Das Artefakt

Jörg Fischer

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Autor: Jörg Fischer
Redaktion: Mario Weiß und Jörg Fischer
Lektorat: Coralie Baier
Cover (unter Verwendung eines Motivs von Pixabay) und Illustrationen: Marcus Trepesch
Illustration Dr. Eduard Klug: Birgit Arnold
E-Book: Axel Weiß
ISBN: 978-3-946309-22-2

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Vorwort

Wie der Redaktion von Stadtarchivar Dr. Rudolf Regler mitgeteilt wurde, sind bei Buchbindearbeiten im städtischen Archiv mehrere Seiten mit bislang unbekannten handschriftlichen Notizen des 1944 verstorbenen Heimatforschers Anton Dollacker aufgefunden worden. Dieser und sein 1937 dahingegangener Bruder Josef hinterließen eine Vielzahl heimatkundlicher Veröffentlichungen zu unterschiedlichsten Bereichen der Stadtgeschichte, die sich heute im Handschriftenbestand des Stadtarchivs befinden.

Wie der Stadtarchivar mitteilte, ist der Fund außerordentlich bemerkenswert, da es sich anscheinend um einen alternativen Bericht zu frühen archäologischen Grabungen in der Herrnstraße handelt. Diese wurden laut Dr. Regler während des Ersten Weltkrieges, im November 1914, durchgeführt. Wir werden zu gegebener Zeit ausführlich berichten.

***

Ich schreibe dies, da ich weiß, dass meine Kraft mich langsam verlässt. Bald 30 Jahre sind vergangen, seitdem sich jene seltsamen Ereignisse zutrugen, von denen ich berichten will. Die Mehrzahl derer, die daran Anteil hatten, lebt nicht mehr. Jene, welche die Jahre gleich mir überdauert haben, sind entweder durch die Folgen zweier Kriege in alle Winde verstreut oder doch wenigstens nicht in der Lage, gleich mir Zeugnis abzulegen: Sei es, weil sie weder sich noch anderen eingestehen wollen, was genau sich zugetragen hat, oder weil sie mit den Jahren allmählich vergessen haben, was in den ersten Wochen des letzten Krieges wirklich geschehen ist.

Und er, der ... ja was eigentlich? Die Jahre ziehen übers Land wie große dunkle Vögel und je mehr von ihnen vergangen sind, desto mehr ähnelt das Reich der Erinnerung einer mit verblassenden Photographien gefüllten alten Schachtel. Mit dem schwindenden Sepia verlieren diese Bilder jeden Tag ein wenig mehr von ihrer einstigen Schärfe und früher einmal gestochen scharfe Momentaufnahmen verblassen zu bloßen Konturen.

Zu entscheiden, ob Dinge sich wirklich ereignet haben, oder ob mir das nachlassende Gedächtnis nur Trugbilder vorgaukelt, fällt mir mit jedem weiteren Tag, der verstreicht, immer schwerer.

So bin ich lediglich ein Sklave meiner bald 30 Jahre alten Notizen und gezwungen, diesen und dem, der ich damals war, zu vertrauen – etwas, das mir durchaus nicht leicht fällt. Ich ertappe mich immer häufiger dabei, dass ich mir nicht länger sicher bin, ob dieses oder jenes nun wirklich gerade so geschehen ist, ob ich alle Fakten hinreichend gewürdigt, ob ich den größten Teil der wichtigen Details gekannt habe.

Die Vergangenheit zu bannen ist unmöglich, erst recht dann, wenn man sich ihrer nicht mehr sicher sein kann. Was im Alter bleibt, ist nicht die Erinnerung. Was bleibt, sind unscharfe Schnappschüsse von Menschen und Dingen, die ebenso gut Fremde sein könnten.

Er ist jedenfalls noch da. Seiner Funktionen seit einigen Jahren entkleidet und scheinbar ohne jede irdische Macht, unverhofftes Opfer gewandelter Zeiten, die ihn hinweggefegt haben. Vorbei die Tage, da er mit dickem Pelzkragen dem Photographen Modell saß und herrisch niederblickte auf alles, was sich durch die Straßen der Stadt bewegte und ihm untertan war.

Doch ich muss mich vorsehen: Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Totgeglaubter wieder unter den Lebenden wandelt und all denen, die seinen Abgang von der großen Bühne allzu früh bejubelt haben, hämisch den Zins für ihr voreiliges Handeln abverlangt. Noch hat er Freunde, die ihm verpflichtet sind.

Sicher ist er nicht der Einzige, der von jener unseligen Entgleisung meines Bruders Josef Kenntnis hat, die jenen selbst jetzt noch, da er längst tot und begraben ist, vernichten könnte.

Weit schlimmer noch: Nicht nur sein – auch mein Ansehen wären für alle Zeiten zerstört, unsere reichen historischen Arbeiten wertlos, zahllose Erkenntnisse umsonst gesammelt. Es mögen neue Zeiten sein, und wirklich: Viel hat sich in den letzten zehn Jahren verändert. Das Wenigste zum Guten. Doch der Mensch selbst bleibt nachtragend, kleinlich und boshaft zu allen Zeiten – seine größte Freude ist der Schaden seines Nächsten, vor allem dann, wenn er diesem gegenüber ohnehin stets missgünstig gesinnt gewesen ist. Und wer könnte ein leichteres Opfer für diese spezielle Art der Niedertracht sein als ich, ein müder alter Bourgeois, dem außer der Erinnerung an seinen Bruder und bessere Zeiten kaum mehr etwas geblieben ist?

Ich werde diese Seiten daher gut verbergen: Sie werden zum sichtbar-unsichtbaren Einband jenes offiziellen Berichtes über die fraglichen Geschehnisse werden, den ich in einigen Wochen an Archivrat Dr. Hipper, den Verweser des städtischen Archivs, übergeben werde. Auf diesem Wege wird die Wahrheit nicht nur erhalten bleiben, sondern auch eines Tages ans Licht kommen.