Alle handelnden Personen sind frei erfunden.

© 2019 Arne Peters

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH,

Norderstedt

ISBN:9783749441990

Inhalt

  1. Der Tänzer und der Boxer
  2. An Wochentagen
  3. Der Typ auf den Kufen
  4. Die Herren Künstler kommen
  5. David gegen Goliath
  6. In eben jenem Moment
  7. Cocktailkirschen
  8. Das haben die für mich gesungen
  9. Die leere Kreuzung

Vorwort

„So - Herr Peters - als nächstes würde ich Sie bitten, mit diesem Wasserglas in der Hand bis zu dem Stuhl da hinten zu laufen, den Stuhl zweimal zu umrunden und dann hierher zurückzukehren.“

Ich nicke: „Verstanden. Soll ich dabei möglichst viel oder möglichst wenig Wasser verschütten?“ „Sehr witzig“, sagt der junge Physiotherapeut Paul und klatscht in die Hände: „Auf geht’s! Und bitte dabei noch von neunzig in Dreierschritten rückwärts zählen, okay?“

„Okay. Sehr gerne! 87, 84, 81.“ Ich umrunde den Stuhl zweimal und überreiche Paul kurz später „57, 54, 51“, das immer noch gut gefüllte Glas. „Na - das geht doch noch relativ gut“, sagt er und schreibt eine Zahl in seinen Ordner. „Diese Werte des ersten Tages werden wir dann in vier Wochen - nach Beendigung der Reha - mit den Werten des letzten Tages vergleichen“, erklärt er. „Ja, ich erinnere mich. War letztes Mal auch schon so“, denke ich und sage: „Alles klar. Verstehe.“

„Sie sind noch berufstätig, sehe ich. Kameramann. Na - in so einem Beruf ist Parkinson vermutlich auch nicht so richtig hilfreich, oder?“ „Nö. Stimmt!“ Paul klopft mir kurz auf die Schulter und blättert dann in seinem Ordner: „So - zwei Übungen noch, dann haben Sie es geschafft. Morgen fangen wir dann richtig an.“ „Okay“, sage ich und gehe dann - wie gewünscht - durch eine Glastür, drehe mich im Nebenraum einmal um die eigene Achse und komme wieder herein. „Auch ganz gut. Sie scheinen einen relativ milden Verlauf zu haben“, sagt Paul, hebt den Daumen und legt dann seinen Ordner zur Seite: „Es gibt ja so einige richtig berühmte Parkinson-Patienten. Haben Sie von denen zufällig schon mal jemand vor der Kamera gehabt?“

Ich bleibe stehen und schaue ihn an: „Ja“, sage ich und nicke ganz langsam: „Ist aber ein bisschen her.“

1.

Der Tänzer und der Boxer

September 2000. Olympiagelände. Sydney.

Ich gehe rückwärts. Es ist eng. Es ist hektisch. Doch all das macht mir nichts aus. Ich bewege mich schnell und geschmeidig und fühle mich gut. Ich genieße solche Situationen. Zudem habe ich blindes Vertrauen zu meinem Kollegen Robert. Er hält ein großes Mikrofon, bedient sein Ton-Mischpult und schafft es gleichzeitig, mich mit ganz kleinen Stupsern sicher, unaufgeregt und elegant zu führen. Wir sind ein eingespieltes Team. Beinahe wie ein Tanzpaar und ich weiß, dass er mich vor jedem Hindernis in meinem Rücken rechtzeitig warnen wird. So kann ich mich vollkommen auf meine Kameraarbeit konzentrieren.

Wir begleiten einen der berühmtesten Sportler aller Zeiten. Er ist uns ganz nah. Doch irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Während wir in einem Meter Entfernung um ihn herum tänzeln, scheint ihm jeder Schritt schwer zu fallen. Er geht nicht geschmeidig, der berühmte ehemalige Box-Champion. Sein Körper bebt und seine Mimik wirkt eingefroren. „Was hat der nochmal?“, werde ich Robert nachmittags auf dem Weg zum Volleyball-Stadion fragen. Er wird mir antworten, doch ich werde seine Antwort sofort wieder vergessen haben - denn Krankheiten sind weit, weit weg.

Die Beschäftigung mit Krankheiten passt so überhaupt nicht in mein momentanes Lebensgefühl. Ich bin gesund und stark... Ich bewundere die Leistungen der Athleten in den Stadien. Nach Feierabend steige ich selber in die Sportschuhe und laufe durch Sydney. Vorbei an dem berühmten Opernhaus, weiter zur Küste und zurück durch den Botanischen Garten. In einem halben Jahr möchte ich den Hamburger Stadtmarathon laufen. Wo wären die Trainingsbedingungen besser, die Stimmung schöner und motivierender als hier während der Olympischen Spiele?

Etwas überrascht bin ich, wie viele meiner Kollegen mich in den nächsten Tagen auf den berühmten Boxer ansprechen. Viele betonen, wie gerne sie doch den Beitrag mit dem ehemaligen Champion, dem großen Muhammad Ali gedreht hätten. Wie spannend sie es auch viele Jahre nach Beendigung seiner Karriere gefunden hätten, ihm zu begegnen. Für mich dagegen blieb es ein relativ unbedeutendes Ereignis, das von unzähligen anderen, faszinierenden Erlebnissen in diesen Wochen überstrahlt wurde. Dass sich diese Einschätzung später ändern würde, das wusste ich in dem Moment noch nicht. Und so habe ich nach meiner Rückkehr aus Sydney von vielen Dingen geschwärmt: Von der großartigen Atmosphäre in den Stadien. Von der Begeisterungsfähigkeit der australischen Zuschauer, von den Wettkämpfen in der Schwimmhalle, der wunderbaren Stimmung unter uns Fernsehkollegen und auch von der lebenslustigen Besitzerin einer kleinen Konditorei gegenüber unserer Unterkunft.

Von dem berühmten Boxer dagegen habe ich wenig erzählt und von seiner eigenartigen - mir damals völlig unbekannten - Krankheit schon gar nicht.

Zwölf Jahre später sehe ich den berühmten Boxer ein zweites und letztes Mal im Sucher meiner Kamera. Wieder im Rahmen der Olympischen Spiele, doch dieses Mal ist alles anders. Bei der Eröffnungsfeier stehe ich auf einer der imposanten Tribünen des neuen Olympiastadions im Londoner Stadtteil Stratford.

Ich teile mir die Kameraplattform mit vielen Kollegen. Links von mir ein englischer Kameramann, rechts eine französische Kollegin. Unsere Kameras sind bestückt mit Teleobjektiven. Große Brennweiten, oder wie wir so sagen: Lange Tüten.

Da wir am Tag der Eröffnungsfeier alle sehr rechtzeitig an unserem Platz sein müssen, bleibt noch Zeit für ein wenig Smalltalk und Erfahrungsaustausch. Um uns herum füllt sich das Stadion und dann - pünktlich um 21:00 Uhr, beginnt die Feier. Sie ist atemberaubend, humorvoll und grandios. Die erste Hälfte der Feier - der musikalische, der künstlerische Teil - vergeht wie im Fluge, was man vom zweiten Teil - dem Einmarsch der Athleten - nur bedingt behaupten kann.

Und plötzlich. Plötzlich ist er da: Muhammad Ali - der Champion, der Ehrengast. Um uns herum erheben sich die Menschen von ihren Sitzen und applaudieren. Ich atme einmal tief durch und mache dann etwas sehr Unprofessionelles: Ich trete einen Schritt zur Seite und applaudiere mit. Nur ganz kurz - niemand merkt es. Niemand, außer der französischen Kollegin neben mir, die mich kurz anschaut, nickt und den Daumen hebt. Dann konzentrieren wir uns beide wieder auf unsere Kameraarbeit. „Arne, du müsstest ihn doch von deiner Position ganz gut von vorne sehen können, oder?“, fragt der Regisseur kurz später und bittet mich, die nächsten Minuten den Ehrengast zu zeigen.

Trotz der großen Entfernung kann ich - dank der „langen Tüte“ - erkennen, dass sich sein Gesundheitszustand noch einmal deutlich verschlechtert hat. Und obwohl er dieses Mal nicht, wie damals in Sydney, unmittelbar vor mir steht, sondern uns bei der Feier in London fast hundert Meter Luftlinie trennen, ist er mir jetzt doch viel, viel näher als damals.

Denn ich weiß mittlerweile eine ganze Menge über den politisch engagierten, ehemaligen Boxchampion. Ich habe viel über ihn gelesen. Über seine legendären Kämpfe innerhalb, aber auch außerhalb des Ringes. Ich weiß mittlerweile, warum dieser Mann so verehrt wird.

Und über seine seltsame Parkinson-Krankheit - nun - über die weiß ich mittlerweile auch so einiges. Unter anderem weiß ich, wie sie sich anfühlt…

2.

An Wochentagen

Eröffnungsfeier 2012 in London? Nein - die habe sie damals ganz bestimmt nicht gesehen, sagt Monika und wischt mit einem feuchten Lappen über den Tresen. Olympische Spiele würden sie nicht die Bohne interessieren und eine Eröffnungsfeier, die vor drei Jahren in London stattgefunden hat, schon mal gar nicht. „Wie kommst du denn jetzt gerade darauf?“

Ich zucke die Schultern, schnippe einen Krümel vom Tisch und bezahle meinen Kaffee: „Ach - weiß auch nicht - nur so. Habe letzte Nacht dran gedacht.“ Monika schaut mich an:

„Was heißt denn hier ‚Ach - weiß auch nicht - nur so‘? Du solltest nachts lieber schlafen. Siehst ganz schön müde aus. Bist du nicht ab Montag wieder in diesem Kurheim zum Korbflechten?“ „Es ist eine neurologische Klinik“, verbessere ich, „mit hochmotivierten Ärzten, Psychologen, Logopäden, Ergo- und Physiotherapeuten.“ „Ja, ja - ich weiß, aber ich erinnere mich nur noch an deinen Bericht vom Korbflechten in der Bastelgruppe“, sagt Monika.

„Ergo-Feinmotorik-Gruppe!“, stelle ich noch einmal richtig, aber da ist Monika schon bei einem anderen Gast: „Und Sie? Woran haben Sie die letzte Nacht so gedacht?“ Der ältere Herr faltet sorgfältig seine Zeitung zusammen, legt sie vor sich auf den Tisch und schaut Monika lange an. „Peking“, sagt er schließlich ohne eine Miene zu verziehen: „Eröffnungsfeier Sommer 2008.“

„Sehr witzig“, sagt Monika, während ich dem Unbekannten lachend auf die Schulter klopfe, die Backstube verlasse und mich auf den Weg zu meinem Arbeitgeber mache.

Ich nutze den etwa zehnminütigen Gang an einer vierspurigen Straße für einige Übungen. Unter anderem mache ich übertrieben große Schritte, reiße die Arme dabei nach oben und schneide Grimassen. Mit solchen und ähnlich neurologischen Gymnastikübungen werde ich nächste Woche im Klinikpark nicht weiter auffallen. Hier schon.