Predigtstudien

Predigtstudien

Herausgegeben
von Wilhelm Gräb (Geschäftsführung),
Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann,
Doris Hiller, Kathrin Oxen, Christopher Spehr,
Christian Stäblein und Birgit Weyel

Im Jahr erscheinen zwei Halbbände.

Inhalt

31.05.2020Pfingstsonntag

Apostelgeschichte 2,1–21:

Alle beieinander an einem Ort

Kristina Kühnbaum-Schmidt / Ralf Meister

01.06.2020Pfingstmontag

Johannes 20,19–23:

Alles ist verwandelt – aber auch vergeben?

Matthias Liberman / Lars Heinemann

07.06.2020Trinitatis

4 Mose 6,22–27:

»… man nennt es Glück«

Martin Weeber / Ruth Conrad

14.06.20201. Sonntag nach Trinitatis

Apostelgeschichte 4,32–37:

Imagine … no possessions

Redlef Neubert-Stegemann / Matthias Kempendorf

21.06.20202. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 11,25–30:

Unsanfte Landung

Peter Meyer / Lars Charbonnier

28.06.20203. Sonntag nach Trinitatis

Micha 7,18–20:

Vor Hoffnung verrückt

Rolf Stieber / Gerhard Zinn

05.07.20204. Sonntag nach Trinitatis

Römer 12,17–21:

Nichts leichter als das!

Christoph Vogel / Doris Hiller

12.07.20205. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 5,1–11:

Geheimnis des Glaubens

Ernst Michael Dörrfuß / Wilhelm Gräb

19.07.20206. Sonntag nach Trinitatis

5 Mose 7,6–12:

Liebe ist willkürlich

Klaus-Dieter Kaiser / Rüdiger Sachau

26.07.20207. Sonntag nach Trinitatis

Hebräer 13,1–3:

»Der Gast bringt Gott herein«

Susanne Wolf / Martin Vetter

02.08.20208. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 9,1–7:

Dialog im Dunkeln

Stefanie Arnheim / Katharina Fenner

09.08.20209. Sonntag nach Trinitatis

Jeremia 1,4–10:

Zwischen Politik und Mystik: Das Ringen um die Zukunft

Friedhelm Hartenstein / Horst Gorski

16.08.202010. Sonntag nach Trinitatis

Kirche und Israel

Römer 11,25–32:

Worauf du dich verlassen kannst!

Sylvia Bukowski / Peter Bukowski

16.08.202010. Sonntag nach Trinitatis

Gedenktag der Zerstörung Jerusalems

Römer 9,1–5:

Wider die Gleichgültigkeit

Barbara Hanusa / Torsten Wilhelm Wiegmann

23.08.202011. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 18,9–14:

Sein, wie ich bin

Christa Usarski / Renate Gerhard

30.08.202012. Sonntag nach Trinitatis

1 Korinther 3,9–17:

Bauen – Wohnen – Glauben

Wolfgang Vögele / Uwe Hauser

06.09.202013. Sonntag nach Trinitatis

Apostelgeschichte 6,1–7:

Das Tischtuch nicht durchschneiden

Antje Eddelbüttel / Holger Treutmann

13.09.202014. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 19,1–10:

Ansichtssache

Manuel Stetter / Stefan Egenberger

20.09.202015. Sonntag nach Trinitatis

1 Mose 2,4b–9(10–14)15(18–25):

›Bewahrung der Schöpfung‹ – macht das (noch) Sinn?

Kathrin Oxen

27.09.202016. Sonntag nach Trinitatis

2 Timotheus 1,7–10:

Selig die Unverschämten!

Susanne Platzhoff / Nina Heinsohn

04.10.2020Erntedankfest

Markus 8,1–9:

Was macht uns satt?

Christian Grethlein / Lutz Friedrichs

04.10.202017. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 15,21–28:

Grenzüberschreitungen

Michael Schneider / Kristian Fechtner

11.10.202018. Sonntag nach Trinitatis

5 Mose 30,11–14:

Es ist das Wort ganz nahe bei dir

Heinz-Dieter Neef / Birgit Weyel

18.10.202019. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 4,22–32:

Klamottenwechsel

Katharina Krause / Verena Mätzke

25.10.202020. Sonntag nach Trinitatis

Markus 2,23–28:

Gute Ordnungen – ja, aber welche?

Constanze Thierfelder / Doris Gräb

31.10.2020Reformationsfest

Matthäus 10,26b–33:

Es gilt ein frei Bekenntnis

Ingo-Christoph Bauer / Reinhard Mawick

01.11.202021. Sonntag nach Trinitatis

Jeremia 29,1.4–7(8–9)10–14:

»Wo es auch sei«

Jörg Schneider / Kerstin Menzel

08.11.2020Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

1 Thessalonicher 5,1–6(7–11):

Hoffnungsrüstung für das Leben

Christine Siegl / Ricarda Schnelle

15.11.2020Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres

Lukas 16,1–8(9):

Sei ein Sünder und sündige tapfer!

Christian Butt / Helge Martens

18.11.2020Buß- und Bettag

Jesaja 1,10–18 :

»Wie könnt ihr nur?«

Kristin Weingart / Teresa Schweighofer

22.11.2020Letzter Sonntag des Kirchenjahres, Ewigkeitssonntag

Offenbarung 21,1–7:

Eine gefüllte Ewigkeit

Jan Janssen / Ulrike Suhr

22.11.2020Letzter Sonntag des Kirchenjahres, Totensonntag

1 Korinther 15,35–38.42–44a:

Auferstehen in Kraft

Jan Hermelink / Hans Martin Dober

Vergleichstabelle zur neuen Predigtperikopenreihe

Perikopenverzeichnis

Anschriften

Pfingstsonntag

A

Apostelgeschichte 2,1–21:

Alle beieinander an einem Ort

Kristina Kühnbaum-Schmidt

IEröffnung: Guten Morgen, du Schöne!

Guten Morgen, du Schöne! Ja, das wäre doch mal ein pfingstlicher Morgengruß zum Geburtstag der Kirche. Da schwänge etwas mit von der aufregenden Entdeckung des Apostels Paulus: dass man zu Gott gehört, weil man von ihm eingeladen und bei ihm willkommen ist. Nicht weil man alles richtig gemacht hat, sondern weil Gott uns ihm recht macht. Guten Morgen, ihr Schönen!

Um an der Gemeinschaft teilzuhaben, die Gottes Einladung folgt, braucht es nicht viel. Aber eines schon: ein schlichtes Willkommen – und weit ausgebreitete Arme. Wo ein solches Willkommen gelebt wird, wo es die Kultur der Kirche und der Gemeinden prägt, da werden wohl Menschen einstimmen in einen solchen pfingstlichen Morgengruß: Guten Morgen, du Schöne!

Und dann zusammensein in Gottes Namen, in der Liebe Christi, in der Gemeinschaft von Gottes beflügelndem Geist, weil sie eingeladen sind und andere einladen. Weil sie dazugehören. So einfach kann es sein mit Kirchenzugehörigkeit und Kirchenmitgliedschaft. Ja, guten Morgen, ihr Schönen!

Zum Geburtstag gibt es Geschenke, so ist es Brauch. Auch zum pfingstlichen Geburtstagsfest. Geschenke aber können eine zwiespältige Angelegenheit sein: Nicht immer bekommt man das, was man sich wünscht; mitunter bekommt man auch etwas, was man gar nicht haben wollte. Zum Geburtstag der Kirche gibt es das größte Geschenk, das man sich überhaupt nur vorstellen kann: Gottes Geist. Dieser Heilige Geist, der an Pfingsten ausgegossen wurde, provoziert Unverständnis, nicht nur bei den Zeugen der Geistausgießung in Jerusalem. Manche der mit dem Geist Beschenkten fragen sich verlegen, was sie mit dieser Gabe anfangen sollen.

IIErschließung des Textes: Gabe und Aufgabe

Die Verlegenheit, die das Zungenreden der Jünger hervorruft, wird mit einem Scherz überspielt: »Sie sind voll süßen Weins.« Petrus aber besteht darauf, dass es hier um ernste Dinge geht. Todernst wird er in seiner Predigt, womit er zahlreiche seiner Hörer zur Zerknirschung und zur Konversion bringt (VV. 37–41). Diese Ernsthaftigkeit spricht auch aus dem Prophetenwort, das er zitiert und das die Schrecken der Endzeit vor Augen malt: »Blut, Feuer und Rauchdampf« – Schrecken, die den Menschen im Nahen und Mittleren Osten wie in anderen Teilen der Erde schon jetzt regelmäßig vor Augen stehen. Endzeitliche Katastrophen befürchten auch die Schülerinnen und Schüler, die die Angst vor den Folgen des Klimawandels freitags auf die Straße treibt. Und die zornig werden, weil sie viele schöne Worte hören, sich mehr beschwichtigt denn ernst genommen fühlen, und bei all dem nur wenig Taten sehen, die den aktuellen Herausforderungen und Problemen wirklich gerecht werden könnten.

Ähnliches erlebte die Generation, die in den 80er Jahren heranwuchs und gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstrierte. Und mit ihr die vielen in Ost und West, die sich in Friedens- und Umweltgruppen trafen und treffen und bereits seit Jahrzehnten unterwegs sind auf dem konziliaren Weg für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Auch ihre Sorgen, auch ihre Einschätzungen der Realität, auch ihre Anfragen an unseren westlichen Lebensstil wurden belächelt, beschwichtigt, beiseite geschoben. Aber die Befürchtungen waren begründet, die Sorgen und die Aufmerksamkeit für die Folgen unseres Handelns waren und sind bitter nötig. Denn damals wie heute sprechen die Fakten Bände. Und damals wie heute demonstrieren, singen, diskutieren, arbeiten und träumen Jugendliche dagegen an.

Die erschreckende Vision Joels hat auch diese tröstliche, geradezu ermutigende Seite: die Verheißung von Weissagungen und Träumen, zu denen der Geist befähigt. Weissagen und träumen, das ist die Fähigkeit, sich eine Zukunft vorzustellen, die nicht limitiert ist von den Möglichkeiten und Gesetzmäßigkeiten der Gegenwart. Es ist eine prophetische Gabe, wenn man Zukunftsszenarien entwickeln kann, die ohne das auskommen, was wir uns als unentbehrlich und unveränderlich anzusehen gewöhnt haben.

Lukas geht in der Apostelgeschichte sogar noch einen Schritt weiter: »Für Lukas gehören Geistausgießung und Gesetz zusammen.« (Jervell, 138) Darum lässt er die Ausgießung des Gottesgeistes am 50. Tag nach dem Passafest geschehen, an dem zweiten Fest, das die Christen aus dem jüdischen Glauben übernommen haben: Schawuot, im hellenistischen Judentum Pentekoste genannt (vgl. Weiser, 79). Ursprünglich ein Erntedankfest, wandelt sich Schawuot nach der Zerstörung des Tempels in ein Dankfest für die Gabe des Gesetzes am Sinai. Die Gesetzesgabe am Sinai in Ex 19 bildet die Folie für die Beschreibung der Ausgießung des Geistes, verbunden mit Sturmgebraus, Feuer und großer Aufregung. All das gipfelt schließlich in der ekstatischen Erfahrung, eins zu sein – in verschiedenen Sprachen zu hören, was in einem Geiste gesagt wird. Das Dankfest für die Gabe des Gesetzes am Sinai, die Bereitschaft zur Übernahme der 613 Mizwot und die junge christliche Gemeinschaft, die von den ursprünglich 613 Geboten allein den Dekalog rezipiert und beflügelt wird vom Heiligen Geist, der eine andere Sprache zu sprechen scheint als die Sprache des Gesetzes vom Sinai – wie verhält sich beides zueinander? Um diesen Zusammenhang zu verstehen, muss man wohl mit Lukas zu Pfingsten fragen: Wozu wird uns denn der Geist geschenkt? Sicher nicht, damit er uns im stillen Kämmerlein als beschauliches Lichtlein leuchtet; auch nicht, damit wir mit seinem Besitz anderen etwas voraus haben. Sondern, um wie die begeisterten Jünger »von den großen Taten Gottes« zu reden. Dieses Reden von Gottes Taten bindet uns eng mit unseren jüdischen Geschwistern zusammen, die darin weit länger geübt sind und darin auf weit härtere Proben gestellt worden sind als wir. Auf sie und ihre Glaubens- und Lebenspraxis zu sehen, schult besonders darin, mit der Gestaltung des eigenen Lebens auf Gottes Heilstaten zu antworten. Denn das Reden von Gottes Taten drängt zum Handeln, wenn es nicht bloßes Gerede sein soll – daran erinnern uns nicht zuletzt die Schülerinnen und Schüler, die freitags demonstrieren. Und wie sollten wir besser für unseren Glauben werben, als wenn auch unser Handeln zeigt, wes Geistes Kind wir sind. Zu Schawuot wird das Buch Rut gelesen: Rut, die erste Proselytin der Bibel, erweist ihren Glauben durch die Tat, indem sie ihrer Schwiegermutter in eine für sie fremde Kultur folgt. »Das ganze jüdische Volk ist ja am Tag der Gesetzgebung ein gerechter Proselyt: Ein Volk, das in der Kultur Ägyptens aufwuchs, in einem fremden Land die verschiedensten Dinge erlebte, bereitet sich jetzt am Berg Sinai auf die Entgegennahme der Tora und der Last der Gebote vor.« (Lau, 284)

Die Kirchen, besser gesagt: die sich versammelnden und andere willkommen heißenden Gemeinden laden nicht nur an Pfingsten ein zu einer ›Gegenkultur‹ des Geistes, der man in und unter ihnen begegnen kann. Eines Geistes, der Visionen für eine menschen- und schöpfungsgerechte Zukunft schenkt und die Energie gibt, sie zu verwirklichen.

IIIImpulse: Geist und Gebot

Wenn die Völkerliste aus der Apostelgeschichte verlesen wird, öffnet sich wenigstens einmal im Jahr im Gottesdienst ein weltweiter Horizont. So gibt insbesondere das Pfingstfest Anlass dazu, die Welt und unsere Verantwortung für sie in den Blick zu nehmen. Die Gabe des Geistes ist dabei keine Trophäe, mit der man sich schmückt oder die man dekorativ in den Schrank stellt. Ihre Gabe ist verbunden mit einer Aufgabe. Denn der Geist befähigt uns, über unseren Tellerrand hinauszusehen – und über die Grenzen unserer kleinen Welt hinauszudenken und zu träumen.

Die Predigt am Pfingsttag anlässlich des Geburtstages der Kirche braucht sich nicht aufzuhalten mit Abgesängen auf eine an Mitgliederzahlen kleiner werdende Kirche und sie muss auch nicht stehen bleiben beim Klopfen auf die eigene Schulter, das die öffentliche Relevanz der Kirche und des christlichen Glaubens bestätigend verstärkt. Sondern sie kann neugierig und entdeckerinnenfreudig fragen, wozu uns der Geist gegeben wird, und anregende Antworten darauf skizzieren. Die Antworten könnten auch erweisen, dass wir unseren Geschwistern jüdischen Glaubens an Pfingsten näher sind, als wir vielleicht vermuten. Nicht nur wegen des Festtages, den wir von ihnen übernommen haben. Pfingsten könnte Dankbarkeit wecken für einen Geist, der uns zu unterscheiden lehrt, was dem Leben dient und was nicht. Diese Unterscheidung findet ihre Gestalt in Gottes Geboten für uns. Nicht nur beseelte Gottesdienste und soziales Engagement wecken Interesse am christlichen Glauben und für eine Kirche, die von den »großen Taten Gottes redet«, sondern ebenso ein Handeln, das die Welt als Eigentum eines anderen achtet und respektiert und Achtung und Respekt auch dem fremden Nächsten entgegenbringt. Guten Morgen, ihr Schönen! – Guten Morgen, du Schöne!

Lieder: Durch Hohes und Tiefes 353 »Damit aus Fremden Freunde werden«; als gesungenes Credo EG 253 »Ich glaube, dass die Heiligen«; nach der Predigt EG 426 »Es wird sein in den letzten Tagen«; EG 424 »Deine Hände, großer Gott«; als gesungenes Fürbittengebet EG 427 »Solang es Menschen gibt«; als Hinweis auf die Nähe zu unseren Geschwistern jüdischen Glaubens zum Segen EG 433 »Hevenu schalom« oder EG 434 »Schalom chaverim«.

Literatur: Jacob Jervell, Die Apostelgeschichte (KEK), Göttingen 1998; Israel Meir Lau, Wie Juden leben, Gütersloh 1988; Alfons Weiser, Die Apostelgeschichte (ÖTK 5/1), Gütersloh 1981.

B

Ralf Meister

IVEntgegnung: Keine besonderen Orte

»… dass wir unseren Geschwistern jüdischen Glaubens an Pfingsten näher sind, als wir vielleicht vermuten.« Diesen Gedanken von A teile ich und zögere deshalb auch, das Pfingstfest vorschnell als »Geburtstag der Kirche« zu bezeichnen (mit Wengst, 2–11). Wie A betont, versammelten sich die Jünger Jesu zum Fest Schawuot in Jerusalem und folgten dem üblichen – jüdischen – Festablauf. Das von Lukas erzählte Pfingstwunder ist eine bildmächtige Erzählung darüber, wie aus der Verzagtheit der Jünger eine Begeisterung für die Glaubensgemeinschaft mit dem Auferstandenen wurde. Heute haben Menschen bei dem Wort ›Kirche‹ eher eine Institution oder ein Gebäude vor Augen; es sind statische Bilder.

Immobilien symbolisieren die Ortsgeschichte des Christentums in unserer Kultur. Vom raumsprengenden Enthusiasmus der Gemeinde lassen sich keine Szenarien erinnern, sie müssen geschehen. Ich möchte das Augenmerk deshalb auf die Ortslosigkeit des christlichen Glaubens, die im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte bereits angelegt ist, richten.

Die Gemeinschaft der »christgläub’gen Schar« ist eine orts-lose Religion von Anfang an. Oder besser: eine Religion in Christus an allen Orten. Es bleibt eine Stärke unseres Glaubens wie auch innerhalb des Judentums nach der Zerstörung des zweiten Tempels, dass die Gegenwart Gottes nicht zuerst an bestimmte heilige Orte gebunden wird. In der hebräischen Bibel ist die Geschichte Israels eine Geschichte der nomadischen Kultur. Nach der Tempelzerstörung allerdings bindet sich der Glaube nicht an Heilige Orte.

Im palästinensischen Talmud wird erzählt: »R. Tanhuma erzählt, wie ein schrecklicher Sturm ein Boot bedrohte, in dem eine Gesellschaft von Heiden und ein jüdischer Knabe segelten. Als ihr Leben in Gefahr schien, griff jeder der Passagiere nach seinem Götterbild, um es zu verehren, doch ohne Erfolg. Endlich gab der Jude den Bitten der Heiden nach und betete zu seinem Gott, worauf die See sich beruhigte. Als sie zum nächsten Hafen kamen, gingen alle an Land, um Nahrungsmittel zu kaufen, nur der Jude nicht. Auf die Frage, warum er an Bord bleibe, antwortete er: Was kann ein armer Fremder wie ich tun? Darauf erwiderten die anderen: Du ein Fremder? Wir sind Fremdlinge; wir sind hier, aber unsere Götter sind in Babylon oder Rom. Und auch andere unter uns, die ihre Götter mit sich tragen, haben davon nicht den geringsten Nutzen. Aber wo immer Du gehst, ist Dein Gott mit Dir.« (Berachoth IX, 31f.)

In der hebräischen Bibel gibt es, mit Ausnahme des Tempels, keinen besonderen Ort. Es gibt das Land Israel, aber keine heilige Topographie. Jesus ist ein Wanderprediger in Galiläa gewesen. Paulus ein Handlungsreisender im Mittelmeerraum in Sachen Evangelium. Heimatorte werden aufgegeben, Familien und Freunde bleiben zurück; des Aufenthalts ist keine Dauer. Die Reisen durch Wüsten und fremde Länder sind ein Auftrag Gottes. Diese Bewegung findet sich auch im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte, einem dynamischen Text, der an jüdische Wurzeln anknüpft und heute zu weltweiter ökumenischer Verantwortung im Denken und Tun aufruft.

VErschließung der Hörersituation: Kirche ›bei Gelegenheit‹

Welches Bild haben Menschen von Pfingsten? Keine Krippe, keine Bach-Passion, kein Tannenbaum, keine Ostereier. Das Pfingstfest beschert uns zwar regional beheimatete Pfingstbräuche wie Pfingstbäume, Pfingstfeuer oder Pfingstochsen. Doch die Flamme auf den Köpfen der Jünger bleibt ein fremdes Bild. Das Pfingstfest mit der Ausgießung des Heiligen Geistes ist von den drei großen Festen der christlichen Kirche in der öffentlichen Wahrnehmung das sich am wenigsten sinnerschließende. Dabei könnte das Bild des Geistes Gottes, der Menschen unterschiedlichster Herkunft, Sprache und Hautfarbe miteinander verbindet, eine Leitgeschichte sein. In Zeiten eines wiedererwachenden Nationalismus, gesellschaftlicher Polarisierungen und Ausgrenzungen liegt eine ermutigende biblische Narration vor, die Grenzüberschreitungen und Bindungskraft kombiniert.

Im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte geht es um Verstehen und Verständigung, doch zugleich steht auch die Unsicherheit der sich versammelnden Gemeinde im Mittelpunkt. Die Botschaft von Aufbruch und Ortsungebundenheit einer Wanderreligion kann bei einer hochverbundenen Gottesdienstgemeinde auch Unsicherheit auslösen. Denn das, was wir heute als ›Kirche‹ verstehen, definiert sich weitestgehend ortstreu. Gerade deshalb ist Pfingsten ans Herz zu legen, dass Standorttreue nicht zu einem zwanghaften Bewahren des Status quo werden darf. In einer immer mobiler werdenden Gesellschaft verändern sich Räume rasant. Sie werden durchlässiger, werden überlagert von virtuellen Räumen und Echtzeitkommunikation, die klassische Räume scheinbar bedeutungslos machen. So wichtig Kirchbauten für die Beheimatung von Kerngemeinden in den Städten und Dörfern bleiben werden und markante Signaturen der christlichen Kultur sind, so wird auch die Kirche mobiler werden und ihre Orte anderen Akteuren zur Verfügung stellen. Es wird eine Kirche ›bei Gelegenheit‹ sein, die nicht fortdauernd zur Seite steht und die doch an den entscheidenden Wegabschnitten präsent ist. So kann sie ermutigen zu einem sich öffnenden Denken, Handeln und zur Fürbitte über die Grenzen der Gemeinde hinaus. Kirchengemeinde genügt sich niemals selbst. Kirche erhält erst im Miteinander von Gemeinden ihre Bestimmung. Sie bezeugt die Geistgegenwart von Menschen, die sich für den Sozialraum verantwortlich fühlen. Die kirchliche Organisation und ihre institutionelle Gestalt bleiben immer eine Folge ihrer Berufung und sind niemals der Ausgangspunkt. Sie bezeugt den auferstandenen Gott selbst. Ihm gilt der Raum. Gott schafft Räume, die weiter sind als alle menschlichen Entgrenzungen: pfingstliche Willkommenskultur.

VIPredigtschritte: Verortete Kirche und weltweite Heimat

Der eine Ort

Den Gedanken von A aufnehmend, dass sich »wenigstens einmal im Jahr im Gottesdienst ein weltweiter Horizont« öffnet, kann die Predigt zunächst das Bedürfnis nach Verortung und Beheimatung thematisieren. Doch darf gerade darin nicht verschwiegen werden, dass in jedem Gottesdienst in der Fürbitte dieser weltweite Horizont vor Gott gebracht wird. Apg 2,1 weist auf den »einen Ort« hin, an dem sich alle versammeln (vgl. Gebauer, 39). Die Apostelgeschichte beginnt mit der Himmelfahrt Jesu. Seine Abwesenheit ist die zentrale Herausforderung für den Glauben – damals wie heute. Weder der Tempel in Jerusalem noch der Geburtsort Bethlehem oder Nazareth spielten eine Rolle. Wo aber haftet der Glaube? In welchen Räumen findet er Gestalt?

Wo ist Christus gegenwärtig?

Hier können Erfahrungen aus der Gottesdienstgemeinde in den Blick kommen. Wo ist für Gottesdienstbesuchende an Pfingsten Jesus Christus gegenwärtig? Wo findet seine Gegenwart einen Ort und eine Gestalt im Glauben? Sind es Räume, Begegnungen? Rituale, Sakramente, Worte, Musik?

Ortslose Religion

Trotz unserer menschlichen Sehnsucht nach Heimat und Verortung: Das Christentum ist eine Religion an allen Orten. Wir aber suchen den Pulsschlag seiner Gegenwart in alten Kirchen, im kleinen Kreuz im Arbeitszimmer, in der Johannes-Passion oder dem Sonnenuntergang am Meer. Diese geistliche Beheimatung sollte nicht diskreditiert werden. Sie könnte bezogen werden auf eine weite Perspektive. Spirituelle Räume werden, anders als physikalische, als grenzenlos empfunden. Wenn wir heute auf das Pfingstereignis in einer großen internationalen Gemeinschaft schauen, stellen wir fest: Das Christentum schwingt zwischen einer individuellen Sehnsucht nach Verortung und der weltumspannenden Religion. Gemeinschaftserfahrungen sind zuerst analog und leiblich konkret. Aber schon in liturgischen Responsorien in der Fürbitte öffnet sich beispielsweise die Vor-Ort-Gemeinde mit »Herr, erbarme dich« vor Gott einem weltweiten Zusammenhang und betet für Menschen in Not in Krisengebieten. Was lokal begrenzt an einem jüdischen Feiertag begann, hat heute einen Ort: die ganze Welt. Pfingsten ist das Fest der neuen Perspektiven und Möglichkeiten. Das Trennende in Sprache und Herkunft wird durch Gott entmachtet. Verschiedenheit wird zum Anlass für Staunen und Neugierde. Die Menschheit gewinnt neue Gemeinsamkeit, ohne vereinheitlicht zu werden. Sie übt die gemeinsame Sprache, die Gott allen ins Herz gelegt hat, und tritt damit ein für eine Haltung, in der kulturelle Unterschiede als Bereicherung erfahren werden.

Werkstück Predigt (Einstieg)

»Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander.« Mit diesem Satz beginnt die Pfingstgeschichte. In den meisten älteren Luther-Übersetzungen war das als einziges Wort fett gedruckt. Das ist selten. Meist sind ganze berühmte Sätze der Bibel herausgefettet. Allein ein Wort hervorgehoben, das findet man kaum. Sie waren beisammen an einem Ort. Die Pfingstgeschichte zeigt in allen ihren rätselhaft schönen Bildern, dass der Ort, der eine Ort, an dem es geschieht, nicht beliebig ist. Wenn wir sagen: Ich bin vor Ort, meinen wir nicht irgendwo, sondern einen genau bekannten Platz. Warum ist das mit dem Ort so wichtig für das Pfingstwunder, das in unseren Alltag hineinwirkt? Warum für uns?

Literatur: Berachoth IX, zitiert nach Max Jammer, Das Problem des Raumes, Darmstadt 1960; Roland Gebauer, Die Apostelgeschichte, Teilband 1: Apg 1–12; in: Walter Klaiber (Hg.), Die Botschaft des Neuen Testaments, Göttingen 2014; Klaus Wengst, Seit wann gibt es Christentum?, in: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum Nr. 3 (2003), 2–11.

Pfingstmontag

A

Johannes 20,19–23:

Alles ist verwandelt – aber auch vergeben?

Matthias Liberman

IEröffnung: There is no fear in love

Ostersonntag an Pfingstmontag, Koinzidenz von Auferstehungsereignis und -erfahrung (Becker, 621), von Geistmitteilung, Bevollmächtigung und Sendung – alles an einem Tag. Die erzählten Verwandlungen von Jesus und den Seinen sehe ich als Folie unserer Verwandlungsmöglichkeiten. Wir leben mit dem »Geist der Furcht« (2 Tim 1,7) in einem »Zeitalter der Angst« (Tillich) in einer »Gesellschaft der Angst« (Bude).

Dagegen verteilt der Auferstandene den Seinen einen Geist der Liebe und der Kraft mit »Mut zum Sein« (Tillich). Aus diesem Geist entspringt das trotzige »Même pas peur – trotzdem keine Angst« auf Demos in Frankreich nach Terroranschlägen. Aus diesem Geist entspringt die Kampagne des Ev. Kirchenkreises Berlin-Stadtmitte: Hass schadet der Seele – Liebe tut der Seele gut. Mit Bannern vom Kirchturm. Mit Veranstaltungen. Zum Mitmachen. Gegen den Tod im Leben, gegen Hass, Rassismus, Rechtspopulismus – für diverses Leben und seine Ermöglichung (s.u. Internet). Evangelium, das an die Möglichkeit der Verwandlung glaubt, so mit unseren Ängsten und Wunden leben zu können, ohne uns übermächtig von ihnen bestimmen zu lassen, sondern aus Gott Geist zu atmen und zu handeln: There is no fear in love (vgl. 1 Joh 4,16).

IIErschließung des Textes: Verwundet verwandelt

1. Schotten dicht! Die Gruppe der Jünger sitzt unvollständig – vielleicht in Fragmentierung begriffen, ohne Thomas – am Ostersonntagabend hinter verschlossenen Türen zusammen. Aus Furcht vor den Juden ist alles verrammelt und verriegelt. Furcht, Schmerz, Sehnsucht – ihnen bleibt zunehmend die Luft weg. Es fehlen der Spirit und die Kraft zum Weiterleben. Die Jünger Jesu stecken als seine Jünger nach Jesu Tod in einer Sinn- und Identitätskrise.

»Während das Ich sich in der Routine des Alltags mit seinem sozialen Ich identifizieren kann, bricht diese Identität an den Schwellensituationen auseinander. Das Ich erfährt sich als Differenz. Das Ich wird sich fraglich. Diese Differenzerfahrung macht das einzelne Subjekt entweder im Modus des Schmerzes oder im Modus der Sehnsucht. In beidem verspürt das Subjekt ein ›Ungenügen am Hier und Jetzt‹ … (und lebt) in Treue über Verlorenes (oder)… in Treue zu seiner Hoffnung auf Ausstehendes.« (Luther, Schmerz und Sehnsucht, 308)

Erlitten ist der Schmerz des Todes Jesu, geweckt ist die Sehnsucht, dass er lebt, wie Maria ihnen gesagt hat (Joh 20,18). Sie erleben sich ambivalent, zwischen Resignation und Erlösungshoffnung.

»In Schmerz und Sehnsucht thematisiert sich die Subjektivität angesichts der Kontingenz ihrer Endlichkeit. Allerdings geben Schmerz und Sehnsucht dieser Kontingenzerfahrung eine spezifische Ausrichtung. Sie thematisieren Endlichkeit gerade nicht im Modus des bloßen Einverständnisses oder der resignativen Hinnahme, sondern vom Gedanken der Erlösung her.« (Luther, Schmerz und Sehnsucht, 310)

2. Äußere Grenzüberschreitung. Durch alle Verbarrikadiertheit erscheint der Auferstandene wundersam leibhaftig inmitten seiner Jünger. »Friede sei mit euch« – Shalom – Jesus grüßt mit dem bis heute üblichen hebräischen Alltagsgruß und stellt so ein Stückchen Alltag und Nähe wieder her – und öffnet die Jünger damit für das, was kommt. »Mögen auch Angst und Verschlossenheit noch so groß sein, der Auferstandene hat die Fähigkeit, durch verschlossene Türen zu dringen (…). Auf diese Weise kommt der Auferstandene immer wieder in eine ›verschlossene Welt‹, um sie durch seine Wirksamkeit zu einer ›offenen Welt‹ zu machen.« (Blank, 176)

Unaufgefordert zeigt Jesus seine Wundmale und erweist damit seine Identität als Gekreuzigter und Auferstandener (vgl. Becker, 621; Wengst, 559). Seine Geschichte gehört zu ihm und ist geteilte Geschichte mit seinen Jüngern. Daran erkennen sie ihn freudig als ihren bleibenden Herrn. In der erlebten Fragmentarität seines Lebens gelingt die tröstliche (An-) Erkenntnis ihrer eigenen Fragmentarität. Gerade in der Versehrtheit erweist sich christologisch gesehen die menschliche Gottebenbildlichkeit. Im Glauben gibt es daher eine gemeinsame Zukunft.

»Die Differenz, die das Fragment von seiner möglichen Vollendung trennt … verweist positiv nach vorn. Aus ihm geht eine Bewegung hervor, die den Zustand des Fragments zu überschreiten sucht. Unser Leben erwächst immer aus diesem Überschuss an Hoffnung. Uns als Fragment zu verstehen, heißt dann, daß wir nicht bei uns selbst stehen bleiben, nicht bei dem, was wir sind oder geworden sind, sondern immer auch überschreiten auf das hin, was wir vielleicht sein könnten.« (Luther, Fragment, 267)

3. Innere Grenzüberschreitung. Der verwundet Auferstandene ist ein Geist-Heiler, der mit Geist heilt: Er teilt den Jüngern Heiligen Geist in einem Kraftakt gegen den Furchtgeist mit und bläst in sie hinein (enepsisesen, V. 22). Es ist die intime, grenzüberschreitende Rettung einer Mund-zu-Mund-Beatmung, die (zurück) ins Leben holt (vgl. Gen 2,7; Ez 37,9). Ist der Sitz der Näfäsch die Kehle, muss auch da gepustet werden, wo es weh tut, damit sich Seelenheil einstellt. Ihre Verwandlung ist nicht nur äußerlich, sondern wirklich innerlich. Trauer und Angst sind ›wie weggeblasen‹. Sie waren mit Jesus tot – und jetzt leben sie mit ihm. Das macht seinen Frieden und ihre Freude aus. Er begegnet ihrer Angst mit frischem Wind, der stärker ist als sie: Heiliger Geist, der Leben verheißt (EG 171,4).

4. Macht hoch die Tür, die Tor macht weit (EG 1)! Osteradvent an Pfingsten. Gottes Geist kommt und öffnet Türen. Wie sich der Auferstandene nicht halten lässt (Joh 20,17a), so gibt es für die Jünger kein Halten mehr. Sie sind ›ganz aus dem Häuschen‹, treten über die von Jesus geöffneten Schwellen. Es gibt in Jesu Namen noch genug zu tun: Menschen vergeben, Neuanfänge ermöglichen, neuen Wegen vertrauen (EG 395). Wie der gekreuzigte und auferstandene Christus werden sie zu bewegten Bewegern, verwandelten Verwandlern und verwundeten Heilern – gerade aus der Gebrochenheit ihrer Existenz heraus können sie sich als von Gott bejaht bejahen (vgl. Tillich, 170–175).

»Sehen wir unser Leben als Fragment, dann können wir einander als Bedürftige annehmen und werden zum Leben befreit: frei von Selbstüberforderung, frei von Ängsten voreinander. Trauern, hoffen und lieben – wir können es nur, wenn wir uns selbst als Fragment verstehen.« (Luther, Fragment, 270)

IIIImpulse: Himmel über der Wunde

1. Die Ambivalenzen jeden Lebens gilt es zu benennen und auszuhalten. Niemand kommt ohne Blessuren durchs Leben, niemand ist ohne Angst. Kein Mensch. Jesu Jünger nicht, wir nicht, nicht mal Jesus selbst. Es geht also nicht um moralische Urteile über Angst an sich (allenfalls über die Instrumentalisierung derselben), sondern um die Frage, wie sehr wir unser Leben von Ängsten bestimmen lassen. Wo Schmerz ist, ist auch Sehnsucht auf sein Ende. Ohne Schmerz keine Sehnsucht, ohne Kreuz keine Auferstehung.

2. Sehnsucht birgt Hoffnung und Zukunft, Überschuss eines erwarteten Noch-nicht. Darin blitzt schon etwas von dem Geist auf, den Jesus verströmt.

3. Durch seine Wunden sind wir geheilt (Jes 53,5; 1 Petr 2,24) – in diesem Paradoxon besteht der geistvermittelte Auferstehungsglaube, der zum Leben mit den eigenen Wunden und Ängsten befähigt. Weil wir mit Christus zur Gemeinschaft der Verwundeten gehören, gehören wir mit ihm auch zur Gemeinschaft der Auferstandenen. Deswegen können auch wir diesen Geist verströmen.

Werkstück Predigt (Anfang)

In Ihrem Liedzettel liegt ein Jesus-Pflaster. Es ist ein ganz normales Pflaster, aber mit einem Jesus darauf. Es erinnert uns daran, dass er, der selbst verwundet war, unsere Wunden mit versorgt. So haben es seine Jünger erlebt. Und wenn wir das Pflaster nach der Heilung abmachen, dann gehört die Geschichte der vorangehenden Verletzung immer noch zu uns – wie bei Jesus.

›Jeder Mensch hat einen Himmel über seiner Wunde und einen kleinen gesetzwidrigen Frühlingszettel in seiner Tasche‹, so Jannis Ritsos. Wir tragen beides an und in uns: die Wunde. Und die nach Naturgesetzen nicht vorgesehene Auferstehung, das neue Leben. Entdeckst du den Himmel über deiner Wunde, dann entdeckst du etwas von deiner Zukunft, vielleicht von einer, von der du noch nichts ahnst. So wie damals bei den Jüngern …

[Lesung Joh 20,19–23]

Lieder: Durch Hohes und Tiefes 113 »Du verwandelst meine Trauer in Freude«; Durch Hohes und Tiefes 163 »Meine engen Grenzen«; Durch Hohes und Tiefes 67 »Komm, Heilger Geist, mit deiner Kraft«.

Literatur: Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 11–21 (ÖTK 4/2), Gütersloh 21984; Josef Blank, Das Evangelium nach Johannes, Teil 2, Düsseldorf 2013; Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014; Henning Luther, Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit, in: Wege zum Menschen 43 (1991), 262–273; Ders., Schmerz und Sehnsucht. Praktische Theologie in der Mehrdeutigkeit des Alltags, in: Theologia Practica 22 (1987), 295–317; Paul Tillich, Der Mut zum Sein, Stuttgart 1965; Klaus Wengst, Das Johannesevangelium (ThKNT 4), Stuttgart 2019.

Internet: Ev. Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte, Hass schadet der Seele – Liebe tut der Seele gut, https://tut-der-seele-gut.info/; Jesus-Pflaster bestellbar unter: https://www.radbag.de/jesus-pflaster, beide abgerufen am 30.11.2019.

B

Lars Heinemann

IVEntgegnung: In der Macht des Geistes Sünden erlassen – und behalten?

Mir gefällt, wie A sich diesem theologisch beinahe schon überladenen Text nähert. Das sensible Auskundschaften der äußerlichen und innerlichen Verwandlungen, die (lebens-)kluge Zuspitzung auf die Ambivalenzen, das Fragmentarische des Lebens hin, mit seinen Ängsten, den Sehnsüchten, den Wunden … der Liebe und dem Mut, immer wieder als größer geglaubt, als größer erlebt. Und mitten hinein der Geist, bei allem Österlichen und Adventlichem, es ist ja Pfingsten – ja, A, da gehe ich gerne mit.

Und gleichzeitig fehlt mir der eine (Halb-)Vers, an dem ich beim Lesen hängen bleibe. Hängen bleibe, weil er so quersteht zu dem, was ich sonst glaube und sage und predige. »Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen« – d’accord, um Vergebung der Schuld in alle Richtungen bitte ich mit jedem Vaterunser, sie feiern wir im Abendmahl, ohne kann niemand leben; »und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten« – quoi? Das kann ich entweder überlesen. Oder es zieht mich hinein in ein Feld schwer beantwortbarer Fragen.

VErschließung der Hörersituation: Um des gar nicht lieben Friedens willen

Die Perikope ist im Zuge der Revision gewissermaßen ›halbiert‹ worden: Die bekannte Geschichte vom ›ungläubigen Thomas‹ (VV. 24–29) verblieb im Osterkreis, die der – so die Lutherbibel – ›Vollmacht der Jünger‹ wurde eigenständig und wanderte auf den Pfingstmontag. Eine gute Entscheidung, weil die VV. 19–23 so allererst in ihrem eigenen Profil zum Tragen kommen, diesseits der Thomasgeschichte, auf die sich etwa auch frühere Predigtstudien ganz konzentrierten. Interessant ist der Befund zu V. 23 in den einschlägigeren exegetischen Kommentaren: Wie A (»Es gibt in Jesu Namen noch genug zu tun: Menschen vergeben, Neuanfänge ermöglichen, neuen Wegen vertrauen.«) legen sie den Fokus fast vollständig auf den ersten Halbvers (vgl. Thyen, 765f.; Wengst, 560f.; Zumstein, 760f.; ausgewogener – wenn auch nur andeutend – Schnelle, 386f.). Beinahe ist es, als werde den Jüngern alleine die Vollmacht zugesprochen, Sünden zu vergeben. Nicht aber auch die, die Schuld zu behalten. Ist der Ausgang der Perikope in gewisser Weise ›zweisinnig‹, so scheint er in den Kommentaren einsinnig positiv verkürzt.

Für mein Verständnis baut sich der Predigttext um den doppelten Friedensgruß »Friede sei mit euch!« (VV. 19.21) als Kernmotiv auf. Auf performativer Ebene geschieht genau dies: Die Furcht der Jünger verwandelt sich in Freude, über Erscheinung und Zuspruch Christi stellt sich bei ihnen und für sie Frieden ein. Die weiteren Sachmotive würde ich diesem Kernmotiv zuordnen: Sendung (V. 21), Geistgabe bzw. -empfang (V. 22) und Bevollmächtigung zu Sündenerlass und -behalt (V. 23) sind Momente des umfassenden Friedensauftrages an die Jünger. Umfassend deswegen, weil sowohl der innere (Seelen-)Frieden als auch die äußere Welt im Blick sind.

Und gerade weil dieser Blick so weit ist und gerade weil die Jünger – also wir – hier so vollumfänglich im Geist ermächtigt werden, gerade deswegen stellt sich die Frage nach dem Sündenbehalt: Braucht es neben dem Positiv der Sündenvergebung auch deren Negativ – eben damit im Sinne Christi Frieden werden kann? Dass der Heilige Geist Grenzen einreißt, dass er zuvor Getrenntes verbindet, ist im Zusammenhang mit Apg 2 ein vertrautes Pfingst-Motiv … aber gehört zum Wirken dieses göttlichen Geistes in und durch uns ebenso, dass wir klar unterscheiden, vielleicht auch scharfe Genzen ziehen – eben damit im Sinne Christi Frieden werden kann?

Biblisch ist das Motiv der scharfen (Unter)Scheidung – vom ›Schwertwort‹ (Mt 10,34) bis zur ›Scheidung der Geister‹ (1 Joh 4,1–3) – kein unbekanntes. Auch für Jesus selbst legt der neutestamentliche Befund das Doppel von Gerichts- und Heilspredigt nahe, bei merklichem Zug hin zur Letzteren (vgl. Theißen/Merz, 241–250). Dogmatisch befinden wir uns auf dem weiten Feld der Pneumatologie, im Rahmen der Perikope offenkundig im Spannungsfeld von Christologie und Soteriologie (in Abgrenzung von einem universalen Geistverständnis, das nicht mehr strikt christologisch rückgebunden ist; vgl. die Skizze bei Danz, 7–100). Ein eschatologisches Moment bleibt insofern zu berücksichtigen, als der Text offen lässt, ob Sündenvergabe und -behalt durch die Jünger den finalen Entscheid im Gericht präfigurieren – oder ob Christi bzw. Gottes Richterspruch nicht als gegenüber deren – also auch unserem – Urteil nochmals souverän geglaubt wird.

Lebensweltlich lässt sich die Bedeutung klarer Grenzziehungen an zwei konkreten Beispielen illustrieren, einmal aus der Sphäre des Privat-Biografischen, dann der des Öffentlich-Gesellschaftlichen.

Erstes Beispiel: Ein Gemeindeglied spricht mich an, bittet um Begleitung in Form von Gesprächen. In deren Verlauf kommen Erfahrungen massiver körperlicher und sexueller Gewalt in der Jugend zur Sprache, erlitten in einem christlichen Internat. Zum Abschluss seelsorgerlicher Begegnungen biete ich – wenn das Gegenüber ein Interesse daran erahnen lässt – grundsätzlich ein kurzes freies Gebet an, das ins Vaterunser einmündet. Hier zögere ich. Wie ist es mit der Teilbitte »… wie auch wir vergeben unsern Schuldigern«? Ich frage, die Antwort ist klar, dabei reflektiert und für mich unmittelbar nachvollziehbar: Manchmal kann mein Gegenüber die Bitte nicht beten, dann lässt es sie weg.

Gibt es, wo menschliche Schuld ein Leben grundlegend deformiert, Grenzen der Vergebung? Ist diese lebenslang nachwirkende Schuld gegenüber einem anderen Menschen die Sünde vor Gott, die eben zu »behalten« ist? Der Verweis auf das neutestamentliche Gebot der Feindesliebe ist das eine. Das Erleben des individuellen Schmerzes, der tiefen Schnitte – der menschenverschuldeten Schnitte –, die nie ganz verheilen können, das andere. So besonders perfide der Missbrauch von Macht im kirchlichen Bereich ist, so sehr betrifft das Thema unsere Gesellschaft im Ganzen, in allererster Linie Frauen: Laut einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erleidet jede dritte erwachsene Frau in Deutschland körperliche und/oder sexualisierte Gewalt, primärer Ort dieser Gewalterfahrungen ist eine Paarbeziehung (s.u. Internet: Lebenssituation, 10). Was dient dem Frieden Christi – Sündenvergabe oder Sündenbehalt?

Zweites Beispiel: Ein befreundeter Kollege ist auf Konfirmandenfahrt, die Gruppe besucht unter anderem einen Gottesdienst der Partnergemeinde. Gleich mehrfach wird zum anschließenden Bürgerfest rund um die Kirche eingeladen. Nicht auf dem Fest selbst, aber doch an dessen Rande hat auch die AfD einen Auftritt – und zwar in Person von Björn Höcke. Wie mit der Situation umgehen? Die Einladung der Partnergemeinde ob des Gesamtsettings ausschlagen? Das Fest besuchen, aber den AfD-Auftritt meiden? Oder gerade auch dort hingehen, wahrnehmen, was geschieht? Präsenz zeigen? Gar offen Widerspruch einlegen?

Die Frage, wie mit dem neuen Rechtspopulismus umzugehen ist, ist spätestens seit dem Jahr 2015 ein gesellschaftlich beherrschendes Thema. Dabei fordert nicht allein die Extremposition eines offen aggressiven Rassismus zur Stellungnahme heraus. Kaum minder problematisch erscheinen Stimmen, die etwa die rechtliche Gleichstellung von Minderheiten, die gesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen der vergangenen Jahrzehnte oder gleich die (repräsentative) Demokratie im Ganzen in Frage stellen. Bezeichnen Positionen, die dieserart das (Faust-)Recht des Stärkeren propagieren oder gar gewaltförmig ausagieren, die Sünde vor Gott, die eben zu »behalten« ist? Dabei stellt sich die Frage nicht einfach nur ›nach außen‹, gegenüber Teilen der Gesellschaft. Die Bruchlinien gehen ebenso durch die Kirchengemeinden selbst, vielleicht sichtbarer, aber keineswegs ausschließlich in den ostdeutschen Bundesländern. Was dient dem Frieden Christi – Sündenvergabe oder Sündenbehalt?

Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung fand sich im Sommer 2019 unter der Überschrift Politik und Affekte. Wir haben lange genug geliebt ein überraschendes Plädoyer für den Hass als Motor einer emphatisch pro-demokratischen Position: »Hass kann eine produktive, gestalterische Kraft sein, er kann Werke, Bewegungen, Revolutionen hervorbringen und die Gier und Selbstherrlichkeit der Mächtigen zähmen. Die Tabuisierung des Hasses hingegen unterstellt, dass man über alles reden kann und es für Hass im Grunde keinerlei Anlass gibt. (…) Der politische Hass, den die Linken, die Bürgerlichen und die Liberalen unangetastet verfallen lassen, steht derzeit der Rechten zur freien Verfügung. Wie erfolgreich sie ihn kanalisiert, lässt sich nicht übersehen.« (s.u. Internet: Stephan) Kirchlicherseits tun wir uns – prima facie absolut naheliegend – mit allen emotionalen Antipoden der Liebe schwer: »There is no fear in love« (A). Und doch wirft der Predigttext diese Frage auf: Könnte es neben der alle Schuld vergebenden Liebe nicht auch die Wut, ja den Hass brauchen, der die Schuld bewusst »behält«? Die Frage stellt sich umso dringlicher, wenn das Thema gerade nicht evangelikalen und charismatisch-pfingstlerischen Kreisen überlassen werden soll, die mit scharfen Abgrenzungen im Namen Christi gemeinhin sehr viel unbedarfter verfahren.

VIPredigtschritte: Fragen über Fragen

Der Duktus des Vorstehenden lässt es bereits erahnen: Der Predigttext legt meines Erachtens eine eher vorsichtige, mehr suchend-reflektierende Form nahe, die vielleicht mehr Fragen aufwirft als beantwortet – je nachdem, wie viel Gewicht V. 23b beigelegt wird. Der mit V. 23 im Ganzen aufgeworfene Anspruch an uns Jüngerinnen und Jünger ist jedenfalls immens. Einfach herzeigbare Kriterien für Sündenvergebung einerseits und Sündenbehalt andererseits gibt es nicht. Schon mit der Sensibilisierung für die Frage: ›Was ist Heiliger Geist/Geist Christi? – und was ist (Un)Geist der Welt, der Zeit, mein persönlicher (Un-)Geist?‹, scheint mir viel gewonnen.

Je nach Temperament eignet sich der Text allerdings vielleicht ebenso als Grundlage einer kräftigen ›prophetischen‹ (Gerichts-)Rede. Mindestens in seiner Grundhaltung der Wut anregend ist dann etwa das kleine Buch Desintegriert euch! von Max Czollek.

Werkstück Predigt

»Geist«. Irritierend. Eine eigenartige Kraft. Haben die Jüngerinnen und Jünger das gespürt? Spüre ich das? Merke ich, wo dieser göttliche Geist mir nahe kommt, in mich fließt, mich erfüllt, mich ausfüllt? Ist das laut und triumphal? – so wie das Leben damals unter die Jünger trat, diese Sicherheit: Jesus, unser Christus, er lebt! Oder kommt es leise? Wie durchs Schlüsselloch, wie ein leises Summen, eine Melodie, die schließlich den gesamten Raum füllt?

Jedenfalls: Dieser Geist kommt. Und mit ihm die Verantwortung. »Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.« Worte wie Donnerhall. An uns, an mir soll das hängen? Wir sollen das entscheiden? Wem die Sünde, wem die Schuld vergeben wird. Aber eben auch: wem sie »behalten« wird – und also nicht vergeben. Wir entscheiden, an wem die Schuld kleben bleibt, schwarz und schwer wie Pech? Mein Gott, was für eine Verantwortung.

Eben noch war alles laut und gelöst im Raum. Aber jetzt? Jetzt mischt sich unter das Leichte eine nachdenkliche Stille.

Literatur: Max Czollek, Desintegriert euch!, München 2018; Christian Danz, Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019; Udo Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, Leipzig 52016; Gerd Theißen/Annette Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996; Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, Tübingen 22015; Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. Neuausgabe, Stuttgart 2019; Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, Göttingen 2016.

Internet: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Ergebnisse der repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland, hg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004, https://www.bmfsfj.de/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituationsicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf; Felix Stephan, Politik und Affekte. Wir haben lange genug geliebt, 2019, https://www.sueddeutsche.de/kultur/hass-fremdenfeindlichkeit-liebe-1.4567186, beide abgerufen am 30.11.2019.

Trinitatis

A

4 Mose 6,22–27:

»… man nennt es Glück«

Martin Weeber

IEröffnung: Berührende Worte