Deutsche Erstausgabe (ePub) März 2020
Für die Originalausgabe:
© 2017 by K.C. Wells
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Out of the Shadows«
Originalverlag:
Published by Arrangement with Dreamspinner Press LLC, 5032 Capital Circle SW, Ste 2, PMB# 279, Tallahassee, FL 32305-7886 USA
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2020 by Cursed Verlag, Inh. Julia Schwenk
beloved ist ein Imprint des Cursed Verlags
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit
Genehmigung des Verlages.
Bildrechte Umschlagillustration
vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock
Satz & Layout: Cursed Verlag
Covergestaltung: Hannelore Nistor
Druckerei: CPI Deutschland
Lektorat: Anne Sommerfeld
ISBN-13: 978-3-95823-813-8
Besuchen Sie uns im Internet:
www.cursed-verlag.de
Aus dem Englischen von Susanne Scholze
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vielen Dank, dass ihr dieses eBook gekauft habt! Damit unterstützt ihr vor allem die Autorin des Buches und zeigt eure Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schafft ihr dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir euch auch in Zukunft erfreuen möchten.
Vielen Dank!
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Klappentext:
Vor acht Jahren ist Christian nach Boston gezogen, hat sich in seiner neuen Wohnung verkrochen und von der Welt abgeschottet. Und so kann es auch gerne bleiben, wenn es nach ihm geht, denn sein Einzelgängertum hat einen guten Grund. Als er notgedrungen seine Küche und sein Bad renovieren lassen muss, rechnet er nicht damit, dass dadurch der liebenswerte Handwerker Josh in sein Leben tritt. Josh schert sich nicht um Äußerlichkeiten und erobert Christians Herz im Sturm. Doch kann sich Christian nach so langer Zeit wieder einem anderen Menschen öffnen oder hat er sich schon zu sehr an die sichere Einsamkeit gewöhnt?
Danksagung
Wie immer ein großes Dankeschön an meine Betaleserinnen
– Debra, Mardee, Helena, Lara –
und natürlich an meinen wunderbaren Alphaleser Jason.
Montag
Christian Hernandez starrte auf den Brief und sein Magen zog sich zusammen. Ein einziger Blick auf den Inhalt war alles, was nötig gewesen war, um ihn in Panik verfallen zu lassen.
Natürlich hatte er gewusst, dass er kommen würde. Er hatte die Posts auf der Webseite der Jamaica Plain Neighborhood Development Corporation gesehen, in denen stand, dass die Wohnungsbaugesellschaft eine Liste ihrer dringend renovierungsbedürftigen Immobilien zusammenstellte. Er wusste, dass sein Wohnhaus auf dieser Liste stehen musste. Die Gesellschaft hatte es, zusammen mit einigen anderen Gebäuden an der Minden Street, in den späten Neunzigern übernommen, und seitdem war an den Häusern nichts gemacht worden.
Und jetzt hatte er es schwarz auf weiß. Seine Wohnung stand auf der Liste für die erste Renovierungswelle, die den Austausch aller Küchenschränke und Arbeitsplatten sowie des Küchenfußbodens beinhaltete. Danach kamen die Badezimmer an die Reihe, die mit neuen Armaturen und Fliesen ausgestattet werden sollten. Die Arbeiten würden zwei bis drei Wochen dauern.
Nächsten Montag. Sie schicken jemanden, der nächsten Montag anfangen soll. Was zur Hölle soll ich jetzt machen?
Es war nicht so, dass er irgendwo anders hingehen konnte, also blieb ihm nur eine Option: sich in seinem Schlafzimmer zu verstecken, während, wer auch immer in seine Wohnung eindrang, in der Küche arbeitete. Und in den Badezimmern. Verdammt. Das bedeutete, auch das Badezimmer, das sich an sein Schlafzimmer anschloss.
Sieht aus, als würde ich meine Schlafzimmertür absperren. Bei der Aussicht darauf, sich mehrere Wochen in seinem Schlafzimmer zu verstecken, wurde ihm angst und bange.
Christian legte den Brief auf den Küchentisch und ging ins Wohnzimmer, wo Terrassentüren zu den Gemeinschaftsgärten hinausführten, die sich hinter den Gebäuden befanden.
Ich brauche etwas, das mich aufheitert und von dem ganzen Mist ablenkt. Und ihm war vollkommen klar, was den Zweck erfüllen würde. Als er durch die Jalousien spähte, wusste er ganz genau, was – oder sollte er lieber sagen, wen? – er sehen würde.
Und tatsächlich, da war sein Lieblingshandwerker, den er in Gedanken Handyman getauft hatte, weil er seinen Namen nicht kannte. Er beobachtete ihn nur jedes Mal, wenn der schlanke Mann mit den definierten Armen da draußen arbeitete, den Rasen mähte, die Zäune reparierte oder neu lackierte, oder neue Blumenbeete aushob und Sträucher und Bäume darin anpflanzte. Christian schätzte ihn auf Mitte zwanzig, und ja, er war definitiv sein Typ. Er liebte es, wenn das Wetter warm genug wurde, dass Handyman seinen Overall bis zur Taille herunterrollte, sein T-Shirt auszog und all die gebräunte Haut entblößte, die auf den Schultern mit Sommersprossen übersät war.
Also, wenn der Kerl, den sie für die Arbeiten in meine Wohnung schicken, auch nur annähernd so ist wie er…
Christian wusste, dass der Gedanke blödsinnig war. Auf keinen Fall würde er irgendwelchen Kontakt, mit wem auch immer die Genossenschaft schickte, aufnehmen. Er würde einfach in seinem Zimmer bleiben und dort arbeiten, bis der Albtraum vorüber war.
Es sind nur ein paar Wochen – drei, im Höchstfall. Ich komme damit klar. Wenn er sich das weiterhin einredete, würde er es vielleicht irgendwann glauben. Ja, ich kann ihnen aus dem Weg gehen.
Aber nur solange derjenige, der auftauchte, nicht zum Rumschnüffeln neigte.
Montag
Josh Wendell richtete sich auf und streckte sich, sein Rücken schmerzte ein wenig davon, die großen Sträucher vom Truck in den Garten zu schleppen. Es würde sehr hübsch aussehen, wenn die Rhododendren blühten. Er arbeitete schon immer gern an den Häusern in der Minden Street. Es war eine friedliche kleine Ecke südlich von Mission Hill und westlich von Jamaica Plain und die Gemeinschaftsgärten waren sein ganzer Stolz.
Gelegentlich arbeiteten ein paar der anderen Jungs mit ihm und sie kamen gut miteinander aus. Auch wenn sie ein paar fantasievolle Geschichten erzählten. Wie die über den Mann, der in Haus Nummer hundertsiebenundneunzig im Erdgeschoss wohnte – den Mann, den angeblich keiner von ihnen je gesehen hatte. Josh hatte sich sofort darüber lustig gemacht: Wenn ihn nie jemand gesehen hatte, woher wussten sie dann, dass es ein Mann war? Abgesehen davon, wenn er ihnen Glauben schenkte, musste der Kerl wohl der Schwarze Mann sein, ein Einsiedler, der kleine Kinder in seine Höhle lockte, um sie zu verspeisen und dann ihre Knochen unter der Terrasse vor seinem Fenster vergrub.
Ja, klar.
Wie auch immer, seine Tage in den Gärten waren für eine Weile vorbei. Er hatte seine Instruktionen für die nächsten Monate erhalten: Die Genossenschaft wollte, dass er seine Fähigkeiten anderweitig nutzte, namentlich dafür, Küchenschränke herauszureißen und zu ersetzen, neue Fliesenböden zu verlegen und Badewannen, Waschbecken und Wandfliesen auszutauschen. Josh freute sich darauf, auch wenn es absolut fürchterlich sein würde, im Hochsommer drinnen zu arbeiten. Er betete nur, dass die Wohnungen funktionierende Klimaanlagen hatten.
Er warf einen flüchtigen Blick zu der Wohnung hinüber, in der der geheimnisvolle Mann lebte. Nicht, dass Josh ihn je gesehen hatte. Alles, was er sah, waren die Lamellenvorhänge, die an den Terrassentüren hingen, eine wirksame Barriere dagegen, etwas vom Innenraum preiszugeben – oder dem Bewohner.
Ich frage mich, wie er wirklich ist.
Dann grinste er in sich hinein. Hey, was, wenn ich an seiner Wohnung arbeiten werde? Die Jungs würden mir keine Ruhe lassen und wissen wollen, wie es bei ihm aussieht. So wie sie es beschrieben, erwartete er, dass es aussah wie aus dem Film Blutgericht in Texas. Wenn er denn in dieser speziellen Wohnung arbeiten würde.
Josh konnte es nicht erwarten, seinen Arbeitsplan zu bekommen und es herauszufinden.
»Hallo? Jemand zu Hause?« Josh schob den Generalschlüssel in die Tasche und betrat die Wohnung. Er stellte seine klobige Werkzeugkiste ab und lauschte. In der Wohnung war kein Geräusch zu hören.
Niemand da, der mich hören könnte, außer den Mäusen.
Dann kam ihm ein anderer Gedanke in den Sinn. Anscheinend ist der Bewohner nicht zu Hause. So viel zu den Geschichten über den Einsiedler, der nie seine Wohnung verlässt. Das verdeutlichte Josh nur, warum er nie auf Klatsch hören sollte.
Er achtete darauf, sich die Stiefel an der Fußmatte abzutreten, bevor er in die Küche ging. Josh schüttelte den Kopf. Ja, er konnte sehen, warum die Genossenschaft die Küchen erneuern wollte. Die Schränke sahen aus, als wären sie noch aus den Siebzigern. Mit einem kurzen Blick stellte er fest, dass glücklicherweise alle leer waren. Auch auf den Arbeitsplatten stand nichts herum, abgesehen von ein paar Gefäßen neben dem Herd. Hinter dem Schrank, der als eine Art Abgrenzung zum Essbereich diente, sah Josh einen Stapel Kisten, die Töpfe, Pfannen, Schachteln und Behälter mit Lebensmitteln und Elektrogeräte enthielten. Die Wandfliesen mochten einmal geschmackvoll gewesen sein, aber das quadratische Muster mit einem orangefarbenen Kreis und dem Blumenmuster darin war so altmodisch. Sie erinnerten ihn an die Küche seiner Großmutter in Maine. Die Bodenfliesen waren nicht viel besser. Ein Mosaik aus winzigen Sechsecken in verschiedenen Grüntönen. Die Kombination der Farben war Übelkeit erregend.
Jepp, Baby. Die Dinger mussten weg.
Neben dem Herd entdeckte er ein Blatt Papier, das unter einem Wasserkessel klemmte. Josh starrte ihn an. Ein waschechter Teekessel in Metallic-Preiselbeerrot. Daneben standen zwei gedrungene braune Behälter mit den Aufschriften Tee und Kaffee, eine weiße Dose, ein Glasgefäß und davor eine weiße Tasse.
Josh nahm das Blatt in die Hand.
Hi. Bedienen Sie sich bei Tee oder Kaffee. Wenn Sie welchen brauchen, finden Sie Kaffeeweißer im weißen Behälter und Würfelzucker in dem kleinen Glas. Im Kühlschrank stehen Wasserflaschen.
Wenn Sie mich aus irgendeinem Grund kontaktieren müssen, können Sie mir an die unten stehende Nummer eine Nachricht schicken.
Vielen Dank.
Christian Hernandez
Josh lächelte. Die Getränke waren eine angenehme Überraschung. »Danke, Mr. Hernandez«, sagte er leise. Dann kam ihm ein Gedanke. Werfen wir mal einen Blick darauf, wie es hier aussieht. Er konnte immer noch nicht glauben, dass er die Gelegenheit hatte, in der Wohnung des Schwarzen Mannes zu arbeiten. Wenn man sich anhand seiner Küche ein Urteil bilden konnte, lagen die Jungs völlig daneben.
Josh ging etwas weiter in die Wohnung hinein, dorthin, wo sie sich zu einem größeren Bereich hin öffnete, dem Wohnzimmer. Dort standen eine bequem aussehende Couch und ein großer, zerknautschter Sessel, der perfekt dafür geeignet schien, sich an langen Abenden darauf zusammenzurollen. In einer großen Wohnwand befanden sich der Fernseher, ein DVD-Player und mehrere Bücherregale. Josh versuchte, den Büchern keine Beachtung zu schenken – wenn er das tat, würde er den ganzen Tag damit verbringen. Aquarelldrucke zierten die Wände, hauptsächlich Landschaften, doch es gab ein oder zwei, die Josh ins Auge fielen. Sie hatten etwas von einer Fantasy-Landschaft, etwas, das er nicht erwartet hatte.
Josh schüttelte den Kopf und grinste. Hey, was sagt man dazu, Jungs? Keine Ketten. Keine Folterinstrumente. Keine herumliegenden Knochen, keine Überreste seiner Opfer. Nicht, dass Josh auch nur eine Sekunde erwartet hatte, so etwas vorzufinden.
Am Ende des Wohnzimmers befanden sich die Terrassentüren und links davon eine weitere Zimmertür. Josh würde nicht hineinschauen. Schließlich hatte er einen Job zu erledigen.
Dann erinnerte er sich daran, dass dieser Job auch zwei Badezimmer mit einschloss.
Eines davon hatte er entdeckt, als er die Wohnung betreten hatte. Er ging hinein und schüttelte den Kopf. Wer hatte entschieden, dass Himmelblau die perfekte Farbe für ein Bad war? Es sah schrecklich aus, und die Fliesen passten leider dazu. Josh nahm an, dass alles eine Verbesserung darstellen würde.
Das andere Bad musste hinter der Tür am anderen Ende liegen, aber als er die Türklinke herunterdrückte, war abgeschlossen. Tja, Scheiße. Er würde Mr. Hernandez eine Nachricht schicken und ihm erklären müssen, dass er zwar viele Talente hatte, durch verschlossene Türen zu gehen aber keines davon war. Er grinste vor sich hin. Als würde ich das schreiben. Immerhin konnte er ein Badezimmer für die neue Wanne ausmessen. Das andere würde warten müssen.
Er schlenderte zurück in die Küche und musterte sie seufzend.
Okay, Zeit, alles rauszureißen und neu anzufangen.
Josh holte seinen Werkzeugkasten, den er neben der Haustür abgestellt hatte. Das würde den ganzen Tag dauern. Nur eines würde die Zeit schneller vergehen lassen, oder zumindest den Anschein erwecken. Er brauchte Musik.
***
Christian versuchte, sich auf den Bildschirm seines Laptops zu konzentrieren, aber er schaffte es einfach nicht. Der Lärm aus der Küche störte zu sehr. Das häufige Rumsen und Krachen musste vom Herausreißen der vorhandenen Schränke kommen. Als etwas, das offensichtlich ein Radio war, lautstark zum Leben erwachte und die Kakofonie verstärkte, war er kurz davor, aus seinem Schlafzimmer und in die Küche zu stürmen und seinem unerwünschten Besucher zu sagen, wo er sich seine ebenso unerwünschte Musik hinstecken konnte.
Nur, dass er das nicht konnte. Ich bin gar nicht hier, schon vergessen? Und die Wahrscheinlichkeit, dass er sich außerhalb seines Schlafzimmers sehen ließ, war verschwindend gering. Er konnte nichts anderes tun als es zu ertragen.
Und Ohrstöpsel zu tragen.
Als die Stimme eines Mannes erklang, der die Lieder mitsang, stöhnte er innerlich. Es spielte keine Rolle, dass der Sänger eine großartige Stimme hatte – es war lediglich ein weiterer Nagel im Sarg von Christians Tag. Er klappte den Laptop zu, setzte die Kopfhörer auf und schaute fern. Zumindest konnte er so den Lärm ausblenden.
Na ja, den größten Teil davon.
Um ein Uhr wurde ihm bewusst, dass der Krach aufgehört hatte. Er nahm den Kopfhörer ab und lauschte. Das Radio war verstummt und Christian seufzte erleichtert. Gott sei Dank. Er war fertig für heute. Er lauschte auf die Geräusche, die durch seine Tür drangen und wartete auf den wohltuenden Moment, in dem alles wieder ruhig sein würde.
Nur dass, wer auch immer da draußen arbeitete, noch nicht fertig war. Ein Presslufthammer wurde angeworfen – oder zumindest etwas, das sich danach anhörte – und Christian schoss ein Was zum Teufel treibt er da draußen? durch den Kopf. Als der Krach abrupt verstummte, entkam Christian erneut ein erleichtertes Seufzen. Sekunden später fuhr er fast aus der Haut, als ein lautes Oh fuck! ertönte.
Er grinste. Ach je. Er hat das Ding kaputt gemacht. Das tut mir jetzt aber überhaupt nicht leid.
Erst da wurde Christian klar, dass die Klimaanlage nicht mehr arbeitete.
Was zur Hölle hat er getan?
***
»Was für ein Haufen Scheiße!«
Josh starrte den museumsreifen Sicherungskasten an. Kein Wunder, dass sein Bohrhammer nicht funktionierte – eine Sicherung war durchgebrannt und seinen erfolglosen Versuchen nach zu urteilen, das Gerät mittels einer anderen Steckdose zum Laufen zu bringen, hing die halbe Wohnung inklusive der Klimaanlage an dieser Sicherung.
Scheiße. Das ist gefährlich.
Dumm war, dass der Rest der Wohnung auf drei Sicherungen verteilt zu sein schien. Das ließ ihm zumindest die Möglichkeit, den Kühlschrank an anderer Stelle einzustecken. Er beurteilte die Lage und beschloss, zuerst den Kühlschrank umzustellen, da er sich allein in der Wohnung aufhielt. Die Klimaanlage konnte warten.
Josh zog den Stecker des großen Kühlschranks aus der Steckdose und mühte sich damit ab, ihn ins Wohnzimmer zu befördern. Er hoffte sehr, dass er keine Spuren auf dem Teppich hinterließ. Der Herd würde dort, wo er war, wunderbar funktionieren, da er eine spezielle Sicherung hatte. Damit blieb nur das Problem, was er als Nächstes tun sollte. Es lagen Ersatzsicherungen im Kasten, aber er konnte nicht einfach eine neue einsetzen. Sollte etwas passieren, wäre er haftbar und er konnte sich nicht vorstellen, dass ihn sein Chef in diesem Fall weiterbeschäftigen würde.
Also, was heißt das jetzt für mich – und natürlich auch für Mr. Hernandez?
Soweit er es beurteilen konnte, hatte der Rest der Wohnung Strom, aber Küche und Klimaanlage waren außer Betrieb, bis Josh am nächsten Tag den Sicherungskasten austauschen konnte.
Verdammt. Er verabscheute Rückschläge und jetzt war die Liste seiner Aufgaben noch länger geworden. Eine neue Schalttafel war das kleinste seiner Probleme. Sein Bohrhammer hatte nicht nur die Wandfliesen entfernt, sondern die Trockenbauplatten gleich mit. Was davon noch übrig war, war zu beschädigt, um lediglich ausgebessert zu werden. Er konnte nicht früher Feierabend machen, weil zu viel zu tun war. Da er den Bohrhammer nicht verwenden konnte, bedeutete das für ihn, in den wenigen Stunden, die ihm noch blieben, die Fliesen mit einem Bolster Meißel von Hand zu entfernen.
Ich kann's kaum erwarten, das meinem Boss zu erzählen. Er wird total angepisst sein.
Und es war nicht nur sein Boss. Josh hatte jetzt die erfreuliche Aufgabe, Mr. Hernandez eine Nachricht zu schicken, um ihm mitzuteilen, dass am folgenden Tag der Strom abgestellt sein würde, solange Josh an der Verkabelung arbeitete.
Mr. Hernandez sollte morgen besser nicht hier sein.
Seufzend zog er sein Handy aus der Tasche seines Overalls und suchte dann nach dem Zettel mit Mr. Hernandez' Telefonnummer. Rasch verfasste er eine Nachricht, wobei er sein Bestes tat, um die Verwendung von Abkürzungen zu vermeiden. Mr. Hernandez könnte ein älterer Herr sein, der seine Nachrichten gern in perfekt ausformulierten Sätzen bekommt. Ihm kam der Gedanke, dass der abwesende Bewohner mit einem Nachnamen wie Hernandez seine Nachrichten vielleicht lieber auf Spanisch hätte, aber Joshs Schulspanisch reichte dafür nicht aus.
Josh Wendell hier. Arbeite in Ihrer Wohnung. Tut mir leid, aber es gibt ein Problem mit der Verkabelung. Die Sicherung ist durchgebrannt. Ihre Küche ist bis morgen ohne Strom. Klimaanlage funktioniert auch nicht.
Er schüttelte den Kopf. Was für ein Desaster. Tja, nun. Er konnte nichts weiter tun als auf Senden zu drücken.
Ruckartig hob er den Kopf, als er das charakteristische Pingen einer eingehenden Textnachricht hörte – irgendwo innerhalb der Wohnung. Was zur Hölle? Dann ging ihm ein Licht auf. Mr. Hernandez hatte offensichtlich sein Handy zu Hause vergessen.
Sein Handy vibrierte in seiner Hand und er starrte auf eine Nachricht.
Was ist passiert?
Josh stieß einen weiteren Seufzer aus und seine Daumen flogen über die virtuelle Tastatur. Mein Bohrhammer hat die Sicherung der Küche gekillt. Ich hab mir den Sicherungskasten angesehen und ich muss ihn durch einen Verteilerkasten ersetzen. Das passiert oft. Ich kann das morgen erledigen. Dann prüfe ich, ob die Verkabelung im Rest der Wohnung in Ordnung ist. Ich brauche Zugang zu allen Zimmern.
Wie denen hinter dieser verschlossenen Tür, dachte er, als er Senden drückte.
Da war es wieder, das vertraute Pingen. Und einmal mehr ging eine oder zwei Sekunden, nachdem er seine abgeschickt hatte, eine Nachricht ein.
Jap, aber das würde bedeuten…
Nein. Auf keinen Fall. Dann stellte er fest, wie dumm er war. Es gab nur eine Erklärung. Josh ging langsam zu der geschlossenen Tür am anderen Ende der Wohnung.
Er klopfte leise an. »Hallo?«
Das Handy vibrierte in seiner Hand.
Na schön, aber das Schlafzimmer ist tabu.
Josh starrte auf den Text. Was zum Teufel? Er musste sich irren. Mr. Hernandez versteckte sich nicht in seinem Schlafzimmer und schickte ihm Nachrichten. Oder doch?
Es gibt nur einen Weg es herauszufinden. Sagte man nicht: Aller guten Dinge sind drei?
Rasch verfasste er eine weitere Nachricht. Können Sie morgen hier sein? Er könnte einen zweiten Mann brauchen, der ihm sagte, wann in den anderen Zimmern die Lampen an- und ausgingen oder ob Strom auf den Steckdosen war. Josh schickte die Nachricht ab und wartete.
Es bestand kein Zweifel. Auf der anderen Seite dieser verschlossenen Tür erklang ein Ping. Und dann kam die Antwort. Nein.
Josh schüttelte den Kopf. Er starrte die Tür an und rief: »Nichts für ungut, aber… echt jetzt? Sie schicken mir Nachrichten… aus Ihrem Schlafzimmer?« Okay, der Kerl war sonderbar.
Dann ging ihm ein Licht auf. Ganz toll, Josh. Wenn er da drin ist und sich so verhält, muss er unter einer ziemlich schweren Art von Sozialphobie leiden.
Seine Daumen tanzten über die Buchstaben. Okay, klar. Kein Problem.
Er konnte nur sein Chaos aufräumen und von hier verschwinden. Als er sich umdrehte, um in die Küche zurückzugehen, hörte er das leise Geräusch einer sich öffnenden Tür und wirbelte herum. Die Tür war immer noch verschlossen. Also gab es dahinter offensichtlich noch weitere Türen. Das war zu vermuten gewesen. Irgendwo mussten das Schlafzimmer und das fehlende Bad sein.
»Dann werden alle Lebensmittel in meinem Kühlschrank und dem Gefrierschrank verderben?« Das bereitete seiner Hypothese ein Ende, dass Mr. Hernandez ein älterer Herr war. Das war die Stimme eines jüngeren Mannes.
Josh ging zu der verschlossenen Tür zurück. »Nein, ich hab den Kühlschrank in einer anderen Steckdose eingesteckt. Und falls es etwas hilft, es betrifft nicht nur Sie. Nach dem, was ich von meinen Kollegen gehört habe, musste in ungefähr vierzig Prozent der Wohnungen an der Verkabelung gearbeitet werden.« Nicht, dass das ein Trost wäre.
»Sie haben keinen Stromschlag abbekommen, oder?«
Die Frage freute Josh. Aww, er klingt, als wäre er ein netter Kerl. Er hatte damit gerechnet, angeschrien oder beschimpft zu werden – war von einer Reihe verschiedener Reaktionen ausgegangen. Diese überraschte ihn.
»Nein, es geht mir gut, danke, dass Sie nachfragen. Und Sie müssen das positiv sehen.«
Ein ironisches Lachen erklang auf der anderen Seite der Tür. »Wie kommen Sie denn auf die Idee?«
»Nun ja, wäre die Sicherung nicht durchgebrannt, hätten wir nicht bemerkt, in welch schlechtem Zustand der Sicherungskasten ist und wie dringend er ersetzt werden muss.« Das musste die unwirklichste Unterhaltung sein, die Josh je mit einem Kunden geführt hatte. Ich rede mit einer Tür.
»Sie sind ein unverbesserlicher Optimist, oder?«, fragte Mr. Hernandez amüsiert.
Josh grinste. »Schuldig im Sinne der Anklage.« Er war niemand, der sich je darüber beschwerte, dass sein Glas halbleer war. »Hören Sie, ich werde es so schnell ich kann reparieren, okay? Aber ja, Sie haben keinen Strom in der Küche und keine Klimaanlage, bis ich das morgen erledigt habe.« Er überlegte schnell, wie er die Lage verbessern konnte. »Es tut mir wirklich leid, Mr. Hernandez, aber zumindest habe ich festgestellt, dass es hier ein Problem gibt, bevor es gefährlich wurde.« Der ganze blöde Schlamassel tat ihm ehrlich leid. Er gab sein Bestes, um über den Job und nicht den geheimnisvollen Mann hinter der Tür nachzudenken. Er hat offensichtlich Probleme. Vielleicht sieht ihn deshalb nie jemand. Vielleicht leidet er unter Agoraphobie.
Es gab eine Pause. »Danke – Josh war der Name, richtig? – aber ich bin sicher, Sie wussten nicht, dass das passieren würde. Stellen Sie nur sicher, dass Sie es morgen reparieren können.«
»Kein Problem. Ich habe noch ein paar Stunden Zeit, also werde ich noch ein paar dieser Fliesen entfernen.« Scheiße – die Fliesen. »Und ich muss auch einige der Trockenbauplatten ersetzen. Der Bohrhammer war zwar nicht lange im Einsatz, aber er hat ein gewaltiges Chaos hinterlassen.« Und er würde es mit dem Meißel noch vergrößern. »Ich werde alles beheben, versprochen.«
Noch eine Pause. »Trockenbauplatten auch? Da hatten Sie ja einen wirklich tollen Tag, wie?«
Das war milde ausgedrückt.
Josh seufzte. »Was mich wirklich anpisst – Oh Gott, es tut mir leid. Ich sollte nicht so reden.« Er konnte nicht glauben, dass er gerade vor einem Kunden geflucht hatte.
Mr. Hernandez lachte. »Ich hab heute schon Schlimmeres gehört. Vor allem, als die Sicherung durchgebrannt ist.«
Josh brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er damit meinte. Dann erinnerte er sich. »Oh fuck«, flüsterte er.
Mit Mr. Hernandez' Gehör war anscheinend alles in Ordnung. »Mhm, ja. Das. Also, sagen Sie's mir. Wovon sind Sie angepisst? Ich glaube, so weit sind wir nicht gekommen.«
»Huh? Oh ja. Das hat mich in meinem Zeitplan ein wenig zurückgeworfen. Ich hatte gehofft, den gesamten Bereich jetzt schon geräumt und die Oberflächen so weit vorbereitet zu haben, dass ich morgen die Fliesen verlegen kann.« Josh war froh, dass er nicht gesehen werden konnte. Er war sicher, dass sein Gesicht knallrot war.
»Da kann man nichts machen. Tun Sie einfach Ihr Bestes.«
Bevor Josh antworten konnte, sagte ihm das leise Geräusch einer sich schließenden Tür, dass ihre Unterhaltung beendet war.
Kopfschüttelnd ging er in die Küche zurück. Worunter auch immer Mr. Hernandez litt, es musste ziemlich heftige Scheiße sein, dass er sich so benahm. Wird er sich morgen immer noch in seinem Schlafzimmer verstecken? Was stimmt nicht mit ihm?
Er starrte die Fliesen an, die sich teilweise von der Wand gelöst hatten. Ich schätze, ich sollte besser weitermachen. Er kramte in seinem Werkzeugkasten nach Hammer und Meißel, dann machte er sich wieder an die todlangweilige, langwierige Aufgabe, die Fliesen von der Wand zu hebeln. Ohne Radio diesmal. Da er jetzt wusste, dass er Gesellschaft hatte, versuchte Josh, leise zu sein. Na ja, so leise man eben sein konnte, während man einen Meißel unter die Ecke einer Fliese zwängte und mit einem großen Hammer daraufschlug.
Die Stunden bis vier Uhr nachmittags krochen dahin, und als es so weit war, tat Josh der Rücken weh. Seine Kehle war ausgedörrt und seine Finger schmerzten. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er seinen Arbeitsplatz halbwegs ordentlich aufgeräumt hatte, schnappte sich Josh seine Werkzeugkiste und machte sich auf den Weg zur Haustür.
»Wir sehen uns morgen!«, rief er, als er die Tür hinter sich zuzog.
Erst, als er auf den Lieferwagen zuging, bemerkte er, dass seine Aussage irgendwie ironisch war.
Ich werde ihn überhaupt nicht sehen, oder?
***
Als Christian das unverkennbare Geräusch seiner sich schließenden Haustür wahrnahm, atmete er endlich leichter. Er wartete weitere fünf Minuten, bis er sicher war, dass Josh tatsächlich gegangen war, bevor er sich aus seinem Zimmer wagte.
Staubpartikel hingen in der Luft, aber das konnte er nicht ändern. Seine Küche war vollkommen leer. Der Herd stand jetzt im Essbereich, das Kabel war noch in der üblichen Steckdose eingesteckt und reichte gerade so. Der Kühlschrank befand sich im Wohnzimmer. Er hat den Kühlschrank allein umgestellt? Josh musste viel Kraft haben. Der Unterschrank mit der Spüle war verschwunden, es ragten lediglich ein paar mit Plastikkappen verschlossene Kupferrohre aus dem Boden. Ungefähr die Hälfte der Wandfliesen war entfernt worden, zusammen mit Teilen der Trockenbauwand. Wo sie noch vorhanden war, klebten Reste von Kleber und Putz daran. Die Bodenfliesen waren noch unberührt.
Christian zweifelte nicht daran, dass Josh stocksauer war. Er hatte es an seiner Stimme erkannt, und für Christian hatte es sich echt angehört. Erneut sah er sich in der Küche um. Von den Schränken war nichts zu sehen, also musste Josh sie entsorgt haben. Abgesehen vom Staub gab es kaum Unordnung, was auf einen gewissenhaften, methodischen Arbeiter hindeutete.
Einen Arbeiter, dessen Abwesenheit bedeutete, dass Christian aus seinem temporären Gefängnis befreit war.
Er holte seinen Laptop und seine Ordner aus dem Schlafzimmer und ging ins Wohnzimmer. Sein Tisch am Fenster eignete sich zum Arbeiten viel besser als sein Bett, nur dass er keine große Lust hatte, zu arbeiten. Er schob die Terrassentür auf, ließ die Jalousien, wo sie waren und atmete die frische Luft ein, die erfüllt von dem schweren Duft des Jasmins, der vor seinem Fenster wuchs, ins Innere wehte. Der Sommer war für Christian sowohl eine Freude als auch eine Qual. Er liebte die Wärme und das Sonnenlicht, die langen Tage und heißen Nächte, aber dass er nicht einfach nach draußen gehen und die Elemente genießen konnte, ließ sein Herz schwer werden. Wenn er die Anziehungskraft des Sommers am stärksten spürte, betrachtete er sein Spiegelbild und das reichte aus, um sein Verlangen danach, nach draußen zu gehen, im Keim zu ersticken. Seine nächtlichen Spaziergänge waren ein armseliger Ersatz.
Das Letzte, was er erwartet hatte, als er an diesem Morgen aufwachte, war, am späten Nachmittag eine Unterhaltung durch eine verschlossene Tür geführt zu haben. Nicht, dass sie sich wesentlich von seinen beruflichen Gesprächen unterschied, die alle per Telefon stattfanden. Christian konnte nicht mit Menschen. Und doch hab ich mit ihm gelacht. Wann hab ich das das letzte Mal getan?
Er schüttelte den Kopf. Das war definitiv ein seltsamer Tag gewesen. Leider war Josh nicht der Einzige, der heute in Verzug geraten war. Eine oder zwei Stunden Arbeit, dann wäre Christian bereit fürs Abendessen.
Und morgen das Ganze noch mal von vorn.
Er versuchte, nicht daran zu denken.