Das Wunder von Bern

Marion Döbert

Das Wunder von Bern

Ein Buch in Einfacher Sprache in Anlehnung an den Film von Sönke Wortmann

Schwierige Wörter oder Ausdrücke sind unterstrichen. Die Erklärungen stehen in der Wörterliste am Ende des Buches.

Inhalt

Die Taube

Familie Lubanski

Die Kneipe

Der Vater

Der Boss

Der Brief

Der Zug

Wieder zu Hause

Tschüss Boss!

Der Verteidiger

Die Entschädigung

Der Tanz-Palast

Das Trainings-Lager

Die Zeche

Die Kirche

Der Gürtel

Der Reporter

Der Geburtstag

Am Fluss

Presse-Konferenz

Ost-Berlin

Der Pfarrer

Der Russe

Der Regen

Das Auto

Lampen-Fieber

Die Vergebung

Das Finale

Nachwort der Aktion Mensch

Wörterliste

Die Taube

Wir Kinder sitzen wie Raben im Baum.

Bis ganz oben sind wir in die Äste geklettert.

Denn wir wollen ganz weit sehen können.

Wir starren in die grauen Wolken.

Unsere Blicke suchen den Horizont ab.

Aufgeregt sind wir. Wir zittern vor Spannung.

Wann, wann wird die Taube endlich zu sehen sein?

Und vor allem: Welche Nachricht bringt sie uns?

Was steht auf dem Zettel, den die Taube mitbringt?

Wir hoffen und bangen.

Hans sieht die Taube zuerst.

„Da ist sie! Da kommt sie!“, ruft er ganz laut.

Wie reifes Obst fallen wir von den Ästen.

Schnell! Schneller!

Wir rennen, so schnell wir können.

Zu dem Haus, in dem die Taube

im Dachboden-Fenster verschwunden ist.

Schnell! Schnell, die Treppe rauf!

Zwei Stufen auf einmal!

Gleich wissen wir, was auf dem Zettel steht.

Wir reißen die Tür zum Dachboden auf.

Hier ist der Tauben-Schlag.

Hier wohnen die Brief-Tauben.

Erschrocken gurren die Tiere. Federn fliegen auf.

Da sitzt sie. Unsere Taube.

Die Taube mit der wichtigen Nachricht

an ihrem Körper.

Peter nimmt die Taube in seine Hände.

Schnell nimmt er das Papier aus der kleinen Hülle auf ihrem Rücken.

Wir schweigen. Wir sehen uns an.

Gut oder schlecht?

Das entscheidet sich jetzt! Matthes hört auf

zu atmen. Die anderen auch.

„1: 0“, sagt Peter und lässt den Zettel sinken.

„Für wen?“, fragt Matthes mit trockener Stimme.

Aachen eins, Rot-Weiß Essen null.“

„1: 0?“, fragt Matthes entsetzt.

Als könnte das jetzt noch was ändern.

Mit hängenden Köpfen verlassen wir den Tauben-Schlag.

Matthes stehen die Tränen in den Augen.

Sein Fußball-Held hat kein Tor geschossen.

Familie Lubanski

Unsere Familie wohnt in Essen.

Aber Essen ist nicht irgendeine Stadt.

Essen liegt nämlich mitten im Ruhr-Pott.

Eigentlich heißt es „Ruhr-Gebiet“, weil es hier einen Fluss gibt.

Und das ist die Ruhr.

Aber „Ruhr-Gebiet“ sagen nur die vornehmen Leute.

Doch wir sind nicht so vornehm.

Wir sagen nicht Ruhr-Gebiet, sondern „Ruhr-Pott“

oder einfach nur „Pott“.

Pott kommt von „Pütt“.

So nennt man das Berg-Werk, in dem die Berg-Leute arbeiten.

Im Pütt ist die Kohle. Ganz tief unter der Erde.

Vornehm ist nichts bei uns im Ruhr-Pott.

Hier sind die Zechen. Dreck und Ruß.

Rauch und Staub.

Blauer Himmel, was ist das?

Unsere Häuser sind schwarz vom Staub der Kohle.

Die Wäsche auf der Leine ist gelb

wie der Rauch aus den Schornsteinen.

Ruß klebt auf den Straßen, an Türen und Wänden.

Und sogar auf dem Weiß-Kohl im Gemüse-Garten.

Bei uns im Pott sagt man statt „arbeiten“: „malochen“.

Das ist nämlich viel härter als nur arbeiten.

Wir sagen auch nicht wie die feinen Leute

„das“ und „was“. Wir sagen „dat“ und „wat“.

Wir strecken auch nicht beim Trinken

den kleinen Finger von der Hand weg.

Und wir essen, weil wir Kohl-Dampf haben.

„Kohl-Dampf“ sagen wir, wenn wir Hunger haben.

Hunger kennen wir noch vom Krieg. Aber jetzt

haben wir nur noch Hunger vom vielen Malochen.

Der Krieg ist zum Glück schon neun Jahre vorbei.

Unser Ruhr-Pott geht von Duisburg bis Dortmund,

und mittendrin liegt Essen.

Genau da wohnt unsere Familie.

Wir, die Familie Lubanski.

Aber wir sind nicht irgendeine Familie.

Wir sind keine normale Familie

mit Vater, Mutter, Kind.

Bei uns fehlt nämlich das Wichtigste: der Mann, der Vater, das Oberhaupt der Familie.

Normal sitzt der Vater beim Essen

immer an derselben Stelle. Am Kopf des Tisches.

Da, wo man den ganzen Raum übersehen kann.

Da, wo man alles im Blick hat.

Da, wo man alles kontrollieren kann.

Da, wo kein anderer sitzen darf.

Nur das Oberhaupt der Familie darf da sitzen.

Und das Oberhaupt ist immer der Vater.

Das Oberhaupt ist immer der Mann.

Bei uns ist das anders:

Bei uns sitzt Benno am Kopf des Tisches.

Benno ist der Älteste von uns drei Kindern.

Benno ist schon 18.

Er ist fast schon fast ein Mann.

Benno lässt sich nicht mehr alles sagen.

Auch nicht von unserer Mutter Christa,

die ihm am Tisch gegenüber sitzt.

Am anderen Ende des Tisches sitzt sie.

Da hätte sich unser Vater Richard

niemals hingesetzt.

Damals, als er noch nicht verschwunden war.

Damals, als Richard noch das Oberhaupt der

Familie war.

Jetzt sitzt sein Sohn Benno auf seinem Platz.

Unsere Schwester Ingrid hört noch auf unsere Mutter.

Obwohl Ingrid auch schon fast 17 ist.

Ingrid ist verdammt hübsch.

Sie sieht überhaupt nicht mehr aus wie ein Kind.

Ingrid Lubanski sieht so klasse aus, dass die Kerle sich nach ihr umdrehen.

Und dann ist da noch der Kleinste: Matthias

Lubanski. Bei allen heißt er nur Matthes.

Mit seinen elf Jahren sieht er die Welt noch mit Kinder- Augen.

Anders als sein Bruder Benno oder seine Schwester

Ingrid. Und ganz anders als seine Mutter Christa.

Matthes hat noch Träume. Matthes liebt Fußball.

Rot-Weiß Essen. Das ist seine Mannschaft.

Bei Rot-Weiß spielt Helmut Rahn.

Für Matthes ist der ein Fußball-Held.

Matthes darf ihm die Tasche mit seinem Sport-Zeug tragen.

Dann, wenn es zum Training geht.

Bei uns in Essen wird Rahn nur „der Boss“ genannt.

Der kann nämlich richtig guten Fußball schießen.

Der ist der Fußball-König vom Ruhr-Pott.

Für Matthes ist Fußball alles! Und wenn Rot-Weiß

Essen verliert, darf keiner von uns eine blöde

Bemerkung machen.

So wie heute beim Abend-Essen:

Mama betet mit uns das Tisch-Gebet,

und wir fangen an zu futtern.

Nur Matthes nicht.

Der reibt mit dem Finger auf dem Tisch herum.

„Matthes, du musst was essen“, sagt Mama.

„Hab keinen Hunger“, flüstert Matthes.

„Rot-Weiß hat verloren.“

Mama lacht: „Die verlieren doch immer.“

Das ist zu viel für Matthes. Er steht auf, geht hinaus.

Hinaus in den kleinen Garten, zum Kaninchen-Stall.

Da krabbelt er hinein und erzählt seinen beiden

Kaninchen von seinem Kummer:

„1: 0. Wir haben verloren. So werden wir nie

deutscher Meister.“

Die beiden Kaninchen, Atze und Blacky,

gehören auch zu unserer Familie.

Für Matthes sind sie wie Seelen-Tröster.

Wenn er traurig ist, kriecht er zu ihnen in den Stall.

Dann futtert er mit ihnen die alten Möhren.

Und wenn er mit ihnen spricht, geht es ihm gleich viel besser.