerade ihre Besten, Platon und dessen Lehrer Sokrates, standen der Schrift durchaus skeptisch gegenüber. Mit dem »kalten Medium«, so meinten sie, trenne sich das Argument von seinem Urheber.4 Ein geschriebenes Wort kann man nichts fragen, man kann mit ihm nicht diskutieren. Ein Irrtum, denn ein institutionalisiertes Schriftsystem besticht ja gerade durch die Möglichkeit, auf alle anderen existierenden Texte zuzugreifen. Man kann die Aussagen eines Autors mit den Aussagen vieler anderer Autoren vergleichen, an vielen Orten und zu jeder beliebigen Zeit. Diese Verfügbarkeit entband die Weitergabe von Inhalten von der physischen Präsenz der Autoren und Lehrmeister. Sie machte die Schrift zu dem Informationssystem der Moderne. Und immerhin wissen wir von ihrem großen Kritiker Sokrates nur durch seinen Schüler Platon. Der schrieb die Worte seines Meisters im 4 Jh. v. Chr. für die Nachwelt auf. Wenn auch nur zögerlich und tastend, indem er seinen Schriften die Form gesprochener Dialoge gab.

Heute herrscht in weiten Teilen der Welt das lateinische Alphabet. Mit dem Kniff des Alphabets, das Lauten ein bestimmtes Zeichen – z.B. einen Buchstaben – zuordnet und deren Kombination wiederum bestimmte Inhalte – z.B. Wortbedeutungen – zuordnet, können wir alle Worte unserer deutschen Gegenwartsprache, ca. 500000, und auch die Worte der meisten anderen Sprachen schriftlich fixieren. Die Kapazität ist derart groß, dass es den meisten Menschen nicht möglich ist, sie komplett zu nutzen. Der passive Wortschatz, also die Worte die wir verstehen können, beträgt im Schnitt ca.180 000 Wörter. Die Spannbreite des aktiven Wortschatzes reicht von bescheidenen ca. 12000 Worten bis zu Johann Wolfgang Goethe, der in seinen Werken 90.000 unterschiedliche Begriffe verwendet hat.

Die Schrift institutionalisiert also die Sprache. Sie erhöht ihre Effizienz, systematisiert und bürokratisiert sie. Zusammen beschreiben Sprache und Schrift den Raum in dem wir leben. Jenseits dieses fassbaren Raumes gibt es noch viel mehr – aber unserem sprachlichen Zugriff entzogen bleibt es für uns unfassbar.

Denken

Aufklärung und Wissensgesellschaften

Doch allein die Ahnung, dass sich uns etwas entzieht, dass etwas im Unbekannten existiert, machte den Menschen schon immer rastlos. Ohne diese Rastlosigkeit kein Fortschritt, kein Rad, keine Antibiotika, keine Flugreisen. Aber auch kein Schießpulver und keine Atombomben. Kommt das Unglück also daher, dass wir Menschen einfach nicht ruhig in unseren Zimmern bleiben können, wie der Mathematiker Blaise Pascal meinte? Vermutlich, denn die Welt würde heute ganz anders aussehen, wenn wir Menschen weniger aktiv gewesen wären. Das eigentlich hedonistisch gemeinte »Carpe diem« wandelten wir in ein fleißiges »Nutze den Tag« um. Allerdings nimmt das Schicksal bereits seinen Lauf, bevor wir unsere Entdeckungsschiffe besteigen oder unsere Forschungslabore betreten. Jede große Entdeckungsfahrt, sei zum legendären Südkontinent Terra Australis, zum Mond oder ins Reich der Nanoteilchen, beginnt mit dem Versuch, sich den unentdeckten Welten im Geist zu nähern. Wir verlassen unsere Zimmer zuerst im Kopf. Hier beginnen alle großen Reisen und Entdeckungen. Denn wir haben die Macht, unser Denken von Konventionen und Dogmen zu befreien. Es kommt zu Paradigmenwechseln. Die Bedeutung, die in der Überwindung des Alten liegt, manifestiert sich dann in Wort und Schrift.

Doch ebenso wie Schriften den Fortschritt symbolisieren, kann eine dogmatische Schrift die allgemeine Entwicklung hemmen. Das tut sie vor allem, indem sie andere Schriften und freies Denken verdrängt. Die islamische Welt orientiert sich am Koran, säkulare Schriften bringen die erstarrten Gesellschaften kaum hervor. Arabien leistet mit über 400 Millionen Einwohnern momentan nur 1% der weltweiten Buchproduktion. Das wirkt sich wiederum auf die Bildung aus. Arabische Studierende schneiden im internationalen Wettbewerb deutlich schlechter ab, als ihre Kollegen aus anderen Weltgegenden. »This is apparent in the poor performance of students on international assessments of scientific, mathematical and reading skills and in their limited creative abilities and limited advanced knowledge skills.«5

Der russische Kommunismus glaubte an Karl Marx´ sozial-ökonomische Thesen aus seiner Schrift »Das Kapital«. Nachdem 70 Jahre alle Widersprüche zensiert und verfolgt worden waren, ging die Sowjetunion an der Schwäche ihrer wirtschaftlichen Dogmen unter. Natürlich zerstörte auch der Afghanistan-Krieg das kommunistische Riesenreich. Und natürlich hat die arabische Welt auch noch andere Defizite, wie die niedrigste Beschäftigungsquote junger Frauen oder die schlechteste Jobentwicklung weltweit. Aber gerade freie Schriftproduktion war schon immer ein Zeichen für Vitalität oder Stagnation. So wie heute der nur arabisch publizierte Koran von den meisten Anhängern in Indonesien, Pakistan, Iran gar nicht verstanden wird, so erstarrte auch Europa eintausend Jahre im Klammergriff einer nur lateinisch publizierten Bibel, die alle anderen Schriften dominierte. Erst als Luther sie im 16. Jh. in Volkssprache übersetzte, öffnete das den Weg für Interpretationen. Die Gedanken wurden befreit.

Und welch freieres Denken hätte es jemals geben können als jenes, welches uns die Größen der Aufklärung bescherten? Voltaire und John Locke in ihrer ersten Generation und Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel in ihrer zweiten Generation. »Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, so Immanuel Kant 1784. Wie ungemein produktiv waren diese Intellektuellen, Literaten und Philosophen, die dem Menschen zeigten, dass er alles wissen kann wo er bisher doch nur zu glauben gewagt hatte. Es entstand ein positivistisches Vertrauen in die schöpferische Kraft der Wissenschaften. Und mit diesem ein gewaltiger Schub, der den Menschen unaufhaltsam in die Moderne trieb.

Das Medium, mit dem all dies geschaffen wurde, war die Schrift. Die Möglichkeit, Informationen zu speichern und zu verbreiten, und das Potential von Texten, durch Querverweise, wie z.B. Zitate und Fußnoten, auf andere Texte zu verweisen, machte die Schrift zum Werkzeug von Forschung und Lehre. Denn damit konnten Bücher die eigene Aussagekraft belegen und mit den Büchern anderer Autoren in Verbindung treten. Sie ermöglichten Expertenkommunikation, ohne dass die Anwesenheit von Experten nötig war. Das alles war bereits vor dem Buchdruck möglich gewesen, aber nur quälend langsam. Texte mussten in jahrelanger Handarbeit mühsam einzeln abgeschrieben werden. Erst Gutenbergs Erfindung der Druckplatten am ausgehenden 15. Jahrhundert löste dieses Problem. Eigentlich war der Buchdruck schon Jahrhunderte zuvor in Ostasien entwickelt worden. Aber im spätmittelalterlichen Europa traf er zusammen mit einem geistigen Aufbruch, dessen Motor er wurde. Vor Gutenberg konnten nur 3% der Deutschen lesen und ein Buch kostete einige Monatsgehälter. Jetzt explodierte die Buchproduktion innerhalb von zehn Jahren nahezu, was dazu führte, dass Bücher günstiger wurden. Die Alphabetisierungsquote stieg und es entstand ein Buchmarkt. Wo bisher wohlhabende Mäzene Inhalte und Themen diktiert hatten, übernahm allmählich das Wechselspiel aus Angebot und Nachfrage. Hinzu kam, dass die bei handschriftlichen Kopien naturgemäß große Fehlerquote durch den Einsatz immer gleicher Druckplatten überwunden war. Der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler sprach vom »ersten Fließband der Technikgeschichte«. Bereits die Anfänge der Schrift waren ökonomischer Natur gewesen. Und trotz der ungeheuren Produktivität in Belletristik, Philosophie und Rechtstheorie blieb der Kern das Effizienzdenken.

Grenzen der Aufklärung