Impressum

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Coveridee/ Coverentwurf:

Roland Alfred Schwarz (Kumoki), Gran Canaria, Spanien


Technische Umsetzung der Covergestaltung:

Marc Bakker (concept43), Gran Canaria, Spanien


Fotos zu dessen Umsetzung: Marc Bakker (concept43)


Alle Rechte am Cover bei: Roland Alfred Schwarz (Kumoki), Gran Canaria

7

Berlin-Halensee, 19. Juni, 8:20 Uhr,

„Sie kommen aber früh! Ich bin noch allein im Geschäft. Der Chef kommt erst später. Stellen Sie trotzdem alles einfach hinten in der Backstube ab!“, rief mir eine derbe Frauenstimme durch das halboffene Fenster meines Lieferwagens zu, als ich vor der Ladentür Westfälische Straße 36 in der zweiten Spur mit laufendem Motor und Doppelblinker kurzparkte.

Welch eine Begrüßung, dachte ich im Stillen und verkniff mir ein Grinsen. Tarnung perfekt: Blaumann, Schirmmütze und rötlicher Schnauzbart. Und ich wusste, dass ich mich sehr wohl im absolut richtigen Zeitfenster befand. Beschleunigten Schrittes hob ich den quadratischen Pappkarton aus dem Ladebereich meines Renault und eilte in die geöffnete Tür der BOULANGERIE TATÌN, Berlins führender Edelbäckerei, von der es bis nach draußen herrlich nach Kaffee, Quiche und Baguette duftete und deren Einrichtung so viel französische Patina besaß, dass man sich fast in Paris wähnte.

Ach ja...Paris! Im Juni vor zwei Jahren hatte ich mir dort als Pizzabote Zutritt zur Bude so eines Dreckschweines verschafft. Seine Alte fraß das Zarteste vom Dödel ihres Mannes in hauchdünnen, kross gegrillten Scheiben auf ihrer Gyros-Pizza.

Kostbare Sekunden vergingen, als mir die üppige Verkäuferin im Weg stand. Iwanka, so verriet ihr Namensschild, verabschiedete gerade frostig eine elegante Blondine. Beide tauschten dabei einen typischen Blick aus. Den, wenn zwei Frauen genau wissen, dass sie mit der anderen ein dunkles Geheimnis teilen. Das der wirklichen Farbe ihrer Haaransätze.

Iwankas kräftiger Arm dreschflegelte im Vorbeigehen kurz auf meine linke Schulter nieder, was wohl ihr Gruß war, und brachte damit meine kostbare Lieferung fast in Gefahr. Ihr kurzes Haar, mit zwei Klemmen unter dem frisch gestärkten Bäckerschiffchen festgesteckt, und dann diese Stimme...! Also, wenn da nicht ihr mächtiger Busen gewesen wäre, allein wegen dieser ungewöhnlichen Stimme, hätte man die stämmige Bäckersfrau wahrhaftig für alles Mögliche halten können.

Hinten in der Backstube steuerte ich sofort zum Teigposten und dort auf einen der rot mit GS gekennzeichneten großen dreirädrigen Teigkessel zu, in dem abgedeckt der junge Grundsauer für die Roggenbrotherstellung ruhte. Nebenan bei den Konditoren herrschte derweil emsiges Treiben. Zu meinem Glück beachtete keiner in dem halbhoch verglasten Produktionsbereich, was ich tat.

Die Hände in Latexhandschuhen hoben vorsichtig den Deckel vom Karton und öffneten flink die Stoffabdeckung des Teigbehälters bis knapp zur Hälfte. Warmer Dunst, stechend und säuerlich, schlug mir aus dem Kesselinneren entgegen. Mein Puls schoss auf Hundertachtzig. Aus dem schwarzen Plastiksack war durch das ungeschickte Hin und Her von eben ein schmaler Faden an flüssigem Rot gedrungen, das man in Anbetracht dessen, wo ich mich gerade befand, gut für Lebensmittelfarbe hätte halten können. Doch das rundliche Etwas, um dessen Willen ich all die präzisen Vorbereitungen getroffen hatte, das einen Tag und die halbe Nacht bei guter Kühlung geduldig in meinem Lieferwagen auf mich und diesen Moment gewartet hatte, war ja auch keine Überraschungstorte!

Froh und erleichtert, dass mich in Sachen Blut-und Restflüssigkeitsaustritt ein so reicher Erfahrungsschatz begleitete, blickte ich zum Abschied noch einige Sekunden in zwei erschrockene, glanzlose, weil für immer erloschene Augen, raffte das lange schwarze Haar und ließ den Kopf meiner verräterischen Freundin aus Kindertagen beidhändig ganz vorsichtig in den Kessel gleiten, bis er im grauem Morast des sauren Teiges komplett versunken war.

8

Berlin, 19. Juni, zur selben Zeit,

Hotel Globe, Rezeption

Nun war es also raus. Mona blickte in Frau Hauffs Augen und war baff. In sehr ausschweifenden, an ihre Diskretion appellierenden Worten erzählte die Empfangsdirektorin Wesentliches zur Identität des Toten und dessen Wirken im Hotel. Dieses Mal unterbrach Mona Frau Hauff allerdings nicht. Jede Einzelheit konnte von Bedeutung sein.

Beim Ermordeten handelte es sich um den Logis-Direktor des Hauses. Herr Grader, so sein Name, schien während seiner beruflichen Funktion als Verantwortlicher für die Beherbergungsleistung, zahlreiche Affären mit Hühnern aus dem eigenen Stall gehabt zu haben. Auf diese Art habe er zum beruflichen Vorankommen besonders talentierter Mitarbeiterinnen beigetragen, wusste Frau Hauff süffisant zu berichten.

Sein Konterfei auf der aktuellen Titelseite des Hochglanzmagazins, in welchem sich das Haus vierteljährlich selbst feierte, ließ in Mona die unappetitlichsten Momente der vergangenen Nacht erneut aufleben. Dabei überfiel sie das schiere Mitleid mit all jenen, die sich – für welchen Vorteil auch immer – von diesem Ekel hatten anfassen lassen.

„Schon seltsam, Frau Katz, unsere Zeitung ist fast wie von einem Fluch verfolgt und wird intern schon als Vertriebenen-Blatt verspöttelt. Noch jeder, der darin besondere Würdigung erfuhr, war bei Erscheinen oder kurz danach bei uns nicht mehr an Bord!“, flüsterte Frau Hauff mit konspirativer Miene und schob das Magazin zu Mona quer über den Tisch.

„Sehr aufschlussreich! Könnte man also davon ausgehen, dass der Mann etliche Feinde in seinem Umfeld hatte?“

„Etliche?“ Frau Hauff kicherte. „Meine Liebe, wir sprechen hier gewiss von dreistelligen Zahlen!“

Mona hasste es, wenn jemand in diesem Tonfall „Meine Liebe“ zu ihr sagte. Sie beobachtete Frau Hauffs Reaktionen. Fast konnte man eine stille Genugtuung in Frau Hauffs Mundwinkeln ablesen. Bestürzung jedenfalls sah anders aus.

Na großartig, dachte Mona, genau, was ich brauche! Obwohl die Identität des Ermordeten schneller als erwartet feststand, stieg in Mona der Unmut, ihre kostbare Zeit im öden Geflecht aus Missgunst, Rache und Machenschaften zu verplempern. Fehlte bloß noch die eifersüchtige Gattin. Aluba sollte diesen Fall einfach an das LKA zurückgeben und fertig.

„Ob Sie mich abschließend bitte noch zum Büro des Ermordeten begleiten würden, Frau Hauff?“

Ein Blick in das pedantisch aufgeräumte Büro genügte und Monas Interesse an diesem Fall tendierte schlagartig gegen Null. So kam es, dass plötzlich etwas anderes Monas Aufmerksamkeit fesselte: Ihr privates Prepaid-Handy vibrierte. Gewiss zum zehnten Mal an diesem Morgen. Es war Master René.

Seit ihrer Scheidung von Leo Katz gab es für Mona drei Grundsätze: Erstens Beruf und Privates strikt trennen und zweitens nie wieder was mit einem Polizisten anfangen. Mona liebte ihren Job. Doch der Stress und das unregelmäßige Leben waren Gift für jede Beziehung. Fastfood und schneller Sex standen auf der Tages-und Nachtordnung. Verspürte Mona doch einmal Lust, aus einem One-Night-Stand eine längere Affäre zu machen, gab sie die Nummer eines frischen Prepaid-Handys weiter. Affäre und Chip ließen sich problemlos entsorgen, wenn es Zeit war. Letzteres war ihr dritter Grundsatz.

Mit René war es vom ersten Moment an außergewöhnlich. Er erbeutete Monas Blick auf einer Vernissage, während eine unangenehme Dame wiederholt Anlauf genommen hatte, ihr ein Gespräch aufzudrängen. Seit jenem Moment ließ er nicht mehr von ihr ab. Mona genoss das Spiel aus Jagd, Verführung und Unterwerfung. Endlich war da mal ein Mann, der wusste, wie man das Wort Dominanz richtig buchstabierte. René stammte aus Arles. Und es stellte sich im Laufe der Folgetage recht schnell heraus, dass er nicht nur wie ein französischer Gott kochte. In der knappen Woche, die sie sich kannten, öffnete er Monas Körper und Seele für sinnliche Genüsse und sexuelle Spielarten, von denen sie bisher nur gelesen oder gehört hatte. Nächtelang trieben sie es in seinem Paralleluniversum. Sollte dieser Mann, sie tatsächlich so hintergangen haben?

Reflexartig grubberte Mona in ihrer Tasche herum. Sie schob ein Dienstgespräch vor und bat Frau Hauff mit Ausnahme des Hoteldirektors vorerst niemanden über den Mord an ihrem Kollegen in Kenntnis zu setzen. Nach kurzer Verabschiedung begab sich Mona vor das Gebäude.

René hatte wiederholt versucht, Mona zu erreichen. Zuletzt von einem Festnetzanschluss. Die Mailbox meldete eine neue Nachricht. Eine Mischung aus Sehnsucht und Angst erfasste Mona. Die Stimmung schlug in blankes Entsetzen um, als Renés Stimme auf dem Anrufbeantworter zu ihr sprach. Worte, bei denen aus jeder Silbe Wut und Ratlosigkeit dampfte.

„Mona, ich weiß nicht recht, woran ich bei dir bin. Hinter mir liegen Stunden, in denen ich mich immer wieder fragte, was es zu bedeuten hat, dass du heute Nacht von einer dunklen Limousine mit Blaulicht abgeholt wurdest. Wer bist du? Und wo bin ich da hineingeraten? ...“

Fassungslos starrte Mona ihr Handy an, doch die Nachricht war noch nicht zu Ende. Sie nahm es erneut ans Ohr und hörte weiter, wie Renés Telefon auf etwas Hartes aufschlug. Dann vernahm man hastige Schritte, und auf einmal den Schrei einer Frau. Sie jaulte auf wie in Todesangst und das hörte auch nicht auf, als Renés entsetzte Stimme dazukam. „...Nein! Nicht doch! Mon Dieu! Bleiben Sie wo sie sind. Ich rufe die...“ Dann machte es „Piep!“

9

Berlin, 19. Juni, 9:05 Uhr, im Taxi Nr. 224

Mona fühlte sich hundeelend. War sie gerade dabei, den größten Fehler ihrer Laufbahn zu begehen? Sie wusste zwar nicht, was da geschehen war. Doch dafür wo und bei wem. Der Schlammassel durfte nur nicht noch schlimmer werden. Höchste Zeit, dass sie endlich Licht in die Sache brachte.

„Tach, die Dame! Wenn die Gnädige mir vielleicht sagen möchte, wo’s hingeh’n soll oder woll’n Sie sich hier drin nur bisschen aufwärmen? Mir egal. Das Taxameter läuft!“

Aufwärmen. Bei 23 Grad Außentemperatur. Das war wieder typisch Berlin. Direkt und schnörkellos. Als sich die 8,05 Euro auf der Fahrpreisanzeige in 8,30 Euro verwandelten, wurde Mona wieder bewusst, dass sie seit einiger Zeit wie ausgestopft auf dem Rücksitz eines Taxis saß. Der Chauffeur schien bereits ungeduldig zu werden. Also verwarf sie ihre Idee, direkt bei René vorzufahren.

„Ich sollte vielleicht ein paar Häuserecken vorher aussteigen, um zu Fuß die Lage zu sondieren. Ja, genau!“

„Na Gott sei dank keine Taubstumme!“, entfuhr es dem Robert-de-Niro-Verschnitt hinter dem Lenkrad als Antwort auf Monas halblautes Selbstgespräch. „Und? Wohin soll’s gehen?“

Bei 8,85 Euro hatte sich Mona entschieden: „Ku’Damm, Ecke Joachim-Friedrich-Straße...Bitte!“

Kaum war der cremefarbene Mercedes auf Höhe Wittenbergplatz, klingelte Monas Diensthandy. Aluba.

Katz, egal, wo Sie sind. Wir haben beschissene Neuigkeiten. Vergessen Sie das Meeting und kommen Sie sofort her!“

Die Königin sagt immer WIR, wenn sie sich meint, ging Mona durch den Kopf, während sie nervös aus dem Fenster starrte. Vor ihrem Taxi hatte sich ein Stau gebildet. Aluba sprach weiter ohne Punkt und Komma.

„Es gibt ein zweites Opfer. Gleiches Souvenir wie bei dem Kerl von heute Morgen. Ich habe den LKA-Dorfsheriff und seine Pappnasen schon angewiesen, nichts anzufassen. Unsere Leute sind eben eingetroffen. Kommen Sie in die Westfälische Straße 36. Boulangerie Tatín. Und machen Sie hin! Ende.“

Das Smartphone in Monas Hand war plötzlich schwer wie ein Ziegelstein. Sie warf es links neben sich auf den Sitz, riss die rechte Fahrzeugtür auf und wäre um ein Haar samt Autotür von einem Doppelstockbus der Linie Nr. 100 erfasst worden. Bremsen quietschten, Menschen kreischten und ein ohrenbetäubendes Hupkonzert brach los. Mona schien von all dem nichts zu bemerken. Sie lehnte wie ein aufrecht gestellter Fisch rückwärts am Heck des Taxis und schnappte nach Luft.

„Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?“, fluchte der Taxifahrer. Er rannte um sein Fahrzeug und man konnte ihm vom Gesicht ablesen, dass er Mona am liebsten eine geknallt hätte. Das übliche Beschwichtigungsritual zwischen Taxi-und Busfahrern beendete den Vorfall. Eingehängtes Lächeln, Augenrollen, Schulterzucken plus eindeutiger Fingergesten. Gott sei dank war nichts passiert. Der Taxifahrer packte Mona derb am Arm und stopfte sie wie eine bockige Göre zurück in seine Droschke. Wortlos, grußlos und ohne Dank für das üppige Trinkgeld, entließ der genervte Chauffeur Mona später an ihrem Ziel. Der Motor heulte kurz auf und schon beschleunigte Taxi 224 in Richtung Henrietten-Platz.

10

Berlin, 19. Juni, Boulangerie Tatín, 9:35 Uhr

Aluba hatte draußen auf Monas Eintreffen gewartet. Sie fragte nicht, wo Mona herkam und warum es von dort bis hierher über 25 Minuten gedauert hatte. In ihrer linken Manteltasche steckte eine zusammengerollte Zeitung. Nicht irgendeine. DIE Zeitung. Jene mit den vier Buchstaben.

„Seine erste Frau. Sollte der verdammte Hund endlich beginnen, Fehler zu machen?“ Aluba schnaufte. Mona verstand kein Wort. Stumm sah sie zu, wie sich Aluba eine Tablette einwarf und mit Mineralwasser hinunterspülte. Dann zündete sich ihre Chefin eine ihrer filterlosen Zigaretten an, rauchte sechs tiefe Züge und verharrte in angespanntem Schweigen. So hatte Mona Aluba noch nie erlebt.

„Darf ich bitte erfahren, was hier los ist?“ Mona stand noch immer wie bestellt und nicht abgeholt vor der Absperrung am Ladeneingang. Sie zitterte am ganzen Körper.

„Katz, ich weiß absolut nicht, was hier los ist! Aber vielleicht fällt Ihnen ja etwas ein, wenn Sie das hier lesen!“ Sie holte die Zeitung hervor und hielt sie Mona mit beiden Händen wie ein Transparent direkt vor die Nase.

„EL IBERICO spielt mit BKA KATZ und Maus!“

Das war der Super-GAU. Anders ließ es sich nicht beschreiben. Der rot gerahmte Block suggerierte dem Leser eine Werbeanzeige für ein in Kürze auf den Markt kommendes Buch oder einen neuen TV-Thriller. Beim Wortspiel „KATZ und Maus“ drehte sich Mona fast der Magen um. Aluba bemerkte das.

„Mona, ich wollte sämtliche Details eigentlich erst beim Meeting durchgehen. Konnte man sowas ahnen? Ihr Iberico macht seinem Ruf, einer der cleversten Suspect-Zero zu sein, wiedermal alle Ehre.“

„Nanu? Sie neuerdings im FBI-Jargon? Suspect Zero nennen die dort Serienkiller, welche sich nach jedem ihrer Morde scheinbar in Luft auflösen. Zwischen den Taten und Opfern existiert kein Muster, keine Verbindung, kein Motiv. Nichts.“

Während sie das sagte, beobachtete Mona das Mienenspiel ihrer Chefin. Die hatte soeben ihre zweite Zigarette in sieben hastigen Zügen aufgeraucht und trat die Kippe wie ein ekliges Insekt aus.

„Genau! Wie Sie wissen, tötete dieser Iberico stets nur Männer. Ein Ort, ein Mord. So sein bisheriges Schema. Erstmals hat dieser Bastard sein Muster verlassen. Und das ausgerechnet hier in Berlin. Dafür muss es einen triftigen Grund geben. Sehen Sie, da könnte Ihre Chance liegen, den Mistkerl endlich zu schnappen!“

Alubas Worte erreichten Monas Trommelfell wie durch Watte. Wieso sollte das nur meine Chance sein, schoss es kreuz und quer durch Monas Hirn, ehe ihr auffiel, dass Aluba auch noch nie MONA zu ihr gesagt hatte.

Beim Überfliegen der Anzeige fühlte Mona einen beängstigenden Flashback aus Stimmen, Gerüchen und Musik. Und plötzlich schien es sogar, als sähe sie sich auf dem unscharf verpixelten Foto, mit dem der Text dunkel unterlegt war. Als schemenhaftes Wesen mit verbundenen Augen.

„Katz, hören Sie mir überhaupt zu?“ Aluba bebte. „Wir können doch beide Eins und Eins zusammenzählen. Wenn man sich den redaktionellen Ablauf, die anderen Arbeiten und die Zeit bis zum Druck des Blattes vor Augen führt, bleibt doch nur ein einziger Schluss. Der Täter hat das alles minutiös geplant und vorbereitet. Ich habe Frau Wirtz schon in die Schwimmerstraße beordert, sich im Verlag mal etwas umzuhören. Sie wird auf meinen ausdrücklichen Wunsch im Sonderteam mitarbeiten. Die Informationssperre verschafft uns vielleicht einen winzigen Vorsprung. Noch...!“

Mona verzog beim Namen ihrer Lieblingsfeindin das Gesicht. Wie in Trance langte sie ohne zu fragen in Alubas Zigarettenschachtel und zündete sich eine an.

„Ja ja, versteh schon. Wenn die Presse erstmal Wind bekommt, was hinter dem vermeintlichen PR-Gag wirklich steckt, dann gute Nacht! Doch wie ich Wirtz kenne, quatscht die den Zeitungsfritzen in zehn Minuten das Hirn derart leer, dass sie am Ende nicht mal mehr wissen, wie sie heißen!“

Auf Alubas Gesicht erschien ein breites Grinsen wie, wenn Eltern stolz das erste Mal am Habitus ihrer Sprösslinge Ähnlichkeiten mit sich selbst entdecken. „Sie rauchen?“

„Selten!“, wehrte Mona ab. “Sollten Sie aber neben Wirtz vielleicht noch jemanden haben, mit dem Sie mir unbedingt eine Freude machen wollen, immer raus damit! Ich wüsste es nur gern jetzt. Nicht, dass ich später vor unseren Leuten dumm dastehe. Okay?“

„Brrrr! Ruuuhig, Braune!“ Aluba klopfte Mona die Schulter wie eine Bäuerin ihrer nervösen Stute. „Vertrauen Sie mir einfach. Ich lass Sie schon nicht im Regen stehen. Auf geht’s!“

11

Mit weichen Knien tastete Mona ihrer Vorgesetzten hinterher, als könnte der Boden unter ihr jede Sekunde einbrechen. Vorbei an einer hysterisch heulenden Verkäuferin, sah sie als nächstes René. Aluba stellte die beiden einander vor. Und wenn Blicke Bände sprachen, müsste selbst ein Blinder bemerkt haben, dass Mona und René sich nicht zum ersten Mal sahen.

„Das ist Herr, pardon, Monsieur Tatín, Betreiber dieses Geschäfts. Er hat die Polizei alarmiert. Monsieur Tatín, das ist Kriminalhauptkommissarin Katz, unsere Sonderermittlerin.“

„Hallo!“ Mona schaute René tief in die Augen. Sie hielt seine Hand bei der Begrüßung so lange und derb fest, dass es sogar Aluba auffiel, welche Anstrengungen es Monsieur Tatín kostete, sich aus Monas Griff wieder zu befreien.

„Verletzen Sie den Mann nicht, Katz!“, frotzelte Aluba.

An Monas Schläfen zeigten sich Schweißperlen. Aluba bemerkte, dass Mona die Situation nicht einerlei war. Sie nahm sie beiseite. „Katz, nun mal locker bleiben! Das war ein Scherz! Sagen Sie mal, kennen Sie sich?“

„Mooona! Mensch jut, dass de da bist!“, unterbrach Tinas mädchenhafte Stimme die beklemmende Kunstpause. „Ick hab massig viel interessante Spuren, meine Kleene, und ick würde jerne da drinne weitermachen. Ooch unsere Amelie is schon janz hibbelig. Allet wartet nur noch uff dich!“

Monas angespannte Schultern sackten erleichtert herab, als Tina mit dem internen Spitznamen der jungen Gerichtsmedizinerin die Lacher an sich zog. Die Ärmste hieß in Wirklichkeit Nele Kerr. Amelie nennt man in Forensiker-Kreisen einen Leichenfund ohne Arme und Beine. Kerrs erster Fall war so eine „Amelie“. Mona schlüpfte in den Einweg-Overall, zog die restliche Spezialkleidung plus Mundschutz über und beugte sich unter die Absperrung. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine Backstube betreten. Um die ersten Eindrücke nicht von den verführerischen Düften nach Brot und Kuchen täuschen zu lassen, zwackte sich Mona eine Nasenklammer auf und konzentrierte sich so nur auf das, was sie sah.

An den Wänden deckenhoch weiße Fliesen, ringsum Edelstahlregale voll mit Kartons, Tüten, Dosen und Flaschen. Die Böden mit geriffelten und genoppten Bodenfliesen in Beige. Breite Aluminium-und Edelstahlarbeitsflächen. Maschinen und große Kessel auf drei Rädern. Breite Glasfenster boten ab Brusthöhe Sicht zwischen den zwei Produktionsbereichen, die durch schwere PVC-Kunststoffvorhänge voneinander getrennt waren. Die Nase ausgesperrt, könnte diese Erstbeschreibung allerdings rein optisch genauso gut auf einen Sektionssaal, eine Fleischerei oder die Folterkammer eines Psychopathen passen.

Mona zog sich ihre Klammer wieder von der Nase und nahm Witterung auf. Bis auf eine winzige, irritierende Kleinigkeit erfüllte der Raum nun tatsächlich alle Klischees, die man als Laie von so einem Ort im Kopf haben konnte, an dem köstlichstes Brot und herrlichste Kuchen entstanden. Mona trat an einen der Teigkessel.

„Oh mein Gott, was ist denn das?“

Angewidert wandte sie sich ab und wusste in dieser Sekunde bereits, dass sie niemals wieder Lust auf dunkles Brot haben würde. Ein Gestank wie zwölf Uhr mittags in einem Armenviertel von Kalkutta raubte ihr den Atem.

Als Amelie auf Monas Zeichen in den großen runden Aluminiumkessel griff und aus der faltigen, grauen Teigmasse den Kopf einer weiblichen Leiche zog, dachte Mona im ersten Moment an den Geburtsvorgang bei Elefanten. Was da entbunden wurde, schien verwandt mit dem, woher es kam. Durch die Gärvorgänge, das Kohlendioxid und die Wärme im Sauerteig war die Haut des Opfers ähnlich grau und schrumpelig geworden. Der nachfolgende kurze Schwall aus Blut hinterließ auf dem rissigen Teig einen dunkelroten See und krönte die unappetitliche Überraschung. Still und mit angehaltenem Atem sah Mona zu, wie Amelie nach und nach mit etwas warmem Wasser das Gesicht einer langhaarigen asiatischen Frau zur unteren Hälfte freilegte. Der Kopf lag seitwärts. Wie bei dem Toten von heute Morgen klebte schwarzes Plastikband über Mund und Wangen.

„Katz, entschuldigen Sie, ich hatte den Kopf vorhin schon mal halb herausgehoben. Als wir dann das Plastikband sahen...“, beichtete die Gerichtsmedizinerin, „...fand die Chefin es besser, ihn wieder zurücksacken zu lassen und zu warten, bis Sie da sind.“

„Schon gut!“ Mona nickte schräg nach links und Tina erschien neben ihr. Aufgeregt wie ein Frettchen bei der Jagd knipste sie mehrmals mit der Pinzette in der Luft. Links schon das offene Plastiktütchen zur Spurensicherung. Ein kleiner Ruck genügte.

„Na, det hab ick mir doch jedacht! Det gleiche Band. Und wat sehn meine süßen Äuglein daaaa...?“ Tina drehte das Plastikband und präsentierte reihum, was alle fast erwartet hatten: Ein langes schwarzes Haar. Genau wie beim Toten aus dem Kink Klub. Auch der Mund dieser Unbekannten war sauber vernäht. Wieder der Grinsepfeil und das XUI-Zeichen. Dazu die markanten Rotbäckchen. Sie hätte gut die Schwester des toten Gekreuzigten von heute Morgen sein können.

Aluba unterbrach die angespannte Stille. „Meine Damen, ich habe soeben zwei fantastische Neuigkeiten erhalten!“ Ihr Handy leuchtete noch. “Laut Labor hat der Haplo-Test soeben die geografisch-genetische Herkunft der DNA von Haar Nummer 1 geklärt. Ostasien. Mit einiger Wahrscheinlichkeit von einem Japaner. Und diese Dame hier stammt mit Sicherheit auch nicht aus Gambia! Katz, es wird Zeit, dass Sie sich in Ruhe umschauen. Wie lange brauchen Sie denn für Ihr Hörspiel und das Protokoll davon?“

Es gab Momente, da entwickelte Aluba wahrhaftig einen bizarren Humor. Von wegen Hörspiel...!

„Ach übrigens, noch die zweite Neuigkeit: Wie Ihnen natürlich vertraut ist, nehmen wir routinemäßig an Tatorten zuerst die Fingerabdrücke der Anwesenden, um später die unbekannten einem möglichen Täter zuordnen zu können.“ Wie eine Zauberkünstlerin kurz vor dem Simsalabim schaute Aluba in die Runde. „Und nun raten Sie mal...!“

Alle Anwesenden zuckten mit den Schultern. Keiner würde wagen, Aluba den Spaß zu verderben, und Spekulationen anzustellen. Vermutlich, um den neuen Fakten besonderen Glanz zu verleihen, wechselte sie auf lateinische Fachbegriffe und adelte mit ihrer Wortwahl die Einbezogenen zu Insidern.

Mona biss sich unter ihrem Mundschutz auf die Lippe und ballte die behandschuhten Hände zu Fäusten.

„Es sind Daktylogramme, die wir in unserer AFIS Datenbank bis gestern noch nicht gespeichert hatten.“ Aluba winkte ihr Team zu einem konspirativen Kreis zusammen und flüsterte weiter. „Fingerabdrücke, deren Minuzien allerdings Übereinstimmungen mit Abdrücken aufweisen, die wir heute Morgen im Kink Klub sichergestellt haben. Diese Verzweigungen, Wirbel und Endungen der Papillarleisten sind bei jedem Menschen einzigartig und kommen nicht einmal bei eineiigen Zwillingen doppelt vor.“ Wieder machte sie eine bedeutungsschwangere Pause.

“Es sind seine Fingerabdrücke!“ Aluba deutete mit dem Daumen Richtung René und nahm Mona dabei ins Visier. “Dazu wird er uns hoffentlich etwas zu erzählen haben. Ich nehme ihn sofort zur Befragung mit. Katz, und Sie hätte ich dann nachher in der Dienststelle gern mit dabei!“

Wie paralysiert stand Mona mit weit aufgerissenen Augen da und salutierte dann wie ein Rekrut beim Manöver. „Aye aye Sir!“ Fatalismus war das Einzige, was ihr noch half.

Aus der Hocke beäugte Mona danach den Kopf der Toten, deren Gesicht sie plötzlich an einige ihrer alten Kinderfotos von der Ostsee erinnerte. Die etwas älteren Jungs des Fischerdorfes hatten Mona beim Spielen überwältigt. Einen Bernsteinfund wollte die damals Sechsjährige nicht mehr rausrücken. Zur Strafe hatten die Jungs Mona bis zum Kopf in den Ostseesand eingegraben. Dann hatten sie ihr Schlamm ringsum auf Kopf und Gesicht gehäufelt und Fotos davon geschossen.

„Amelie, kommen Sie doch mal!“ Mona zeigte auf den Mund der Toten. „Ich weiß, dass das in Ihren Aufgabenbereich fällt. Würden Sie für mich bitte diese Fäden jetzt schon aufschneiden? Diese Kreuze da meine ich. Bitte!“

Welchem Impuls Mona auch immer gefolgt war, die Überraschung ließ nicht lange auf sich warten. Auf der Zunge der Toten lag etwas. Tiefgehende Kenntnisse waren nicht erforderlich, das blutige, reichlich zweidaumenbreite Stückchen Fleisch anatomisch zuzuordnen.

„Mein lieber Schwan! Wenn ick mir det Teil hier und det von heut früh zusammendenke, hatte der Tote aus dem Kink Klub der Damenwelt echt wat zu bieten! Okay Amelie, du kannst allet einpacken!“

Aluba schien äußerst zufrieden, dass beide Morde zweifelsfrei miteinander in Verbindung standen. Schon halb im Gehen schoss sie, wie von der Tarantel gestochen, zurück in die Backstube als vom Regal über dem Sauerteigkessel eine Melodie erklang, die sie kannte. Alle verstummten und lauschten auf das populäre Schlafliedchen „La-Le-Lu, nur der Mann im Mond schaut zu“. Die Auftaktsequenz in dreifacher Wiederholschleife.

Verdutzt blickten Mona, Aluba, Amelie und Tina sich gegenseitig an, als das schwarzweiße Plastikgerät wieder verstummte. Keinem im Raum war es bisher aufgefallen. Mona rief nach der Bäckereiangestellten. „Entschuldigen Sie bitte, haben Sie oder irgendjemand der hier Beschäftigten ein Baby?“

Die Frau stand mit von Tränen verquollenen Augen da wie ein verwirrtes Schulmädchen und stotterte. „N...nein! W...was soll Ihre Frage? Wie k...kommen Sie darauf?“

„Nun...“ Mona ging auf das Regal zu, hob das Baby-Phone vorsichtig herunter und drehte es hin und her. „Darum! Aber nicht anfassen! Wer hat das hier aufgestellt?“ Mona platzte innerlich fast der Kragen. “Sie, Herr Tatín?“ All ihre Wut auf René steckte im Wort HERR. Ohne seine Antwort abzuwarten, winkte Mona verächtlich ab und begutachtete das Gerät eingehender. Es unterschied sich deutlich von den meisten billigeren Varianten, denn es besaß nicht nur eine akustische, sondern auch eine Videoüberwachungsfunktion.

Im selben Augenblick blinkte ein grünes Lämpchen und es erklang das laute Monsterlachen vom Schluss des größten Hits von Michael Jackson „Thriller“.

12

Berlin, 19. Juni, Halensee, Hochmeisterplatz, 10:45 Uhr

Berlin ist eine großartige Stadt! Entspannt saß ich rückwärts gelehnt auf meinem Rollator, genoss die Sonne und erinnerte mich etwas wehmütig der alten Westberliner Zeiten, als man hier in dieser Gegend frühmorgens noch den Duft des Grunewalds riechen konnte.

Doch egal, ob es sich um einen gemischteren, multikulturellen Stadtteil wie etwa Kreuzberg handelte, oder um das bürgerliche Halensee mit seinen schmucken Fassaden, teuren Geschäften und Restaurants: In einem anthrazitgrauen, orientalischen Abaya-Mantel plus Kopftuch und Sonnenbrille war man in dieser Stadt wie unter einer Tarnkappe. Absolut unsichtbar.

Der winzige Monitor auf meinem Schoß bot mir zwar keine HD- Qualität, aber mit seiner Reichweite von über 300 Metern war ich mit dem Ergebnis der spannenden Live-Übertragung rundum zufrieden.

Mike, ein Bulle aus New Jersey, hatte mir vor drei Jahren die Vorzüge dieser kleinen Kinderzimmer-Überwachungsgeräte in höchsten Tönen angepriesen. Er liebte es, die jeweils aktuelle „Pussy“, so nannte Mike seine häufig wechselnden Sexpartner beiderlei Geschlechts, in der Wanne oder beim Duschen zu beobachten, wenn es ihm auf Streife langweilig wurde. Technische Spielzeuge dieser Art seien nie zu lokalisieren, überzeugte er mich. Und selbst wenn, meinte er, sähe man auf dem Ortungsmonitor ungefähr ebenso viele Leuchtpunkte, wie auf einem Bildschirm der Flugleitzentrale vom Airport La Guardia. Mike kapierte zu spät, dass ich nicht seine Pussy werden wollte und er beging den unverzeihlichen Fehler, mir trotzdem so ein Teil unterzujubeln. Seiner Boxerhündin Jasmin konnte ich die Vorteile des Verzehrs von Frischfleisch gleich bei meinem ersten und einzigen Überraschungsbesuch schmackhaft machen. Kluges Tier. Dumm gelaufen, Mike. Wuff!

Nun war es höchste Zeit, den Spaziergang in Richtung Ku’damm fortzusetzen, ehe die eifrigen Kollegen meiner kleinen Mona in alle Himmelsrichtungen ausschwärmten, um nach mir zu suchen. Ich zertrat das Empfangsteil auf einem Baumwolltuch, knotete alles zusammen und entsorgte das Bündel im Altkleidercontainer vor mir.

Als ich sieben Minuten später am Kurfürstendamm ankam, traf mich fast der Schlag.

Polizei!

Je vier Beamte standen als uniformiertes Kleeblatt mit suchendem Blick an den Seiten der Kreuzung Ecke Joachim-Friedrich-Straße. Alles sah danach aus, als hätte man dort eine Straßensperre errichtet. Jetzt nur nicht stehenbleiben und keine hastigen, auffälligen Aktionen, dachte ich und verwarf sofort den nächsten Teil meines ursprünglichen Planes. Zu groß die Gefahr, im Fokus der Beamten zu landen, wenn ich meinen Rollator einfach beim nächsten Geschäft stehen gelassen hätte und in ein Taxi gestiegen wäre. Dass man es so unerwartet flink geschafft hatte, einen Großeinsatz auf die Beine zu bekommen, machte mich nervös.

Die offene Hauseingangstür neben dem Supermarkt am Ku’damm/ Ecke Cicerostraße bot mir Rettung. Ich nutzte die Verzögerung der hydraulischen Schließautomatik, verschwand samt Gehhilfe von der Bildfläche und konnte mich in dem dunklen Flur unbemerkt meiner fremdländischen Verkleidung entledigen. Ich atmete auf. Der Rollator fand zusammengeklappt Platz in der Nische unter den Treppen. Den für seine Größe ungewöhnlich leichten arabischen Mantel stopfte ich in eine Tragetasche. Ein kurzer Blick aus der Tür zeigte an, dass mich keiner beobachtet oder verfolgt hatte. Metamorphose geglückt.

Den zur Seite geschobenen Deckel des Müll-Containers in der Linken, setzte ich mit der rechten Hand dazu an, die Plastiktüte im Gemischt-Müll des Discounters verschwinden zu lassen, da ertönte von irgendwo ein Megaphone.

Das eine Wort genügte und in Sekundenbruchteilen erstarrte meine Wirbelsäule zu Beton.

„Zugriff!“

13

16. Juni, Leipzig, 11:30 Uhr, Hainstraße

„Dolly, nun komm schon, die Mutti hat’s eilig!“ Frau Professor Dr. Jenny Schöner zerrte nervös am strassbesetzten Halsband ihrer Yorkshire Hündin.

Für gewöhnlich ging ihre Schwester Anneliese mit dem Tier Gassi. Zumindest montags bis freitags, wenn Frau Professor Doktor von ihrem Büro aus mit Kunsthändlern, Galeristen und Auktionshäusern in aller Welt in Kontakt stand oder Vorträge und Seminare an diversen Kunsthochschulen hielt.

Dolly hing an Jenny seltsamerweise sehr viel mehr, als an ihrem zweiten Frauchen Anneliese, obwohl Letztere sich tagein tagaus um sie kümmerte. Das hatte mit der unausgesprochenen, aber stets spürbaren, Rangfolge in Dollys Herde zu tun, bei der Anneliese Schöner an unterster Stelle rangierte. Dolly zerrte die lauftechnisch nicht mehr ganz so fitte Jenny von einer Duftmarkierung zu nächsten und weigerte sich jedes Mal beharrlich, von den Nachrichten anderer Artgenossen wieder abzulassen.

Frau Professor Doktor hätte damit an und für sich kein Problem, würde sie auf ihrem Handy nicht soeben eine beunruhigende Textnachricht erhalten haben. Resultat mehrerer verpasster Anrufe. Sie hatte nach dem Aufstehen versäumt, den stumm geschalteten Klingelton wieder einzustellen und der Akku zeigte nur noch zwei Prozent. Zu niedrig für das Abhören der Mailbox oder einen Rückruf.

„Nobody arrived at Heathrow. Why can’t we reach anyone? What went wrong? Must speak URGENTLY. Regards Fiona.“

Wieso war niemand in London angekommen? Es galt, sich zu sputen, wollte Jenny von ihrem Festnetzanschluss noch jemanden erreichen. Was war nur geschehen?

Passanten beobachteten kopfschüttelnd, wie sie, ihren Hund mit dem Halsband fast strangulierend, die Hainstraße mühsam hinauf hastete und dann in einer der Häuserpassagen verschwand.

„PROF. DR. JENNY SCHÖNER – KUNSTWISSENSCHAFTLERIN“ prangte in erhabenen Lettern auf einem großen Messingschild rechts am Hauseingang des Quergebäudes, hinter dessen wuchtiger Tür sich zum einen die repräsentativen Büroräume der weltbekannten Kunstspezialistin, und zum anderen die Etagenwohnung der Familie Schöner befanden. Kaum sichtbar unter dem goldfarbenen Hochglanzschild verkroch sich ein zweites Namensschild wie das eines Hausbriefkastens: „A. & M. Schöner.“

Die unverheirateten Schwestern Anneliese und Jenny Schöner hatten das Patrizierhaus von ihren Eltern geerbt. Schon zu DDR-Zeiten wirkte der aufwändig rekonstruierte Prachtbau inmitten der anderen heruntergekommenen Gebäude wie ein teures Implantat. Das hatte im Wesentlichen mit den geklärten Eigentumsverhältnissen und den weitreichenden Beziehungen der cleveren Hausherrin zu tun. Zu guter Letzt spielten die Deviseneinnahmen von Frau Professor Doktor Jenny Schöner eine nicht unwesentliche Rolle. Ihrem Renommee als Expertin für Gegenwartskunst war es zu verdanken, dass sich seit Mitte der Achtziger Jahre Sammler von New York bis Tokio plötzlich um die Werke junger ostdeutscher Maler rissen. Kunstwerke, von denen Jenny bis zum Ende der DDR viele nahezu exklusiv vermitteln durfte. Mit dem Segen von ganz oben versteht sich. Diverse Privilegien und den begehrten Reisepass inklusive.

Der jüngeren Schwester Anneliese, dem schwarzen Schaf der Familie, nebst ihrer unehelichen Tochter Mona, dem „M“ vom weißen Plastikschildchen, hatte Jenny Schöner je ein vergleichsweise bescheidenes Zimmer im gemeinsamen Stadtpalais überlassen. Sie gewährte Anneliese darüber hinaus das Privileg keiner Lohnarbeit nachgehen zu müssen. Jenny beschäftige ihre Schwester auf dem Papier als freie Mitarbeiterin. Ein Adjektiv im Vertrag, welches ihr stets Unwohlsein bereitete.

Die Einkünfte aus dem Kunstbetrieb reichten für alle drei. Beide Schwestern zogen die kleine Mona groß und Jenny musste sich auf diese Weise nie mit fremdem Hauspersonal herumschlagen. Anneliese stand ihr immer zu Diensten. Außer an den Wochenenden.

Bis vor zwei Tagen.

Offenbar hatte Anneliese seit geraumer Zeit hinter Jennys Rücken Fluchtvorbereitungen getroffen. Andere Gedanken wollte Jennys gekränktes Hirn nicht hergeben, als Anneliese von einer kleinen Wohnung berichtete, in die sie zu ziehen gedachte. Verrat! Unfassbar. Das konnte man doch unmöglich so einfach hinnehmen. Steif und ungebeugt schritt Jenny Schöner durch ihre majestätischen Räume. Wie eine Königin, der das Volk davongelaufen war.

Im Büro der Galerie Khoory in London war unterdes der Teufel los. Auf typisch britische Art teilte Fiona Hay, Kuratorin der für kommende Woche geplanten Vernissage, Jenny am Telefon frostig mit, dass sie not amused sei.

„Unser Chauffeur kehrte vor einer halben Stunde unverrichteter Dinge vom Flughafen zurück“, keifte sie. „Das Schild mit dem Namen war wirklich nicht zu übersehen. Er wartete sogar noch den nächsten Flieger ab. Ich erinnere mich nicht mehr, wie oft wir versuchten, Ayumi auf ihrem Mobiltelefon zu erreichen. Nichts. Einfach abgestellt!“

Fiona geriet mit jedem Satz immer mehr aus der Fassung. „Jenny, ich kann nicht glauben, dass Sie mich zwingen, mit Ihnen dieses Gespräch führen zu müssen! Unser Haus ist zutiefst besorgt. Sie schulden uns eine Erklärung. Weshalb wurden wir nicht rechtzeitig über eventuelle Schwierigkeiten in Kenntnis gesetzt?“

Jenny brach der Schweiß aus. Sinnlos sich in Ausreden zu verheddern, denn die couragierte Fiona war mit ihrer Standpauke noch nicht am Ende.

„Hören Sie, Jenny, eine dry Inauguration, also eine trockene Ausstellungseröffnung, das heißt ohne Anwesenheit der Künstlerin, ist für uns ausgeschlossen! Ich bitte Sie inständig, alles in ihren Kräften stehende zu unternehmen, das drohende Desaster zu verhindern. Ich erwarte Ihren Rückruf bis spätestens 17 Uhr. Noch besser wäre allerdings, es führe ein Taxi vor, aus dem Ihre Ayumi entsteigt. Sollten Sie die Gelegenheit haben, mit ihr zu sprechen, dann richten Sie ihr bitte aus, sie sollte die Bedeutung ihres Künstlernamens nicht gar zu wörtlich nehmen. Auch wir können sie noch ihres Weges schicken, wenn Sie wissen, was ich damit meine. Bye!“ Schon hatte sie aufgelegt.

Noch immer am ganzen Körper zitternd, wählte Jenny zum vierten Mal Ayumis Mobiltelefonnummer.

Ayumi heißt übersetzt: Sie geht ihren eigenen Weg. Jennys Idee. Dreisilbige Namen empfänden die meisten Menschen als wohlklingend. Ausgefallene Bilder von einer bezaubernden Exotin mit einprägsamem Namen: A-YU-MI. Der Kunstmarkt sprang sofort darauf an.

„Hoffentlich verbirgt sich dahinter nicht doch noch ein böses Omen“, seufzte Jenny entnervt vor sich hin. Der anfänglichen Wut folgte mehr und mehr tiefe Besorgnis. Hatten sie bei all ihren Vorkehrungen etwas übersehen?

„Hi! Sorry, I can’t come to the phone right now, so please leave a message!“ Wieder nur dieser Spruch in Ayumis breitgekautem New Yorker Akzent. Es machte Jenny fast wahnsinnig, dass der Anrufbeantworter erneut nach dem ersten Klingeln ansprang. Ayumis Handy war und blieb demnach die ganze Zeit schon abgestellt. Drei Nachrichten hatte Jenny hinterlassen, die im Tonfall und an Schärfe zugenommen hatten. Sie bereute inzwischen, dass sie in ihrer Unbeherrschtheit den Druck aus London einfach weitergereicht hatte und beendete ihren Anruf diesmal sofort nach dem Signalton.

Ausgerechnet jetzt rächte es sich, dass dem Berliner Hotel strikt untersagt worden war, Anrufer – egal, um wen es sich handelte – auf das Zimmer durchzustellen oder Auskünfte zu erteilen. Man wimmelte Jenny ab. Sie könne gern eine Nachricht hinterlassen. Oh, wie sie dieses „GERN!“ aus dem Munde von Hotelangestellten hasste!

Niemand macht sich bei Stress einen Salat, so Jennys alte Devise. Wodka hingegen half sofort. Sie sackte in ihren Ohrensessel und spürte, wie der Alkohol langsam und warm seine entspannende Wirkung entfaltete. Da kam ihr die rettende Idee.

14

Vor dreizehn Monaten,

Budapest im Mai


Vorsehung. Schicksal. Fügung. Ich konnte nie etwas mit solch abgegriffenen Worten anfangen. Entscheidungsunwillige Pfeifen tarnen die Unlust, Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen gern damit, dass sie diese Schwäche in höhere, sphärische Dimensionen auslagern.

Auf genau diese Spezies Mensch hatte ich es beruflich abgesehen und schnell entdecken dürfen, dass Unternehmen bereit waren, horrende Summen auf den Tisch zu legen, wenn jemand ihnen dabei half, diese Versager zu enttarnen und sich ihrer diskret zu entledigen. Und wenn dann so ein kapitaler Platzhirsch nach meinem finalen Fangschuss zu Fall kam – ja, ich gebe das gern zu! -, bereitete mir das fast eine Art von sexuellem Vergnügen.

Genauso einen Job hatte ich gerade hinter mir. Der Manager einer weltbekannten Hotelkette hatte sich gar zu sehr auf seine natürliche Autorität verlassen. Muskelbepackte ein Meter Achtundneunzig, sonore Stimme, stechend blaue Augen, und kurzgeschorenes Blondgelock. Es brauchte ganze drei Monate, ihn als Schwachstelle zu lokalisieren, die passende Intrige anzuzetteln, ein paar Schritte zurückzutreten und dann: Peng! Keine Ahnung unter welchem Brückenpfeiler er ab dem Tag schlief. Ich kassierte mein fürstliches Salär, blieb noch zwei Wochen im Unternehmen, um eventuelle Nachbeben seines Sturzes zu testen. Danach buchte ich mir eine Suite in einem für meine Verhältnisse eher unauffälligen Luxus-Hotel am Gellért-Berg und begann Reisepläne zu schmieden. Ich war in Feierlaune.

„Wirklich guten Champagner muss man mit Verachtung trinken, dann schmeckt er am besten“, referierte ich dem Zimmerkellner, der soeben mein Lieblingsgetränk auf seinem Servierwagen lautlos hereingerollt hatte. „Nein, bitte lassen Sie das! Ich möchte die Flasche selbst öffnen. Ihre fachlichen Qualitäten in allen Ehren, junger Mann, aber ich fände es zu schade, wenn mir ein vulgäres Geräusch den Genuss, die Laune, und Ihnen das Trinkgeld verderben würde. Das verstehen Sie sicher.“

Ich zeigte ihm an, er möge warten, öffnete die Flasche und kippte das erste randvolle Glas lässig herunter. Es bereitete mir Freude, den inneren Kampf des jungen Burschen in seiner graugestreiften Livree zu beobachten. Einerseits mochten weitere Gäste und deren Wünsche auf ihn warten, andererseits hatte ihn mein Verweis auf ein Trinkgeld elektrisiert. Wenn in der Hotelkategorie, in der ich nächtigte, dieses Wort überhaupt Erwähnung fand, dann durfte das Personal sicher sein, dass es nicht nur klimperte, sondern beim Hinausgehen in der Hand raschelte. Zwanzig Euro lagen auf dem Schreibtisch.

Die hatte der Kellner natürlich längst entdeckt und ganz plötzlich etwas von einem Hündchen an sich. Die pflegen, wenn man sie gut erzogen hat, auch nicht um ein Leckerli zu betteln. Aber es gibt da eine Art hypnotischen Blick, dem nur wenige Herrchen oder Frauchen widerstehen können. Und just wie bei einem Welpen, der dieses Spiel begriffen hatte, wechselte der Blick des Kellners zweimal zwischen mir und der Banknote hin und her. Da musste er aber noch einiges lernen! Schade für ihn. Ich wandte mich ab und stellte meinen Laptop genau auf die Stelle mit dem Geld. Die antrainierte Freundlichkeit rutschte ihm sofort aus dem Gesicht. So ehrlich enttäuscht wurde er mir richtig sympathisch. Er machte schon Anstalten, das Zimmer wieder zu verlassen.

„Moment!“, herrschte ich ihn an und wies mit einem Lächeln auf die Stelle, wo er die ganze Zeit zuvor gestanden war. “Platz!“ Der Welpe erwies sich als lernfähig. Und blieb.

Es wurde Zeit, mich für das Dinner umzukleiden. Zuvor aber wollte ich mir noch in aller Ruhe ein heißes Bad einlassen. Das zweite Glas meines edlen Gesöffs gerade angesetzt, zappte ich, während das Wasser rauschte, durch das Vorabendangebot der Fernsehkanäle, als sich meine Aufmerksamkeit plötzlich auf 3Sat verfing. Kulturzeit. Frühe, in hyperrealistischem Stil gemalte Bilder wurden den aktuellen Gemälden der Künstlerin AYUMI gegenübergestellt, mit denen sie derzeit auf dem Kunstmarkt alle Rekorde brach.

Ich hatte gerade einen Granatapfel aus dem Obst-Arrangement halbiert, als ich bemerkte, wie meine Hände zu zittern begannen. Am Schluss des Beitrags hatten sich die Worte KUROSAWA, YOKOHAMA, SCHÖNER, LEIPZIG und BERLIN wie fünf grellgrüne Insekten im blutroten Gespinst meiner Rachegelüste verheddert. Dort zappelten sie, bis ich das Tremolo meiner rechten Hand wieder einigermaßen unter Kontrolle bekam, zum Zimmertelefon griff und die Dame an der Rezeption über die Änderung meiner Reisepläne in Kenntnis setzte.

„Ja, Sie haben richtig verstanden!“, überschlug sich meine Stimme fast. “Bitte stornieren Sie meine Flüge!“

Während das behäbige und überflüssige Referat der Hotelstimme über die immensen Stornierungskosten in mein rechtes Ohr träufelte und meine Nerven malträtierte, verlagerte sich all mein Hass in die linke Hand und ich zerquetschte die Granatapfelhälfte. Seelenruhig beobachtete ich, wie auf dem cremefarbenen Seidenteppich unter dem Telefontischchen ein krapplackroter Fleck langsam um sich griff. Auch der Blick des Welpen verriet, dass es ihm derweil wahrscheinlich lieber gewesen wäre, ich hätte ihn vorhin ohne sein beschissenes Trinkgeld ziehen lassen.

„Ich habe schlichtweg andere Pläne gefasst. Sie be-grei-fen das, oder? An-de-re Plä-ne!“ Es demütigt oder provoziert intelligente Menschen normalerweise, wenn man sie mit der Eigenart ihrer Sprachfärbung aufzieht. In dem Moment war mir jedoch gleichgültig, ob meine Ironie dem schläfrigen Sprachduktus der offenbar in Bern aufgewachsenen Person etwas anzuhaben vermochte oder nicht. Ich wollte einfach nur, dass sie ihren Job erledigte. “Und hören Sie, meine Stornokosten sind mir mit Verlaub scheißegal!“, zischte ich mit letzter Kontrolle. „Erledigen Sie nun meinen Auftrag oder muss ich mich an das Management des Hauses wenden?“

Die angestellte Stimme hatte begriffen und sicherte demütig zu, dass alles sofort und zu meiner vollsten Zufriedenheit erledigt werden würde.

“Na bitte. Geht doch!“ Ich knallte den Hörer auf und wandte mich mit fiebrigem Blick dem Welpen zu. Der musste riechen, dass ich gerade große Lust verspürte, ihm das Obstmesser ins Gedärm zu stoßen. Als ich auf ihn zutrat, stand er paralysiert und mit angstgeweitetem Blick vor mir und hielt die Luft an. Ein winziger Schweißtropfen löste sich aus seinen akkurat ausrasierten Koteletten, rann zum Ohrläppchen und tropfte von dort auf seinen Hemdkragen. Der Moment allerdings, als ich ihm Fünfzig Euro vor die Nase hielt, den Schein ganz langsam zusammenfaltete und in seiner Jackentasche verschwinden ließ, wäre in der Tat wert gewesen, ihn für seine Kinder und Enkel auf Video festzuhalten. Viel hatte nicht gefehlt und er wäre auf die Knie gefallen, mir die Füße zu küssen.

„Manchmal lohnt es sich halt, wenn man warten kann. Die erste Lektion eines Jägers!“

Schon stürmte er aus der Tür.

Warum ich all das so gut erinnere? Nun. Nach dem Tod des Mannes und der Frau bewahrten mich einzig die Fürsorge und Liebe meiner Omama davor, zu werden, was ich im Grunde doch schon längst war. Dumm nur, dass ich in ihrem Nachlass dann die Tagebücher fand. Auch die sorgsam in Seide gebündelten Briefe. Briefe an den Mann. Briefe über den Mann. Außerdem zwei Babyfotos, die ich fortan immer bei mir trug.

Auf dem Polaroid Foto in Farbe ein winzig kleiner Junge in Hellblau. Omama hatte es mit „Shikinejima Island, 1970-05-17“ beschriftet. Ein winziges Mädchen sah man auf dem zweiten, mit weißen Zähnen geränderten Schwarzweißbildchen. Neun mal sechs Zentimeter. Kaum mehr als eine große Briefmarke. Rückseitig ein Stempel. Foto Meyer Lübbenau/Spreewald.

Die Urheberschaft des Vermerks „Mona Mai 1983“ klärte sich aus einem der Briefe an den Mann, den ich in einer seiner Jacken fand, nachdem er tot war. Es war dieselbe jugendliche Handschrift, die ohne sich namentlich erkennen zu geben, damals einen an sein Büro in Yokohama gerichteten Umschlag adressiert hatte. Zu Händen von Robert Weiss persönlich.

Es hatte lange nach seinem Tode gebraucht, ehe ich herausgefunden hatte, welches Schicksal die beiden Fotos verband.

Die japanische Malerin Ayumi behauptete in dem TV-Interview doch tatsächlich, sie hätte in der ganz frühen Phase ihres Schaffens nach alten Polaroids gemalt, die sie als Teenager angeblich selbst geschossen habe. Was eine fette Lüge war, denn auf einem erkannte ich mich voller Entsetzen wieder. Im Alter von vielleicht fünf oder sechs. Und auf einem anderen, und das war noch unvorstellbarer, einen kleinen Jungen in blauer Matrosenuniform. Die Frau log.

Und schon tauchten sie wieder auf, die Erinnerungen an alte Kinderspiele. Ob es wohl je für mich eine Erlösung geben würde? Manchmal träumte ich davon.

An jenem Tag in Budapest wusste ich zumindest, dass endlich die lang herbeigesehnte Gelegenheit gekommen war, dem Schicksal auf die Sprünge zu helfen. Wie passend, dass ich in Berlin weit mehr als nur einen Koffer besaß und mir die Agentur rückmeldete, dass ein namhaftes Hotel dort gerade jemanden wie mich gut gebrauchen konnte.

Also auf nach Berlin ...!