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Inhaltsverzeichnis

Impressum 2

Einleitung 3

Die Entscheidung 7

Die Verschiebung 29

1 29

2 33

3 35

Erster Tag 51

1 51

2 53

3 60

4 70

5 86

6 93

Zweiter Tag 110

1 110

2 112

3 118

4 120

5 131

Dritter Tag 145

1 145

2 147

3 158

4 174

Vierter Tag 194

1 194

2 197

3 210

4 229

5 235

6 241

7 249

8 256

Fünfter Tag 269

1 269

2 272

3 284

4 293

5 309

6 328

Sechster Tag 346

1 346

2 349

3 367

4 377

5 402

Siebenter Tag 417

1 417

2 419

3 420

4 434

5 437

6 445

7 448

8 458

Der Brief 463

Abschied 466

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2020 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99064-837-7

ISBN e-book: 978-3-99064-838-4

Lektorat: Katja Wetzel

Umschlagfotos: © Gabriella Gothberg, Konstantin Kamenetskiy,
Edwin Verin | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Einleitung

Wenn sie am Tag des Todes

tief in die Erde mich senken,

Dass mein Herz dann noch auf Erden

weile, darfst du nicht denken! …

Siehst meine Bahre du ziehen,

lass das Wort ‚Trennung‘ nicht hören,

Weil mir dann ewig ersehntes

Treffen und Finden gehören!

Klage nicht ‚Abschied, ach Abschied!‘,

wenn man ins Grab mich geleitet:

Ist mir doch selige Ankunft

hinter dem Vorhang bereitet! …

Mevlana Celaleddin Rumi

***

Alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.

Goethe (Faust)

***

Die Physiologie, welche den Tod nicht als ein Bestandteil des Lebens betrachtet, gilt nicht als Wissenschaft. Das Leben trägt den eigenen Gegensatz, nämlich den Tod in sich selbst.

Friedrich Engels

***

Wissen ohne Gewissen wird zur größten Gefahr für die Menschen.

Victor Frederick Weisskopf

***

In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst.

Hl. Augustinus

***

Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse,
aber nicht jedermanns Gier.

Mahatma Gandhi

***

Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches Voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc.

Wenn du die Kunst genießen willst, musst du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluss auf andere Menschen ausüben willst, musst du wirklich ein anregend und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen – und zu der Natur – muss eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines wirklichen individuellen Lebens sein.

Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, d. h. wenn dein Lieben als Lieben keine Gegenliebe produziert, wenn du durch eine Lebensäußerung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück!

Karl Marx

Die Entscheidung

Er war wie gewohnt jeden Vormittag in dem Wald, der an sein Haus angrenzte, unterwegs, und war wie immer in Gedanken versunken. Da er sich nicht mehr stark genug fühlte, fuhr er seit fast sechs Jahren nicht mehr in die Berge, um zu wandern, abgesehen davon, dass er manchmal zu einem nahe gelegenen kleinen Bergsee fuhr, an dessen Rand er ohne große Anstrengung einen Spaziergang machte und anschließend in einer ruhigen Ecke saß und meditierte. Also, er machte seinen alltäglichen Spaziergang hier in der Nähe seines Hauses auf dem bequemen Waldweg. Da er jede Biegung, jeden Baum und nahezu jeden großen Stein auf der Strecke kannte, konnte er beim Gehen oft grübeln und in sich kehren. Das war eine Art Meditation, die er seit Jahrzehnten zu tun pflegte. Diese Meditation, vielmehr das Nachdenken, brauchte er, um seinen Kopf von alltäglichen Problemen und Widrigkeiten zu befreien. Deshalb nahm er die Spaziergänger und Jogger nicht wahr, die ihn überholten oder ihm entgegenliefen.

Als er etwa in der Mitte der Wegstrecke zu sich kam, sah er plötzlich ein Mädchen schnell vorbeigehen. Obwohl es so schnell und flüchtig war, war er augenblicklich von ihrem Wesen und ihrer Anmut so sehr fasziniert und mitgenommen, dass er unwillkürlich stehen blieb, sich umdrehte und ihr nachschaute. Da sie mit gemächlichen Schritten weiterging, konnte er ihr eine Weile nachsehen. An ihr konnte er eine kurze Jogginghose und ein kurzes Oberteil mit Spaghettiträgern gewahren. Ihre Taille war frei und ihr rotes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Nichts Außergewöhnliches. Trotzdem war er wie gefesselt, hielt den Atem an und konnte sich nicht zurückdrehen. Irgendetwas an ihr hatte ihn so stark gefesselt und sein Inneres mit solch einer Freude und Unruhe zugleich erfüllt, dass er es nicht beschreiben konnte. Als sie nach einer Weile in einer Biegung verschwand und ihre Schritte nicht mehr zu vernehmen waren, war er zutiefst enttäuscht. Als er sich endlich umdrehte, um weiterzugehen, wollten ihm seine Beine nicht mehr gehorchen. Er wandte sich noch einmal um, aber er sah nichts und hörte nichts von ihr. Er war zutiefst geknickt, jedoch er wusste nicht, warum.

Enttäuscht und aufgewühlt setzte er schweren Schrittes seinen Spaziergang fort.

Er war seit über zwanzig Jahren pensioniert und ging bereits auf sechsundachtzig zu. Gleich nach seiner Pensionierung an der Universität hatten er und seine Frau die Metropole Wien verlassen und sich in einem kleinen Städtchen in Tirol niedergelassen. Seine fünfundzwanzig Jahre jüngere Frau hatte dort im Klinikum als Gynäkologin eine Stelle bekommen.

Er liebte die Alpen und fühlte sich sehr wohl in den Bergen. Er selbst war in der Osttürkei auch in einer Bergregion geboren und aufgewachsen. Er war ein Kind der Berge. Obwohl sie am Rande einer kleinen Stadt in Tirol ein bescheidenes Sommerhaus hatten, doch hatte er mit Ungeduld auf den Tag seines Ruhestandes gewartet, die Jahre und Monate gezählt, um Wien zu verlassen und den Rest seines Lebens fern der Metropole in Ruhe und Stille zu verbringen. Zwar hatte es ihm die Fakultät in Aussicht gestellt, dass er noch weitere fünf Jahre wirken dürfte, aber er wollte es nicht.

Das kleine Haus in dieser Bergregion war für die beiden der ideale Zufluchtsort, wo sie auf ausgedehnten Spaziergängen gemeinsam und auch manchmal alleine Ruhe finden und in sich kehren konnten. In ihrem neuen Zuhause verbrachten sie mehr Zeit miteinander.

Diese glückliche Zeit hatte jedoch ein jähes Ende genommen, nachdem seine Frau auf dem Wege zu einer Rettung bei einem Helikopter-Absturz in Kenia ums Leben gekommen war. Sie war noch einundfünfzig gewesen.

Da Claudia noch relativ jung und bei guter Gesundheit war, wollte sie den Menschen in Not weiterhelfen, solange sie dazu in der Lage war. Daher spielte sie mit dem Gedanken, sich jedes Jahr für drei Monate ohne Gehalt beurlauben zu lassen, um bei der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ mitzuwirken. Weil sie daheim und auf den Spaziergängen im Wald die Sache hin und wieder ins Gespräch brachte, wusste er schon, dass sie die Idee seit Langem mit sich schleppte, aber sich nicht traute, es ihm zu sagen. Denn sie wollte ihn nicht allein lassen. Das wäre eine Zumutung und unverantwortlich ihm gegenüber, dachte sie. Dennoch wollte er ihr helfen, um ihr die Entscheidung leichter zu machen. Das Thema wollte er aber zu Hause beim Abendessen anschneiden, weil sie während der gemeinsamen Spaziergänge kaum miteinander sprachen. Sie genossen die Stille und jeder kehrte in sich und war in seiner inneren Welt.

Beim Abendessen daheim studierte er im Stillen eine Weile das Gesicht seiner Frau und dann richtete er seinen liebevollen Blick auf sie. „Claudia, ich weiß, dass du seit Langem mit dem Gedanken spielst, jedoch dich nicht traust, es mir zu sagen. Du sollst dich bei der Organisation ‚Ärzte ohne Grenzen‘ anmelden. Das ist die höchste Zeit.“

Mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn an. Sie hatte dies nicht erwartet. Das war eine Überraschung. Denn bislang hatte er diesbezüglich seine Meinung gar nicht geäußert.

„Wie kommst du da plötzlich darauf?“, fragte sie erstaunt.

Er blickte ihr noch einmal tief in die Augen und lächelte liebevoll. „Ich wollte dich von der Qual der Unentschlossenheit befreien“, entgegnete er. „Weil ich dich mehr kenne, als du denkst.“

„Das ist sehr lieb und verständnisvoll von dir, aber ich möchte dich nicht jedes Jahr drei Monate lang allein lassen“, sagte sie und studierte sein Gesicht weiter.

„Das wäre das geringste Problem. Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen“, ermutigte er sie aufrichtig. Als er merkte, dass ihre nachdenklichen Augen noch immer ihren Zweifel ausdrückten, fügte er hinzu: „Wegen deiner Nachtdienste bin ich ja ohnehin öfters allein gewesen. Außerdem bin ich noch in der Lage, mich selbst zu versorgen.“

Daraufhin hatte sie die Arme über den Tisch zu ihm gestreckt und seine Hände in ihre genommen und fest gedrückt. „Ich bin dem Schicksal dankbar, dass es dich zu mir geführt hat. Du bist der verständnisvollste Mensch, dem ich je begegnet bin. Ich liebe dich!“

Da ihr Klinikum auch damit einverstanden war, hatte sie sich schon am nächsten Tag per Telefon in der Zentrale der Organisation gemeldet, und sie war schon einen Monat später – es war Sommer – in Kenia in ihren jährlich dreimonatigen Dienst getreten. Sie war sehr glücklich, dass sie den Not leidenden Mitmenschen in Afrika helfen konnte. Er war nicht nur glücklich darüber, sondern auch sehr stolz auf sie.

Als sie noch am Leben war, redeten sie bei gegebenen Anlässen über die menschliche Realität, den unvermeidbaren Tod eines jeden Menschen. Zwei Jahre vor ihrem Tod hatte er sie über seinen eigenen Tod angesprochen; er wollte eine Sache klargestellt haben.

Es war ein angenehm milder Apriltag. Nach dem Mittagessen saßen sie auf der Terrasse und tranken Tee. Die frische Luft und die betörenden Düfte von allerlei Blüten taten ihnen gut. Sie hatte ihn gefragt, ob er dabei eine Zigarette rauchen wollte, aber er hatte Nein gesagt, aufgrund dessen, was er in jenem Moment im Kopf hatte. Er musste sich nur auf das Thema konzentrieren. Länger warten wollte er nicht mehr.

„Claudia, wie du weißt, ich gehe auf siebenundsiebzig zu und gesund bin ich auch nicht“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Das ist ja kein Geheimnis, dass ich seit Jahren einige altersbedingte ernsthafte Leiden mit mir herumschleppe. Bevor ich eines Tages bettlägerig und pflegebedürftig geworden bin, möchte ich mich vom Leben freiwillig, nämlich mit meinem Willen verabschieden. Natürlich sofern ich geistig in der Lage bin, so eine Entscheidung treffen zu können.“

Sie war perplex und sah ihn mit verwunderten Augen an. „Wo kommt plötzlich dieses Ansinnen her?“, wollte sie wissen.

Er richtete seinen Blick auf die Frau, die er mehr liebte als sein eigenes Leben, und sah ihr tief in die hellblauen Augen, als wolle er darin das größte Geheimnis des menschlichen Dramas ergründen. „Bitte sei nicht traurig“, sagte er im Flüsterton, „diese Entscheidung hatte ich bereits vor über zwanzig Jahren getroffen, aber aus einigen Gründen habe ich sie lange Jahre verschoben, in der Hoffnung, eines Tages mit dir darüber zu sprechen.“

Eine bedrückende Stille trat ein und dehnte sich. Im Geiste ging er mehr als zwanzig Jahre zurück. Er war mit seinem besten Freund und Kollegen an der Universität zu einem Pflegeheim, das vierzig Kilometer von Wien entfernt lag, gefahren, um dessen Tante zu besuchen. Sie war vierundneunzig und war seit über acht Jahren in dem Pflegeheim. Erst dort sagte sein Freund Berthold, dass seine Tante ihn nicht mehr kenne, weil sie dement sei. In ihren Augen oder im Gesicht war gar keine Gefühlsregung zu erkennen.

Die meisten Insassen des Heims waren zwischen fünfundachtzig und fünfundneunzig, und nicht wenige von ihnen litten an Demenz oder Alzheimer. Viele andere waren nach einem schweren Schlaganfall zur Pflege gegeben worden. Die Köpfe auf die Brust oder zur Seite gesenkt, mit hinunterlaufendem Speichel und ausdruckslosen Augen starrten sie nur vor sich hin. Die bittere Lage jener Menschen machte ihn zutiefst betroffen. So fristen sie ihre Zeit, ohne zu wissen, was überhaupt das Leben ist, dachte er im Stillen. Für diese Menschen waren all die schönen und auch traurigen Erinnerungen ihres Lebens schon längst verschwunden. Sie hatten und wussten überhaupt nichts, was das Leben lebenswert machte. In so einem Fall möchte ich keineswegs weiterleben, sagte er sich insgeheim. Anstatt solch ein unwürdiges und erbärmliches Dasein zu fristen, lieber verlasse ich diese Welt freiwillig, bevor ich in so eine hoffnungslose Lage geraten bin, schwor er sich. Auf gar keinen Fall möchte ich in dieser Art und Weise auf der Welt bleiben.

Kurz danach fuhr er mit Berthold zu einem Klinikum, das unweit vom Pflegeheim lag. Berthold wollte seinen Nachbar sehen, der etwa seit sechs Monaten dort lag. Der war nach einem schweren Gehirnschlag ins Koma gefallen. Er wurde anhand gewisser Apparate und Medizin im Dauerkoma gehalten, obwohl man ganz genau wusste, dass es keine medizinische Möglichkeit mehr gab, ihn zurück ins Leben zu holen.

In dem gleichen Raum im Klinikum sah er zwei weitere Patienten, die man allerdings eher Tote als Patienten hätte bezeichnen können. Die waren mit etlichen Schläuchen an Maschinen angeschlossen. Sie erfuhren, dass diese seit über einem Jahr im Dauerkoma gewesen seien.

Als sie sehr bedrückt von dem, was sie gesehen hatten, zurück nach Hause fuhren, sprach keiner von beiden lange ein einziges Wort. Alle beide in sich gekehrt, hörten nur das Geräusch des Motors. Nach einer Weile wandte er sich Berthold zu und brach das Schweigen. „Glaubst du, dass es dabei um Ethik und Moral geht, dass diese Menschen um jeden Preis an einem künstlichen Leben gehalten werden?“, warf er ein. „Obwohl wir wissen, dass eine Pflanze zumindest ihr Dasein in der Welt oder der Natur genießt und entsprechend ihrem Wesen davon profitiert.“

Berthold wandte sich am Steuer einen Augenblick zu ihm und sah ihn an. Er wirkte noch immer bedrückt. Es dauerte eine Weile, ehe er sprach: „Natürlich geht es hier nicht um Ethik und Moral“, meinte er. „Du weißt es besser als ich, dass es hier eher um den Profit der gewissen Einrichtungen geht: Es sind Pharmakonzerne, Krankenhäuser, Kliniken und die Hersteller medizinischer Apparate und Aggregate …“

Daraufhin regte sich in ihm ein unangenehmes Gefühl, als habe er einen Schmerz in seinem tiefsten Inneren. „Diese Einrichtungen, die nur auf den Profit aus sind, kann ich verstehen“, entgegnete er, „was ich aber nicht verstehen kann, ist die Haltung der zuständigen Ärzte. Warum treffen sie keine vernünftige Entscheidung, um diese Menschen von diesem Elend, von dieser menschenunwürdigen Situation zu befreien?“

Ein bitteres Lächeln umspielte Bertholds Lippen. „Glaubst du, dass die Ärzte in den Kliniken und Krankenhäusern wirklich frei sind?“, entgegnete er seiner Frage mit einer anderen Frage. Nach einer kurzen Überlegung setzte Berthold hinzu: „Leider sind sie oft gezwungen, sich dem Geschäftsgebaren der Verwaltungen dieser Institutionen zu beugen, um ihre Stellen nicht zu verlieren.“

Als Berthold das Erstaunen in den Augen seines Freundes las, fuhr er fort: „Selbst die Ärzte, die ihre eigenen Praxen haben, sind finanziell gesehen nicht frei. Um sich über Wasser halten und gar überleben zu können, sind sie auch gezwungen, sich mit Pharmafirmen zu arrangieren, denn das Gesundheitswesen des Neoliberalismus kann nicht besser sein als das Gesamtsystem.“

Eine Weile schwiegen sie.

„Glaubst du, dass ein Arzt, der täglich auf eine gewisse Anzahl der Patienten angewiesen ist, um seine Praxis führen zu können, damit zufrieden sein kann, wenn ein Kranker durch ein Medikament oder eine Behandlung richtig geheilt wäre und lange Jahre nicht mehr den Arzt aufsuchen würde?“, fuhr Berthold fort. „Sicherlich liegt es nicht an dem Arzt, sondern am System, das die Ärzte zu diesem inhumanen und unethischen Verhalten zwingt.“

Er entsann sich diesbezüglicher Diskussionen, die er mit seiner Frau geführt hatte.

„Solange die Einrichtungen im Gesundheitsbereich und die Ärzte sich gezwungen sehen, in den Patienten ein Handelsobjekt zu sehen, wird sich die Lage gar nicht ändern. Jedoch wir dürfen nicht die Ärzte beschuldigen, denn das System unserer Wirtschaftsordnung zwingt die Ärzte dazu“, hatte Claudia einst gesagt.

„Ich denke, du liegst mit deiner Erklärung richtig“, meinte er. „Aber gerade geht es mir um die Menschen, denen man noch die letzte Würde nimmt, um bloß mehr Profit zu machen.“ Nach einer kurzen Überlegung fügte er dann hinzu: „Ich frage mich, warum treffen die Angehörigen dieser unglücklichen Menschen keine erlösende Entscheidung?“

„Bei vielen fehlt die Patientenverfügung“, bemerkte Berthold. „Die meisten Angehörigen, die rechtlich gesehen das Befugnis haben, trauen sich nicht, die erlösende Entscheidung zu treffen, weil sie sich vor dem Klatsch der Nachbarschaft fürchten.“

Ein bitteres Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Also sind wir wieder bei der Tatsache, dass für uns die Ansicht, vielmehr der Klatsch der Gesellschaft viel wichtiger ist als unsere eigene Überzeugung oder unser eigener Glaube. Das heißt, die Anerkennung der Herde ist uns wesentlich wichtiger als der gesunde Menschenverstand.“

Als er zu sich kam und sah, dass Claudia ihn noch immer anschaute und eine Antwort erwartete, richtete er seinen Blick erneut auf sie. „Entschuldige bitte, mir sind gerade mein Besuch zusammen mit Berthold im Pflegeheim, und was ich dort gesehen hatte, in den Sinn gekommen“, sagte er mit einem Seufzer. „Auf gar keinen Fall will ich anhand solcher Mittel und Methoden am Leben gehalten werden und so ein Dasein erdulden. Aber leider scheint das Problem allein mit einer Patientenverfügung nicht ganz aus der Welt zu schaffen sein.“

Als er merkte, dass das Erstaunen in den Augen seiner Frau wuchs, schwieg er eine Weile und blickte mit leeren Augen in die Ferne. „Wenn es so weit ist, möchte ich mich keineswegs an ein erbärmliches, sinnloses Dasein klammern. Ich will diese Welt freiwillig verlassen“, fuhr er fort. „Ich weiß, leichter gesagt als getan. Dennoch bin ich mir sicher, dass ich die Entscheidung treffen kann, solange ich geistig in der Lage bin.“

Erneut trat ein Schweigen ein. Sie sahen sich gegenseitig in die Augen, als wollten sie die Antwort zu diesem Dilemma in der Tiefe ihrer Augen finden. Dann setzte er hinzu: „Kurz gesagt, ich möchte, dass du mir dabei als Medizinerin hilfst.“

Nun trat eine bleierne, erdrückende Stille ein, und Claudia bemühte sich um die Fassung. „Wie kannst du von mir so etwas verlangen?“, sagte sie mit Tränen in den Augen. „Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe …“

„Gerade deshalb musst du mir helfen“, unterbrach er sie. „Wenn du mich liebst, darfst du mir diesen Wunsch nicht abschlagen.“

„Du verlangst von mir zu viel“, klagte sie mit einem tiefen Seufzer. „Wie stellst du dir diese Hilfe vor?“

„Meine liebste Claudia, beruhige dich, es geht nicht um eine aktive Sterbehilfe“, beruhigte er sie und versuchte, gelassen zu wirken. „Um Himmels willen, ich würde von dir so etwas auf gar keinen Fall verlangen. Alles, was ich in so einem Fall brauche, ist ein wirksames Medikament. Du sollst mir alle zwei Jahre jeweils drei Packungen zuverlässiger, wirksamer Schlaftabletten besorgen. Das ist alles.“

Als er die Tränen an ihren Wangen hinunterlaufen sah, stand er auf, ging zu ihr, packte sie an den Armen, zog sie hoch und umarmte sie fest. Während er ihre Haare streichelte, flüsterte er ihr leise ins Ohr. „Wenn du es mir nicht versprichst, werde ich dich nicht in Ruhe lassen. Du weißt es doch.“

Claudia befreite sich aus seiner Umarmung und sah ihn mit Tränen erfüllten Augen eine Weile an. Sie zögerte, wagte aber dann doch das Thema anzuschneiden, das sie gerade beschäftigte. „Mein Allerliebster, ich verstehe deinen diesbezüglichen Gedanken“, sagte sie im Flüsterton und wandte ihren Blick von ihm ab. „Glaubst du nicht, dass es dem Selbstmord gleichkommt?“

Plötzlich fiel er aus allen Wolken. Ein solches Argument hatte er von seiner Frau gar nicht erwartet. Nicht im Geringsten. „Wie kommst du auf dieses Ansinnen?“, wollte er wissen. „Soviel ich weiß, hast du mit der christlichen Kirche nichts am Hut. Seit wann legst du Wert auf die Meinung der Pfaffen?“

Sie spürte, wie ihr ganzes Gesicht rot anlief, weil sie im Herzen keinen Wert auf die Meinung der Kirche legte und wusste, dass auch ihr Mann das genau wusste. Seitdem sie zusammen waren, fühlte sie sich zum ersten Mal während einer Diskussion mit ihm in die Enge getrieben. Sie versuchte irgendwie aus der Verlegenheit herauszukommen. „Woher kommt plötzlich dieses Urteil gegen die Kirche?“, konterte sie zu ihrer Verteidigung, ohne dass sie es wollte. „Warst du nicht derjenige gewesen, der in der Vergangenheit einmal gesagt hatte, dass die Religion sehr wichtig gewesen sei, erstens, weil sie den Menschen in schwierigen Zeiten Hoffnung und Kraft verlieh, und zweitens die Menschen und Gesellschaften zusammenhielt?“

„Das stimmt“, sagte er knapp, „aber dies kann man nicht mehr mit den heutigen religiösen Institutionen wie Kirche, Synagoge, Moschee, hinduistische oder buddhistische Tempel erreichen, schon gar nicht durch die Verhaltensweise der heutigen Gottesmänner.“

„In diesem Punkt teile ich deine Ansicht“, stimmte sie ihm zu, „aber damit meinte ich die Meinung der Gesellschaft.“

„Bitte sag offen, was du denkst“, drängte er. „Geht es dir darum, dass die Priester die kirchliche Beerdigung verweigern würden? Offen gesagt, ich will keine kirchliche Beerdigung.“

Sie fühlte sich wieder ertappt und setzte an. „Das ist dein gutes Recht, die kirchlichen Rituale abzulehnen, aber mir geht es um Klatsch und Tratsch in der Gesellschaft, genauer gesagt, in der Nachbarschaft.“

Er wurde nachdenklich. Eine Weile waren seine Blicke in die Ferne gerichtet, dann wandte er sich ihr zu. „Claudia, wäre dir die naive Verhaltensweise einer orientierungslosen Gesellschaft wichtiger als deine Überzeugung?“

„Natürlich nicht!“, erwiderte sie etwas lauter als er bei ihr gewohnt war.

„Wie du weißt, haben wir bislang ganz wenig über die Religion geredet, weil wir beide der Meinung sind, dass der Glaube eine persönliche Sache ist“, fuhr er fort, „aber da wir gerade dabei sind, möchte ich darüber einiges sagen: Die Gesellschaft ist nicht weniger scheinheilig und verlogen als die Kirche. In der Tat sind die meisten der sogenannten Gottesmänner mehr als scheinheilig, sie sind verlogen, weil die Kirche meist in den Händen einer verlogenen Kaste ist.“

Mit Freude stellte er die offensichtliche Aufmerksamkeit seiner Frau fest. „Wusstest du nicht, dass die Kirche, die das freiwillige Scheiden eines Menschen von der Welt, aus welchem Grunde auch immer, als Selbstmord und damit auch als die größte Sünde bezeichnet, auch die gleiche Kirche ist, die im Verlauf der Jahrhunderte Millionen von Männern im Namen der Religion in den Krieg schickte, wo sie mordeten und ermordet wurden?

Wusstest du nicht, dass die Kirche, die die Tötung eines Menschen nach außen hin als die größte Sünde betrachtet, die gleiche Kirche ist, die die Männer, die im Namen des Christentums unzählige Menschen umgebracht hatten, heiligsprach und heute noch die Truppen, die in den Krieg ziehen, segnet?

Wusstest du nicht, dass die Kirche, die den Abbruch einer Schwangerschaft als Mord und selbst die Benutzung des Verhütungsmittels als Sünde bezeichnet und verurteilt, dieselbe Kirche ist, die im Mittelalter und zum Teil auch in der Neuzeit Hunderttausende harmlose Frauen und Männer und Andersdenkende mit diabolischer Begründung, die Komplizen des Teufels gewesen zu sein, gefoltert, verstümmelt und hinterher auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatte? Und die angeblichen Gottesmänner, die für diese unsägliche Grausamkeit sorgten, selbst die größten Teufel waren?

Wo war die christliche Kirche, als das Nazi-Regime im Rahmen des perfiden und grausamen Euthanasie-Programms Zehntausende bereits vom Schicksal betroffene, körperlich oder geistig behinderte Menschen in den Tod schickte?

Wo war die Kirche, als die Nazis die Homosexuellen, Zehntausende Sinti und Roma und Millionen Juden massakrierten? Waren die Gottesmänner der Kirche damals vielleicht auf dem Mond oder einem anderen Planeten gewesen?“

„Meinst du, dass all diese Grausamkeiten nur die christliche Kirche betrifft?“, erkundigte sich Claudia zaghaft.

„Natürlich nicht“, entgegnete er. „Das betrifft alle Religionen und Sekten. Aber wir reden gerade über die christliche Kirche und Gesellschaft. Trotzdem dürfen wir weder die Kirche noch die Gesellschaft allein für diese Scheinheiligkeit und Verlogenheit verantwortlich machen, denn das vorherrschende wirtschaftliche System, die etablierten wirtschaftlichen Institutionen zwingen die Kirche und Gesellschaft gleichermaßen dazu. Die Kirche ist ein Bestandteil des Systems. Von daher hilft sie eher dem System als den Individuen, die eine humanistische und vernünftige Orientierung brauchen.“ Nach einer Atempause setzte er hinzu: „Glaubst du wirklich, dass eine kirchliche Beerdigung in meinem Sinne wäre?“

„Nein, das wäre weder in deinem Sinne noch das Richtige“, antwortete sie.

„Das bedeutet, du wirst mir helfen“, jubelte er plötzlich mit strahlenden Augen.

Selbst beim Gedanken des Todes dieses Mannes, den sie über alles liebte, schossen ihr erneut die Tränen in die Augen. „Das werde ich wohl tun müssen“, sagte sie, während sie mit einer Hand die hinunterrollenden Tränen wegwischte. „Weil ich nicht einmal beschreiben kann, wie sehr ich dich liebe.“

„Dann habe ich noch einen anderen Wunsch“, verkündete er. „In meinem letzten Willen, den ich schon vor drei Jahren eigenhändig geschrieben und bei unserem Notar-Anwalt hinterlegt habe, habe ich auch meinen Wunsch geäußert, dass meine Leiche verbrannt werden soll. Das weißt du ja schon. Worum ich dich nun bitten möchte, ist, dass du einen Teil meiner Asche hier in gewissen Bergen und Wäldern, in denen ich mich daheim fühlte, ausstreust oder dafür sorgst, dass es getan wird.“

Aus Tränen verschleierten Augen sah sie ihn eine Weile an. „Ich verspreche es dir, auch diesen Wunsch dir zu erfüllen“, versicherte sie. „Ich gehe davon aus, dass du nun zufrieden bist. Jetzt wechseln wir bitte das Thema.“

Er strahlte über das ganze Gesicht. „Ich bin nicht nur zufrieden, sondern sehr glücklich darüber, dass wir in diesem Punkt auch gleicher Meinung sind.“

Claudia war mehrere Jahre später bei einem tragischen Helikopter-Absturz in Kenia gestorben. Als sie am Leben war, hatte sie ihm jedes Jahr erneut genügend von den wirksamsten Schlaftabletten besorgt. Nahezu seit zehn Jahren lebte er allein und musste sich das Mittel selbst besorgen. Daher ging er jedes Jahr zur Praxis von Claudias ehemaligen Arztkollegen, um sich das gleiche Mittel verschreiben zu lassen, mit dem Vorwand, dass er öfters unter akuter Schlaflosigkeit litt.

Als er das fünfundachtzigste Lebensjahr hinter sich hatte, spürte er deutlich, dass seine Lebenskräfte ihn bald im Stich zu lassen drohten. Sollte ich plötzlich einen schweren Schlaganfall, Herzinfarkt oder Gehirnerschütterung haben und dennoch am Leben bleiben, wäre ich höchstwahrscheinlich geistig nicht mehr in der Lage, eine Entscheidung zu treffen, sagte er sich im Stillen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird man mich für unzurechnungsfähig erklären. Auf keinen Fall wollte er es so weit kommen lassen. Diesen Entschluss hatte er schon vor Jahrzehnten
gefasst.

Wie man oft in den Medien erfuhr, wollte er nicht unbedingt mit aufgeschnittenen Schlagadern an den Armen in der Badewanne gefunden werden. Obwohl er eine Pistole mit Waffenschein besaß, wollte er jedoch nicht, dass er mit einer Kugel im Kopf, blutüberströmt in einer Ecke in der Wohnung vielleicht Tage später entdeckt werden sollte. Diese Art des Sterbens erachtete er allerdings für einen Akt der Feigheit, bei der die Menschen aus Impuls oder Affekt oft unbewusst handelten. Sein Abschied sollte bedacht und bewusst vonstattengehen. Er hatte sich fest vorgenommen, spätestens in zehn Tagen von seinem irdischen Leben im Bewusstsein und in aller Ruhe Abschied zu nehmen.

Die Entscheidung war gefallen.

Bevor er aber seinen endgültigen Abschied genommen hatte, wollte er seine Lieblingsplätze in den Bergen und Wäldern, wo er mal allein, mal mit seiner verstorbenen Frau gerne gewandert oder gesessen war und die Natur genossen hatte, nämlich wollte er bestimmte Berge und Wälder, in denen er oft unterwegs gewesen war und die Stimme der Natur vernommen hatte, ein letztes Mal aufsuchen und beim Sitzen oder Gehen in sich kehren und das Ganze noch ein letztes Mal erleben. In Wahrheit hatte er ein großes Bedürfnis, über seine Vergangenheit, über sein ganzes Leben nachzudenken und ein letztes Mal mit sich ins Gericht zu gehen. Natürlich konnte er nicht alle Plätze und Wege aufsuchen, denn er wollte die Sache nicht in die Länge ziehen lassen. Er wollte innerhalb einer Woche sein Vorhaben hinter sich bringen.

Sobald sein Entschluss feststand, setzte er sich hin und machte eine kurze Liste: Insgesamt sieben Namen, nämlich sieben Plätze standen auf der Liste. Für jeden Ort brauchte er einen Tag. Also innerhalb von sieben Tagen wollte er diese Besuche erledigt haben und am Ende des siebten Tages sollte er Abschied nehmen.

Unter anderem hatte er beschlossen, zu den Orten auf seiner Liste mit dem eigenen Auto zu fahren. Obwohl er bislang mit dem Auto nur zum Einkaufen gefahren war, fand er sich dennoch immer noch fähig, die längeren Strecken zu den Orten mit dem Auto bewältigen zu können. Sonst mit dem öffentlichen Verkehrsmittel wäre dies nicht möglich, weil die meisten dieser Orte sich jenseits der größeren Ortschaften befanden. Das wird zwar sehr anstrengend sein, aber mir bleibt nichts anderes übrig, dachte er.

Bevor er aber mit seinem Programm anfing, wollte er das Grab seiner Frau besuchen, das auf dem Friedhof in Linz in ihrer Heimatstadt lag. Im Grunde war er dafür gewesen, sie dort in Kenia bestatten zu lassen, weil er wusste, sie hätte es sich so gewünscht, jedoch ihre Eltern hatten ihr Grab in ihrer Nähe haben wollen. Den Wunsch ihrer Eltern hatte er dann akzeptiert.

Da er wusste, dass die Hin- und Rückfahrt am gleichen Tag zu anstrengend wäre, hatte er in Linz in einem Hotel übernachtet. Er hatte ihre Eltern, das heißt seine Schwiegereltern nicht informiert, denn jedes Mal, wenn er bei ihnen gewesen war, hatte sich ihre Mutter ihm an den Hals geworfen und geheult, was er nicht ertragen konnte, weil es ihn jedes Mal sehr geschmerzt hatte. Ohnehin wurde er Jahr für Jahr emotionaler. Außerdem wäre es für Hin- und Rückfahrt am gleichen Tag sehr knapp gewesen. Zudem hatte er das Grab an dem Tag zweimal besuchen wollen, weil es sein allerletzter Besuch war. Jedes Mal hatte er eine Stunde am Grab gesessen und gegrübelt, und er hatte sich dabei keine Mühe gegeben, seine Tränen zurückzuhalten. Ein dickes Bukett roter Nelken hatte er auf das Grab gelegt.

Am nächsten Tag spätnachmittags war er wieder daheim. Kaum hatte er sich auf die Couch gelegt, war er sofort eingeschlafen.

Als er aufwachte, war die Sonne schon untergegangen. Es war ein angenehm warmer und ruhiger Sommerabend. Erst bereitete er sich in der Küche etwas zu essen zu – auf dem Rückweg hatte er in einem Supermarkt neben der Bundesstraße einiges eingekauft. Als er mit dem Essen und Geschirrspülen fertig war, war es schon Spätabend, Viertel vor elf. Mit einer Tasse frischem Kaffee, einem Aschenbecher und einer Zigarette auf einem Tablett ging er auf die Terrasse, auf der er bei jedem günstigen Wetter gerne gesessen hatte. In seinen jungen Jahren war er ein starker Raucher, aber im fortgeschrittenen Alter rauchte er wesentlich weniger, am Tag kaum mehr als zwei Zigaretten. Er platzierte das Tablett auf dem Tisch und ließ sich in seinem Korbsessel nieder. Erst nahm er einen Schluck Kaffee, dann zündete er sich die erste Zigarette des Tages an.

Es war ein zauberhafter Sternenhimmel. Dadurch, dass das Haus ein wenig von der Wohnsiedlung und damit auch von Straßenlichtern entfernt am Waldrand lag, hatte es den besonderen Vorteil, dass man die Sterne ziemlich klar und deutlich sehen konnte. Im Laufe der Jahre war er immer wieder hier gesessen und hatte den Sternenhimmel betrachtet und genossen. Bis vor zehn Jahren oft mit Claudia. Aber so bewusst und intensiv wie dieses Mal hatte er sie nicht wahrgenommen und erlebt.

Er blickte alle Sterne an. Erst Einzelsterne, dann die Sternengruppen, die er kannte und die von der Terrasse aus zu sehen waren. So nahe sie auch schienen, waren sie doch unendlich und unvorstellbar weit weg … Er betrachtete den Abendstern Venus, den kleinen und großen Wagen, die Waage … Nicht zu vergessen die Milchstraße, unsere Galaxie. Einerseits kam er sich angesichts der wahren Größe der Sterne und der Unendlichkeit des Kosmos winzig, gar nichtig vor, andererseits aber fühlte er sich groß und stark, weil er sich mit dem Universum, mit allen Wesen in ihm eins fühlte und sich im wahrsten Sinne als einen Teil des Universums ansah. Jedenfalls glaubte, ja, wusste er, dass er nach dem Tode ohne Zweifel im Universum weiterexistieren werde, eben als eine andere Substanz, in einer anderen Form.

Das ewige Leben, die ewige Ruhe war für ihn nur mit dem Tod möglich. Lebenslang hatte er für sich selbst, für sein eigenes Wohlsein kaum Zeit gehabt. Er glaubte, nach dem Tode unendlich Zeit haben zu können.

Der Tod ist nichts anderes als eine Umwandlung in eine andere Substanz, in eine andere Existenzweise, dachte er. Wie das vermoderte, zersetzte Lebewesen für das Gedeihen anderer Lebewesen förderlich war, so wird auch der zersetzte und zur Erde gewordene Körper eines jeden Menschen zur Nahrung anderer Lebewesen. Meine durch die Zersetzung entstandene neue Substanz wird die Erde stärken, daraus werden Gräser, Blumen und andere Nutzpflanzen wachsen; die werden nicht nur von Menschen konsumiert werden, sondern auch von Tieren gefressen werden, die Milch und Fleisch liefern; die werden wiederum von Menschen gegessen …

Ausnahmslos alle Wesen und Lebewesen existierten ewig in der Welt und damit auch im Universum. Das kam in der Tat der Wiedergeburt des Hinduismus gleich, stellte er im Geiste fest. Das war eben eine irrationale Erklärung, wie es den Religionen eigen ist. Auch das Nirwana des buddhistischen Glaubens, demnach sich die Seele des Menschen in nichts auflöst und verschwindet, bedeutete nicht, dass die Substanz seines Wesens die Welt und das Universum vollkommen verließ und verschwand.

Ist all dieses Philosophieren nicht für die Überwindung der Angst vor dem Tode?, fragte er sich im Stillen. In seinen jungen Jahren, vor allem zu seiner Studienzeit, hatte er überhaupt keine Angst vor dem Tod gehabt. In seinem Heimatland als Student und dann als Lehrer war er etliche Male unter Arrest oder in Polizeigewahrsam gewesen. Jeweils eine Woche, manchmal sogar zwei Wochen. Über den Gedanken, dass er damals nach dem jeweiligen Aufenthalt im Polizeirevier ein paar blaue Flecken und Schrammen im Gesicht und am Körper als Resultat der Folterung ausgegeben hatte, schämte er sich. Er spürte sein Gesicht rot anlaufen. Es waren doch keine organisierten Folterungen gewesen, sondern aus Impuls erfolgten Erniedrigungen, weil die meisten Polizisten fanatische Staatsdiener gewesen waren und seine rebellische Art nicht hatten dulden können, dachte er. Manche Polizisten oder Gendarmen hatten in ihm sogar den Staatsfeind gesehen und daher ihn jedes Mal arg geschlagen oder gefoltert.

Er entsann sich des Gespräches, das er in seinen jungen Jahren mit einem buddhistischen Mönch in Tibet über die Vergänglichkeit und den Tod des Einzelnen geführt hatte. „Bei der Mahlzeit soll man aufhören, während das Essen noch schmeckt“, hatte der alte Mönch gesagt. „Wenn der Bauch zu voll ist, tut es weh und weiß der Mensch nicht mehr, wie gut und geschmackvoll die Speisen waren.“

Er erlaubte sich eine zweite Zigarette. Es tat ihm gut. In der Regel hatte er die letzten zehn Jahre nie zwei Zigaretten hintereinander geraucht. In meinen letzten Tagen darf ich es mir gönnen, sagte er sich. Und er erinnerte sich an ein Gespräch mit einem Internisten vor einigen Jahren. „Das Rauchen verursacht viele Schwierigkeiten, vor allem Lungenkrebs“, hatte dieser gesagt, „selbst wenn man auch nur eine Zigarette am Tag raucht.“

„Glauben Sie, Herr Doktor, dass all die industriell produzierten Lebensmittel heutzutage keine gesundheitlichen Schäden anrichten?“, hatte er ihm entgegengehalten. „Mein Onkel hatte jeden Tag mindestens dreißig Zigaretten geraucht, und dennoch war er neunzig geworden.“

Der Sternenhimmel auf der stillen Terrasse tat ihm sehr gut. Er fühlte sich wohl und freute sich auf seine morgige Fahrt zu einem seiner Lieblingsorte.

Schon beim Frühstück fühlte er sich ziemlich müde und hatte keinen Appetit. Jedoch versuchte er, etwas zu essen. Als er dabei war, ein paar Scheiben Butterbrot zum Mittag für unterwegs zuzubereiten und dann seine Wasserflasche zu füllen, änderte er plötzlich seine Meinung. Er beschloss, heute ein letztes Mal seinen Weg im angrenzenden kleinen Wald zu gehen, den er die letzten sechs Jahre fast jeden Tag gegangen war. Es war die Routine gewesen. Jeden Tag nach dem Frühstück, fast bei jedem Wetter hatte er seinen Spaziergang gemacht. Es dauerte etwa eineinhalb Stunden. Erst morgen fange ich an, mein Programm und die damit verbundenen Fahrten zu absolvieren, sagte er sich mit einem kaum hörbaren Seufzer …