Impressum

© Edition Outbird

Imprint im Telescope Verlag

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Herausgeber: Tristan Rosenkranz

Lektorat: Tristan Rosenkranz

Coverlayout: Holger Much

Autorenfoto: Tobias Kircher

Erlkönigs Tochter

Das Auto hatte Olaf auf dem Waldparkplatz abgestellt, danach war er einfach in den Wald gelaufen. Seinen Eltern hatte er gesagt, er wolle nochmal zum Weingut im Nachbarort um sich zu vergewissern, dass die Weinlieferung in Ordnung gehe, aber tatsächlich brauchte er einfach etwas Zeit – Zeit für sich, Zeit zum Nachdenken. Zeit, um sich darüber klar zu werden, was morgen passieren würde, wie die Hochzeit sein Leben verändern würde.

Zuhause, im Trubel der Festvorbereitungen, war gar nicht daran zu denken, auch nur einen klaren Gedanken fassen. Aber er brauchte einfach einen Moment der Stille, ganz für sich allein, um vor dem großen Tag in sich hinein zu hören, seine Gedanken zu ordnen und sich seinen Zweifeln zu stellen.

Er und Nicole kannten sich schon von Kindheit an, sie waren zusammen aufgewachsen, hatten Kindergarten und Schulzeit zusammen verbracht, und schließlich hatte Olaf seine Ausbildung in der Schreinerei von Nicoles Vater gemacht, dem Betrieb, den er nun als Schwiegersohn eines Tages übernehmen würde. Es hatte nie Zweifel gegeben, dass Olaf und Nicole eines Tages heiraten würden, ihre Eltern kannten sich schon ewig ... und doch plagten Olaf nun diese Zweifel. Er fühlte sich schlecht dabei, schließlich liebte er Nicole, aber war es denn überhaupt möglich, so eine Entscheidung völlig ohne Zweifel zu treffen? Wie war das bei anderen Brautpaaren? Waren die sich alle immer zu hundert Prozent sicher? War es okay, unsicher zu sein? Und gäbe es denn jetzt überhaupt noch ein Zurück oder waren alle diese Gedanken ohnehin müßig, da die Hochzeit unausweichlich war? Unausweichlich ... was für ein Wort für den Tag, der doch der schönste Tag im Leben sein soll!

Olaf wusste nicht, wie weit er in den Wald gegangen war, als er schließlich inne hielt und sich auf einen umgestürzten Baum setzte. Die Kühle des Waldes, das Rauschen der Blätter und das Singen der Vögel wirkten wie Balsam auf sein aufgewühltes Gemüt. Ein Spaziergang im Wald hatte ihm immer gut getan und dabei geholfen, einen klaren Kopf zu fassen, wenn große Entscheidungen anstanden. Erschöpft von den Hochzeitsvorbereitungen und dem Gedankenkarussell in seinem Kopf stützte er seine Ellenbogen auf die Knie, legte sein Gesicht in seine Hände und genoss die Stille und die Einsamkeit.

„Hast du dich verlaufen?“ Olaf war sich für einen Moment nicht sicher, ob die Stimme, die er gehört hatte, real war, doch als er aufblickte, stand vor ihm eine junge Frau. Es erschien ihm völlig unwirklich, denn er hatte keine Ahnung, wie sie plötzlich dort stehen konnte, ohne dass er sie zuvor gehört hatte.

„Hast du dich verlaufen?“, fragte sie noch einmal freundlich, während Olaf sie ungläubig anstarrte. Er wusste augenblicklich, er hatte noch nie in seinem Leben ein so wunderschönes Wesen gesehen. Die fröhlichen grünen Augen der jungen Frau glitzerten in einem mädchenhaft sanften Gesicht mit einer perfekt geformten, zierlichen Nase, sanften Wangen und einem anmutigen Kinn. Feine Sommersprossen tanzten über ihre Nase und Wangen und ließen ihr Gesicht zugleich unschuldig und frech wirken. Ihre roten Haare flossen in Wellen über ihre Schultern und ihr grasgrünes Leinenhemd. Um ihren Hals, der auf Olaf wirkte, als habe ihn ein Renaissancekünstler aus perfektem Marmor geformt, trug sie ein Lederband mit Holzperlen in unterschiedlichen Größen und Farbtönen. Ihre flatterweite naturfarbene Leinenhose reichte nur bis zu den Waden und gab den Blick frei auf ihre feinen Knöchel, um die sie Silberkettchen trug. An ihren elfenbeinfarben zarten Füßen trug sie fein gearbeitete Ledersandalen mit kleinen bunten Steinen. Olaf war vollkommen hypnotisiert von ihrem Anblick.

„Du siehst so besorgt aus, ist denn alles okay bei dir?“, fragte die junge Frau.

„Ja, ja alles okay, danke!“, antwortete Olaf. „Ich war ganz in Gedanken ...“

„Hab ich dich erschreckt?“, wollte der zierlich wirkende Rotschopf wissen.

„Nein, alles gut!“, sagte Olaf, ich hab nur nachgedacht, ein bisschen gegrübelt.“

„Ja? Worüber denn?“, meinte die junge Frau, „wenn ich das fragen darf.“

„Hm ... Also ich heirate morgen ...“

„Was für eine glückliche Braut, die so einen hübschen Bräutigam abbekommt!“, unterbrach sie ihn und fuhr fort: „Und du bist dir jetzt nicht sicher, ob sie die Richtige ist?“

„Doch!“, antwortete Olaf eine Millisekunde zu hastig, „doch, doch sie ist die Richtige, bestimmt!“

„Hm“, machte die junge Frau und setzt sich neben ihn auf den Baumstamm, „aber dann gibt es doch nichts zu grübeln? Liebst du sie denn? Ist sie lustig? Ist sie schön? Fasziniert sie dich? Ergänzt ihr euch? Dann ist doch alles gut!“, lachte sie fröhlich.

Olaf war, als hätte das rothaarige, quirlige Wesen mit einem mal alle Punkte benannt, die ihn hatten zweifeln lassen. Er wusste, dass er eigentlich keinen dieser Punkte zu hundert Prozent mit einem Ja hätte beantworten können. Er und Nicole, sie verstanden sich gut, sie mochten sich, und Nicole war auch hübsch – aber angesichts dieser märchenhaften Erscheinung, die vor ihm stand, fiel es Olaf schwer, seine Braut oder überhaupt irgendeine andere Frau noch schön zu finden.

„Und wenn du dir nicht sicher bist, bleibst du eben einfach hier bei mir!“, lachte der Rotschopf. Olaf lachte ebenfalls, der Scherz hatte ihn aus seinem Gedankenkarussell geholt. Er rieb sich das Gesicht.

„Wie heißt du denn?“, fragte die junge Frau.

„Olaf. Olaf Ritter“, antwortete er. „Und du?“

„Ich hab viele Namen“, entgegnete sie schelmisch, „aber die verrate ich nicht. Und du bist ganz schön leichtsinnig, einfach deinen Namen einer Fremden zu verraten. Weißt du nicht, dass man jemandem Macht über sich gibt, wenn man ihm seinen Namen verrät?“

„Ist das so?“, fragte Olaf. „Aber du bist ja nicht weniger leichtsinnig – einfach einen völlig fremden Mann im Wald anzusprechen. Hast du denn da gar keine Angst?“

„Angst?“ Die junge Frau gluckste vor Vergnügen. „Angst? Nein, ich hab keine Angst!“, lachte sie und wischte sich ein kleines Lachtränchen von der Wange. „Mir passiert nichts in diesem Wald, keine Sorge!“

Sie fasste sich wieder und sprach dann mit theatralischem Ernst: „Ich bin nämlich eine Prinzessin!“

„Oho“, antwortete Olaf, der ihr den Gefallen tun wollte, auf das Spiel einzusteigen, „eine Prinzessin also!“

Die witzig-unbekümmerte Art der jungen Frau nahm Olaf sofort gefangen. Sie war so heiter, so mitreißend – so ganz anders als Nicole ... „Das wusste ich ja gar nicht, dass wir in Deutschland noch eine Monarchie haben!“, spielte er das Spielchen weiter. „Dann ist der Herr Vater also ein König?“

„Ganz richtig!“, antwortete die junge Frau gespielt kokett, „mein Vater ist ein König – und er würde nie zulassen, dass mir etwas geschieht!“

„Und wenn euer Majestät die Frage gestatten: Wovon ist euer Vater König?“

„Na – hiervon!“, strahlte sie und breitete die Arme weit aus.

„Ah, okay – deinem Vater gehört der Wald?“, fragte Olaf.

„Nein. Mein Vater ist der Wald!“, grinste die junge Frau.

„Okay, okay!“, lachte Olaf, „dann werde ich dich also Waldprinzessin nennen!“

„Das ist einer meiner Namen“, lachte sie schelmisch, „gar nicht schlecht, Ritter Olaf! Komm mit, ich zeig dir was!“

Wie selbstverständlich nahm sie Olafs Hand und zog ihn hinter sich her, mitten durchs dickste Gestrüpp. Mit jedem Schritt, den sie durch den Wald liefen, fühlte Olaf sich ihr näher, verbundener und noch stärker zu ihr hingezogen. Er beobachtete, wie ihre Haare sich im Rhythmus ihrer Schritte bewegten, wie sie sich anmutig, beinahe tänzerisch und mit der Gewandtheit eines Waldtieres ihren Weg durch Büsche, über Wurzeln und zwischen Bäumen hindurch bahnte, während sie sich immer wieder zu ihm umblickte und auf eine Weise anlachte, die in ihm ein Gefühl von grenzenloser Vertrautheit und Geborgenheit erweckte.

Nach einiger Zeit tat sich vor ihnen eine kleine Lichtung auf, an deren Rand sie stehenblieben: Eine Wildschwein-Familie tummelte sich dort, mit einem wilden Gewusel von Frischlingen, die sich um die Zitzen ihrer Mutter balgten.

„Hast du sowas schon mal in freier Natur gesehen?“, fragte leise die selbsternannte Waldprinzessin.

„Nein“, antwortete Olaf beeindruckt. „Wow, das ist echt cool! Wie hast du das gefunden?“

„Das hab ich dir doch gesagt“, antwortete sie lachend. „Ich bin die Prinzessin dieses Waldes und mein Vater ist der Elfenkönig!“

„Ach ja, richtig“, antwortete Olaf lachend, „hab ich ja ganz vergessen!“

„Komm mit, ich zeig dir mehr!“ Die Tochter des Elfenkönigs nahm Olaf erneut bei der Hand und er genoss ihre Berührung, die Wärme ihrer feinen, zarten Hand, den sanften Druck, mit dem ihre Hand die seine umschloss. Er fühlte wohlige Wärme in sich aufsteigen, während die Waldprinzessin ihn tiefer und tiefer in den Wald führte.

„Hier“, sagte sie nach einigen Schritten, „ich wette, das hier hast du noch nie gesehen!“

Olaf klappte der Kiefer herunter. Er stand plötzlich inmitten eines uralten Steinkreises von gut fünfzehn Metern Durchmesser, gebildet durch zwölf schulterhohe, mit Flechten und Moos bewachsene Granitblöcke.

„Von so einem Steinkreis in diesem Wald hab ich noch nie gehört!“, entfuhr es ihm. „Wie kann das sein? Warum weiß niemand von so einem Ort?“

„Ich weiß vieles, was andere nicht wissen“, antwortete die junge Frau und ging einen Schritt auf Olaf zu. Ihr Geruch nach Kräutern, Honig, Tannennadeln und frischem Moos stieg Olaf in die Nase und er glaubte, die Wärme ihrer Haut zu fühlen, als sie ganz nah an sein Ohr kam und leise sprach: „Kann deine Braut das auch? Kann sie dir auch solche Orte zeigen?“

Olaf war wie betäubt von ihrer Wärme, ihrem Duft und ihrer elfengleichen Schönheit, ihrer entwaffnenden Fröhlichkeit und Energie. Plötzlich hatte sie Beeren in der Hand, rote Beeren, wie sie Olaf noch nie zuvor gesehen hatte, und hielt sie ihm hin: „Probier mal!“

„Was ist das?“, wollte Olaf wissen.

„Das kennst du nicht, oder?“, lachte die Waldprinzessin. „Das sind Elfenbeeren. Die findet nicht jeder, aber ich weiß, wo sie wachsen.“

Olaf zögerte. Die Waldprinzessin lachte. „Glaubst du, ich will dich vergiften? Hier, schau!“, sprach sie und steckte sich aufreizend langsam einige der Beeren in den Mund. „Siehst du, nicht giftig. Probier mal, so etwas Gutes hast du noch nie gegessen!“

Sie steckte Olaf einige der Beeren in den Mund, wobei ihre Finger seine Lippen berührten. Ein Kribbeln durchrieselte ihn von den Haarwurzeln bis zu den Zehen, als er ihre Hand an seinem Mund spürte. Dann zerbiss er die Beeren, und Myriaden von Geschmacksnuancen explodierten in seinem Mund.

Der Geschmack der Elfenbeeren, ihre Textur und das Gefühl, das er beim Zerbeißen der Frucht hatte, ließen sich mit nichts vergleichen, was er jemals zuvor gegessen hatte.

„Das könntest du immer von mir bekommen“, raunte ihm die junge Frau zu. „Komm, ich zeig dir mehr!“, rief sie und zog Olaf mit sich, bevor er überhaupt antworten konnte. Sie rutschen zusammen einen kleinen Abhang hinunter, dann tat die Waldprinzessin ein paar Schritte auf eine riesige alte Eibe zu.

„Sie ist ziemlich gewuchert in den letzten dreihundertfünfzig Jahren“, erklärte sie, „deshalb muss man ein wenig zwischen den Wurzeln graben ...“ Mit einem Stock scharrte sie den Waldboden beiseite, bis plötzlich einige golden glänzende Münzen zum Vorschein kamen.

„Vergraben von einem reichen Gutsbesitzer im Dreißigjährigen Krieg, bevor die Schweden hier in die Gegend kamen, um zu plündern“, erklärte die Waldprinzessin dem erstaunten Olaf den Fund, „aber der Besitzer hat sie nie wieder ausgegraben. Hier – nimm, es ist reines Gold.“

„Warum – warum schenkst du mir das?“, wunderte sich Olaf. „Warum zeigst du mir das alles? Du kennst mich doch gar nicht?“

„Wie bemisst man, ob man jemanden kennt?“, fragte die Waldprinzessin. „Kennst du deine Braut wirklich? Nur, weil ihr schon so lange zusammen seid? Ich kenne die Menschen. Und ich sag dir, sie passt nicht zu dir. Sie wird einen anderen Mann sehr glücklich machen, glaub mir, aber du, du bist der Ritter für eine Prinzessin.“

„Das meinst du doch nicht im Ernst?“, sprach Olaf, dem langsam klar wurde, wie ernst es seinem Gegenüber tatsächlich war. „Wir haben uns gerade erst getroffen, ich heirate morgen, das ist doch verrückt!“

„Du musst das nicht tun!“, sprach die Tochter des Elfenkönigs, „bleib bei mir, bleib hier mit mir im Wald ... du kannst alles von mir bekommen, was ich dir gezeigt habe – und mehr ...“

Olaf blickte auf die überirdisch schöne junge Frau, die ihn mit sanften Augen anschaute und ihm ihre Arme entgegen hielt. Er fühlte, wie etwas in seinem Innersten ihr zustrebte, sie einfach nur in die Arme schließen wollte.

„Bekommst du von ihr alles was du willst?“, fragte die Waldprinzessin und legte ihren Kopf leicht in den Nacken. „Alles?“

Für den Bruchteil einer Sekunde war Olaf so, als sähe er die junge Frau unbekleidet vor sich stehen, nackt, und fühlte sein Blut kochen.

„Du hast nichts von dem gekannt, was ich dir im hier Wald gezeigt habe“, sprach die Königstochter mit leiser, sinnlicher Stimme, „und du kennst nichts von dem, was ich dir noch zeigen werde ...“

Olaf fühlte, wie sein Widerstand bröckelte, wie sich alles in ihm nach diesem märchenhaften Wesen verzehrte. „Ich heirate morgen! Das ist doch einfach verrückt, ich heirate doch morgen!“, rief Olaf und tat einen Schritt zurück.

„Ich hab doch bloß Spaß gemacht!“, lachte die junge Frau als wäre nichts gewesen.

„Ich muss jetzt auch gehen, es ist bestimmt schon spät“, sagte Olaf und blickte auf seine Uhr. Er musste schon Stunden mit dieser jungen Frau im Wald verbracht haben – doch nach seiner Uhr waren gerade mal zehn Minuten vergangen, seitdem er das Auto auf dem Parkplatz abgestellt hatte.

„Wir haben noch viel Zeit“, lachte die Waldprinzessin ihn an, „ich hab einfach für uns die Zeit angehalten!“

Ein Schauer durchrieselte Olaf und er zweifelte keine Sekunde daran, dass dieses elfenhafte Geschöpf genau das getan hatte ...

„Ich muss gehen“, wiederholte er, leise und möglichst unaufgeregt, „bitte, bring mich wieder aus diesem Wald, ich bitte dich!“

„Keine Panik“, antwortete die junge Frau ruhig, „klar, wenn du wieder gehen möchtest ... aber schade ist es schon. Vielleicht willst du mich ja mal wieder besuchen?“

„Ja, bestimmt“, antwortete Olaf nervös, „das mach ich bestimmt!“

„Dann bring ich dich jetzt wieder zu deinem Auto“, sprach die Tochter des Elfenkönigs, „aber lass uns zum Abschied tanzen!“

„Tanzen?“, fragte Olaf ungläubig.

„Ja, tanzen – nur einen Tanz, weil wir Freunde sind, okay?“

„Aber hier ist doch gar keine Musik ...“, entgegnete Olaf zögerlich.

„Du hast recht!“, rief die Waldprinzessin. „Vögel und Frösche, Wind und Blätter, Bäche und Elfen, macht Musik für uns!“

Ein leises Surren und Murmeln hob an, wurde langsam aber stetig lauter, und bald konnte man eine Melodie erkennen, bis schließlich der ganze Wald von einer himmlischen Musik erfüllt war, die Olaf in jeder Faser seines Leibes spürte und ihn mit einer ungekannten Leichtigkeit erfüllte.

„Ich ... ich kann nicht gut tanzen ...“, stammelte er, nicht sicher, ob er das Waldorchester bestaunen oder vor dieser Frau fliehen sollte, die er in so kurzer Zeit so lieb gewonnen hatte und die ihm nun zugleich immer unheimlicher erschien.

„Das ist ganz egal“, lachte die junge Frau ihr schönstes und süßestes Lachen, „es ist doch nur für uns, ein kleines Ritual, um unsere Freundschaft zu besiegeln!“

„Ein ... Ritual?“, fragte Olaf.

„Blödes Wort – vergiss das – es ist nur für uns, nur ein kleiner Tanz, okay?“

Die Melodie das Waldes hypnotisierte Olaf, das entwaffnende Lachen der rothaarigen Schönheit verzauberte ihn, die Bewegung ihrer Hüften erregte ihn, und doch spürte er zugleich Angst in sich aufsteigen ...

„Komm schon, nur ein Tanz, nur einmal im Kreis, das reicht schon!“

„Das reicht schon?“, fragte Olaf alarmiert, „Für was? Für was reicht das? Was ist das für ein Ritual?“

„Nichts, gar nichts, es ist nur ein Tanz“, erwiderte die junge Frau und versuchte Olafs Hand zu greifen, der sie aber zurückzog, „Hab doch keine Angst, nur ein Tanz unter Freunden! Tanz mit mir, komm, tanz, dann bring ich dich zu deinem Auto!“

Die junge Frau, die zuvor so selbstsicher, fröhlich und energiegeladen gewirkt hatte, schien Olaf nun nervös, beinahe ängstlich bemüht, ihn nur nicht gehen zu lassen, bevor er nicht mit ihr getanzt hätte.

Er stolperte rückwärts. „Nein, nein, ich geh wann ich will, und ich werde nicht mit dir tanzen! Lass mich!“, wehrte er sich.

„Okay, okay, vergiss das mit dem Tanzen, kein Problem!“, antwortete sie in einem beruhigenden Tonfall, „Vergiss das mit dem Tanzen, aber bleib doch noch ein bisschen, wir haben doch noch Zeit!“

„Nein, lass mich, ich muss gehen!“ Olaf wandte sich um und lief in die Richtung, in der er den Waldparkplatz vermutete, immer schneller, die Waldprinzessin folgte ihm, während sie ihn immer eindringlicher beschwor.

„Ich zeig dir noch was, okay? Ein Waldkauz mit Jungen, das ist ganz niedlich, möchtest du das sehen? Das ist gleich da drüben! Oder ... oder noch mehr Schätze! Hier in der Nähe ist ein Kirchenschatz vergraben, komm, ich zeig dir, wo! Möchtest du noch mehr von den Elfenbeeren? Ich geb dir so viel du magst! Gehst du jetzt zu deiner Braut zurück? Du liebst sie doch gar nicht, das weißt du doch! Du weißt doch, dass ich dir viel mehr geben kann! Bleib! Bitte bleib! Tanz doch mit mir, stell dich doch nicht so an, nur einen Tanz!“

Olaf lief schneller und schneller schließlich rannte er durch den Wald, stolperte über Wurzeln, riss sich Kleidung und Haut an Sträuchern und Dornen auf, rannte durch Matsch und Pfützen und wagte es nicht, sich umzuwenden. Immerzu hörte er die Rufe, das Flehen und die Versprechungen der Elfenprinzessin, doch sie wurden leiser und leiser, klangen von immer weiter weg, bis sie kaum noch zu hören waren. Dann, mit einem Mal, erfüllte ihre Stimme den ganzen Wald mit einer Macht, die jede einzelne Tannennadel erzittern ließ: „Du elender Sterblicher wagst es, die Tochter des Elfenkönigs abzuweisen! Tod, Elend und Verderben! Du wirst niemals heiraten! Du wirst deine Braut zur Witwe machen, noch bevor du das Jawort aussprechen wirst! Wenn ich dich nicht kriegen kann, soll dich keine haben! Du wirst nicht heiraten! Du! Wirst! Nicht! Heiraten!“

Olaf packte das kalte Grausen. Schweißbäche liefen ihm eiskalt übers Gesicht, er rannte wie von Furien gehetzt, bis er sich schließlich auf dem Waldparkplatz wiederfand. Nervös fingerte er den Autoschlüssel aus seiner Hosentasche, ließ ihn fallen, hob ihn hektisch auf, warf sich ins Auto und raste mit durchdrehenden Reifen vom Parkplatz. Sein Gesicht war kalkweiß, zerkratzt von Dornen und Ästen, nass von Angstschweiß, die Augen weit aufgerissen, und doch nahm Olaf die Straße kaum wahr, über die er mehr flog als fuhr.

Am Haus seiner Eltern angekommen, stolperte er aus dem Wagen, fiel auf die Knie und die Hände, während seine Eltern und sein Bruder, aufgeschreckt durch das Quietschen der Reifen, vors Haus traten. „Junge wie siehst du aus, wo warst du!“, rief seine Mutter besorgt, „was machst du denn, wir waren ganz aufgelöst vor Sorge!“

„Er ist halt nervös“, meinte sein Vater ganz unbekümmert, „das ist doch normal vor ner Hochzeit! Warst du ein wenig im Wald? Komm, trink nen Schnaps, dann geht’s gleich wieder!“

„Ich war im Wald, ja ich war im Wald ...“, stammelte Olaf leise, während er seine Eltern und seinen Bruder mit glasigen Augen anstarrte, und dann, mit einem Mal lauter werdend: „Ich werde heiraten! Ich werde Nicole heiraten! Ich werde morgen heiraten!“

„Jaaa“, antwortete sein Bruder irritiert, „so ist der Plan ... sag mal, hat dich im Wald was gestochen oder gebissen, hast du eine allergische Reaktion, ist mit dir alles in Ordnung? Du bist weiß wie eine Wand, hast du was Giftiges gegessen?“

„Mit den Nerven runter ist er!“, sagte Olafs Vater, „nen Schnaps und alles sieht gleich wieder anders aus!“

Hast du was Giftiges gegessen, tönte es in Olafs Kopf, das sind Elfenbeeren. Glaubst, ich will dich vergiften?, hörte er in seinem Kopf, hier, schau! Siehst du, nicht giftig. Probier mal, so was Gutes hast du noch nie gegessen!

Olaf fasste sich an den Hals, dann starrte er seinen Bruder an: „Ich werde heiraten!“, sagte er beschwörend und fasste seinen Bruder mit beiden Händen an dessen Armen, „ich werde heiraten, ich werde Nicole morgen heiraten!“

„Ja ... ja, ist doch okay, hörst du jetzt bitte auf, das ständig zu sagen, das ist irgendwie echt gruselig!“

„Ich ruf einen Arzt!“, sagte die Mutter schließlich, „in dem Zustand kann er doch morgen nicht zum Standesamt!“

„Ein Schnaps, das ist alles was er braucht, und eine Mütze voll Schlaf!“, tönte Olafs Vater.

„Ja, schlafen ... schlafen, ich bin so müde ...“, sagte Olaf. Sein Bruder legte seinen Arm um Olaf und führte ihn ins Schlafzimmer. Er schlief ein, noch ehe sein Kopf das Kissen berührte.

Immer wieder traten seine Eltern und sein Bruder in der Nacht an Olafs Bett, lauschten seinem Atem und wachten über seinen Schlaf. Als sie ihn am nächsten Morgen vorsichtig weckten, waren alle erleichtert zu sehen, dass es ihm offenbar etwas besser ging, auch wenn er immer noch sehr blass war, tiefe Augenringe hatte und die Kratzer im Gesicht und an seinen Händen auch mit den Schminkkünsten seiner Mutter nur schwer zu kaschieren waren.

„Geht’s denn, Junge?“, fragte die Mutter fürsorglich beim Frühstück, „vielleicht kannst du dich nach dem Standesamt und vorm Kaffee noch ein wenig hinlegen?“

„Es ist alles gut, Mutti“, sprach Olaf, vielleicht ein wenig leiser als sonst, und lächelte seine Mutter liebevoll an. „Mach dir keine Sorgen, es geht mir gut, ich werde Nicole heute heiraten! Ich werde heiraten!“

„Vielleicht könnt ihr den Flug in die Dominikanische Republik ja noch verschieben, wenn du dich morgen noch nicht fit fühlst?“

„Nein Mutti, das ist kein Problem, wir machen alles nach Plan, ich werde heiraten, ich werde heute heiraten, und dann fliegen wir in die Flitterwochen, alles wie geplant.“

Olafs Mutter und sein Bruder tauschten besorgte Blicke, während der Vater zufrieden raunzte: „Seht ihr, hab’s doch gesagt, nur die Nervosität vor der Hochzeit, stimmt’s Olaf?“

Nicole war nicht erfreut darüber, ihren Bräutigam mit zerkratztem Gesicht zu sehen, doch war sie zu erschrocken über seine fahle Haut und die eingefallenen Augen, um ihn zu schelten. Olafs Mutter sprach leise zu ihr, dass Olaf wohl ein wenig unwohl sei, und dass es wohl am besten sei, nun erst mal die standesamtliche Trauung vorzunehmen und danach über all das zu sprechen. Hochzeitsgäste wie auch der Standesbeamte konnten ihre Verwunderung ob Olafs schlechtem Zustand nicht verhehlen, doch keiner sprach ihn darauf an. Heiter, aber mit müden Augen begrüßte Olaf die Gäste, Freunde, die Familie der Braut, plauderte mit einigen, vielleicht etwas langsamer, etwas leiser als man es von ihm gewohnt war, bis die Hochzeitsgesellschaft schließlich ins Trauzimmer gebeten wurde.

Während der Standesbeamte eine kleine Rede vortrug, in der er schilderte, was das Brautpaar verband und was sie zusammen alles erlebt hatten, blickte Olaf Nicole an, liebevoll, fast verliebt. Ich heirate, sagte er sich in seinem Kopf wieder und wieder, ich heirate, jetzt, es war alles nur ein Traum, das war nicht real, ich heirate Nicole, ich werde jetzt heiraten.

„... und bitte das Brautpaar nun, zu mir zu kommen!“, schloss der Standesbeamte seine Rede. Nicole und Olaf traten vor. Olaf stolperte kurz, fing sich aber gleich wieder. Er hörte kaum, wie der Standesbeamte Nicole fragte, er sah nur wie sie ihre Lippen bewegte, als sie antwortete, während er in seinem Kopf wieder und wieder wie ein Mantra wiederholte: Ich werde heiraten, ich werde jetzt heiraten, es wird alles gut, ich werde heiraten ...

„... die hier anwesende Nicole Dahlke zur Frau nehmen, so antworten sie: Ja, ich will!“

Olaf blickte den Standesbeamten an und öffnete den Mund. Seine Augen verdrehten sich nach oben, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Ein leises Röcheln drang aus seinem Hals, während ein dünnes, rotes Rinnsal aus seiner Nase lief. Dann klappten seine Knie zusammen. Er war tot, noch bevor sein Kopf auf den Schreibtisch des Standesbeamten aufschlug.

Das zweite Monster

Deborah war irritiert. Sie hatte nicht oft Besuch in ihrem WG-Zimmer. Aber Julia, die mit Daniel zusammen Germanistik studierte und ihn oft zum Lernen oder zum Vorbereiten von Referaten in der WG besuchte, hatte sich mehr oder weniger selbst in ihr Zimmer eingeladen, ohne dass Deborah sich dagegen hätte wehren können. Dabei war Julia gar nicht der Typ von Mensch, mit dem Deborah sich normalerweise gut verstand, eigentlich waren sie komplett gegensätzlich; Julia war sehr direkt, extrovertiert, beinahe offensiv in ihrer Art. Sie kleidete sich sehr schick und modisch, während in Deborahs Kleiderschrank ausschließlich schwarz zu finden war. Julia war stets up to date, was die neuesten Serien auf Netflix betraf, während Deborah sich „Catweazle“ auf DVD anschaute; Julia hörte aktuelle Charts, Deborah dagegen Alben von Anne Clark und Dead can Dance aus den 90ern. Und Deborah hätte ihren Gast bestimmt schon auf die eine oder andere Weise höflich gebeten, sie wieder allein zu lassen, wenn ihr an Julia nicht noch eine weitere Eigenschaft aufgefallen wäre: Julia war neugierig. Nicht auf eine oberflächliche Art; Julia war an vielen Dingen interessiert, und wenn ihre Neugier an etwas geweckt war, dann ging sie dem nach, unbeirrt, zielstrebig, von echtem, aufrichtigem Interesse geleitet. Und nun interessierte sie sich offenbar für Deborah – und das fühlte sich schön an für Deborah. Ungewohnt, sehr ungewohnt, und auch irritierend, aber schön.

Sie zwang sich, still zu sitzen und Julia gewähren zu lassen, während diese in Deborahs Zimmer umher ging wie ein lernbegieriger Wissenschaftler, der Zugang zu den Geheimarchiven des Vatikan erhalten hatte. Keinem anderen hätte Deborah erlaubt, irgendetwas in ihrem Zimmer zu berühren oder gar Bücher aus dem Regal zu nehmen. Doch wenn Julia das tat, war es auf eine seltsame Art in Ordnung.

„Ist das eine Statue von Satan?“, fragte Julia verwundert und deutete auf eine kleine Figur aus Polyresin-Kunststoff.

„Nein, das wird oft verwechselt. Das ist Baphomet. Er ist eine Art Personifikation von Gegensätzen; männlich und weiblich, gut und böse ...“

„Ein bisschen wie Yin und Yang?“, fragte Julia.

„Hmm ... vielleicht. Ein bisschen vielleicht“, antwortete Deborah.

Der Rauch, der leise von dem Räucherstäbchen auf dem niedrigen Holztisch in der Mitte des Zimmers aufstieg, kräuselte sich ein wenig, als Julia am Tisch vorbei ging und vor das Bücherregal trat. „Picatrix ... Kybalion … Heptameron … Galdrakver … Armadel … Koraktor …“, las sie halblaut die Titel.

„Was sind das für Bücher?“

„Das sind ...“ Deborah zögerte kurz. „Das sind Zauberbücher. Also Nachdrucke natürlich. Zauberbücher aus der Antike, aus dem Mittelalter und der Renaissance.“

„Wow. Cool. Ich wusste nicht, dass es sowas tatsächlich gibt. Und das hier?“ Julia zog ein sehr altes, schwarzes, gebundenes Buch aus dem Regal. Deborah rutschte unruhig in ihrem violetten Sitzsack hin und her. Es bereitete ihr regelrecht physisches Unbehagen, wenn andere Leute ihre Bücher berührten. „Clavicula Salomonis – Der Schlüssel Salomos“, las Julia. „Ist das auch ein Zauberbuch?“

„Das ist auch eine alte, magische Schrift, ja“, bestätigte Deborah, der nicht wohl dabei war, dass Julia das alte und schon etwas brüchige Buch in den Händen hielt. Doch Julia ging sehr behutsam mit dem Buch um, betrachtete es von allen Seiten und las den Untertitel: „Die Kunst, Dämonen zu erkennen und zu beschwören, nach den überlieferten Lehren des weisen Königs Salomon“.

Es war eine illustrierte Ausgabe, mit sehr groben Zeichnungen, die der englische Okkultist Aleister Crowley von den verschiedensten Dämonen und Monstern angefertigt hatte. Sie schaute Deborah an. „Siehst du, das verstehe ich nicht ganz. Dämonen sind doch etwas Böses, das sind doch so eine Art Monster – warum beschäftigen sich Grufties oder Gothics mit so etwas? Man will doch nichts Negatives im Leben haben. Warum wollte man denn einen Dämonen beschwören?“

Einem anderen gegenüber hätte Deborah sich nicht die Mühe gemacht, eine Antwort zu finden. Aber Julia – vielleicht würde Julia es verstehen, wenn sie es ihre erklären würde. Sie überlegte, wie sie ansetzen sollte. „Böse ... negativ. Ich weiß nicht. Oft sind Dinge nicht einfach so, wie sie auf den ersten Blick aussehen, weißt du. Auch Luzifer war einmal ein Engel.“

Deborah blickte in ihren Ingwertee, der inzwischen nur noch lauwarm war.

Sie dachte zurück an die Nacht vor vielen, vielen Jahren. Sie lag im Bett in ihrem Kinderzimmer, die Augen offen, die Ohren gespitzt; sie hatte inzwischen gelernt, jedes noch so kleine Geräusch wahrzunehmen. Das Zimmer war nicht völlig dunkel. Deborahs Vater hatte ein Nachtlicht neben der Tür angebracht, das schwach schimmerte und gespenstische Schatten in den Raum warf. „Damit du keine Angst haben musst, dass dich das Monster im Schrank holt!“, hatte ihr Vater lachend gesagt, als er das Nachtlicht eingesteckt hatte. Deborah hatte es oft ausgesteckt, doch ihr Vater hatte es immer wieder eingesteckt.

Deborah wusste, dass das Nachtlicht völlig nutzlos war, dass es das Monster nicht abschrecken und schon gar nicht aufhalten konnte. Und wie jede Nacht lag sie auf dem Rücken, die Bettdecke bis zur Nase hoch gezogen, die Augen weit geöffnet, lauschend, auf jeden kleinsten Laut achtend.

Dann hörte sie eines Nachts zum ersten Mal das Knacken. Ein Knarzen. Das war ungewöhnlich; es war keines der üblichen Geräusche. Aber Deborah wusste dennoch sofort, woher es kam. Es kam vom Schrank, von dem hässlichen, alten Kleiderschrank, den Oma eigentlich auf den Sperrmüll hatte stellen wollen, den dann aber ihre Eltern abgeholt hatten, weil er, wie sie gesagt hatten, für’s Kinderzimmer noch gut genug sei. Und von diesem alten Schrank kam nun das knarrende Geräusch, das entstand, wenn man die Schranktür sehr, sehr langsam öffnete.

Deborah war sofort klar, dass die Tür nicht von allein aufgehen konnte. Sie starrte im Halbdunkel in Richtung des Schranks. Die Tür öffnete sich so langsam, dass die Bewegung kaum zu sehen war. Das Knarren ertönte weiterhin, während sich die Tür weiter und weiter öffnete und Deborah wie hypnotisiert auf den Schrank starrte. Dann schließlich, als die Tür beinahe ganz offen stand, schien etwas aus dem Schrank zu wachsen. Zunächst sah es aus wie ein Zweig, ein Ast, doch dann erkannte Deborah im fahlen Licht der Nachtlampe eine Klaue, einen Finger, riesig, lang wie ein Besenstiel, dann noch einen und noch einen weiteren, schließlich eine dürre Hand, beinahe so groß wie die Schranktür selbst. Deborah wusste, dass das kein Traum sein konnte, sie war wach, hellwach, auch wenn sie nicht in der Lage war, auch nur einen Finger zu rühren. Langsam schob sich die riesige Hand immer weiter aus dem Schrank, immer näher in Richtung Bett, und der Arm, der sich nun aus dem Kleiderschrank streckte, wurde länger und länger, wie ein riesiger Ast eines alten Baumes.

Deborah wagte nicht, sich zu rühren, selbst als die riesige Hand eine Ecke ihrer Bettdecke zwischen den Fingerspitzen griff und mit einer ruhigen Bewegung zur Seite zog. Ihrer schützenden Decke beraubt, kauerte sich Deborah ans Kopfende ihres Bettes. Unfähig wegzulaufen, unfähig, auch nur einen Laut von sich zu geben starrte sie auf die riesige, knochige Pranke, die sich langsam öffnete. Sie spürte, wie sich die Finger der Monsterhand hinter ihren Rücken schoben, während der Daumen, lang wie ein Männerarm, wie in Zeitlupe ihre Brust umschloss. Die Haut der Monsterhand fühlte sich alt an, uralt, rissig und rauh wie die Rinde eines Eichenbaums und zugleich glatt wie die Schuppen einer Echse. Schließlich hatten die Finger der Hand Deborah völlig umschlossen, wie ein Korsett aus Knochen und Schuppen. Die Hand hob sie aus ihrem Bett und trug sie in Richtung der Schranktür, gemächlich, aber unaufhaltsam. Und nun, als Deborah dem Schrank immer näher kam, sah sie die Augen des Monsters, die sie aus dem Dunkel anblickten; große, gelbe Lichter, tief im Schwarz des Schrankes.

„Was ist? Schläfst du?“

„Ich war in Gedanken“, antwortete Deborah.

„Musstest du an deine eigenen Dämonen denken?“, fragte Julia lächelnd, doch Deborah wusste, dass die Frage nicht so flapsig gemeint war, wie sie klang. Sie überlegte kurz. Ob sie Julia davon erzählen konnte? Julia hatte nie Monster und Dämonen in ihrem Leben gehabt, das wusste Deborah; sie spürte es. Diejenigen, die Erfahrungen mit den Monstern gemacht hatten, die erkannten sich. Und es war nicht ratsam, denen von den Dämonen zu erzählen, die ihnen nie begegnet waren, das hatte Deborah inzwischen gelernt.

Aber Julias Fragen hatten unvermittelt die Box der Pandora wieder geöffnet, die Kiste mit den Erinnerungen, die Deborah in ihrem Gedächtnis stets verschlossen zu halten bemüht war. Doch nach und nach kamen die Erinnerungen nun wieder an die Oberfläche, breiteten sich aus wie die Dunkelheit, die unaufhaltsam das Licht des Tages verdrängt.

Deborah wusste nicht, ob sie saß, ob sie schwebte – die riesige Hand des Monsters umfasste sie vollkommen, umschloss sie wie ein Kokon. Alles, was sie sehen konnte, waren die gelb leuchtenden Augen und die riesigen Finger des Wesens, schrundig, rau, gezeichnet von der ewig langen Zeit, die es schon existierte. Es sprach nicht, doch Deborah spürte, wie unendlich alt es war. Seine Augen, hell wie sanfte gelbe Scheinwerfer, ruhten auf Deborah. Es gab keinen Laut von sich, doch sie spürte seinen Atem, gleichmäßig, in einem perfekten Rhythmus, unendlich ruhig, wie Ebbe und Flut, wie Tag und Nacht, Leben und Tod. Den Ort, an dem sie sich befanden, konnte Deborah nicht sehen, denn außer den gelben Augen des Monsters war es pechschwarz um sie herum; doch sie hatte das Gefühl, dass sie auf keinen Fall im engen Schrank saßen – vielmehr verspürte sie, obwohl sie sich praktisch nicht rühren konnte, eine Ahnung von Grenzenlosigkeit, als schwebe sie in den unendlichen Weiten des Weltalls.

Deborah wusste nicht, wo sie war, warum sie hier war, warum das Monster sie hier her geholt hatte und auch nicht, was als nächstes passieren würde. Aber erstaunlicherweise kümmerte sie das überhaupt nicht. Sie war ganz ruhig. Der Griff des Monsters war fest, und ihr war klar, dass sie sich unmöglich daraus hätte befreien können, wenn sie es versucht hätte – aber der steinerne Griff war gerade nur so fest, dass er sie nicht beengte.

Deborah versuchte, weitere Eindrücke ihrer Situation zu sammeln und über ihre fünf Sinne aufzunehmen.

Doch dann hörte sie die Stimme.

„Deborah ... Deborah ... Deborah, wo hast du dich versteckt ... Deborah, ich finde dich ...“

„Ist dir nicht gut? Hab ich was Blödes gesagt? Du bist ganz weiß im Gesicht!“ Julia war aufrichtig besorgt um Deborah, die mit steinerner Miene in ihren Tee starrte.

„Nein, alles gut. Entschuldige. Erinnerungen ...“, antwortete Deborah, die aus ihrem Tagtraum aufschreckte.

„Möchtest du, dass ich dich allein lasse? Soll ich besser gehen?“, fragte Julia.

„Nein ... vielleicht ist es ganz gut, dass du hier bist.“

„Du musst nichts reden, wenn du nicht möchtest“, sagte Julia. Deborah nickte.

Auch das Monster hatte die Stimme gehört. Seine Augen hatten sich bewegt, unmerklich, aber Deborah hatte die feine Bewegung wahr genommen. Dann sah Deborah im schummrigen Licht seiner gelben Augen seine zweite Hand auftauchen; wie ein Geisterschiff, das aus den Tiefen des Meeres an die Oberfläche steigt, erschien die riesige Hand aus der Tiefe der Dunkelheit, die sie umgab, plötzlich vor ihren Augen, krümmte sich und formte schließlich eine Art Dach oder Helm über ihrem Kopf.

Immer noch war in unendlicher Ferne die Stimme zu hören.

„Deborah ... du kannst dich nicht ewig vor mir verstecken ... ich finde dich ...“