Ellen Blubach, Philosophiestudentin und engagiertes Mitglied im Eishockey-Verein, wird im Wuppertaler Skulpturenpark Waldfrieden tot hinter einer Ausstellungshalle aufgefunden. Die Kriminalpolizei steht vor einem Rätsel. Wer hat die allseits beliebte und talentierte junge Frau auf dem Gewissen? Mathilde Krähenfuß, ambitionierte Hobby-Detektivin und freie Mitarbeiterin der Ronsdorfer Gazette, begibt sich auf eine Spurensuche, die sie an den Rand des menschlich Vorstellbaren führt.

Autorin

Tanja Heinze, 1975 in Wuppertal geboren, lebt und arbeitet in dieser Stadt bis heute. Sie studierte Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal.

Romane bei BoD

Das Lächeln der Teddybären,

BoD Norderstedt, ISBN: 978-3-7448-7795-4

Im Garten des Lebens,

BoD Norderstedt, ISBN: 978-3-7448-6564-7

Götterdämmerung,

BoD Norderstedt, ISBN 978-3-7460-9070-2

Drohnenopfer,

BoD Norderstedt, ISBN 978-3-7528-0751-6

Panik-Gen,

BoD Norderstedt, ISBN 978-3-7481-6247-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Umwelthinweis:

Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuchs sind chlorfrei und umweltschonend.

Erste Auflage Februar 2019

© 2019 Tanja Heinze

Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH

ISBN 978-3-7481-2498-6

Coverdesign: Kay Fretwurst

Umschlaggestaltung: Tanja Heinze und BoD

Lektorat: Dr. Norbert Brieden

Inhaltsverzeichnis

Sonntag, 01. Juli 2018

Dieser Sommer ist glühend heiß. Es ist windstill und der Himmel wolkenlos. Sie sitzt in der ersten Reihe und genießt die letzten Töne. Er ist hier, doch er sitzt nicht neben ihr. Gerne hätte sie sich gemeinsam mit ihm an der Musik erfreut, wie früher, als alles noch anders war.

Sie ist ein großer Fan der Band Avatar, liebt die Mischung aus Klassik und Rock. Das Geld für die Veranstaltung Klangart im Wuppertaler Skulpturenpark hat sie gern ausgegeben. Bereits zwei Stunden vor Konzertbeginn ist sie hier gewesen, um sich den weitläufigen Park und die Ausstellungsstücke anzusehen.

Das schöne Wetter und Avatar haben viele Gäste zu der Veranstaltung gelockt. Alle schwarzen Klappstühle vor der Bühne neben der Villa Waldfrieden sind von Besuchern besetzt. Menschen liegen und sitzen auf der von der andauernden Sonne ausgedörrten Wiese. Nachdem die Musik verstummt ist, führen die Leute ihre Gespräche fort. Vereinzelt hört sie Gelächter. Die Geräusche erinnern sie an das Summen eines Bienenschwarms. Nach und nach verlassen die Besucher ihre Plätze, strömen dem Ausgang zu und treten den Heimweg an. Einige wenige bleiben auf dem Gelände, um später im Café Podest, das zum Park gehört, ein Drei-Gang-Menü mit den Musikern einzunehmen. Die Gelegenheit, Avatar kennenzulernen, möchte sie sich nicht entgehen lassen. Sie erhebt sich und wirft einen vorsichtigen Blick über ihre Schulter. Er sitzt nicht mehr auf seinem Platz in der letzten Reihe. Ein merkwürdiges Gefühl der Verlassenheit überkommt sie. Energisch schüttelt sie den Kopf, um die Gedanken an ihn zu verdrängen. Sie hat sich für ein anderes, ein besseres Leben entschieden.

Bis zum Dinner bleibt ihr noch etwas Zeit. Von den in der oberen Ausstellungshalle präsentierten Gipsskulpturen des Künstlers Markus Lüpertz ist sie fasziniert und abgestoßen zugleich. Sie folgt dem verschlungenen Pfad, der an Bronzeskulpturen vorbei den Berg hinauf zur Halle führt. Die vielen Bäume der Parkanlage schützen sie vor der Abendsonne. Schwitzend erreicht sie die wie eine Ellipse aus Glas auf die Lichtung gebaute Ausstellungshalle. Von dort aus hat sie einen weiten Blick auf ihre Heimatstadt, Grund genug für sie, den Berg ein zweites Mal zu erklimmen. Sie steht still und schaut auf das in Abendlicht getauchte Wuppertal. Nach einer Weile umrundet sie die Halle. Vor dem Abstieg möchte sie die hinter der stählernen Rückwand versteckte Toilette aufsuchen. Gerade legt sie die Hand auf die Türklinke, da hört sie Schritte. Überrascht dreht sie sich um und erstarrt. Der abgrundtiefe Hass in den Augen ihres Gegenübers macht ihr Angst. Unwillkürlich beginnt ihr Herz zu rasen. Sie möchte etwas sagen, doch es gelingt ihr nur, fassungslos den Kopf zu schütteln. Plötzlich geht alles ganz schnell. Eine Faust schlägt ihr mit voller Wucht ins Gesicht. „Wenn du gedacht hast, du würdest ungeschoren davonkommen, hast du dich getäuscht.“ Verzweifelt versucht sie, sich aus den muskulösen Armen zu befreien, die sie ein allerletztes, tödliches Mal umklammern und in den kleinen Waschraum drängen. Sie spürt, von hier gibt es kein Entkommen.

Montag, 02. Juli 2018

Zufrieden betrat Mathilde Krähenfuß ihr Haus in der Mirker Höhe. Die aus einer Kleingartenanlage entstandene Wohnsiedlung bezeichnete die freie Mitarbeiterin der Ronsdorfer Gazette als Miniaturwelt, weil alles winzig und ungewöhnlich war. In den Vorgärten standen ovale Tanks, Behälter für das Flüssiggas, mit dem die Anwohner im Winter heizten. Durch den Hauseingang gelangten Mathildes Besucher direkt in die Küche, die durch eine weißgestrichene Holztür mit dem Wohnzimmer verbunden war. Ein kleiner Flur führte zum Badezimmer, über eine Treppe erreichte Mathilde die zweite Etage, die lediglich ihr winziges Schlafzimmer beherbergte. Das Knusperhäuschen hatte sie nach ihrem Lottogewinn vor zweiundzwanzig Jahren erworben und umgestaltet. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie auch ihre afrikanische Haushälterin eingestellt. Für die zehn Jahre jüngere Martha Awolowo war das ein Geschenk des Himmels gewesen. Bis heute stand sie ihrer Arbeitgeberin treu zur Seite. Kriminalhauptkommissar Herbert Mucke, der Sohn von Mathildes in Hessen lebender Schwester, war damals achtzehn gewesen, alt genug, um sich darüber zu wundern, dass seine Tante sich den Luxus einer Haushälterin gönnte und als Mittvierzigerin ihre Liebe zu Kreuzfahrten auf der Aida entdeckte. Außer Martha wusste niemand von dem Geldgewinn, den Mathilde gut angelegt hatte. Vor ihrem Ruhestand war sie erfolgreiche Politredakteurin beim Wupperspiegel gewesen. Die Stelle als freie Mitarbeiterin bei der Gazette bot ihr die Möglichkeit, in geringerem Umfang weiterzuarbeiten.

„Siehst richtig gut aus, Mathilde“, wurde sie von Martha begrüßt.

„Du glaubst nicht, wie froh ich bin, diese schreckliche Perücke nicht mehr tragen zu müssen“, erwiderte Mathilde und stellte ihre Handtasche auf dem Küchentisch ab. „Hier“, sagte sie, der Haushälterin die Perücke reichend, „bist du so lieb und bringst sie in die Garage?“

Augenblicklich verwandelte sich Marthas zuvor freundlicher Gesichtsausdruck. Eine steile Falte zeigte sich auf der schokoladenfarbenen Stirn.

„Dass du dich traust, mich das zu fragen“, entrüstete sie sich. „Vor wenigen Wochen habe ich sie entrümpelt. Jetzt sieht es dort wieder wie früher aus. Wie du diese Unordnung in so kurzer Zeit wiederhergestellt hast, ist mir schleierhaft.“

„Ich habe dich nicht gebeten, die Garage zu putzen und die ganzen schönen Sammelstücke nach Cronenberg zur Müllverbrennungsanlage zu bringen. Meine schönen Flohmarkt-Schnäppchen, denen ich nicht widerstehen konnte“, brummte Mathilde. „Ja, Lotte, ich freue mich auch, dich zu sehen.“ Zärtlich streichelte sie ihrer Mischlingshündin über das schwarze Fell. „Gib mir die Perücke zurück. Ich bringe sie selbst in die Garage.“

Kommentarlos kam Martha der Aufforderung nach.

„Dreh dich mal um“, verlangte sie. „Von der Wunde sieht man nichts mehr, und die Haare sind gleichmäßig kurz. Durch die braune Farbe blitzt die Kopfhaut kaum noch durch.“

Vor nicht allzu langer Zeit war Mathilde bei einem Überfall beinahe skalpiert worden.

„Hast du Peter und Paul geduscht?“, wollte sie wissen. Sie griff nach ihrer Tasche und langte hinein.

„Natürlich“, antwortete Martha. „Und die Klimaanlage ist exakt auf 24 Grad eingestellt.“

Peter und Paul waren Mathildes Graupapageien. Temperaturen über 25 Grad setzten den Vögeln sehr zu.

„Wozu brauchst du heute einen Schirm?“, erkundigte sich Martha grinsend, ihre Freundin dabei beobachtend, wie sie nacheinander mehrere Gegenstände auf dem Tisch platzierte.

Genervt zog Mathilde die Augenbrauen hoch. Martha versuchte sie seit Langem zu überreden, sich eine praktischere Handtasche anzuschaffen. Doch sie hatte nicht vor, sich von ihrer geliebten Beuteltasche zu trennen. Nach einer Weile fand sie das Gesuchte. Sie lächelte zufrieden und machte mit ihrem BlackBerry ein Foto von sich, das sie ihrem Neffen und ihrer Schwester per Bildnachricht schickte.

„Setz dich im Wohnzimmer an den Tisch. Ich habe Vanille-Eis gemacht“, erklärte Martha stolz.

„Mit heißen Kirschen?“, freute sich Mathilde. In der Küche roch es verlockend nach Zimt und süßem Obst.

Wenig später saßen beide Frauen an dem mit buntem Patchwork bedeckten Tisch und ließen es sich schmecken. Im Gegensatz zu ihrer zwei Jahre jüngeren und deutlich kleineren Schwester sah man Mathilde ihren ausgezeichneten Appetit nicht an.

„Mein kleiner gestiefelter Kater, magst du auch einen Löffel Vanille-Eis?“, fragte Martha liebevoll die Mischlingshündin. Sie nannte Lotte so, weil diese nicht nur eine helle Blesse, sondern zusätzlich weiße Vorder- und Hinterläufe besaß. Diese Fellzeichnung erweckte bei der Haushälterin eine Assoziation mit der Märchenfigur.

„Untersteh dich“, warf Mathilde entrüstet ein und schob ihre Brille zurück. Zwar war sie vor nicht allzu langer Zeit beim Optiker gewesen und hatte sie enger stellen lassen, doch anscheinend war der Erfolg nicht von Dauer gewesen. „Kein Eis für Lotte.“

„Die Tür zum Flur quietscht. Peter und Paul imitieren das Geräusch bereits. Stört dich das nicht?“, fragte Martha, ohne auf Mathildes Bemerkung einzugehen. „Mir gefällt sie nicht. Das Zimmer ist hell und freundlich mit den gelb und orangefarben gestrichenen Wänden. Dazu passt das schwarze Ding nicht, finde ich. Die Tür zur Küche ist immerhin weiß.“

Mathilde wandte ihr Augenmerk von ihrem Eisbecher ab und blickte zum kritisierten Objekt neben der großen Vogelvoliere. Geistesgegenwärtig ließ Martha einen Löffel Eis zu Boden fallen, den Lotte genüsslich aufschleckte.

„Du darfst sie gerne streichen, wenn du möchtest“, erwiderte Mathilde ungerührt. „Was anderes. Morgen möchte ich meinem Neffen mal wieder einen Besuch abstatten. Ich war schon länger nicht mehr bei ihm auf der Wache. Tust du mir den Gefallen und backst etwas Feines?“

„Der arme Herbert“, entgegnete Martha und nahm Mathildes Becher in die Hand. „Da warst du doch erst vor vier Tagen. Dass die dich überhaupt noch ins Gebäude lassen. Möchtest du noch eine Portion? Es ist genug da.“

Mathilde nickte eifrig. Sie stand auf und ging zur Tür, öffnete sie und lauschte.

„Stimmt, das Geräusch nervt“, sagte sie stirnrunzelnd. „Und es sind lauter Kratzer am Holz von Lottes Pfoten. Ich könnte wirklich eine neue Tür gebrauchen.“ Seufzend nahm sie ihre Perücke an sich, verließ das Wohnzimmer und sagte im Vorbeigehen zu der mit ihren Eiskugeln beschäftigten Haushälterin: „Ich bin sofort wieder da.“

„Es tut mir leid, Ingo, dass du in der prallen Sonne schwitzen musst. Martha wird dich heute Abend ausgiebig waschen“, tröstete Mathilde ihren Berlingo, der zu groß für die Garage war. Sie setzte den Wagen zurück, öffnete das Tor und trat ins dunkle Innere. Ihr Weg führte sie vorbei an einem alten Schaukelstuhl, einem Grammophon, einem türkisfarbenen Retro-Kühlschrank, der nicht funktionierte, und weiteren exotischen Gegenständen. Sie war ungestört und wollte die Gunst der Stunde nutzen. Rasch ging sie zur linken Ecke des Raumes. In ihrer Hosentasche versteckte sich ein Schlüssel, mit dem die antike Reisetruhe aus Kiefernholz geöffnet werden konnte. Sie ließ die Perücke ins Innere gleiten, zögerte kurz und griff schließlich nach den verschnürten Briefen. Die Schriftstücke bewahrte sie in ihren Umschlägen auf, damit sie nicht vergilbten. Vorsichtig öffnete sie ihren Lieblingsbrief und begann versonnen zu lesen. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Sie wusste selbst nicht genau, warum sie plötzlich wieder an ihn dachte. Es war über dreißig Jahre her. Vielleicht ist mir die Hitze zu Kopf gestiegen, überlegte sie. Obwohl es mit einem Todesfall endete, hatten wir eine schöne Zeit. Seufzend faltete sie den Brief und steckte ihn zurück ins Kuvert. Wieso habe ich nach all der Zeit wieder Alpträume und Schuldgefühle? Es wäre gewiss auch geschehen, wenn ich nicht in sein Leben getreten wäre.

„Mathilde?“ Beim Anblick ihrer im Eingang stehenden Haushälterin zuckte sie erschrocken zusammen. „Dein Eis schmilzt.“

Unauffällig legte sie die Briefe zurück in die Truhe und schloss den Deckel.

„Ich komme sofort“, rief sie hastig, indem sie leicht schwankend den Weg zurück zum Haus antrat.

Dienstag, 03. Juli 2018

Die Ventilatoren liefen auf Hochtouren, doch die Luft in den Büros des Polizeipräsidiums an der Friedrich-Engels-Allee blieb stickig. Kriminalhauptkommissar Herbert Mucke hatte seinen zwei Mitarbeitern untersagt, die Fenster zu öffnen, um die Hitze des frühen Nachmittags auszusperren. Schwitzend saßen die Beamten der Mordkommission vor ihren Monitoren und tippten auf den Tastaturen.

„Nichts los bei dem Wetter“, bemerkte Florian Vogel gähnend. Er strich sich mit den Fingern durch die kurzen Haare. Das Gesicht des neunundzwanzigjährigen, hochaufgeschossenen Rotschopfs glänzte vor Sonnencreme. Seit eines heftigen Sonnenbrandes vor einigen Wochen übertrieb er es ein wenig mit dem Sonnenschutz.

„Uns liegt eine Vermisstenanzeige vor“, mischte sich sein elf Jahre älterer Kollege mit dem schütteren Haar ein. „Eine Ellen Blubach, zweiundzwanzig Jahre alt, Philosophiestudentin.“ Hans Flachs reichte seinem Kollegen ein Foto. Dieser pfiff anerkennend durch die Zähne.

„Was für eine Schönheit“, sagte er bewundernd. „Seit wann wird sie vermisst?“ Er war bis heute verreist gewesen und nicht auf dem Laufenden.

„Thomas Kleinert, ihr Verlobter, konnte sie seit Sonntagabend nicht mehr telefonisch erreichen. Er gab an, bis Montagmittag in Hessen gewesen zu sein. Nach seiner Rückkehr habe er seine Freundin nicht in der gemeinsamen Wohnung angetroffen. Weiter erzählte er, er sei voller Sorge zur Universität gefahren, doch auch dort habe er sie nicht ausfindig machen können.“

„Die junge Dame wird schon wieder auftauchen“, meldete sich Herbert Mucke zu Wort. Er füllte Kaffee in den Filter und stellte die Maschine an. Seine Konzentration ließ nach, und er sehnte sich nach der anregenden Wirkung des Koffeins. „Dieser Kleinert ist ein komischer Vogel. Rote Haare zum Pferdeschwanz gebunden, kalkweißes Gesicht, soll wohl Arzt sein. Er ist zwölf Jahre älter als die Vermisste. Vielleicht hat sie einen anderen kennengelernt?“

„Jedenfalls sind seitdem mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen. Sollten wir nicht anfangen zu ermitteln?“, fragte Hans, dessen Magen sich mit einem lauten Knurren bemerkbar machte. Er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen, weil er an Gewicht verlieren wollte. Sein Bauch wurde immer dicker.

„Mein Gott, Hans, iss was“, kommentierte Florian das Geräusch, während er aufstand und zum Fenster ging. „Ich brauche Licht und Luft. Zumindest für ein paar Minuten.“

„Das macht alles nur schlimmer, Florian“, meckerte Herbert, doch der junge Beamte ließ sich von seinem Vorhaben nicht abhalten.

„Du hast recht, Herbert“, erwiderte er grinsend. „Es wird tatsächlich schlimmer. Die Adlerkralle ist im Anflug.“

„Sie heißt Krähenfuß, ihr Lästermäuler. Nennt Tante Mathilde nicht immer so“, sagte Herbert, konnte sich ein Schmunzeln jedoch nicht verkneifen.

„Mal sehen, was sie Leckeres im Schnabel hat“, feixte Hans.

Es dauerte nicht lange, bis Mathilde summend durch die Bürotür trat.

„Guten Tag, die Herren“, grüßte sie fröhlich.

„Guten Tag, Tante Mathilde“, erwiderte Herbert ihren Gruß.

„Frau Adler…“, Florian brach ab, und Hans prustete laut los. „Frau Krähenfuß, Sie sehen zehn Jahre jünger aus mit den braunen Haaren.“

„Danke“, entgegnete Mathilde knapp. „Sobald die Kopfhaut nicht mehr durchschimmert, werde ich nicht mehr nachfärben. Das ist mir viel zu lästig.“

„Was führt dich zu uns?“, wollte Herbert wissen, erwartungsvoll auf die Tasche in den Händen der Tante blickend. „Nimm dir eine Tasse Kaffee. Der ist frisch aufgebrüht. Darf ich dir dein Gepäck abnehmen?“

Lachend stellte Mathilde die Handtasche auf den Tisch und entnahm dieser einen mit Klarsichtfolie abgedeckten Teller.

„Martha hat Zitronenkuchen vom Blech mit Zuckerglasur gebacken“, verkündete sie munter. „Greifen Sie zu, meine Herren.“

Florian zögerte keine Sekunde, und auch Herbert ließ sich nicht zweimal bitten. Lediglich Hans schaute sehnsuchtsvoll auf das duftende Backwerk.

„Herr Flachs?“, fragte Mathilde irritiert, während sie mit ihrem Becher zur Kaffeemaschine ging. „Sind Sie krank?“

„Er hat sich Diät verordnet“, murmelte Herbert mit vollem Mund. In seinem Schnurrbart hatte sich etwas Zuckerguss verfangen. „Ein kleiner Bauch ist doch nicht tragisch, Hans. Hast du eine heimliche Geliebte, die du beeindrucken möchtest?“

Vorsichtig näherte sich Hans dem Kuchenteller. „Quatsch“, sagte er kopfschüttelnd. „Ach, ein Stückchen Kuchen wird mir gewiss nicht schaden. Außerdem möchte ich die gute Frau Awolowo nicht beleidigen.“

Eine Weile herrschte genussvolles Schweigen. Schließlich fragte Mathilde: „Was ist los in Wuppertal? Gibt es einen interessanten Fall?“

„Weil du uns zweimal erfolgreich geholfen hast, bedeutet das nicht, dass du dich ständig in unsere Ermittlungen einmischen darfst, Tante Mathilde“, mahnte Herbert streng, seinen Schnurrbart säubernd. „Das gesamte Präsidium tuschelt hinter unseren Rücken über deine Detektivspielerei. Langsam wird mir das unangenehm.“

„Aber Herbert, hat deine Mutter dich nicht so erzogen, dass dich das Gerede anderer Leute kalt lässt?“, neckte ihn Mathilde. Neugierig stand sie auf und besah sich das Foto, das auf Florian Vogels Computertastatur lag. Rasch überflog sie die beiliegende Vermisstenmeldung.

„Ellen Blubach“, überlegte sie laut. „Wo habe ich den Namen bloß schon mal gehört?“

Das Läuten des Telefons riss sie aus ihren Überlegungen.

„Mucke“, nahm ihr Neffe den Anruf entgegen. „Ach du liebe Güte. Wir machen uns sofort auf den Weg.“

„Was ist passiert?“, erkundigte sich Mathilde aufgeregt, und Herbert warf seinen Kollegen einen vielsagenden Blick zu.

„Danke für den Kuchen, Frau Krähenfuß“, sagte Hans schnell. „Richten Sie Frau Awolowo meine besten Grüße aus.“

„Du solltest jetzt besser gehen, Tante Mathilde“, fügte Herbert hinzu und warf Florian den Autoschlüssel zu. Er stand auf und machte sich auf den Weg zur Tür. Seine Kollegen und Mathilde folgten ihm.

Herberts neuer Dienstwagen, eine dunkelblaue BMW 5er Limousine, parkte direkt neben dem breiten Treppenaufgang zum Gebäude.

„Beeindruckend“, kommentierte Mathilde. Florian hatte die Autotüren bereits entriegelt, und sie setzte sich, ohne lange zu fackeln, auf die Rückbank.

„Mathilde“, sagte Herbert vorwurfsvoll. „Lass das Theater. Steig aus, damit wir unsere Arbeit machen können.“

Die Angesprochene fand ihren Presseausweis ausnahmsweise auf Anhieb. Demonstrativ hielt sie ihrem Neffen die Karte vor die Nase. „Nimm mich mit, damit ich meine Arbeit machen kann.“

Seufzend ließ sich Herbert auf den Beifahrersitz fallen und sagte: „Wir fahren zum Skulpturenpark. Ich hatte soeben die Pressesprecherin des Parks, Judith Weißhaupt, in der Leitung. Sie meinte, eine Reinigungskraft habe in einer der Toiletten eine Frauenleiche gefunden.“

„Pressesprecherin?“, fragte Mathilde neugierig. „Siehst du, Herbert, es ist gut, dass ich dabei bin.“

„Frau Weißhaupt arbeitet nicht nur für den Park, sondern ist freiberuflich noch für andere Organisationen tätig“, gab Herbert Auskunft. „Jeden Dienstag ist sie in Wuppertal. Sie geht davon aus, dass der Mord am Sonntag geschehen ist. Montags bleibt die Ausstellung geschlossen.“

„Ich muss gestehen, dass ich noch nie in dem Park war“, sagte Mathilde und schnallte sich an.

„Meine Frau und ich besitzen eine Jahreskarte“, stellte Hans fest. „Tony Cragg, der in Wuppertal lebende britische Künstler, hat den Ort um die alte Villa Waldfrieden 2006 erworben und mit seinen Skulpturen und denen anderer Bildhauer ausgestattet.“

„Typisch Hans“, mischte sich Florian grinsend ein. „Wenn es um Kunst geht, weißt du Bescheid. Ich war auch schon auf dem Grundstück, kann den merkwürdigen Gebilden dort jedoch nichts abgewinnen. Ich muss sofort erkennen können, was ein Künstler mir mit seinem Werk mitteilen möchte; abstrakte Kunst ist nichts für mich.“ Er hielt vor der Ampel und setzte den Blinker.

„Hier im Wicküler Park hat Martha früher gerne Lebensmittel besorgt, weil viele verschiedene Geschäfte in einem Gebäudekomplex untergebracht sind und sie das ein oder andere Schnäppchen für ihre Schwestern, Neffen und Nichten mitnehmen konnte“, unterbrach Mathilde die Diskussion.

„Jetzt nicht mehr?“, wunderte sich Herbert. „Im Übrigen sind wir gleich da. Hinter dem Bibelmuseum führt eine Stichstraße den Berg rauf zu den Parkplätzen.“

„Seit der Real den Komplex verlassen hat, erledigt Martha die Einkäufe im Rewe Einkaufscenter bei uns um die Ecke“, antwortete Mathilde, neugierig die Umgebung betrachtend. „Ein Bibelmuseum, was es so alles gibt.“

„Ihr seid alles Kulturbanausen“, schnaubte der neben Mathilde auf der Rückbank sitzende Hans.

„Geht doch nichts über einen Abend in der Gesellschaft eines hübschen Mädchens im CinemaxX“, konterte Florian frech.

„Hier könnt ihr die ersten Skulpturen sehen“, kündigte Hans wenig später an. „Das sind die Appetithäppchen, die es umsonst gibt.“

Unbeeindruckt steuerte Florian den Wagen die durch den Wald führende, steil ansteigende Straße hoch. Er ignorierte die ausgewiesenen Parkplätze und hielt auf dem schmalen Wegstück vor dem Café Podest. Ein Pulk von Menschen wartete dort auf die Beamten. Junge Leute mit Schürzen, scheinbar das Personal des Restaurants, Besucher, denen der Eintritt verwehrt wurde, und diverse Angestellte. Hans war der Erste, der den BMW verließ.

„Herr Flachs, wie schrecklich“, wurde er von einer jungen Frau mit Namensschild auf der weißen Rüschenbluse begrüßt.

„Beruhigen Sie sich. Wir werden uns um alles kümmern“, versicherte Hans der aufgeregten Frau. „Herbert, Frau Knopp ist Servicekraft im Restaurant.“

„Und du bist gewiss Stammkunde“, neckte ihn Florian.

„Hauptkommissar Mucke?“, wandte sich eine rundliche, schwarzhaarige Frau an Herbert, dem der Schweiß über die Stirn lief. Energisch wischte er mit einem Taschentuch über sein Gesicht.

„Der bin ich“, antwortete er der ernst dreinblickenden Frau um die vierzig. „Und Sie sind gewiss Frau Weißhaupt.“

Die Angesprochene nickte zustimmend und warf einen fragenden Blick auf Mathilde, die an Herberts Seite stand und alle Anwesenden mit Argusaugen beobachtete.

„Wie ich sehe, ist die Politredakteurin vom Wupperspiegel dabei“, bemerkte sie sachlich. „Frau Krähenfuß, wir hatten bereits einmal miteinander zu tun.“

„Jetzt erinnere ich mich“, erwiderte Mathilde und schlug sich leicht mit der flachen Hand vor die Stirn. „Sie waren damals bei der Gegenüberstellung eines Wuppertaler Politikers mit dem Kulturdezernenten dabei. Aber wir wollen uns nicht mit der Vergangenheit aufhalten. Ich bin seit Kurzem berentet und recherchiere nun als freie Mitarbeiterin für die Ronsdorfer Gazette.“

Irritiert runzelte Judith Weißhaupt die Stirn.

„Für dieses kostenlose Blatt?“, wollte sie ungläubig wissen.

„Frau Weißhaupt, was ist hier vorgefallen?“, griff Herbert entschieden in das Gespräch ein.

„Es ist ein Drama“, antwortete die Pressesprecherin. „Tony Cragg ist schockiert. Folgen Sie mir bitte die Stufen hoch. Wir werden ein gutes Stück laufen müssen. Der Mord fand an der oberen Ausstellungshalle statt.“

„Sind Sie sicher, dass es sich um ein Gewaltverbrechen handelt?“, erkundigte sich Herbert, hinter Judith Weißhaupt die Treppe zum Eingang nehmend. Im schmalen Durchgang zwischen Kassenbereich und dem Regal mit Büchern über den Park und die ausstellenden Künstler rotierten Ventilatoren.

„Wenn Sie die Leiche zu Gesicht bekommen, werden Sie mich verstehen“, entgegnete Judith. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Mathilde. In ihrer Erinnerung hatte die Journalistin graumelierte, kurze Haare gehabt. Judith fand, dass ihr das besser gestanden hatte als der raspelkurze neue Schnitt mit der braunen Farbe. Ansonsten sah sie wie damals aus, trug sie auch heute ihre altmodische, goldene Armbanduhr, die noch aufgezogen werden musste. Außerdem schien die randlose Brille, die ihr wie früher auf die Nasenspitze gerutscht war, noch dieselbe zu sein. Judith beschleunigte ihre Schritte.

„Der Park ist gut gesichert“, bemerkte Mathilde keuchend. Sie deutete auf eine Überwachungskamera.

„Absolut“, erwiderte Judith. „Nicht nur videoüberwacht, sondern zusätzlich hoch umzäunt. Ich habe alles untersuchen lassen. Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen gibt es nicht.“

„In etwa einer halben Stunde werden die Kollegen von der Spurensicherung und der Gerichtsmediziner eintreffen“, informierte Herbert die Pressesprecherin.

„Wir sind am Ziel angekommen“, sagte diese erleichtert. „Sehen Sie sich die Ausstellungshalle an. Die Außenwände sind komplett verglast, lediglich die Rückwand ist aus Stahl. Dahinter endet das Grundstück.“

„Was sind das für merkwürdige Gestalten?“, fragte Mathilde und zeigte mit dem Finger auf weiße Gipsskulpturen, die teilweise merkwürdig verkrüppelt aussahen.

„Das ist eine Ausstellung von Vorarbeiten des Künstlers Markus Lüpertz zu seinen späteren Bronzeskulpturen. An einer davon sind wir soeben vorbeigegangen. Sie bleibt dauerhaft hier“, erklärte Judith, und Mathilde registrierte die Begeisterung, die in ihrer Stimme mitschwang.

„Jetzt möchte ich augenblicklich die Leiche sehen“, warf Herbert ungeduldig ein. „Hans? Kannst du dich vom Fenster losreißen?“

Kopfschüttelnd betrachtete er seinen Mitarbeiter, der fasziniert von außen ins Innere der Halle blickte.

Judith führte sie an der Stahlwand entlang zu einer weit aufstehenden Tür.

„Von vorne ist der kleine Raum nicht zu sehen“, sagte sie leise. „Treten Sie ein. Ich warte hier draußen auf Sie, wenn es recht ist.“

Ohne etwas anzufassen, schritt Herbert über die Schwelle. Mathilde folgte ihm neugierig.

Die schwache Beleuchtung im Inneren des Raums offenbarte eine einzelne rote Sandalette, die unter dem Waschbecken lag.

Sie drängte sich vor ihren Neffen und lugte in die geöffnete Toilettenkammer.

„Meine Güte“, entfuhr es ihr entsetzt.

Herbert schob sich an seiner Tante vorbei und blickte schockiert auf die auf dem Boden liegende Frauenleiche, zusammengerollt und verschnürt wie ein Paket.

„Florian, ruf bitte Dr. Mathis und Jörg Tauben an. Sie sollen sich beeilen“, sagte er zu dem Beamten hinter seinem Rücken. „Hans, schieß Fotos. Ich gehe davon aus, dass wir es hier mit Tod durch Erdrosselung zu tun haben. Mathilde, mach bitte Platz für Hans.“ Er zog sie an ihrem Hosenbund zurück nach draußen.

„Das muss ein grausamer Tod gewesen sein“, flüsterte Mathilde. „Hast du die verdrehten Augen und den verzerrten Gesichtsausdruck gesehen?“

Ihr Neffe nickte nur fassungslos.

„Wer tut einer jungen Frau so etwas an?“, stammelte er. „Ein Sexualdelikt wird wahrscheinlich nicht vorliegen. Der kurze Overall ist unversehrt.“

„Weißt du, wer das ist, Herbert?“, fragte Florian und ballte seine Hände zu Fäusten.

„Bin ich Hellseher?“, antwortete dieser bissig.

„Das ist die schöne Vermisste“, erklärte Florian bestimmt. „Das Mädchen würde ich jederzeit wiedererkennen. Solche Perfektion findet man selbst unter Models selten. Tauben und Mathis kommen im Übrigen bereits den Berg hoch. Hast du was dagegen, wenn ich Thomas Kleinert informiere? Ich hatte auf der Wache so ein komisches Gefühl und habe das Bild und die Vermisstenmeldung eingesteckt. Darauf steht die Mobilfunknummer des Mannes. Gewiss wird er meine Vermutung bestätigen.“

„Vielleicht findet Jörg Tauben etwas, das uns Aufschluss über ihre Identität geben kann“, murmelte Herbert, rasch an der Stahlwand vorbei zum anderen Ende der Halle gehend.

„Was geschieht jetzt?“, rief Judith ängstlich. Ihr volles Gesicht war vor Aufregung gerötet, die Augen waren weit aufgerissen.

„Ich muss Sie bitten, sofort die Person zum Tatort zu rufen, die die Leiche entdeckt hat“, erwiderte Herbert. Er hob beide Arme und winkte den auf ihn zukommenden Männern. Knapp informierte er den Arzt und den Kollegen von der Spurensicherung über die Geschehnisse, und die zwei machten sich an ihre Arbeit.

Judith Weißhaupt tippte hektisch auf den Touchscreen ihres Smartphones, telefonierte kurz, und nur wenige Minuten später erschien eine völlig aufgelöste Frau mit Schmetterlingstätowierungen an beiden Oberarmen. Nase und Mund zierten mehrere Piercings, ihre Shorts und ihr Shirt waren mit Leopardenoptik bedruckt.

„Ich kenne die Tote“, schluchzte sie. „Das ist Ellen Blubach. Wir sind…“, sie brach ab und verbarg den Kopf hinter ihren Händen.

„Mädchen, Mädchen“, sagte Mathilde behutsam und legte ihren Arm um die bebende Frau.

„Jetzt verraten Sie mir bitte erstmal Ihren Namen.“

„Eva“, wisperte sie. „Eva Brakel.“

„Woher kennen Sie die Tote?“, mischte sich Herbert ein.

„Wir waren zusammen auf dem Gymnasium“, brachte Eva Brakel mühsam hervor.

„Eva, du hast mir nicht gesagt, dass dir die Verstorbene bekannt ist“, sagte Judith vorwurfsvoll.

„Verzeihen Sie mir, Frau Weißhaupt“, bat Eva hilflos. „Es war so grauenhaft, Ellen auf dem Boden liegen zu sehen, zusammengerollt wie eine Katze…“

„Hatten Sie bestehenden Kontakt zu Frau Blubach?“, wollte Hans wissen, Herbert seine Aufnahmen von der Leiche zeigend.

„Warum möchten Sie das wissen?“, fragte Eva verstört. „Seit acht Jahren habe ich Ellen nicht mehr gesehen. Mit vierzehn musste ich vom Gymnasium zur Hauptschule wechseln, deswegen haben wir uns aus den Augen verloren. Aber ihr Gesicht würde ich nie vergessen.“

„Herr Flachs erledigt nur seine Pflicht“, warf Mathilde beschwichtigend ein. „Sie haben die Leiche als Erste gefunden und sind sogar mit ihr bekannt, deswegen werden die Beamten Ihre Personalien aufnehmen müssen. Das ist eine reine Routinemaßnahme. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sehen ja, wie aufgewühlt Sie sind.“

„Wann haben Sie die Leiche entdeckt?“, wollte Herbert wissen, während er ein Notizbuch aus der Hosentasche zog.

„Um vierzehn Uhr zwanzig“, antwortete Judith an Evas Stelle. „Ich habe Sie umgehend informiert, Herr Mucke.“

„Frau Brakel, bitte berichten Sie mir genau, was Sie beobachtet haben“, forderte Herbert die junge Frau auf, ohne der Pressesprecherin Beachtung zu schenken.

„Ich habe den Boden der Ausstellungshalle geputzt, das gehört hier mit zu meinen Aufgaben“, erklärte Eva, nervös an den zahlreichen Ringen drehend, die ihre Finger schmückten.

„Eva ist hier das Mädchen für alles“, mischte sich Judith erneut ein. „Damit unterstützen wir den zweiten Arbeitsmarkt.“

„Lassen Sie Frau Brakel bitte zu Wort kommen“, sagte Herbert ärgerlich.

„Ich wollte die Toilette putzen“, fuhr Eva fort. „Dort habe ich sie gefunden, die Ellen. Natürlich informierte ich augenblicklich Frau Weißhaupt. Dienstags ist sie zum Glück vor Ort.“

„An den anderen Tagen könnt ihr mich jederzeit anrufen, wenn es einen ungewöhnlichen Vorfall gibt“, meldete sich Judith erneut zu Wort.

„Hat irgendjemand außer Ihnen den Tatort betreten oder ist in Kontakt mit der Leiche gekommen?“, fragte Herbert weiter.

„Natürlich nicht“, empörte sich Judith. Eine Zornesfalte zeigte sich auf ihrer Stirn. Plötzlich klingelte ihr Smartphone. Sie drehte sich um und redete eine Weile wild gestikulierend. „Am Eingang steht ein gewisser Thomas Kleinert. Er gibt an, erwartet zu werden“, sagte sie, wieder an Herbert gewandt.

„Ich war mir sicher, Herbert, dass die Tote Ellen Blubach ist“, rechtfertigte Florian rasch seinen Alleingang.

„Ihr macht sowieso alle, was ihr wollt“, murmelte der Angesprochene missmutig. Dabei sah er demonstrativ seine Tante an. „Schicken Sie Herrn Kleinert bitte zur Ausstellungshalle, Frau Weißhaupt.“

„Darf ich kurz stören?“, fragte der herbeigetretene Jörg Tauben. Der schlanke, sportliche Mann, der in seiner Freizeit gerne kletterte, hielt ein quadratisches Gerät in der Hand.

„Ist das der neue, vollautomatische Fingerabdruckscanner?“, erkundigte sich Mathilde wissbegierig. Mit großem Interesse begutachtete sie den kleinen Kasten.

Tauben nickte zustimmend.

„Frau Weißhaupt“, redete er die Pressesprecherin an. „Legen Sie bitte alle Fingerspitzen Ihrer rechten Hand auf die leuchtende Fläche.“

„Ich?“, entsetzte sich diese.

„Ihre Abdrücke dienen uns lediglich zur Abgrenzung von weiteren Spuren“, sagte Jörg beruhigend, und widerwillig kam Judith der Aufforderung nach.

„Die junge Dame hier an meiner Seite hat die Leiche entdeckt“, berichtete Herbert. „Von ihr kannst du ebenfalls Fingerabdrücke nehmen.“

Mathilde registrierte, dass Eva blass um die Nase wurde. Der Tränenfluss war zwar versiegt, doch sie zitterte immer noch wie Espenlaub. Mathilde tätschelte ihr leicht den bloßen Oberarm.

„Wo ist Ellen?“, hörten sie auf einmal eine tiefe Männerstimme rufen.

Mathilde sah einen rothaarigen Mann mit Zopf den Weg heraufsprinten.

„Das ist der Verlobte“, sagte Herbert flüsternd zu Mathilde, und der Mann kam atemlos und schwitzend vor ihnen zum Stehen.

„Ich möchte auf der Stelle zu Ellen“, schrie Thomas Kleinert hysterisch. Sein buntbedrucktes Sommerhemd klebte ihm am Körper, die Adern an den Schläfen traten deutlich hervor.

„Jörg, Florian, begleitet Herrn Kleinert zu der Toten, damit er sie identifizieren kann“, ordnete Herbert an.

Wenige Augenblicke später hörten sie gellende Schreie.

„Zum Glück ist Dr. Mathis bei der Leiche“, bemerkte Hans geschockt. „Ich fürchte, der Mann steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch.“

„Sobald Florian zurück ist, fahren wir zur Wache“, kündigte Herbert an. Nachdenklich zwirbelte er seinen Schnurrbart.

Sie brauchten nicht lange auf dessen Rückkehr zu warten.

„Mathis sagt, die voraussichtliche Todeszeit war Sonntagabend gegen einundzwanzig Uhr. Dem Verlobten hat er Diazepam gespritzt. Kleinert steht unter Schock und muss im Krankenhaus medizinisch behandelt werden. Mathis leitet das in die Wege.“

„Ich werde die Kleidung und Sandaletten der Toten zur Analyse mit ins Labor nehmen“, gab Jörg an. „Die Leiche muss obduziert werden.“

„Kümmern Sie sich bitte um Frau Brakel“, wies Herbert die Pressesprecherin an. „Wir werden uns wieder bei Ihnen beiden melden.“

Mittwoch, 04. Juli 2018

Mysteriöser Todesfall im Skulpturenpark Waldfrieden!

Parkangestellte entdeckt hinter der oberen Ausstellungshalle eine Frauenleiche.

Von Mathilde Krähenfuß

BARMEN. `Der Tod, der bleiche Freier' wird die Ausstellung des Künstlers Markus Lüpertz genannt. Auf dramatische Weise musste eine Reinigungskraft gestern am frühen Nachmittag feststellen, dass der bleiche Freier in der Toilette hinter der Ausstellungshalle ein Opfer gefordert hatte.

Nach Angaben von Kriminalhauptkommissar Herbert Mucke handelt es sich dabei um eine seit Sonntagabend als vermisst gemeldete Studentin. Eine erste Untersuchung hat ergeben, dass der Tod voraussichtlich vor drei Tagen eintrat. Die Kriminalpolizei ermittelt wegen Mordverdachts. Eine Obduktion soll weitere Erkenntnisse bringen.