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Reinhardts Gerontologische Reihe
Band 54

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Dr. Tamara Gehring-Vorbeck, Nürnberg, Krankenschwester mit Weiterbildung zur Pflegedienst- und Heimleitung, Studium Pflegemanagement , ist Dozentin und Referentin zum Themenbereich Demenz und Management- und Führungskräftecoaching.

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02735-4 (Print)
ISBN 978-3-497-61032-7 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61049-5 (EPUB)
ISSN 0939-558X

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU
Konzeption im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlages: Cornelia Fichtl, München
Covermotiv: © istock.com/twpixels
Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de • E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Prolog

Geleitwort aus der Wissenschaft

Vorworte der Autorinnen

Auftakt

Verantwortung, Würde, Toleranz und Respekt

Paternalistik in Pflege- und Betreuungssituationen

Autonomie und Selbstbestimmung, Fürsorge, Wohlergehen und Gerechtigkeit

Was ist Demenz?

Historischer Überblick zu Demenz und Pflege

Medizinische Sicht auf Demenz

Arten und Formen der Demenz

Phasen der Demenz

Demenz als Folge des Alterns oder Krankheit – eine Diskussion

Demenz aus sozialgerontologischem Blickwinkel

Sterben und Tod

Zelltod – oder: Wie stirbt der Mensch eigentlich?

Hirntod – oder: Wann ist der Mensch wirklich tot?

Religionen und Philosophie zum Thema Sterben, Tod und Hirntod

Sozialer Tod – eine Erscheinung moderner Kulturen

Fünf-Phasenmodell nach Kübler-Ross

Sterbekultur – oder: Wie geht die Gesellschaft mit Sterben um?

Sterbeorte – oder: Wo wird in Deutschland gestorben?

Sterbebegleitung und Sterbebeistand – welch ein Unterschied

Sterben und Demenz

Die Besonderheit des letzten Lebensweges von Menschen mit Demenz

Spiritualität und Sicherheit – eine notwendige Verknüpfung

Demenz und Sterben in einer multikulturellen Gesellschaft

Sterbebegleitung von Menschen mit Demenz in der pflegerischen und betreuerischen Praxis

Palliative Care und Spiritual Care am Lebensende

Demenz und Sterben im eigenen Zuhause

Demenz und Sterben im Krankenhaus

Menschen mit Demenz im Krankenhaus

Angehörige und Betreuer im Krankenhaus begleiten

Interkulturelle Pflege und Betreuung im Krankenhaus

Die Rolle des multiprofessionellen Teams im Krankenhaus

Demenz und Sterben in Altenhilfeeinrichtungen

Der Sterbeprozess von Menschen mit Demenz in einer stationären Einrichtung

Angehörige und Betreuer in einer Einrichtung begleiten

Interkulturelle Pflege und Betreuung in der Einrichtung

Die Rolle des multiprofessionellen Teams in der Einrichtung

Sterbebegleitung als zentrale Führungsaufgabe im Management von Einrichtungen des Gesundheits- und Altenhilfebereiches

Führung der Einrichtungen

Professionell Pflegende und Betreuende

Angehörige und gesetzliche Betreuer

Zusammengefasst und nachgefragt

Resümee und Ausblick

Epilog

Aus der Weiterbildung

Aus der Praxis

Anhang

Literaturempfehlungen

Internetbroschüren und -adressen

Zitierte Literatur

Fragebogen zur Sterbebegleitung

Sachregister

Prolog

Geleitwort aus der Wissenschaft

Das Demenzsyndrom ruft bei vielen Menschen Angst hervor. Der schleichende Verfall zählt zu den am meisten gefürchteten Geißeln des Alters. Statistisch gesehen trifft es – früher oder später – knapp jeden Zehnten der über 65-Jährigen. Derzeit leben in Deutschland ca. 1,4 Mio. dementiell veränderte Menschen. Ohne einen Durchbruch in der Prävention und Therapie – der im Moment nicht absehbar ist – wird sich ihre Zahl bis 2040 fast verdoppeln, so eine Prognose der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Beinahe 70% der Bewohner und Bewohnerinnen von Alten- und Pflegeheimen sind an unterschiedlichen Formen der Demenz erkrankt. Das hohe Alter gilt vorwiegend als größter Risikofaktor für Alzheimer und Demenz. Der Heidelberger Forscher Beyreuther stellt zu Recht die Frage, ob Demenz vielleicht weniger eine Krankheit als vielmehr die unvermeidbare Folge eines alternden Gehirns ist.

Empfehlungen und Anregungen für den Umgang mit dementiell veränderten Menschen gibt es derzeit zur Genüge am Markt. Tamara Gehring-Vorbeck sticht mit ihrem Leitfaden in mehrerlei Hinsicht heraus: Die Inhalte folgen einer wissenschaftlichen Orientierung, einer konzentrierten Darstellung der einzelnen Kapitel. Der Sprachstil ist klar und verständlich gehalten und der Leitfaden gibt Hinweise für die Arbeitsabläufe in der Betreuung, in der Pflege und für die Führungsebene. Von daher werden in den Kapiteln nachvollziehbar Fallbeispiele, Fragen zum Nachdenken, Anregungen zum eigenen Handeln sowie zum Weiterdenken in Form von Merksätzen präsentiert.

Die Autorin greift ein bisher vernachlässigtes Arbeits- aber auch Forschungsfeld innerhalb der Demenzdiskussion auf: Sterben und Tod bei dementiell veränderten Menschen. Als konzeptionellen Hintergrund zeigen sich die Fragen: Wie versterben Menschen mit Demenz? Wie verläuft die Sterbephase und wo bestehen Unterschiede oder Gemeinsamkeiten beim Sterbeprozess zu anderen Menschen? Teile des vorliegenden Buches basieren auf der Promotion von Frau Dr. Gehring-Vorbeck an der Tiroler Landesuniversität (UMIT). Von daher ist es ebenfalls erfreulich, dass die Autorin mit ihrem verständlichen Sprachstil und ihren Empfehlungen eine Brücke zur Praxis wagt, um so auch die Tätigkeit vieler Betreuender und Helfender zu würdigen und anzuerkennen.

Ich wünsche diesem Buch interessierte Leserinnen und Leser, so dass dem Sterben und dem Tod bei dementiell veränderten Menschen mit mehr Sensibilität und mit mehr Verständnis begegnet werden kann.

Hall in Tirol, Frühjahr 2018 Prof. Dr. Bernd Seeberger, Leiter des

Instituts für Gerontologie und demografische Entwicklung an der Tiroler Landesuniversität (UMIT)

Vorworte der Autorinnen

Vergelt´s Gott und Danke an alle, die der Autorin mit ihrem „Lassen“ die Möglichkeit gegeben haben, „gelassen“ zu sein!

Sie gaben Rahmen, ohne einzugrenzen.

Sie gaben Hilfen, ohne zu beurteilen.

Es war eine Zusammenarbeit, ohne sich übermäßig zu beanspruchen, mit gegenseitiger Wertschätzung, ohne einander zu beurteilen!

(In Anlehnung an Virginia Satir, 1919–1988.)

Das hier vorliegende Buch ist ein Ergebnis der Erkenntnisse einer Promotionsarbeit und deren praktische Umsetzung. Die Forschungsarbeit und die daraus entwickelten Lösungsansätze waren eine wichtige Grundlage dafür. Seitdem konnten durch Expertengespräche – die begleitend mit Pflegeexperten aus dem professionellen Arbeitsumfeld, bei Inhouseseminaren und mit betroffenen Angehörigen, bei Informations- und niederschwelligen Weiterbildungsveranstaltungen geführt wurden – noch viele empirische Erkenntnisse und Daten gewonnen werden. Diese haben ebenfalls zu dieser Publikation ihren Weg gefunden.

Seminar- und Workshopteilnehmende aus dem Bereich der Pflege, Betreuung sowie dem Managementbereich des Gesundheits- und Altenhilfewesens – genauso wie pflegende Angehörige – haben den Wunsch geäußert, das Wissen zu bündeln, zu dokumentieren und einer breiten Öffentlichkeit und dem Fachpersonal zur Verfügung zu stellen.

Die Vorarbeiten zu diesem Buch haben sich über einen längeren Zeitraum ausgedehnt, es wurden Praxisbeispiele aufgenommen, um die Theorie greifbarer zu machen. Dabei wurden die gewonnenen Erkenntnisse durch aktuelle Literatur ergänzt und um praktische Anregungen erweitert.

Inspiration und großer Zuspruch bei der Entwicklung dieser Publikation wurden mir als Autorin durch Kollegen und befreundete Experten aus dem medizinischen, wie pflegerischen Fachbereich zuteil.

Ein besonderes Dankeschön sei an dieser Stelle meiner, zu einer guten Freundin gewordenen Kollegin Nadine Hagemann ausgesprochen, welche das Kapitel „Demenz und Sterben im Krankenhaus“ mit ihrem theoretischen und professionell-praktischen Wissen bestens er- und bearbeitet hat und großes Fachwissen aus dem beruflichen, gerontopsychiatrischen Klinikumfeld den Menschen in Pflege und Betreuung dementiell veränderter Menschen am letzten Lebensweg zur Verfügung stellt.

Mein weiterer Dank gilt auch den Kollegen Kathrin Holthoff und Dr. Andreas Ehgartner. Mit ihnen gab es fruchtbaren und gewinnbringenden Austausch zu den verschiedensten Bereichen des Themas während der Vorarbeiten hierzu.

Andreas Ehgartner arbeitete schon vorher zusammen mit mir am Themenbereich Schulungen zur Praxis der Palliativ Care bei Menschen mit Demenz am letzten Lebensweg.

Kathrin Holthoff unterstütze mich mit pädagogischen Aspekten zum Fachgebiet.

Ein besonderer Dank gilt auch den beiden „Laienlektoren“ und Freunden Heike und Klaus-Dieter Weber, die diese Publikation aus der Sichtweise eines professionellen Laien mit persönlicher Betroffenheit aus dem familiären Umfeld korrekturgelesen haben. Mit Kreativität und Engagement gestaltete mein Sohn Marian Zeichnungen zu Abbildungen und rundete damit dieses Werk als Teamarbeit mit Freunden, Kollegen und beruflichen Experten von familiärer Seite ab. Dafür mein herzliches Vergelt’s Gott.

Nun hoffe ich, dass sich für Leser und Leserinnen die theoretischen Aspekte in diesem Buch als eine fundierte Basis und die Praxisbeispiele erklärend sowie anregend zu weiterführend wertschätzendem Umgang mit dementiell und kognitiv veränderten Menschen in der letzten Lebensphase erweisen.

Nürnberg, im Frühjahr 2018Tamara Gehring-Vorbeck

Mit großer Dankbarkeit und Freude blicke ich auf die gestellte Herausforderung meiner Mentorin Dr. Tamara Gehring-Vorbeck zurück. Sie brachte mir durch die Aufgabe, ein Kapitel in dieser Publikation schreiben zu dürfen, großes Vertrauen in meine Fachlichkeit entgegen und sie lässt mich dadurch weiterwachsen.

Es ist etwas ganz Besonderes, wenn aus Kollegen Freunde werden und die Gemeinsamkeiten, aber auch die Verschiedenartigkeit durch bedingungslose gegenseitige Wertschätzung und Akzeptanz geprägt ist. Genau das, was auch Menschen mit Demenz in ihrer letzten Lebensphase benötigen: Empathie, Wertschätzung und Akzeptanz. Die fachliche Weiterentwicklung von Pflegefachpersonen im Umgang mit und bei der Begleitung von dementiell veränderten Menschen in gerontopsychiatrischen Einrichtungen gehört zu meinen täglichen Aufgaben.

Gerne berichte ich im Kapitel Demenz und Sterben im Krankenhaus über die Rolle der Pflegenden in Bezug auf den Menschen mit Demenz, dessen Angehörige, Aspekte in der interkulturellen Pflege und das multiprofessionelle Team. Menschen mit Demenz sind Teil unserer Gesellschaft und das sollen und dürfen sie auch sein.

Burgsinn, im Frühjahr 2018Nadine Hagemann

Auftakt

Menschen mit Demenz zu pflegen und zu betreuen bedeutet, mit Empathie, Emotionen und unterschiedlichsten Gefühlen umzugehen. Wenn jemand im privaten Umfeld pflegt, oder seinen Beruf im Umfeld der Kranken- und Gesundheitspflege oder in der Altenhilfe wählt, so hat er dafür eine bestimmte Motivation. Nämlich Menschen zu helfen, sie zu unterstützen oder in ihrer Situation zu begleiten. Aktuelle demographische Zahlen sagen aus, dass aufgrund einer immer höher werdenden Lebenserwartung und der stetigen Erhöhung des Altersdurchschnittes die Zahl älterer und auch multimorbider Menschen konsequent zunehmen werden.

Prognosen für die Zukunft unserer Weltgesellschaft lassen weltweit einen stetigen Anstieg der aktuell geschätzten Anzahl von Demenzerkrankungen von 35,6 Millionen auf 115 Millionen erwarten (Wallesch & Förstl, 2017, S. 18). In Deutschland und allen anderen Industrienationen hat – wie schon oben kurz erwähnt – der demographische Wandel, die stetige medizinische Weiterentwicklung und die dadurch folgende höhere Lebenserwartung nicht nur eine gesellschaftliche Entwicklung, sondern auch einen Anstieg der Anzahl von Menschen mit Demenz bewirkt. So wird es auch zu größeren Herausforderungen im Gesundheits- und Pflegewesen kommen.

Dies überträgt sich in der Folge nicht nur auf das professionelle, sondern auch das Laienpflegewesen der Angehörigenpflege.

Pflege ist im weitesten Sinne ein Dienst an Menschen, deren Körper und auch deren Seele. Sowohl unter professionell Pflegenden als auch unter Angehörigen ist ein aktives Auseinandersetzen mit dem dementiellen Syndrom unerlässlich, um sich rechtzeitig mit dem auf sie zukommenden Wandel auseinanderzusetzen und sich – zumindest als Angehörige – auf veränderte Lebenssituationen einstellen zu können.

Professionell Pflegende, wie auch pflegende Angehörige haben im Prinzip ein Doppelmandat, welches sie zu vertreten haben. Sie sorgen für und betreuen den Menschen in diesem Zusammenhang. Ganz speziell auch dementiell veränderten Menschen im Sterbeprozess geben sie nicht nur körperlich, sondern auch durch ihre Zuwendung und Empathie im seelischen Bereich Sicherheit und Orientierung. Gerade hier sind hohe Anforderungen an sie gestellt.

Gleichzeitig besteht noch eine weitere Doppelaufgabe, zumindest wird es in vielen Fällen als solche verstanden: Zum einen haben Pflegende die Aufgabe, selbstständig und eigenständig alle pflegerischen Maßnahmen – dazu gehören auch die vorherige Planung und eine eventuelle Beratung – durchzuführen. Zum anderen gehört es zu den Aufgaben professionell Pflegender oder auch Angehöriger, nach Anweisung und Delegation ärztliche Anordnungen auszuführen und medizinische Hilfeleistungen zu übernehmen. Dies kann in bestimmten Fällen zu einem Spannungsfeld führen. Kommunikative Fähigkeiten sind hier sehr gefragt. Da aber beide Gruppen im gemeinsamen Interesse für den Betroffenen handeln, sind sie gegenseitig aufeinander angewiesen.

Menschen mit Demenz sind orientierungsbedürftig, sicherheitssuchend, fordernd oder zurückhaltend, verletzlich oder aggressiv, agil oder regungslos verharrend. Pflegende sind immer „nah am Ball des Geschehens“, viel näher als dies jemals ein Arzt sein kann.

Zu Beginn sei noch ein Punkt vorangestellt und um Verständnis gebeten: In diesem Praxisleitfaden wird häufiger von Pflegenden und Betreuenden gesprochen, dies kann in Verbindung und auch als Synonym angesehen werden. Professionell Pflegende sorgen, pflegen und betreuen die Menschen mit Demenz am Lebensende pflegerisch. Betreuungskräfte nach §§ 87b/53c tun dies in den ihnen eigenen Belangen ebenfalls. Sie betreuen, beschäftigen und pflegen diese Menschen sozial sowie lebensumweltlich und in so manchen kleinen Dingen vielleicht auch körperlich. Deswegen werden die Begriffe in beiden Bedeutungen synonym verwendet.

Die Menschheit hat seit Beginn ihrer Geschichte mit Alter und Altern in ihrer Gesellschaft zu tun. Altern, Gebrechlichkeit und Senilität, ein normaler Prozess im Verlauf des Lebens, wurde bereits in Texten der alten Ägypter beschrieben.

„Oh König, mein Herr! Gebrechlichkeit ist mir beschieden, das Greisenalter ist eingetreten, die Altersbeschwerden sind gekommen, und Hilflosigkeit ist erneut da. Die Kraft schwindet dahin für den mit ermattetem Herzen. Der Mund schweigt, er kann nicht (mehr) sprechen, die Augen sind schwach, die Ohren taub, man liegt unbequem da allezeit. Das Herz ist vergeßlich und kann sich an gestern nicht erinnern, die Knochen leiden durch das Alter“ (Hornung, 1995).

Der zitierte Textausschnitt entstand gegen Ende des Alten Reiches (ca. 2500–2200 v. Chr.) und wurde einem Wesir Ptahhotep in den Mund gelegt, der unter Pharao Asosi, einem der letzten Herrscher der 5. Dynastie gewirkt haben soll.

In der heutigen Zeit erlebt die Weltbevölkerung insgesamt also eine Steigerung des Lebensalters hin zur Hochaltrigkeit. So haben Gesellschaften die Sorge und Versorgung einer stark anwachsenden Zahl älter werdender, vermehrt seniler, dementiell veränderter und multimorbider Menschen anzunehmen.

In Deutschland werden nach neueren Zahlen ca. 60 Millionen Euro jährlich in die Pharmaforschung investiert, knapp 10 Prozent – also sechs Millionen Euro – betragen die Forschungsgelder für Pflegeforschung. Wäre es hier nicht sozialer – im Sinne von innovativem Handeln –, einen Teil der Finanzen umzuschichten und vermehrt in Praxisansätzen zu forschen, was Menschen mit Demenz wirklich benötigen?

Annähernd jeder, der mit solchen Menschen in Kontakt ist, weiß, dass sie weder Zeitdruck, noch Spannung ertragen. Dass Stress gerade bei diesen Menschen zu Widerstand, Antipathie und Rückzug führt (Bode, 2014). Gerade am Ende des Lebenswegs sollten Menschen solche Situationen weitgehend erspart bleiben. Unsere Gesellschaft braucht, neben fundiert ausgebildeten Fachkräften, Menschen mit Mut und Visionen, die Alternativen in der Demenzpflege und -betreuung aufzeigen und neue Wege gehen. Unsere Gemeinschaft benötigt ein ausdrucksstarkes Engagement aus seiner Mitte heraus, Bürgersinn, oder bürgerliches Engagement wäre hier vielleicht der richtigere Ausdruck.

Ein Netzwerk der Versorgung und Betreuung wäre aufzustellen, welches sich umfassend – mit genügend zeitlichen und finanziellen Ressourcen ausgestattet – um die Menschen mit Demenz während des Fortschreitens ihrer Symptomatik kümmert, sie begleitet, fördert und fordert, sie umfängt, umsorgt und betreut.

Abbildung 1 zeigt, in welchen Versorgungsnetzwerken Menschen mit Demenz optimalerweise eingebettet sein können. Daraus ergeben sich die Herausforderungen für die Gesamtspanne des Lebensweges bis zur letzten Lebensphase: dem Sterben. Unsere Gesellschaft im Allgemeinen, professionell Pflegende, Betreuende und pflegende Angehörige im Speziellen, müssen sich den verschiedensten Aspekten und Herausforderungen stellen und diese annehmen. Dies sollte mithilfe dieses Buches leichter möglich sein können.

Abb. 1: Netzwerker in der Betreuung und Pflege dementiell veränderter Menschen (nach Isfort, 2012)

Sterben an sich ist etwas sehr Individuelles. So ist auch die Besonderheit des letzten Lebensweges bei Demenz zu erklären, denn: Es ist nicht selbstverständlich, dass Menschen mit Demenz so sterben wie Nichtdemente, schließlich verändert Demenz den Menschen schon im Leben, so ist dies im Sterben wohl auch anzunehmen (Gehring-Vorbeck, 2011).

Es stellt sich auch die Frage, inwieweit ein sterbender Mensch mit Demenz seinen letzten Lebensweg selbst beeinflussen kann und dies damit als eine kognitive Leistung bezeichnet werden muss, welche diesen Menschen in weiten Teilen abgesprochen wird. Auch auf diesen Bereich soll in diesem Buch eingegangen werden. Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut:

Zuerst werden zu den verschiedenen Themenbereichen die wichtigsten theoretischen Grundlagen gelegt, um gemeinsam von einem ähnlichen Wissensstand ausgehen zu können. Dann folgen – sofern möglich –

BEISPIEL

Fallbeispiele: In diesem Format werden Einzelfälle aus der Praxis und Alltagsbeobachtung beschrieben.

Und:

!

Merksätze im Sinne von: Was kann getan werden, oder was ist gut zu tun oder Anregungen zum eigenen Handeln.

Und

wenn möglich und notwendig, Ansätze zum Nachdenken und Reflektieren des eigenen Denkens und Handelns, eine Einladung zum Perspektivenwechsel.

Und

ab und an wird es auch notwendig sein, mit einem Exkurs bestimmte Aspekte und Zusammenhänge zu verdeutlichen. Diese Texte werden in diesem Format gekennzeichnet sein.

So kann der Lesende sich leichter im Buch zurechtfinden und auf schnelle Art und Weise von der Theorie zu den Praxisansätzen, Merksätzen, oder Anregungen zu weiterführenden Gedanken gelangen.

Der dementiell veränderte Mensch benötigt große menschliche Zuwendung, Geduld und Verständnis sowie das Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit. Eine menschliche, respektvolle Haltung und Fachwissen sind bei der Versorgung der Betroffenen unabdingbar. Die Umwelt muss an die Bedürfnisse und Fähigkeiten der veränderten Menschen angepasst werden, nicht anders herum. Auch eine gute Unterstützung der Angehörigen stärkt die Bedürfnisse der Betroffenen. Eine Weiterentwicklung der Qualität in den Versorgungsstrukturen und den staatlichen Förderungen, von dementiell veränderten Menschen, gehört ebenfalls zu ihren Bedürfnissen (Lützau-Hohlbein, 2007, o.S.) Deswegen nun: In medias res!

Verantwortung, Würde, Toleranz und Respekt

Menschen mit Demenz in deren Altern und Sterben zu begleiten fordert von denen, die sie auf diesen Wegen betreuen, große Verantwortung, ihr ganzes „Dabei-Sein“, ihre individuelle Menschlichkeit, ihre beharrliche Zuwendung, ihre substantielle und stetige Offenheit für den existentiellen Vorgang des Sterbens.

Der Begriff der Verantwortung weist darauf hin, dass jemand Antwort geben soll auf etwas – vor anderen – für etwas, das er getan oder nicht getan hat. Dieses Tun und Handeln ist vom Willen her ein freies, frei entschiedenes Handeln. Das heißt im Weiteren, dass jemand so und nicht anders gehandelt hat, ist dann aber begründungspflichtig gegenüber der Gesellschaft im Allgemeinen und im Besonderen in der Praxis gegenüber den Angehörigen, oder den Vorgesetzten einer Altenhilfeeinrichtung.

BEISPIEL

Darf gegessen werden, wann, was und wie der betreute Mensch es möchte, oder wird an starren Essenszeiten immer noch festgehalten?

Stehen Messwerte im Vordergrund, oder werden innovative Begründungen zur Rechtfertigung herangezogen, wenn der medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) nach Gründen eines beständig sich verringernden Gewichts bei einem Menschen gegen Lebensende fragt?

!

Pflegende sind aktiv in die Verantwortung eingebunden. Sie verantworten die sach- und ordnungsgemäße Durchführung aller Pflege- und Betreuungsmaßnahmen in einem bestimmten Betreuten- oder Stationsumfeld vor den Bewohnern selbst, deren Angehörigen sowie den Vorgesetzten.

Würde, ein Thema, das in diesem Zusammenhang häufig hinterfragt wird, teilt sich gerade bei dementiell und damit kognitiv veränderten Menschen auf in einen inhärenten Anteil, der mit dem Menschen untrennbar verbunden ist, und die kontingente Würde, die ihnen durch das Behandeln durch andere Menschen zugewiesen wird (Rüegger, 2003).

Für alle bedeutet dies, dass Menschen, die Sterbende begleiten, sich auf die verschieden ablaufenden Prozesse des Sterbens einlassen müssen. Kein Mensch stirbt wie der andere, kein Sterbegeleit geschieht so wie ein anderes. Trotz aller Wichtigkeit professionell erkannter Herausforderungen und ebenso professioneller pflegerischer und betreuerischer Interventionen ist es doch die innerste Haltung des Menschen, der Sterbebegleitung betreibt, die substantiell und wichtig erscheint.

Diese Haltung ist immer von einer Beziehung eines Menschen zu einem anderen geprägt – unabhängig davon, ob er als Angehöriger, seiner Berufung, oder es durch seinen Beruf bzw. seine Aufgabe als professionell Pflegender und Betreuender bei diesem versterbenden Menschen mit Demenz ist.

BEISPIEL

Zur Lebensqualität der betreuten Menschen kann dies bedeuten: Hat ein Ehepaar im Pflegeheim Anspruch auf ein gemeinsames Ehebett trotz schwerster Pflegebedürftigkeit eines Partners?

Trennt man Ehepaare und Partnerschaften, nur weil eine bessere Pflege und Versorgung gewährleistet werden kann?

Wie geht man in der Kommunikation, das heißt in der Art des Sprechens, ob laut oder leise, in der Art und Weise des Ansprechens miteinander um?

Wie ist die nonverbale Kommunikation mit Betreuten und auch mitarbeitenden Kollegen und Angehörigen oder auch seitens der Angehörigen mit den Pflegekräften gestaltet?

!

Pflegende und Betreuende sollten den Menschen die Würde, welche er besitzt, bis zuletzt deutlich spüren lassen. Setzen Sie sich dafür ein, alles Machbare zu ermöglichen und gegen sogenannte Totschlagargumente anzugehen. Versuchen Sie, empathisch zu kommunizieren.

Stellen Sie den Menschen in den Mittelpunkt und nicht die Demenz. Bildlich verdeutlicht sieht es dann folgendermaßen aus:

MENSCH mit Demenz anstatt Mensch mit DEMENZ

Toleranz zu zeigen bedeutet, Menschen anders sein zu lassen. Für Menschen im dementiellen Prozess ist es wichtig, so sein zu dürfen wie sie sind, umso mehr an ihrem Lebensende. Sie empfinden mit hoher Wahrscheinlichkeit die gleichen Sorgen, Nöte und Ängste wie andere Menschen in derselben Situation (Gehring-Vorbeck, 2011).

!

Nehmen Sie als Pflegende und Betreuende die dementiell veränderten Menschen mit ihren Sorgen und Ängste an. Bleiben Sie im Hier und Jetzt der Situation, anstatt die eigene Realität in den Vordergrund zu stellen.

Dies wiederum wäre echter Respekt, der dem Menschen entgegengebracht werden würde. Pflegende können durch ihre Professionalität, besonders aber durch ihre sich darin ausdrückende Individualität, in erheblichem Maße dazu beitragen, dass ein Leben mit Demenz bis zu seinem Ende respektvoll, würdevoll und für die Betroffenen lebenswert bleibt. Dies setzt jedoch voraus, dass sie bereit sind, sich offen und empathisch auf eine Sterbebegleitung einzulassen, wohl wissend, dass das Sterben eines anderen Menschen immer auch sie selbst in ihrem Menschsein betrifft. Ein Beispiel aus der Praxis macht dies auf eindrückliche Weise deutlich.

BEISPIEL

Eine Fachkraft für gerontopsychiatrische Pflege berichtete aus ihrem Pflegealltag auf einer beschützenden Station Folgendes:

Wann immer sie eine im Sterben liegende dementiell erkrankte Frau in ihrem Zimmer aufsuchte und ihr Zuwendung und Aufmerksamkeit entgegenbrachte, hellte sich deren Miene auf. Sie wirkte zufriedener, ausgeglichener und unter diesen Umständen hatte die Pflegende das Gefühl, dass diese Frau in der Folge erheblich unverkrampfter aus dem Leben schied. Dieselbe Pflegende berichtete auch von ihrem persönlichen Eindruck, dass eine intensive Betreuung, wie sie auf einer beschützenden Station mit höherem und angemessenerem Pflegepersonalschlüssel erfolgt, möglicherweise dazu führen kann, dass dementiell und somit auch kognitiv veränderte Menschen, die aus ihrer Verzweiflung heraus sterben möchten, durch diese intensive Pflege gefühlt länger am Leben bleiben möchten.

Pflege kann und darf nicht vom Mensch- und Personsein der an ihr Beteiligten getrennt und auf reine (körper-)pflegerische Tätigkeiten reduziert werden. Das tradierte, alt hergebrachte Bild von Pflegenden als „Berufsberührer“, das deren Arbeit und Aufgabenbereich handwerklich und eher negativ konnotiert beschreibt, kann an dieser Stelle positiv ausgelegt werden. Pflegende stellen in ihrem Beruf immer auch ein Stück ihrer selbst dar. Diese Authentizität ihrer Arbeit, die tatsächlich von Berührungen geprägt ist, zeichnet menschlich-empathische Pflege aus. Sie hat nichts mit unangebrachter Nähe zu hilfebedürftigen älteren Menschen und damit einhergehender Geringschätzung ihrer Persönlichkeit zu tun.

Im Gegenteil, gerade durch professionelle Empathie kann eine enge, ehrliche Beziehung zu den zu Pflegenden aufgebaut und ihnen somit Angenommensein und Geborgenheit vermittelt werden. Aspekte, denen nach Berichten von Pflegenden generell eine große Bedeutung zukommt, die am Lebensende für die Betroffenen noch existentieller zu werden scheinen. Pflege in diesem Sinne bedeutet, ein Stück Leben zu teilen und es lebenswert werden zu lassen – hinweg über die begrenzten Möglichkeiten, diesen gemeinsamen Weg zu beeinflussen, die äußerst ungleich verteilt sind (Gehring-Vorbeck, 2011).

Paternalistik in Pflege- und Betreuungssituationen

Menschen mit Demenz nehmen sich möglicherweise aufgrund ihres Mangels einer zeitlichen Perspektive und ihrer veränderten, zum Teil eingeschränkten Sicht- und Empfindungsweise anders wahr.

So liegen große Belastungen und Bürden auf den pflegenden und sorgenden Angehörigen und im gewissen Sinne auch auf den professionell Pflegenden und Betreuenden. Sie sollen und müssen deren Bedürfnisse und letzte Wünsche oft erspüren und mit den daraus folgenden Entscheidungen und Handlungen in ihrem eigenen Leben zurechtkommen (Wilkening & Ohnesorge, 2007).

Solche Pflege- und Betreuungsinterventionen können in manchen Fällen als paternalistisch ausgelegt werden. Als paternalistisch wird ganz allgemein eine Handlung bezeichnet, die zum Wohle des anderen, aber möglicherweise gegen dessen Willen getätigt wird. Solche Lösungen werden von den Empfängern und Nutznießern der Intervention häufig als Bevormundung oder Entmündigung angesehen.

!

Pflege, Betreuung und Versorgung von Menschen mit Demenz darf nicht von den Empfängern der Pflegeinterventionen als unterdrückend oder als bevormundend empfunden werden. Dem Gegenüber sollen respektvoll dessen Grenzen aufzeigt werden. In den meisten Fällen kann Ablenken oder ein Führen in eine andere Situation ein Mittel der Wahl sein.

Die klassische Rolle der betreuten und gepflegten Menschen übergibt professionell Pflegenden viel Verantwortung und auch möglicherweise Macht. Die Frage nach Macht und Verantwortung darf aber in einer ethisch einwandfreien Versorgung und Pflege nicht zu Missachtung der Autonomie und der Individualität führen – mehr dazu im nächsten Kapitel.

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Im Fachbereich von Pflege und Betreuung muss jegliches Tun reflektiert werden. Umso mehr, wenn Fachwissen und Können allein nicht mehr ausreichend sind, um Entscheidungen zu treffen.

Bockenheimer-Lucius & May, 2007