Über das Buch

Adam ist ein echter Weihnachtsmuffel. Zu dumm, dass in seiner Heimat Eliasborn zum 1. Dezember der Weihnachtswahnsinn ausbricht. Alle Dorfbewohner werden vom ehrgeizigen Bürgermeister zu Weihnachtsstatisten gemacht. Auch Adam wird genötigt, den neuen »Nikolaus« zu geben. Er und sein Freund Ruprecht, der sinnigerweise den »Knecht Ruprecht« spielen soll, bilden gezwungenermaßen ein Team.

Doch der Start der Saison verläuft völlig anders als geplant: Kurz vor Beginn der Feierlichkeiten wird der Pfarrer tot aufgefunden. Jetzt können nur noch die ehrenamtlichen Weihnachtsexperten helfen, das Fest und die Traditionen zu retten.

Über Julia Bruns

Julia Bruns, in einem kleinen Dorf mitten in Thüringen geboren, studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie an der Universität Jena. Nach ihrer Promotion im Fach Politikwissenschaft arbeitete sie viele Jahre als Redenschreiberin und in der Öffentlichkeitsarbeit. Seit 2011 ist sie als freiberufliche Autorin/Ghostwriterin tätig. Julia Bruns lebt mit ihrer Familie, zu der ein Harzer Fuchs gehört, in Thüringen.

Für Marlene Saal,
wo immer Du jetzt auch bist

Der Thüringer Wald hat ein beschissenes Karma, das ist meine Meinung und dazu stehe ich. In der Adventszeit ist es besonders schlimm. Mit Ruprecht brauche ich darüber nicht zu reden. Er findet alles toll, insbesondere Weihnachten. Deswegen steht er auch gerade neben mir und zieht sich seine neue Thermounterwäsche an. Die hat er aus dem Discounter, aber das spielt eigentlich keine Rolle. Denn Ruprecht achtet nicht auf so etwas. Er guckt eher nach Farben, also in diesem Fall. Seine Aufmachung muss perfekt sein, hat er gesagt. Perfekt in Kackbraun, denke ich, sage aber nichts, um ihn nicht zu kränken.

Es ist der erste Dezember und ich stehe in einem weißen Sackkleid mit ziemlich viel Spitze vor dem großen Wandspiegel in Ruprechts Schlafzimmer. Ruprecht verheddert sich derweil mit dem nackten Bein in seiner langen Unterhose. Er sagt, die engen Bündchen seien schuld, nicht etwa seine großen Füße. Zwei halb nackte Männer und ein Bett. Ich gebe zu, das ist seltsam, also zumindest für mich. Ruprecht und ich sind aber nur Freunde. Mehr nicht. Das, was wir hier in seinem Schlafzimmer machen, ist schrecklicher als alles, was ich bisher mit Ruprecht erlebt habe, da bin ich mir sicher. Aber wir wurden dazu gezwungen. Also zumindest bei mir war das so. Ruprecht tut das freiwillig und ist begeistert. Es geht auf Weihnachten zu und wir haben dabei eine tragende Rolle, also Ruprecht und ich. Aber der Reihe nach.

Momentan schwitze ich nur, denn ich kämpfe mit dem Haken und der Öse des Samtumhangs, den ich mir über die Schultern werfen musste. Beides ist rostig und hinterlässt hässliche rotbraune Streifen auf meinen Fingern. Noch dazu sind die Teile so dermaßen verbogen, dass ich sie nachher mit Sicherheit nicht mehr aufbekommen werde. Im schlimmsten Fall muss dann Ruprechts Großvater heute Abend mit der Flex kommen. Beide hätte ich dann direkt vor meinem Gesicht, den halb blinden Greis und den 2000-Watt-Winkelschleifer.

Dennoch muss ich das weiße Spitzenkleid und die rote Stola irgendwann wieder loswerden. Eigentlich kotzt mich der alberne Fummel jetzt schon an. Das Zeug stinkt widerlich, nach nassem Hund und Schweißfüßen. Wieso hat nicht irgendeiner diese Lumpen einmal in die Waschmaschine gesteckt? Dazu war das ganze Jahr Zeit. Sechzig Grad hätten hier Wunder gewirkt, auch gegen das Getier, das hundertprozentig in dem Stoff siedelt. Eine Frau hätte das getan, aber bei Ruprecht und mir gibt es keine. Bei Ruprecht ist das ein Dauerzustand, bei mir eher eine Frage der Saison. Das ist aber nicht der Grund, warum wir in seinem Schlafzimmer abhängen. Garantiert nicht. In meinen Achselhöhlen fängt es an zu jucken. Am Hals krabbelt es auch. Das war’s. Jetzt kriege ich gleich Ekelbläschen auf der Zunge. Das habe ich öfter. Ruprecht sagt, was das angeht, sei ich überempfindlich. So ein Quatsch. Bis zum Abendessen jedenfalls sind die da, todsicher. Damit kann ich die Hirschknackwurst vergessen. Hirsch mit Aphten, das kommt nicht gut. Verdammt.

»Dieses ganze Weihnachtszeugs hat ein beschissenes Karma«, sage ich und merke, wie es in meinem Mund anfängt zu brennen.

»Der Blaschke Bürgermeister hängt das Kostüm ab Totensonntag immer zum Lüften in die Sternrenette in seinem Garten«, sagt Ruprecht, und ich sehe, wie seine Nasenflügel wackeln, während er mich prüfend anschaut. »Nach Kot riechst du aber nicht.«

»Karma riecht nicht«, sage ich säuerlich und kann es nicht fassen, dass Ruprecht wirklich abcheckt, ob ich nach Kacke rieche.

»Na siehst du«, antwortet Ruprecht und steht nun in seinem braunen verschlissenen Mantel dicht neben mir. Der Geruch nach Mottenkugeln steigt mir in die Nase. Ich schaue ihn im Spiegel an und entdecke Dutzende Löcher in seinem Mantel. Auf anderthalb Metern Entfernung. Sauber, denke ich, und muss grinsen. Dann wird mir das zu viel Körper. Ich mache einen Schritt zur Seite. Die elektrische Ladung lässt den Spitzensaum des Kleides an meiner langen Wollunterhose haften, an beiden Beinen. Rechts oberhalb des Knies und links darunter. Was soll das denn? Ich fange an zu hüpfen, erst langsam, dann schnell. Die Spitze ist hartnäckiger als meine Tante Hildegard, wenn sie mir jeden Sonntag ihren grausigen Bananenpudding mit Schokostückchen aufzwingen will. Die Bananen, die sie da reindrückt, sind immer vom Montag, denn nur dann fährt sie zum Einkaufen in die Stadt. Alles, was am Ende der Woche übrig ist, die braunen, matschigen Früchte, landet in der Süßspeise. Beim bloßen Gedanken daran sprießt es in meinem Mund. Wenn das so weitergeht, wird der Platz eng für die Bläschen. Ich hasse Bananen, Nachtisch und Weihnachten. Tante Hildegard rangiert irgendwo dazwischen. Und Eckbert, aber den darf man nicht hassen, der ist tot.

Eckbert, der dieses Kostüm fast fünfzig Jahre lang getragen hat, war nicht nur einen halben Meter kleiner als ich, er hatte definitiv auch keine wollenen Unterhosen dazu an. Bei Eckbert saß das Kleid, wie ein Kleid bei einem Mann sitzen muss. Bei mir hängt es halb schräg auf der Kniescheibe. Ein echter Mann sollte kein Bein zeigen, nicht einmal in einem weißen Kleid, denke ich und zerre die Spitze übers Knie. Wie gesagt, Eckbert war deutlich kleiner, aber Eckbert ist tot.

Nach der Sitzung des Weihnachtskomitees hat es Eckbert auf dem Nachhauseweg dahingerafft. Der Heilige Nikolaus von Myra, also Eckbert, hat mit dem Gesicht im Schnee seinen Rausch ausgeschlafen und ist dabei qualvoll erstickt. Nicht einmal der Bestatter konnte die blaurot erfrorene Nase von Eckbert anständig überschminken. Mit der gruseligen Visage hätte er niemals mehr den Nikolaus geben können, vorausgesetzt natürlich, er hätte es überlebt. Aber Eckbert ist tot und damit war die Rolle des Heiligen Nikolaus vakant. Nicht lange. Genauer gesagt, nur bis Eckberts Sarg in der Erde versenkt war. Dann ist Armin Blaschke, der hiesige Bürgermeister, gekommen, hat sich vor mir aufgebaut und sein Gebiss unter schmatzenden Geräuschen solange im Mund hin- und hergeschoben, bis es einsatzfähig war. Zumindest dachte er das. Denn Blaschkes Gebiss ist so etwas wie ein autoaktiver Schlagring. Jeder, dem der Bürgermeister ein Gespräch aufdrückt, fürchtet, dessen Zähne gleich noch gratis dazuzubekommen. Ruprecht und den anderen vom Weihnachtskomitee ist das schon öfter passiert. Tante Hildegard hat sogar einen fetten Bluterguss auf dem Dekolleté gehabt, nachdem sich einer von Blaschkes Schneidezähnen hineingebohrt hatte. Aber das hat auch damit zu tun, dass sie ein alter zänkischer Drachen ist. Denn wenn man den Bürgermeister in Rage bringt, steigen die Chancen, dass seine Zähne sich selbstständig machen.

»Du bist nun der neue Nikolaus. Versau es nicht!«, hatte der Blaschke genuschelt und mich dabei angesehen, als verkünde er mein Todesurteil. Mir wird heute noch ganz anders, wenn ich daran denke. Auch die Trauergäste haben mich alle angestarrt und gleichmütig genickt. Nur Eckberts Frau hat einen Schreikrampf bekommen. Ich im Kleid von Eckbert, der Gedanke hat die trauernde Witwe wohl in eine noch größere Verzweiflung gestürzt. Oder sie wusste schon, dass mir der Fetzen nicht stehen würde. Frauen ahnen so etwas.

Bis zu Eckberts Beerdigung war alles gut. Vierundvierzig Jahre. So lange lebe ich im Dorf und so lange ist es mir gelungen, mich diesem Weihnachtsquatsch zu entziehen. Und nur, weil Eckbert lieber eine Flasche Gewürz-Bitter als seine Gattin im Arm gehabt hat, soll dieses Glück nun ein Ende haben. Seitdem bin ich nun Nikolaus, warum auch immer der Blaschke Bürgermeister mich ausgesucht hat. Im Dorf jedenfalls bedeutet das was. Ich zähle die Jahre. Maximal dreißig, wenn ich nach meinem Vater komme. Nach meiner Mutter – ach, darüber will ich lieber nicht nachdenken. Nur der Tod erlöst einen hier im tiefsten Wald vom Weihnachtsfluch. Immerhin teile ich mein Schicksal mit Ruprecht. Der spielt den Knecht Ruprecht, wegen des Namens oder so, und er sieht in seinem Kostüm noch bescheuerter aus als ich. Es wird Zeit für die Wahrheit, denke ich und sage: »Ein Perverser im Taufkleid und ein Wichtel in Kacke.«

Es ist alles wie immer. Ruprecht hört nicht zu. Er justiert lieber den Gummizug hinter seinen Ohren und richtet den schwarzen Vollbart, mit dem er eher an einen Taliban als an eine Weihnachtsfigur erinnert.

»Dieser Bart sieht zum Fürchten aus. Meinst du, ich kann wenigstens die Perücke weglassen? Unter dem Kunsthaar kratze ich mich jedes Mal wund und schwitzen tue ich auch wie verrückt«, sagt er. Dabei steht er wie angewurzelt und hält die Zweitfrisur etwa zehn Zentimeter über seinen Kopf, um die Optik zu prüfen. Das sieht total bescheuert aus. Aber noch bescheuerter ist, dass der eigentlich hellblonde Ruprecht nun einen dreißig Zentimeter langen dunklen Kunsthaarbart hat.

»Sieht kein Mensch«, sage ich und frage mich, wie lange ich diesen Blödsinn noch ertragen kann. Es steht eins zu neunundzwanzig, wenn es schlecht läuft. Und das erste Türchen ist noch nicht einmal geöffnet.

Ruprecht hat meinen modischen Einschätzungen noch nie vertraut und bleibt unschlüssig vor dem Spiegel stehen.

»Das fällt doch bestimmt auf.« Er lässt die Perücke immer noch schweben.

»Kaum«, antworte ich.

»Ich bin ganz schön aufgeregt.« Ruprecht packt die Haare nun doch zusammen und schlägt sie sorgsam in Zeitungspapier ein. »Wir wissen ja noch gar nicht, wie wir so als Paar miteinander harmonieren. Die gemeinsamen Jahre mit Eckbert waren sehr nett«, sagt Ruprecht, während er eine passende braune Fellmütze so weit über die Ohren zieht, dass kaum noch seine Augenbrauen darunter hervorgucken. »So könnte es gehen«, befindet er zufrieden, schiebt seine Hand unter das Fell und beginnt, sich ausgiebig zu kratzen.

»Bis zur Silberhochzeit habt ihr es immerhin fast geschafft«, bemerke ich und fummle mir ein Kunsthaar aus dem Mund. Dann kommt mir eine Idee. Wenn ich den langen weißen Bart und die gelockte Plastikperücke an den Koteletten miteinander verbinde und eine Sonnenbrille aufsetze, kann man nichts von meinem Gesicht sehen. Das erspart mir jegliche peinliche Wiedererkennungsszene, bei den Nichteinheimischen natürlich nur. Unsere Leute sind mir egal. Aber die aus den umliegenden Dörfern kommen extra mit einem Bus angefahren. Vorn in der Scheibe liegt dann immer ein großes Schild mit der Aufschrift »Weihnachtsexpress«. Der Busfahrer ist ein Wichtigtuer. Manchmal sind auch ein paar unwissende Städter im Bus. Ob die falsch einsteigen oder tatsächlich zu uns wollen, weiß ich nicht. Letztes Jahr jedenfalls hat die Sonderfahrt eine niedliche Brünette ausgespuckt. Das passiert nicht oft, also, dass uns das Frischfleisch, wie Ruprechts Großvater sagen würde, frei Haus in den Wald geliefert wird. Aber irgendetwas Gutes muss so eine Dorfweihnacht ja auch haben.

Meine Chancen jedenfalls, heute wieder eine abzukriegen, sind mittelmäßig bis schlecht. Da mache ich mir nichts vor. Das alberne Kostüm reißt mich rein. Ich brauche meine Sonnenbrille. Dann geht das auch mit der Mitra. Wenigstens die ist neu. Die alte hat neben Eckbert im Schnee gelegen und ist ebenfalls nicht mehr brauchbar gewesen.

»Seit meinem einundzwanzigsten Geburtstag gebe ich den Knecht Ruprecht. Das weißt du genau«, nörgelt Ruprecht halb beleidigt. »Eckbert war streng, aber ich habe viel von ihm gelernt.« Er greift nach dem Reisigbesen, der neben dem Spiegel lehnt, und ich befürchte kurz, er könnte mir damit eine verpassen. Denn er ist der strenge Ruprecht und ich bin der gute Nikolaus. Ob ich wider meine Natur handeln kann, weiß ich noch nicht. Ruprecht geht in seiner Rolle auf, wobei ich denke, ihm ist bis heute nicht klar, dass er böse sein muss. Egal. Anstatt mich zu schlagen, betrachtet er zufrieden sein Werk.

Ich kann nicht mehr hingucken und grüble lieber über mein Schicksal. Mir war nicht bewusst, dass dieser Rolle ein schauspielerischer Anspruch innewohnt. Außer vier Wochen im Jahr blöd neben dem Weihnachtskomitee zu stehen und hin und wieder ein paar Kinder zu erschrecken, gibt es doch keine inhaltliche Botschaft.

»Nimm das nicht auf die leichte Schulter«, mahnt Ruprecht, als ob er meine Gedanken lesen könnte. »Ich habe es gewusst, wir hätten proben sollen. Auch eine ausführliche Unterweisung in die Weihnachtsbräuche des Thüringer Waldes hätte dir nicht schaden können.« Er schnauft. »Aber ich bin davon ausgegangen, dass Studierte so etwas wissen.«

Ruprecht nennt mich immer so, wenn er sauer ist. Der Studierte. Achteinhalb Semester Germanistik. Na ja, immerhin. Nur der Pfarrer und der Tierarzt haben mich überholt. Ich glaube, die haben sogar einen Abschluss. Aber auch das spielt jetzt keine Rolle. Ich kann die Panik in seinem Blick sehen und frage mich, ob er mich verarschen will. Will er nicht. Denn jetzt schreit er mit schriller Stimme: »Was ist das da an deinen Füßen?«

Ich denke an Ratten oder irgendwelche anderen Nagetiere. Wir sind im Thüringer Wald. Da gibt es jede Menge Natur, auch Vierbeinige. Ich schaue erschrocken an mir herunter und sehe nur meine Füße in meinen Schuhen stecken. »Man nennt es Turnschuhe, glaube ich.«

Ruprecht muss etwas Schlimmeres gesehen haben. Er ist knallrot und hyperventiliert. »Du kannst doch nicht … Nikolaus! Wirklich!«

»Ich heiße Adam und ich trage immer Turnschuhe«, sage ich und befürchte, dass ich spätestens am 6. Januar eine Persönlichkeitsstörung haben werde.

Ruprecht schüttelt energisch den Kopf. »In der Adventszeit nicht, ausgeschlossen.«

Dieser Weihnachtsscheiß macht nur Probleme, denke ich und schleudere meine Chucks in die Ecke. Ruprecht reicht mir mit strenger Miene ein paar schwere Lederstiefel. Wenigstens hatte Eckbert, alias Heiliger Nikolaus, alias Alkofrost, große Füße.

»Jungs, antreten für den Schwachsinn des Jahres.« Ruprechts Großvater steht plötzlich im Zimmer. Er sieht aus wie der junge Heesters, also, als der noch achtzig Jahre alt war. Dass wir beide uns vor dem Spiegel anziehen, scheint ihn nicht zu jucken. Aber Ruprechts Großvater war schon mal in Paris, da hat er bestimmt weitaus Unanständigeres gesehen. Er hält uns eine offene Plätzchendose hin. »Stärkung gefällig?« Der Duft von Lebkuchen übertüncht meinen eigenen Muff. »Die Teile von Marga sind besser als die von der dicken Rosemarie. Dafür kann die besser Kuchen.« Er lächelt verschmitzt aus seinem frisch gestärkten weißen Kragen, zu dem er heute noch ein teures seidenes Halstuch trägt. Ich frage mich, wieso er sich immer so aufbrezeln muss, ausgerechnet heute an diesem scheiß ersten Dezember.

»Wie viele Probierpakete hast du schon abgestaubt?«, frage ich grinsend und denke dabei an die Dutzend vollreifen Schnecken, die Ruprechts Großvater seit Jahren umgarnen. Der Alte hat einen beneidenswerten Schneid bei den Frauen. Im Dorf nennen sie ihn den Schweinebraten-Gigolo, aber Heinrich nimmt auch Konfitüren, eingelegte Gurken, Schlachtwurst, Wildbret und alles andere, was ihm schmeckt und die alleinstehenden Damen jenseits der sechzig vor seiner Haustür abstellen. Bei geschenktem Essen ist der Großvater nicht wählerisch. Im Zweifel hat er ja Ruprecht. Der ist quasi sein Hausschwein. Und was der auch nicht schafft, kriegt Herr Fuchs, also Ruprechts Dackel. Ich weiß, der Name ist für einen Hund bescheuert, aber Ruprecht ist Förster. Deswegen geht das schon.

Jetzt setzt der Großvater einen generösen Blick auf. »Ein Ehrenmann genießt und schweigt.« Er schlägt den Mantelkragen verwegen nach oben und pfeift nach dem Hund.

»Opa!«, sagt Ruprecht vorwurfsvoll.

»In meinem Alter geht alles nur noch über den Magen, Junge«, antwortet der Alte abgeklärt.

In meinem derzeit auch, denke ich und nehme eine Hand voll Pfefferkuchen mit Schokoladenüberzug, deren Krümel mit Sicherheit in den fremden Haarbüscheln in meinem Gesicht hängen bleiben. Aber das ist mir egal. Auch der Heilige Nikolaus darf etwas essen. Jetzt fange ich auch schon so an. Dieser Weihnachtskram macht einen ganz kirre.

Ruprecht reißt die Augen auf. »Du kannst doch jetzt nichts essen. Gleich ist unser erster Auftritt.« Er stemmt die Hände in die Hüften und schüttelt den Kopf. »Also ich kriege keinen Bissen runter.«

»Scheiß Advent«, resümiert der Großvater. »Scheiß Weihnachten.«

Wie wahr. Ich versuche zu fliehen und rutsche beim Laufen in Eckberts Stiefeln hin und her.

Der Großvater mustert mich. »Bei der Armee hatten wir auch solche Unterhosen. Die halten warm. Bei minus zehn Grad ist das was wert. Egal, wie man damit aussieht.« Er zieht seinen Flachmann aus der Innentasche des Mantels und nimmt einen kräftigen Schluck.

Ich raffe das Kleid etwas nach oben und begutachte meine Beine. Sie sehen aus wie immer.

»Opa! Kein Alkohol bevor das erste Türchen nicht geöffnet ist. Das hast du versprochen.« Ruprecht dreht sich nun wie ein zehnjähriges Mädchen im Prinzessinnenkostüm vor dem Spiegel.

»Natürlich, Junge.« Der alte Gmeiner zwinkert mir zu und setzt die Flasche erneut an. »Ansonsten ist das nicht zu ertragen.« Dann parkt er die Plätzchendose auf der Anrichte und kramt in seiner Manteltasche. Schließlich holt er einen I-Pod hervor, nickt mir wieder zu, hebt seine Ohrenschützer kurz an, sodass ich seine Kopfhörer sehe, und lässt das Gerät wieder im Mantel verschwinden. Schlitzohr, denke ich, und beschließe, beim nächsten Mal meinen alten Walkman mitzunehmen.

»Hast du Herrn Fuchs fertig gemacht?«, fragt Ruprecht, und schaut sich suchend um.

Der Großvater nickt im Takt.

»Opa!«

»Wenn Hunde Geweihe tragen sollten, hätte die Natur dafür gesorgt. Alles andere ist Tierquälerei«, sagt der Großvater viel zu laut, was auf die Lautstärke der Musik schließen lässt. »Außerdem ist der Dackel ein Diensthund des Freistaates Thüringen. Quasi ein Beamter. Der sollte sich nicht lächerlich machen.«

»Mach die Dinger aus den Ohren. Der Kindergartenchor singt gleich«, maßregelt Ruprecht, ohne weiter auf seinen Großvater einzugehen.

»Nikolaus und Knecht Ruprecht kommen ohne Rentier«, sage ich ruhig. »Es reicht, wenn wir uns blamieren. Lass Herrn Fuchs seine Ehre als Dackel.«

Ruprecht schaut enttäuscht. »Aber ich wollte mal eine Innovation, nach all den Jahren. Jetzt, nachdem Eckbert nicht mehr ist, können wir doch mal was wagen. Und einen Hund mit Geweih hat niemand hier bei uns.« Er zieht einen Flunsch.

»Ich muss noch mal nach Hause«, sage ich halblaut und hoffe, unauffällig verschwinden zu können. Ruprecht schaut mich an, als wäre er eine Braut, die man vor dem Traualtar stehen gelassen hat.

»Meine Sonnenbrille holen«, ergänze ich und stapfe entschlossen in Richtung Flur. Bloß nicht umdrehen, denke ich. Beim Laufen muss ich meine Zehen verkrampfen, damit mir die ollen Treter nicht von den Füßen fallen. Sauber. Morgen werde ich einen fetten Muskelkater haben. Ich hasse es, meine Muskeln zu spüren. Das kann nämlich nur bedeuten, dass ich etwas getan habe, was ich sonst nicht tue. Zum Beispiel den Nikolaus für eine bescheuerte Dorfweihnacht geben.

»Wie läufst du denn?«, fragt Ruprecht kritisch.

»Wie soll ich schon laufen? Wie immer«, sage ich.

»Unsinn. Das sieht aus, als stampfst du Sauerkraut«, meckert Ruprecht. »Nikolaus ist ein Bischof, ein Heiliger und ein Menschenfreund. Er bringt gute Gaben und auch Segen. Du wirkst eher wie ein besoffener Bauernbursche mit Hühneraugen. Von der farblich unpassenden Unterwäsche mal abgesehen.«

Ich drehe mich nicht um. Ein Gefangener sollte seinen Entführern nicht in die Augen gucken.

»Übrigens, eine Sonnenbrille ist für einen Nikolaus ein No-Go. Außerdem sind wir spät dran«, legt Ruprecht nach. Er betont die englischen Wörter total übertrieben.

Jetzt reicht es mir. »Ja, sind denn alle bekloppt hier?«, schreie ich, wobei ich mich nun doch umgedreht habe. »Ich kann die Unterhose gern ausziehen. Dann geht der Heilige Nikolaus mit nacktem Arsch und wenn es mich packt, reiße ich gleich in aller Öffentlichkeit das stinkende Kleid nach oben! Das wäre mal eine echte Innovation zum ersten Dezember.«

Der Großvater wippt schneller und formt mit den Lippen ein »Highway to Hell«.

Ruprecht knallt seine Rute auf die Dielen und schaut mich fies an. Er weiß nicht, dass das bei ihm eher dämlich als böse aussieht.

»Nikolaus, wenn du mir den wichtigsten Tag des Jahres versaust, sind wir die längste Zeit Freunde gewesen. Das hier ist nicht irgendetwas. Es ist unsere Dorfweihnacht.«

Das Wörtchen »unsere« lässt sich enorm dehnen.

»Ich heiße Adam, verdammt. Adam«, sage ich und nehme mir noch ein Plätzchen.

»Die Engel rechts rum! Hallo, rechts herum, habe ich gesagt! Ja, schieß mir doch einer das Geweih weg, wisst ihr blöden Weiber denn nicht, wo rechts und links ist?«

Der Blaschke Bürgermeister steht auf dem Dorfanger und schreit sich förmlich die Lunge aus dem Leib, wobei ich schon von Weitem sehen kann, wie die Kauleisten bedrohliche Sprünge in seinem Mund machen.

»Das ist doch kein gleichmäßig leuchtender Weihnachtsbaum, Mensch. Welcher Volldepp hat denn die Lampen da dran gebammelt. Das sieht aus, wie aus zweitausend Metern abgeworfen. Das kriegt ja meine Großmutter besser hin.«

Der Blaschke Bürgermeister hat keine Verwandten mehr, außer seiner Frau, aber er glaubt, der Spruch mache Eindruck. Das tut er irgendwie auch, denn Ulf, der Gemeindearbeiter, und dessen Frau Else setzen sogleich zum Sprint auf die vierzig Meter hohe Fichte an. Die Fichte ist das Wahrzeichen von unserem Dorf. Solange ich denken kann, steht sie mitten auf dem Platz. Als Kinder haben Ruprecht und ich immer um die Wette an den Stamm gepinkelt. Wir haben gedacht, davon wächst sie schneller. Der Blaschke Bürgermeister wollte uns dafür jedes Mal verprügeln. Damals gehörten die Zähne noch zu seinem festen Inventar, aber gekriegt hat er uns trotzdem nie.

Die Aluleiter, an der Ulf seine Else hinter sich herzieht, klappert so laut, dass die nächsten Worte des Blaschke Bürgermeisters fast nicht zu verstehen sind. Da er nur nach den Schafen für die Krippe ruft, ist das nicht weiter wild, denn die Tiere müssen die Befehle unserer kommunalen Autorität nicht befolgen. Die Glücklichen. Sie hören einzig und allein auf Hasso, aber der hat bei der lebenden Krippenszene keine Rolle und darf, als einer der wenigen Dorfbewohner, zu Hause bleiben. Ein Deutscher Schäferhund in einem Bethlehemer Stall wurde vom Weihnachtskomitee für politisch unkorrekt erklärt. Schließlich könnte jemand von der Zeitung kommen. Das ist noch nie passiert, aber trotzdem. Hasso hat es gut. Ich beneide ihn.

»Ach, sieht das schon alles toll aus«, ruft Ruprecht begeistert, während er zappelnd neben mir steht. »Schau mal, wie süß sich die Englein hergerichtet haben. Der Goldflitter überall macht echt was her.« Er lächelt glückselig.

Die Engel, das sind die Frauen des Dorfes. Früher, als wir noch keinen demografischen Wandel im Thüringer Wald hatten, durfte die Engelsschar den Altersdurchschnitt von zwanzig Jahren nicht reißen. Da hat der Advent noch Sinn gemacht, vor allem mit den kurzen Röckchen und wenn die Mädels genügend Punsch gebechert hatten. Jetzt aber muss der Blaschke Bürgermeister nehmen, was er kriegt, und wenn es zehn unförmige Weiber in der Menopause sind.

»Gold trägt auf«, kommentiert Ruprechts Großvater lapidar.

Ich kann das nur bestätigen, komme aber nicht dazu, es auszusprechen. Ulf hat in der Hektik Else mit der Leiter umgestoßen und nun liegt seine Frau neben unserem alten Pinkelplatz und wimmert. Ruprecht rennt los, um ihr zu helfen. Ich kann nicht rennen, denn dann verliere ich Eckberts Stiefel. Die Jungfrau Maria ist schneller mit der Wundversorgung. Ich bewege mich mit verkrampften Zehen zu Ulf. Der Bedauernswerte kriegt gerade die Rache von Blaschkes Gebiss zu spüren. Der Großvater nimmt derweil zwei Flaschen selbst gemachten Eierlikör von Anneliese entgegen.

Während Maria an Else herumzerrt und Ruprecht sie bedauert, schreit der Blaschke Bürgermeister in einer Tour deren Mann an. Der hat nun keine Augen mehr für die aufgeschürften Knie seiner Frau, sondern nur noch für die Verlängerungsschnur, die dafür sorgen soll, dass die Fichte nachher festliche Stimmung verbreitet. Irgendetwas stimmt wohl mit der Elektrik nicht und erstaunlicherweise juckt es den Blaschke Bürgermeister nun nicht mehr, ob die Glühbirnen gleichmäßig hängen, Hauptsache, sie leuchten überhaupt.

Die Illumination unseres Wahrzeichens ist immer der Höhepunkt am ersten Dezember. Der Blaschke Bürgermeister zählt dann von zehn runter, wobei er von einem Trommelwirbel begleitet wird. Der ist nicht echt. Denn bei uns im Thüringer Wald gibt es nur Jagdbläser und keine Jagdtrommler. Für den Wirbel müssen die Männer ihre Instrumente ablegen und in die Hände klatschen. Das klingt nicht annähernd nach Trommeln, aber der Blaschke Bürgermeister ist zu geizig, um welche anzuschaffen.

Wenn der Baum dann brennt, wird verlangt, dass die Anwesenden in Begeisterungsrufe ausbrechen. Ich habe zu diesem Zeitpunkt meistens schon drei bis fünf Becher Glühheidi intus und schreie: »Ich bin blind. Ich bin blind.« Das soll ein Witz sein, da der Baum so sehr blendet. Vor zwei Jahren hat sich die Gemeindekrankenschwester auf mich gestürzt, um mein Augenlicht zu retten. Sie war neu bei uns und wusste es nicht besser. Letztes Jahr hat sie mir nur noch einen Vogel gezeigt.

Ab heute bin ich allerdings der Nikolaus und habe ein Glühheidiverbot bis zum sechsten Januar. Das mit der Abstinenz weiß ich aber erst seit vorhin. So ein Weihnachtskomitee sagt einem auch nicht immer gleich alles. Erst, wenn du vor der Glühweinbude stehst, wird dir gesagt, dass du leer ausgehen wirst.

Mittlerweile steht der Kindergartenchor vor dem Pfarrhaus und übt sich in »O Tannenbaum«. Ein paar der Kinder sind aber ziemlich groß, denke ich und schaue Ruprecht fragend an. Dem ist vom Anblick der blutenden Else schlecht geworden, sodass Josef ihm Luft zufächeln muss. Die Jungfrau Maria prüft in der Zwischenzeit mit Ulf die Steckdosen.

»Was stimmt mit unserem Kindergarten nicht?«, frage ich den Blaschke Bürgermeister.

Der reißt den Kopf nach oben und starrt zu den Kindern rüber. Dann höre ich ihn drohend sagen: »Was soll mit denen sein?«

»Zwei von denen haben dieses Jahr Konfirmation. Mindestens drei sind volljährig.« Ich zähle im Geiste alle jene, die ich für jünger halte. »Na ja, die acht Zwerge könnten im Kindergartenalter sein.«

»Ja, soll ich mir den Nachwuchs aus den Rippen schneiden«, brüllt mich der Blaschke Bürgermeister an und rennt davon. »Mit acht Hanseln einen ordentlichen Chor auf die Beine stellen. Was denkt der Kerl denn? So einen behämmerten Nikolaus hatten wir noch nie«, höre ich ihn noch schimpfen.

Eine der Kühe aus der Krippenszene hat sich losgemacht und setzt gerade einen fetten Fladen vor dem Rednerpult ab. Klasse Statement, denke ich, und schlendere hinüber zu dem Jagdbläsersextett, das eigentlich nur noch ein Quintett ist. Albert, die Nummer sechs unter ihnen, liegt neben Eckbert auf dem Friedhof, aber die Jungs geben die Hoffnung auf einen Nachfolger nicht auf, und so lange bestehen sie darauf, ein Sextett zu sein. Es ist eben alles nur eine Frage der richtigen Einstellung. Da die Männer lieber im Wald sind und einen erlegten Hirsch beblasen, sind sie fast so schlecht drauf wie ich. Das steigert eventuell meine Chancen auf einen Kräuterschnaps oder irgendetwas anderes aus den jagdlichen Flachmännern.

»Tag, Männer«, grüße ich freundlich.

»Vergiss es, du bist der Nikolaus«, blafft mich einer von ihnen an. »Von uns kriegst du keinen Schluck. Wir mussten das beim Blaschke Bürgermeister unterschreiben.«

Ich werde wütend. In unserem Dorf leben hundertzweiundfünfzig Menschen. Das weiß ich so genau, weil Ruprecht nicht nur Mitglied im Weihnachtskomitee, sondern auch noch im Gemeinderat ist. Wenn man die Minderjährigen, Bettlägerigen und Schwangeren abzieht, bleiben mindestens noch hundertdreißig Leute übrig. Jeder von denen darf sich im Advent zulöten. Nur ich nicht. Und Ruprecht. Aber der trinkt nicht einmal an seinem Geburtstag. Der Blaschke Bürgermeister ist ein Arschloch. Ich habe es immer gewusst.

»Der Heilige Nikolaus und Knecht Ruprecht möchten sich bitte in der Zone eins einfinden.« Die Stimme der Blaschke Ehefrau piepst durch eine Lautsprecheranlage über den Anger. Ich frage mich, wie man dieses Organ auch noch potenzieren kann, da kommt Ruprecht mit knallrotem Kopf angelaufen.

»Nikolaus, beeil dich. Wir müssen uns in Zone eins aufstellen«, japst er, wobei beim Sprechen ein Teil seines Oberlippenbartes in seinen Mund rutscht. »Es geht in zehn Minuten los.«

Ich frage mich, seit wann unser Dorf Zonen hat. »Wohin?«

Ruprecht hält in seiner Bewegung inne und kneift die Augen zusammen. »Du hast den C-Plan nicht gelesen, sonst wüsstest du es.«

Ich weiß nicht einmal, was ein C-Plan ist, halte aber lieber meine Klappe, nicht, dass Ruprecht gleich total ausflippt. Er flippt trotzdem aus.

»Immer am 1. Juni gibt das Weihnachtskomitee die Regieanweisungen bekannt, schriftlich, an alle Haushalte.« Er bekommt Schnappatmung. »Als verantwortlicher Bürger unserer Gemeinde hast du die Pflicht, das zu lesen. Du bist der Heilige Nikolaus! Du bist ein Vorbild!«

»Gut, dass du mich erinnerst. Ich hatte es gerade erfolgreich verdrängt«, antworte ich. Diese Schreierei geht mir gehörig auf die Nerven. Außerdem fühlt es sich an, als ob auf meinem Rücken die Motten Tango tanzen. Widerlich.

Ruprecht hört mich nicht. Das ist vielleicht auch besser so. »Der Dorfanger ist in fünf Zonen eingeteilt. Nummer eins, das Bürgermeisteramt mit Rednerpult, Nummer zwei, das Pfarrhaus, unser erstes Türchen im lebendigen Adventskalender, Nummer drei, der Chor und die Bläser, Nummer vier, die gastronomische Versorgung, Nummer fünf, die lebensgroße Krippenszene. Wir haben alles genau durchorganisiert, damit auch nichts schiefgehen kann.«

»Letzter Aufruf für den Heiligen Nikolaus und Knecht Ruprecht«, piepst es erneut, nun aber in schärferem Tonfall.

Ruprecht reißt mich am Arm. »Komm jetzt!«

Wenn das Bürgermeisteramt nebst Pult die Zone eins ist, dann sind wir so ungefähr zehn Meter davon entfernt. Ich weiß nicht, wie lange man für eine derartige Strecke unterwegs sein kann, aber trotz meiner zu großen Schuhe würde ich auf maximal zwanzig Sekunden tippen. Ich überlege, es auf die Spitze zu treiben und noch in aller Ruhe meinen Umhang zu richten, aber Ruprecht ist schon verschwunden. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als ihm nachzugehen. Die Frage, wieso es für diesen Blödsinn einen C-Plan geben muss, stelle ich mir lieber nicht. Dann könnte ich mich auch gleich fragen, wer Hasso illegalerweise eingeschleust und ihm ein Geweih auf den Kopf gesetzt hat.

Die Rede vom Blaschke Bürgermeister dauert eine gute halbe Stunde. Mir war gar nicht klar, was man über die Weihnachtszeit in unserem Dorf alles sagen kann. Aber der Blaschke hat richtig auf den Schlamm gehauen. Seinen Worten nach stammen alle Weihnachtsbräuche aus dem Thüringer Wald, genauer gesagt, aus unserem Dorf. Ich bin nicht naiv und weiß sehr wohl, dass Politiker immer gern etwas übertreiben. Aber dass der hiesige Tischlermeister Funke den Schwibbogen erfunden und in nächtelanger Heimarbeit hergestellt haben soll, ist selbst mir zu fett. Als Kind war mir der Funke unheimlich. Eigentlich nicht er, sondern seine Finger. Die waren nämlich an der rechten Hand nach dem Prinzip Ein-Finger-kein-Finger angeordnet. Tante Hildegard hatte mir damals einzureden versucht, dass diese Verluste vom Befummeln der Frauen kämen. Sie ist schuld, dass sich mein erstes Mal um knappe vier Wochen verzögert hat. Cindy fand das nämlich nicht so toll, dass ich alle paar Minuten meine Finger nachgezählt habe. Noch bevor ich loslegen konnte, hat sie mich als Perversen beschimpft und ist abgehauen. Und bis ich Nicole dann so weit hatte, sind eben ein paar Wochen vergangen. Die beiden sind übrigens lange weggezogen. Nicht meinetwegen, aber das ist Geschichte.

Wo der Funke Tischler seine Finger überall hatte, weiß ich nicht genau. In jedem Fall in der Kreissäge. So viel steht schon mal fest. Seitdem ist der alte Pfuscher noch grobmotorischer und meistens so besoffen, dass er unmöglich Tannenzweige und Morgensterne aus Sperrholzplatten schnitzen kann. Was die im Erzgebirge zu unserer Erfindung sagen, sei auch dahingestellt. Aber keiner der Dörfler hat widersprochen, im Gegenteil, geklatscht und gejubelt haben sie, diese Idioten. Außer die Gattin von Eckbert, die hat die ganze Zeit nur geheult und mich dabei total komisch angesehen.

Nachdem der Blaschke Bürgermeister den ganzen feierlichen Sabbel auf uns herniedergelassen hat, wobei man ihm zugutehalten muss, dass er die Zähne am Mann behalten hat, hat der Kindergartenchor aus Pubertierenden »O Tannenbaum«, »Leise rieselt der Schnee« und »Ihr Kinderlein kommet« gesungen. Die Lieder finde ich für unser Dorf nicht einmal unpassend, quasi als Mantra. Schließlich haben wir viel weniger Schnee als früher und Kinder auch nicht mehr so viele. Die Bälger hätten nur vorher vielleicht mal etwas üben sollen. Auch den Text zu kennen, könnte nicht schaden. Aber was beschwere ich mich. Ich, die zweitwichtigste Figur nach dem Blaschke Bürgermeister, habe die ganze Zeit neben Knecht Ruprecht gestanden und geatmet. Weiter nichts. Wie die Models bei der Formel Eins, die dürfen auch nicht reden, nur geil aussehen.

Irgendwann gibt der Chor endlich Ruhe und die Bläser dürfen ran. Die Kerle sind jedoch schon so hacke, dass die Töne, wenn sie denn kommen, nur noch schief klingen. Zu allem Überfluss sind denen auch noch zwei Stücke durchgerutscht. Das habe ich dem Fluchen des Blaschke Bürgermeisters entnommen, den C-Plan habe ich ja nicht gelesen. Wir befinden uns also nun in einer etwas längeren Zwangspause und Ruprecht drückt nach wie vor ein paar Tränen ab. Die Feierlichkeit ist aber auch kaum erträglich, vor allem nüchtern. Ich sehe, wie Ruprechts Großvater zwei prall gefüllte Taschen im Bushaltestellenhäuschen abstellt.

»Kommen wir nun zum großen Moment«, beschwört der Blaschke Bürgermeister sein Wahlvolk. »Endlich!«

»Das erste Türchen«, kreischt eine der Engelsdamen.

Der Blaschke Bürgermeister macht eine Pause, für die Dramatik oder so, und nickt nur gebieterisch. Ich hoffe, Ruprecht hört nicht vor Spannung auf zu atmen. Die Jagdbläser beginnen zu trommeln.

Nichts passiert. Alle schauen auf das Pfarrhaus. Dem Pfarrer gebührt die Ehre, das erste Türchen zu öffnen. Eigentlich ist es kein Türchen. Unmöglich, dass der Kerl vier Wochen lang seine Haustür offen stehen lässt. Nachher verirrt sich noch jemand zu dem. Das wäre unserem Seelsorger sicher unangenehm. Der Kerl hat eine ausgeprägte Soziophobie. Warum sonst wollte er freiwillig zu uns in den Wald?

Nun gut. Das mit dem Türchen jedenfalls ist symbolisch gemeint. Der Blaschke Bürgermeister nennt das einen lebendigen Adventskalender. Vierundzwanzig Häuser im Dorf machen mit. Eigentlich. Bei uns sind es fünfundzwanzig. Alfred Recknagel befindet sich mit seinem Haus im politischen Widerstand gegen den Blaschke Bürgermeister. Schon fünf Mal ist er bei der Wahl gegen ihn angetreten. Aber Alfred kriegt nicht einmal die Stimme seiner eigenen Frau. Deswegen hat er vor ein paar Jahren seine Strategie geändert und versucht es jetzt mit Zersetzung des Gegners. Alfred sabotiert unsere Dorfweihnacht in der Hoffnung, der Blaschke Bürgermeister bekommt einen Herzinfarkt. Bis jetzt ist diese Taktik nicht aufgegangen. Aber Alfred ist zäh. In jedem Fall ist das Pfarrhaus immer das erste Türchen. Dabei handelt es sich um einen großen über der Haustür hängenden Herrnhuter Stern, übrigens auch eine Erfindung von uns, zumindest habe ich das vorhin so verstanden. Der Herrnhuter jedenfalls leuchtet dann für vier Wochen. Die Kirche zahlt den Strom. Unser Blaschke Bürgermeister ist eben ein Stratege.

Der Blaschke Bürgermeister gibt den Bläsern ein Zeichen. »Noch mal! Lauter!«

Die trommeln wie verrückt.

Der Pfarrer lässt sich nicht blicken. Der Stern bleibt dunkel.

Der hat sich vier Wochen in die Karibik abgesetzt oder Alfred hat die Glühbirne herausgeschraubt, denke ich und freue mich über diesen Fauxpas. Das bringt Stimmung ins Dorf.

Ruprecht atmet jetzt wirklich nicht mehr. »Das ist ein schlechtes Omen«, haucht er mehrfach. »Außerdem stimmt die Choreografie nicht. Der Baum hätte zuerst brennen müssen. Es ist die falsche Reihenfolge, erst der Baum und dann das Türchen. O je.«

Ich zucke mit den Schultern. »Scheißegal, ob Baum oder Stern.«

Ruprechts strafender Blick trifft mich. Ich halte das aus. Ich kenne ihn seit dem Kindergarten.

Der Blaschke Bürgermeister scheint nichts von der falschen Reihenfolge mitzubekommen. Er kocht vor Wut und beschließt, dieser Peinlichkeit ein Ende zu setzen. Sein Marsch zum Pfarrhaus gleicht dem Gang zu einer Hinrichtungsstätte. Der Blaschke Bürgermeister ist dabei der Henker und der Pfarrer kann sich warm anziehen. Er wirft sich mit seiner ganzen Schwungmasse gegen die Tür und verschwindet im Haus. Ich behalte den Stern im Auge und hoffe insgeheim auf eine Massenschlägerei. Stattdessen tut sich eine Weile nichts. Dann ertönt ein Schrei. Ein entsetzlicher Schrei. Schließlich reißt der Blaschke Bürgermeister eines der Fenster im Obergeschoss auf und starrt uns kalkweiß an.

»Der Pfarrer ist abgenibbelt«, plärrt er über den Dorfanger. Die Zähne fliegen in hohem Boden in den Vorgarten. Die Jagdbläser beginnen wieder zu trommeln.

Marlies ist nett. Und ein wenig drall. Also ganz so, wie der Opa es gern mag. Seit einer geschlagenen Stunde sitze ich nun bei ihr in der Küche und probiere mich durch alles, was sie in der letzten Zeit gebacken hat. Der Opa weiß nichts davon. Ich will ihn nicht da hineinziehen und außerdem glaube ich, dass er meine verdeckten Ermittlungen nur stören würde. Nicht aus Boshaftigkeit, eher dadurch, dass er mir die potenziellen Zeuginnen jenseits der sechzig allein durch seine Anwesenheit ganz wuschig macht. Das brauche ich nicht. Für mich, einen Dreiviertel-Germanisten, ist die Arbeit der Polizei schon Herausforderung genug.

Nachdem ich mit dem dritten Stück Stollen durch bin, klopft Marlies mir auf die Schulter und sagt: »Nun ist es Zeit für etwas Herzhaftes, Nikolaus.« Ich kann nicht verhehlen, dass ich darauf spekuliert habe. Nach dem Wildschweinbraten des Pfarrers weiß ich, wozu Marlies fähig ist. Und sie übertrifft sich noch. Es gibt Sauerkraut, Hefeklöße und gekochtes Kassler. Das habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr gegessen. Ich glaube, ich könnte mich in Marlies verlieben. Nach dem dritten Bier wird das immer wahrscheinlicher.

»Der schöne Heinrich kommt auch gern her«, sagt Marlies und zwinkert mir verwegen zu, während sie mir eine zweite Portion auftut.

Das ist ein Liebesnest, denke ich, und der Opa ist der Auserwählte. Wie ich gerade so zwischen Freude für den alten Knaben und einem Anflug von peinlicher Berührung schwanke, geht die Küchentür auf und ein grauhaariger Mann in Strickjacke und Hausschuhen schlurft herein. Mir bleibt fast ein Stück Hefekloß im Hals stecken. Dabei weiß ich nicht einmal, bei was man Marlies und mich erwischt haben könnte? Beim Essen?

»Das ist Franz, mein Mann«, sagt Marlies und lächelt dabei zufrieden.

Franz grüßt knurrig, geht zum Kühlschrank und verlässt mit einem Bier den Raum. Er scheint den Anblick von fremden, essenden Männern in seiner Küche gewohnt zu sein, auch mein Kostüm hat ihn offenkundig nicht im Geringsten irritiert. Die dreißig Jahre Altersunterschied zwischen seiner Frau und mir auch nicht. Nun gut, bei der Nahrungsaufnahme spielen die ja auch keine Rolle.

»Franz ist sehr tolerant«, sagt Marlies und schält nun Kartoffeln.

Swingerclub mal anders, denke ich. All you can eat. Nichts muss, alles kann. Mahlzeit! Ich setze das Bier an und noch bevor die Flasche leer ist, hat Marlies mir ein neues hingestellt. Eine Traumfrau.

Der Alkohol steigt mir so langsam zu Kopf, kein Wunder, ich bin seit dem ersten Türchen fast abstinent, und muss mich darauf konzentrieren, was ich eigentlich von Marlies wollte. Ach so, der Pfarrer.

»Kochen Sie eigentlich für alle Männer im Dorf?«, frage ich und ertappe mich im gleichen Moment dabei, dass das etwas zu plump gewesen sein könnte. Hoffentlich ist Marlies jetzt nicht beleidigt, weil sie denkt, ich halte sie für beliebig.

Ist sie nicht. Im Gegenteil. »Nur für die, die mir gefallen«, sagt sie und wieder kann ich ihre dritten Zähne sehen, was bei einem lasziven Lächeln zugegeben etwas irritierend wirkt. Aber die Geschmäcker sind glücklicherweise verschieden.

»Der Pfarrer war ja auch ein ansehnlicher Kerl und charmant konnte der sein«, fahre ich fort. Dieser Satz geht mir erstaunlich leicht über die Lippen. Die Promilleanzahl ist offensichtlich hoch genug.

Marlies’ Mimik nach zu urteilen sieht sie das etwas anders. Dennoch bemüht sie sich erkennbar, ihre Meinung nicht allzu deutlich werden zu lassen. »Man soll über Tote nicht schlecht reden.« Sie senkt den Kopf und lässt eine Kartoffel in einen großen Topf mit Wasser gleiten. »Morgen gibt es Thüringer Klöße«, fügt sie noch an und zeitgleich hellen sich ihre Züge wieder auf.

»Die haben bei dem Wildschweinbraten für den Pfarrer am Sonntag aber gefehlt«, erwidere ich kauend. Das Sauerkraut ist aber auch wirklich erste Sahne.

Marlies fühlt sich ertappt. »Das war lediglich ein Dienst für das Weihnachtskomitee und eine Anordnung des Blaschke Bürgermeister«, sagt sie mit beleidigtem Unterton und ich kann sehen, wie sie immer wieder verstohlen auf meinen noch halb vollen Teller blickt, als gönne sie mir plötzlich das Essen nicht mehr. Ich beeile mich und spachtle, was das Zeug hält. Sie zu fragen, ob sie mir die Reste einpackt, kommt ja nunmehr kaum noch infrage. Leider. Erstaunlicherweise fragt sie mich auch nicht, woher ich das weiß. Aber das scheint Nebensache zu sein, denn sie legt nach und das klingt verdammt nach Rechtfertigung.

»In einem so kleinen Dorf muss man zusammenhalten, erst recht, wenn es um Weihnachten und unsere Traditionen geht. Für mich war das ja kein großes Aufheben, ich bin am Sonntag nur eine Stunde eher aufgestanden«, fährt sie fort und fuchtelt dabei mit ihrer Hand, als wäre das kein besonderes Opfer. »Abgesehen davon hätte dieser Mensch ja auch Brot dazu essen können. Das ist ja auch mal nicht schlecht.«

»Das verstehe ich gut mit den Traditionen«, antworte ich und verschaffe mir so noch etwas Zeit für den zweiten Kloß.

»Der Blaschke hat gesagt, der Pfarrer solle am ersten Dezember etwas Ordentliches essen. Von Beilagen war keine Rede gewesen. Es ging nur darum, dass er niemanden mehr zum Kochen hat. Mal abgesehen davon, dass man das, was die Pfarrersfrau da zusammengerührt hat, kaum Kochen nennen konnte. Der Pfarrer wird sich möglicherweise daran gewöhnt haben. Aber ein Genuss …« Sie winkt ab. »Für die meisten alleinstehenden Männer ist das mit den gesunden Mahlzeiten ein echtes Problem. Eine Waschmaschine zu bedienen ist nicht schwer, da stehen ja alle Programme dran. Aber mit einem Stück Fleisch oder einem Sack Kartoffeln geht das nicht. Kein Wunder, dass alle Männer ohne Frauen unzufrieden und fett werden. Diese Fertiggerichte sind nichts Reelles. Ein Mann braucht etwas Handfestes.« Um das zu unterstreichen, haut sie mit ihrer Faust ordentlich auf den Tisch.

Ich verkneife es mir, an mir herunterzuschauen. Ein Spitzenkleid, noch dazu in Weiß, wirkt sich nicht gerade vorteilhaft auf die Figur aus. Marlies könnte da was fehlinterpretieren. Dass ich unzufrieden bin, kann ich auch nicht wirklich von mir sagen. Ich komme zurecht, mit den Pizzen, den Pornos und so.

Wie Marlies so weiter vor sich hin plappert, bemerke ich, wie die Sätze bei mir nur so durchrauschen und ich ins Grübeln komme. Der Blaschke Bürgermeister hat für Marlies eine Anordnung ausgesprochen. Das passt, der Blaschke war schon immer ein Despot. Sie erledigt alles brav und bringt dem Pfarrer am Sonntag das Schwein, definitiv spätestens irgendwann um die Mittagszeit. Marlies gehört zu den Frauen der alten Schule, die essen vor eins. Ganz klar. Sie geht zum Pfarrhaus, klingelt, und da der Pfarrer gegen einen leckeren Wildschweinbraten nichts einzuwenden hat, lässt er sie möglicherweise sogar rein. Treffer. Aber so weit war ich heute Mittag schon. Mensch, Nikolaus, scheiße, Adam, konzentrier dich. Genau.

»Da Sie mit dem Pfarrer nicht so konnten, war das eine echte gute Tat von Ihnen, also das mit dem Braten«, sage ich. »Das hätte nicht jede Frau gemacht.«

»Wie gesagt, der Blaschke hat es angeordnet«, antwortet Marlies schnippisch. »Und wir alle müssen ja früher oder später mal ans Fegefeuer denken und vorbauen.«

Fegefeuer? Alles klar. Ich sollte auf alkoholfrei umsteigen.

»Ich hätte es trotzdem nicht gemacht. Der Pfarrer war nicht mein Fall, menschlich gesehen«, bohre ich weiter.

Schweigen. Irgendetwas liegt in der Luft, das kann ich spüren. Das Blümchendekor auf meinem Teller ist schon sichtbar. Der Verlust, wenn Marlies mich gleich rauswirft, wäre verkraftbar. Ich wage trotzdem nicht, sie anzusehen, und kämpfe mit meinem Besteck.

Die Schüssel mit den Kartoffelschalen knallt direkt vor mir auf den Tisch. Ich zucke zusammen. Marlies springt auf. Ich halte unwillkürlich Ausschau nach ihrem Kartoffelmesser. Ich kann es nicht sehen. Sie muss es in der Hand haben. Ich bin der Nikolaus, will ich schreien, dem darf man nichts tun. Was für eine Schnapsidee. Wenn bei uns sogar echte Pfarrer ins Jenseits befördert werden, wen interessiert dann eine verlauste Heiligenattrappe? Hätte ich mich nur nie auf diesen Unsinn eingelassen. Knecht Ruprecht ist schuld, wenn der Nikolaus gleich von einer Seniorin massakriert wird. Die Nachricht in der Zeitung will ich nicht lesen. Hauptsache, die bringen das ohne Bild. Das wird eher eine Lachnummer als ein Nachruf.