Über das Buch

»Den Kampf gegen die Ungleichheit kann man nicht allein führen.« Naika Foroutan und Jana Hensel.

In diesem Buch diskutieren zwei der profiliertesten Frauen ihres Faches über Deutschland seit der Wiedervereinigung: die Migrationsforscherin Naika Foroutan und die Journalistin und Ostdeutschland-Expertin Jana Hensel. Ihre lebendige und kontroverse Auseinandersetzung macht klar: Migrantische und ostdeutsche Perspektiven werden oft vergessen oder an den Rand gedrängt. Wer aber Deutschland und seine plurale Gegenwart verstehen will, muss die Erfahrungen, Prägungen und Erzählungen der Anderen kennen.

»Naika Foroutan betrachtet Deutschland aus migrantischer Perspektive, ich mit dem Blick einer Ostdeutschen. Herausgekommen ist dabei ein Buch für die Westdeutschen.« JANA HENSEL

»Wiedervereinigung, Migrationsabwehr, Integrationsphantasien und das Scheitern daran – Jana Hensel und ich versuchen, Deutschland zeitdiagnostisch neu zu erzählen.« NAIKA FOROUTAN

Über Naika Foroutan & Jana Hensel

Naika Foroutan, geboren 1971, ist Sozialwissenschaftlerin und Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie leitet dort das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Sie ist zudem Vorstandsmitglied des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Für ihr öffentliches Eingreifen in die »Sarrazin-Debatte« wurde sie mit dem Berliner Integrationspreis ausgezeichnet und für ihre wissenschaftliche Arbeit erhielt sie u.a. den Fritz-Behrens-Preis für exzellente Forschung.

Jana Hensel, geboren 1976 in Leipzig, wurde 2002 mit ihrem Porträt einer jungen ostdeutschen Generation »Zonenkinder« schlagartig bekannt. Seither arbeitet sie als Journalistin. 2017 erschien ihr Roman »Keinland« und 2018 gemeinsam mit Wolfgang Engler »Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein« im Aufbau Verlag. Das Buch stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. 2019 wurde Jana Hensel als »Kulturjournalistin des Jahres« ausgezeichnet. Sie ist Autorin von ZEIT Online und DIE ZEIT im Osten.

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Naika Foroutan
Jana Hensel

Die Gesellschaft der Anderen

Mitarbeit
Maike Nedo

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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1 – Das Jahr 2020

2 – Die Gesellschaft der Anderen

3 – Ost-Migrantische Analogien

4 – Die Neunziger

5 – In der neuen Hauptstadt

6 – 20 Jahre Wiedervereinigung

7 – Mütter, Väter, Revolutionen

8 – Einigkeit, Freiheit und das Recht auf Gleichheit

Anmerkungen

Literatur

Impressum

1
Das Jahr 2020

Über den Anschlag von Hanau und wie die AfD in Thüringen kurzzeitig einen Ministerpräsidenten ins Amt brachte

Naika Foroutan: Hanau ist kein Ereignis, in dem irgendetwas kulminiert, sondern eines, das sich einschreibt in ein Kontinuum.

Jana Hensel: Thüringen und Hanau sind Krisen, an denen man sehen kann, dass die Mehrheitsgesellschaft sich das Recht herausgenommen hat, entscheidende Entwicklungen über Jahrzehnte zu ignorieren.

JH: Ich habe Sie einen Tag nach dem Attentat von Hanau angerufen. Wir kannten uns zu diesem Zeitpunkt schon eine Weile. Ich hatte ein Interview mit Ihnen über Ihre Studie zu ostdeutsch-migrantischen Analogien geführt und ein paar Wochen später stellten wir dann fest, dass es lohnenswert sein könnte, sich einmal ausführlicher der Frage zuzuwenden, ob und wie sich Deutschland aus ostdeutscher und migrantischer Perspektive erzählen ließe. Dieser Gedanke hat uns nun für dieses Buch zusammengeführt. Als ich Sie am 20. Februar 2020 anrief, ging es mir aber in erster Linie darum, zu erfahren, wie es Ihnen nach den rassistischen Morden an acht Männern und einer Frau ging.

NF: Ich erinnere mich genau an unser Telefonat. Das war eine sehr solidarische Geste von Ihnen. Natürlich ist es so, dass man sich nach einer solchen Tat in einem emotionalen Ausnahmezustand befindet. Auch wenn es niemanden in den migrantischen Communitys überrascht hat, dass diese Morde geschehen konnten. Sie sind vorher geschehen und werden sicherlich wieder geschehen. Die Toten von Hanau stehen in einer langen Liste von in Deutschland durch rassistischen Terror Ermordeten.

JH: Es ist in den vergangenen Jahren immer mehr zu einem Zeichen des Protests, Respekts und Anstands geworden, die Namen der Opfer von rassistischen Gewalttaten zu nennen: In Hanau endete das Leben von Gökhan Gültekin, 37 Jahre, seine Freunde nannten ihn Gogo; Sedat Gürbüz, Besitzer der Shisha-Bar »Midnight«, 30 Jahre; Said Nesar Hashemi, angehender Maschinen- und Anlagenführer, 22 Jahre; Mercedes Kierpacz, 35 Jahre, die in der »Arena Bar« gearbeitet hat und Mutter zweier Kinder, darunter eine dreijährige Tochter, war; Hamza Kurtović, 20 Jahre, der gerade seine Ausbildung abgeschlossen hatte, Vili Viorel Păun, 23 Jahre, der bei einer Kurierfirma gearbeitet hat; Fatih Saraçoğlu, Kammerjäger und Schädlingsbekämpfer, 34 Jahre; Ferhat Unvar, 22 Jahre, der gerade im Begriff war, seine eigene Heizungsinstallationsfirma zu gründen und Kaloyan Velkov, 33 Jahre, Vater eines siebenjährigen Sohnes. – Ihren Worten entnehme ich, dass Sie noch immer tief getroffen sind, obwohl Ihnen, wie Sie ja selbst sagen, ein solcher Anschlag zu keinem Zeitpunkt unwahrscheinlich erschienen ist.

NF: Ich habe immer gehofft, dass Deutschland irgendwann aufhören würde, ein Land zu sein, in dem Menschen, die aussehen wie die Ermordeten, die Namen oder einen Glauben haben wie sie, Angst haben müssen. Davon sind wir weit entfernt. Man kann natürlich Momente herauspicken, die, sagen wir, in den letzten 30 Jahren besonders bedrückend waren, wie Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen, die Keupstrasse in Köln, Nürnberg, Hamburg, München, Kassel, wo der NSU mordete, Halle, aber das Schlimme ist: Sie addieren sich zu einer subkutanen Grundahnung, die sich Jahr für Jahr negativ verfestigt. Immer stärker. Insofern ist Hanau kein Ereignis, in dem irgendetwas kulminiert, sondern eines, das sich einschreibt in ein Kontinuum.

JH: Wie und wann hat Sie die Nachricht des Anschlags erreicht?

NF: Am späten Abend des 19. Februar habe ich die Nachricht auf einem Newsticker gelesen und zunächst gedacht, zwei verfeindete Clans hätten sich in der Innenstadt von Hanau bekämpft. So wird es vielleicht nicht nur mir gegangen sein, denn seit geraumer Zeit gibt es eine starke mediale Aufmerksamkeit für die Clan-Kriminalität in Deutschland. In diesem Zusammenhang werden auch immer wieder Bilder von Shisha-Bars gezeigt. Dieses Framing, also der Rahmen, in dem Bilder platziert werden, wirkt über die Zeit nach und bildet, wie der französische Philosoph Michel Foucault sagt, eine »Archäologie des Wissens«. Demnach entsteht durch das Sammeln und Verwerten von Informationen ein großes Reservoir an Bildern, das sich zu einem jederzeit abrufbaren Wissen verbindet. Offensichtlich gab es das in meinem Kopf auch und ich habe es im ersten Moment falsch abgerufen. Denn unser Wissen muss nicht richtig sein, um eine Wirklichkeit zu konstruieren.

JH: Und wann wussten Sie, was tatsächlich passiert war?

NF: Am nächsten Morgen. Im Laufe der Nacht stellte sich heraus, dass es sich um einen rassistischen Anschlag handeln könnte. Generalbundesanwalt Peter Frank hatte die Ermittlungen übernommen. In den Medien wurden die ersten Bilder gezeigt. Ich konnte diejenigen sehen, die um die Opfer trauerten, und mir wurde klar: das ist ein mir zumindest emotional vertrautes Milieu.

JH: Was meinen Sie mit vertraut?

NF: Allein die Shisha-Bars, die immer wieder gezeigt wurden: »Midnight« und »Arena Bar & Café« mit dem angeschlossenen »24/7 Kiosk«. Das Ambiente ist typisch für westdeutsche Innenstädte. Und die Namen der Orte auch. Dort gehen normale Leute hin und das sind in westdeutschen Innenstädten heute zum großen Teil Migranten. Das sind nicht meine Orte, ich bin zu alt dafür, aber mein Sohn, jüngere Verwandte, Freunde und Bekannte verbringen dort manchmal ihre Freizeit. Tatsächlich hat sich in den Shisha-Bars seit einiger Zeit einer Art Gegenkultur etabliert, weil migrantische Jugendliche an den Clubs immer noch häufig abgewiesen werden. Sie kommen nicht durch die Tür. Die Security weist sie ab, weil sie die falsche Haut- oder Haarfarbe haben oder den falschen Style, und damit ein Verhalten assoziiert wird, das in den Clubs unerwünscht ist.

JH: Die Berliner Journalistin Şeyda Kurt hat auf Twitter am Tag nach dem Anschlag Shisha-Bars als Zufluchtsort und Safe-Spaces für rassifizierte Menschen bezeichnet.

NF: Gleichzeitig sind es ganz normale Orte, einige Hundert allein in Hessen. Menschen, die aussehen wie Migranten, stellt sich dort nicht die Frage, komme ich rein oder nicht, sie haben immer Zugang. Da steckt auch kein Exzeptionalismus dahinter. Es geht ihnen nicht darum, dort eine Art Parallelwelt aufzubauen. Dass gerade diese Orte in Hanau angegriffen wurden, hat auch etwas damit zu tun, dass sie so stark kriminalisiert worden sind. Erst kommt die Kriminalisierung und dann der Moment, in dem Kriminalisierung ins kollektive Bewusstsein einsickert und viele Menschen Shisha-Bars tatsächlich vor allem mit Drogen, Clans und Mafia in Verbindung bringen, bewusst oder unbewusst, so, wie auch ich es zunächst tat. Niemand ist von diesem Framing befreit. Die Kriminalisierung von Orten und sozialen Gruppen ist ein Prozess, der ungeheuer schnell greift. Der Mechanismus, der dahinterliegt, heißt Versicherheitlichung, und bedeutet, dass alles durch die Brille der Herstellung von Sicherheit gesehen und dadurch als potenziell kriminell geframed wird.1 Wenn durch Praktiken wie Racial Profiling, also Personenkontrollen auf Basis von bestimmten Haut- oder Haarfarben oder Razzien an bestimmten Orten, das Gefühl eines unsicheren Ortes, eines kriminellen Umfeldes geschaffen wird und man das wiederum mit Migration in Verbindung bringt, erscheint Migration als Sicherheitsproblem. Auf Shisha-Bars trifft das in hohem Maße zu. Bei vielen Razzien wurde dort tatsächlich unversteuerter Tabak gefunden. Das ist nicht legal, ganz klar. Fitness-Center, in denen mit Amphetaminen gehandelt wird, oder Techno Clubs, in denen Drogenkonsum auch nicht gerade unüblich ist, werden aber im Gedächtnis nicht als kriminelle Milieus gerahmt. Unversteuerten Tabak zu verkaufen ist Steuerhinterziehung und ein Straftatbestand. Aber in der Wahrnehmung vieler Menschen ist Steuerhinterziehung, wenn es Deutsche wie Uli Hoeneß machen und sogar dafür ins Gefängnis müssen, irgendwie ein Kavaliersdelikt, sie bleiben nicht als Verbrecher in Erinnerung. Shisha-Bars und ihr Publikum hingegen werden latent kriminalisiert.

JH: Die Genealogie vieler Anschläge ist mit Orten verbunden, die zuvor als ›fremd‹ markiert wurden und von denen wir wissen, dass sie entweder von Menschen, die migrantisch gelesen werden oder jüdisch sind, frequentiert werden oder in ihrem Besitz sind. Denken wir nur an die Morde des NSU oder den Anschlag im Oktober 2019 in Halle, als der Attentäter, nachdem die Tür der Synagoge zum Glück verschlossen blieb, zum naheliegenden Döner-Imbiss ging, um dort zu morden.

NF: Allein im Jahr 2018 wurden 1799 antisemitische Taten registriert, davon waren laut Bundeskriminalamt 1603 rechtsextrem motiviert. Für das Jahr 2019 geht die Bundesregierung von 184 Fällen islamfeindlich motivierter Angriffe auf Moscheen, muslimische Religionsstätten und religiöse Repräsentanten aus. Das bedeutet, jeden Tag gibt es mehr als vier antisemitische Straftaten in Deutschland und jeden zweiten Tag einen islamfeindlichen Angriff.2 In Hanau standen Freizeitorte im Visier. Das Ziel dahinter ist: Einerseits weiß der Mörder, dass er die Menschen, die er zu töten plant, an diesen Orten konzentriert antrifft. Zum anderen gelingt es ihm auf diese Weise, ein Gefühl der Angst in die Normalität zu säen. Sie sagten es gerade, auch der Attentäter von Halle ging nach dem missglückten Anschlag auf die Synagoge zu einem Döner-Imbiss. Wir kennen diese Angriffe auf die Normalität vom islamistischen Terror. Dort geht es auch darum, die Alltagswelt anzugreifen – den Supermarkt, das Café, den Bahnhof – und so Verunsicherung und Angst in die Bevölkerung zu tragen. Langfristiges Ziel ist dabei immer, soziale Gruppen gegeneinander aufzustacheln und das gesellschaftliche Klima zu vergiften, um eine weitere Entfremdung sowie eine Art emotionalen Bürgerkrieg zu erreichen. Nach diesem Muster kann Hanau auch gelesen werden. Fundamentalismen ähneln sich eben.

JH: Ja, das ist sehr gut beschrieben. Es wäre einmal zu fragen, ob sich das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zu solchen Orten durch terroristische Anschläge verändert, schließlich geht man ja an Synagogen öfter einmal vorbei oder kauft in Döner-Imbissen ein, ohne weiter darüber nachzudenken. Wenn es um solche Fragen geht, werden ja die Ostdeutschen zum Teil der Mehrheitsgesellschaft, so, wie in ostdeutschen Fragen die Migranten dazu werden. Die Übergänge sind fließend, wie man es auch auf unserem Cover von Elif Küçük sehen kann. Ich muss zugeben, dass ich an mir selbst eine gewisse Arglosigkeit gegenüber Shisha-Bars und auch Döner-Imbissen feststelle. Ich habe mich bis zum Attentat von Hanau noch nie nach meinem Verhältnis zu ihnen befragt. Da spielt auf jeden Fall Desinteresse eine Rolle, auch Unkenntnis. In einer Shisha-Bar, auch das muss ich gestehen, war ich noch nie. Und die Tatsache, dass es zu den prägendsten und verstörenden Erlebnissen junger migrantisch gelesener Menschen in Deutschland zählt, in Clubs nicht hineinzukommen, ist mir erst durch den Roman »Ellbogen« von Fatma Aydemir bewusst geworden. Die Protagonistin radikalisiert sich unter anderem, weil sie ausgerechnet an ihrem 18. Geburtstag mit Freundinnen an einem Club abgewiesen wird. Sie wollten dort zusammen feiern. Die Szene, in der sich das zuträgt, ist eine Schlüsselszene in diesem übrigens großartigen Roman.

NF: Die Abweisung an der Clubtür passiert in der Tat systematisch und trifft besonders oft Menschen, die phänotypisch als »nichtdeutsch« angesehen werden, auch wenn sie vielleicht gar keine Ausländer oder Migranten sind. Nehmen wir zum Beispiel Schwarze Deutsche. Manche leben in fünfter oder sechster Generation in Deutschland, sind nie migriert, aber ihr Aussehen wird damit verknüpft, dass sie migriert sein müssen. Wir haben an unserem Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung 2017 eine Studie zu Diskriminierung in Deutschland gemacht.3 Darin zeigte sich, dass Menschen, die migrantisch markiert sind, einen Großteil ihrer Diskriminierungserfahrungen im öffentlichen Raum machen. Ihnen wird der Zugang zu Geschäften und Dienstleistungen verwehrt oder erschwert, besonders im Gaststätten- und Unterhaltungsgewerbe, aber auch bei der Wohnungssuche oder im Fitness-Center, vor allem, wenn sie Kopftuch tragen. Dadurch entstehen aufseiten dieser Menschen natürlich Vertrauensverluste. Im Grunde ist es auch eine Verknappung, sie pauschal als Migranten zu bezeichnen, und zwar aus den oben beschriebenen Gründen. Viele Menschen, die aufgrund ihres Aussehens, ihres Namens, ihrer Religion migrantisch gelesen werden, sind gar keine Migranten, sondern hier geboren und haben einen deutschen Pass. Sie sind postmigrantisch sozialisiert. Wenn wir also verallgemeinernd von Migrantinnen und Migranten sprechen, müssen wir die postmigrantische Konstellation immer mitdenken, in der eine binäre Aufteilung in Migranten und Einheimische immer unschärfer wird, weil die Nachkommen von Migranten natürlich auch Einheimische sind. Sie sind hier geboren und handeln vor dem Hintergrund einer migrantischen Zuschreibung neue deutsche Identitäten aus. Damit verändern sie auch die kollektive Identität in diesem Land, das selbst zunehmend postmigrantisch wird.4

JH: Ähnlich verhält es sich ja mit vielen anderen Bezeichnungen auch. Wir werden wohl im Laufe unseres Gesprächs immer wieder Begriffe präzisieren oder ihre Grenzen ausloten müssen. Ich habe gerade von der Mehrheitsgesellschaft gesprochen. Auch hier bedarf es einer Schärfung oder zumindest Erklärung, was wir darunter verstehen wollen.

NF: Ich stimme Ihnen in Ihrer Beschreibung, dass Ostdeutsche und Migranten je nach Perspektive auch immer Teil der Mehrheitsgesellschaft sein können, absolut zu. Der Begriff Mehrheitsgesellschaft ist in der Tat unscharf. Mehrheitsgesellschaft – wer soll das in Deutschland sein? Deutsche ohne Migrationshintergrund? Westdeutsche? Weiße Deutsche? Wenn Mehrheitsgesellschaft die quantitative Mehrheit meint, im Sinne von die Meisten, wäre es analytisch besser, von Mainstream-Gesellschaft zu sprechen, wie das der amerikanische Soziologe Richard Alba macht.5 Aber wir meinen mit Mehrheitsgesellschaft wohl eher die tonangebende Mehrheit. Eine Mehrheit also, die zentrale gesellschaftliche Positionen innehat und Diskursmacht besitzt. In Anlehnung an das Konzept der Dominanzkultur, das die Psychologin Birgit Rommelspacher entwickelt hat, verwenden wir Mehrheitsgesellschaft also im Sinne von Dominanzgesellschaft.6 Dabei geht es, wie Rommelspacher beschreibt, um die Möglichkeit, Ausgrenzung überhaupt ausüben zu können, weil eigene kulturelle Normen als dominant definiert werden. Das bedeutet nicht, alle gehen bei Grün über die Ampel und stoppen bei Rot, sondern, zum Beispiel, welcher Lesekanon in der Schule, welche Religion, Kultur oder Geschichte in unserer Gesellschaft zur Norm erhoben wird. Und damit dann als normal gilt. Schauen wir einmal auf die Diskussion über Kinderbetreuung: Wieso ist die westdeutsche Vorstellung, dass Frauen ihr Kind erst einmal drei Jahre zu Hause betreuen sollen, bevor sie es in die Kita geben, so lange dominant gewesen, während die ostdeutsche Vorstellung von Kitas ab dem ersten Lebensjahr als Verwahrlosung galt oder als ein Zeichen dafür, dass diese Frauen Rabenmütter sind? Weil Normen von einer bestimmten Warte aus, in dem Falle aus einer westdeutschen, christdemokratischen Perspektive, dominant gesetzt werden können. Wer diese Dominanzkultur vorgeben oder auch vorleben kann, hat mehr gesellschaftliche Macht, kann Diskurse, Debatten oder Gesetze beeinflussen. Die Mehrheitsgesellschaft meint also nicht die numerische Mehrheit, denn die ist in der Tat vielfältig. Wenn ein Viertel der Menschen in Deutschland migrantische Familienbiographien hat und je nach Zählart – ob Wohnortprinzip, Geburtsortprinzip oder familiensozialisiert – ein Viertel der Menschen ostdeutsche Biographien, wer ist dann die Mehrheitsgesellschaft? Die ohne Migrationshintergrund mit westdeutscher Biographie? Aber polemisch gesprochen machen ja schon Migranten und Ostdeutsche zusammen 50 Prozent. Man sieht, das geht nicht auf. Vor allem, weil die Kategorien künstlich sind. Es gibt ja auch migrantische Ostdeutsche. Und man muss bedenken, dass Fragen von Schicht und Klasse, Geschlecht und Machtzugang wichtig sind, um Hierarchien und Positionen zu definieren. Einigen wir uns einfach, dass wir, wenn wir Mehrheitsgesellschaft sagen, vor allem jene meinen, die in der Lage sind, Normen zu setzen, das Wort also synonym zu Dominanzgesellschaft verwenden. Aber lassen Sie uns noch einmal auf Hanau zurückkommen. Welche Gedanken und Gefühle hat der Anschlag denn bei Ihnen ausgelöst?

JH: Durch meine Arbeit als Journalistin musste ich immer wieder auf solche Gewaltakte reagieren, vor allem, wenn sie sich in Ostdeutschland ereigneten. Nach dem Anschlag auf die Hallenser Synagoge habe ich jenes Gefühl, das mich dabei seit Längerem begleitet, einmal in einem Text beschrieben. Wir waren gerade im Urlaub, mein Sohn hatte Geburtstag, am Morgen haben wir noch singend um den Geburtstagstisch getanzt und später kam die Nachricht aus Halle. Jedes Mal erfasst mich Wut, Entsetzen, aber auch eine große Mattheit. Und Scham, so hieß der Text. Denn die Gewalt, so schrieb ich damals, ist längst ein Teil unseres ostdeutschen Nachwendelebens geworden. Wir entkommen ihr nicht, egal, wo wir sind. Ich meine all die Daten und Namen der Orte, die sich inzwischen als eine Art innerer Kalender, eine Art innere Landkarte in uns eingeschrieben haben. Und immer dann, wenn ich diese Orte betrete, baut sich diese ostdeutsche Gewaltgeschichte aufs Neue vor mir auf. Fahre ich durch Rostock hindurch an die Ostsee, schaue ich in Rostock-Lichtenhagen hinüber zum Sonnenblumenhaus. Bin ich in Erfurt, laufe ich in Gedanken den Weg zum Gutenberg-Gymnasium hinauf. Wenn ich in Zwickau bin, sehe ich die abgebrannte Ruine des Hauses in der Frühlingsstraße vor mir. Und wenn ich mit meinem Sohn auf den Dresdner Elbterrassen sitze und wir Eis essen, dann schaue ich über seine Schultern hinüber auf den Platz vor der Semperoper, wo sich die Pegida-Demonstranten treffen. So habe ich das damals formuliert und mich auch gefragt, ob wir hier einfach wie Touristen sitzen können. Und das sind ja nur einige Orte: Dessau, Guben, Hoyerswerda, Magdeburg und andere kämen noch hinzu. Die Erinnerung an die Gewalt und ihre Opfer ist für den, der sie zulässt, im Osten beinahe allgegenwärtig, sie bricht beständig in meinen Alltag ein. Und mit ihr Schuld, Scham und Ratlosigkeit. Aber zu dieser langen Gewaltgeschichte gehört leider auch, dass ich mittlerweile, wie in einem Reflex, solche Nachrichten wegzublenden versuche, weil mich die Gewalt in dieser verlässlichen Wiederkehr sehr belastet. Natürlich funktioniert das nicht. Als wir nach dem Hanauer Anschlag telefonierten, haben Sie angefangen zu weinen. Das hat mich schockiert, selbst sehr traurig gemacht. Da war ein Entsetzen und eine Fassungslosigkeit, vor allem aber war da auch Angst. Um Ihre Familie, um Freundinnen und Freunde. In diesem Moment ist mir klar geworden, dass ich mich bei all den beschriebenen Gewalttaten noch nie als ein mögliches Ziel gefühlt habe. Und dass es natürlich eine ganz andere Dimension hat, wenn man aufgrund seines Aussehens um sein Leben fürchten muss. Meinen Sie, es würde Ihnen gelingen, über jene sich am Telefon so unerwartet entladende Angst und Trauer noch einmal zu sprechen?

NF: Nun, eigentlich bin ich ein grundsätzlich unängstlicher Mensch. Wenn man bei mir die Big Five, also die psychologischen Persönlichkeitsmerkmale, abfragen würde, hätte ich bestimmt hohe Werte bei Risikobereitschaft. Da paart sich wahrscheinlich der rheinländische Optimismus meiner Mutter, et kütt wie’t kütt, mit dem Glauben, dass Gott groß ist und Allah schon seine schützende Hand über mich und meine Familie halten wird. Vielleicht spielt auch die Tatsache, dass ich als Kind in einem Land gelebt habe, in dem Krieg herrschte, eine Rolle. In unserer Familie hat es immer wieder Neuanfänge gegeben. Auch das ist möglicherweise ein Grund dafür, dass mich nichts so schnell einschüchtern kann. Aber ich merke, wie sich Angst über die Zeit akkumuliert und irgendwann in Wut umbricht. Wenn wir eine Linie ziehen vom Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke bis zu den neun Getöteten in Hanau, sehen wir, allein 2019 und 2020 gab es eine unglaubliche Verdichtung von Attentaten. Die Einschläge nehmen zu. Man hofft, man würde mit den Wiederholungen abstumpfen. Genau so, wie Sie es beschrieben haben. Aber so ist es nicht. Irgendwann bricht die ganze akkumulierte Angst auf, man verliert die Kontrolle und hat das Gefühl, nicht mehr in die Normalität zurückfinden zu können.

JH: So schien es mir auch zu sein. Ihre Angst schien älter, sie wurde in jenem Augenblick aufgerufen, aktiviert. Wahrscheinlich war auch der Gedanke, hoffentlich passiert meinen Kindern nichts, wenn sie sich an anderen Tagen einfach so durch Berlin bewegen, in dem Moment für Sie präsent.

NF: Die jungen Männer, die in Hanau getötet wurden, sind vor allem meinem älteren Sohn und seinem Umfeld sehr ähnlich. Er und seine Freunde hätten aufgrund ihres Aussehens genauso Opfer des Anschlags sein können. Nur so kann ich mir erklären, warum ich am Tag danach ständig um ihn gekreist bin. Ich habe ihn geküsst, auf den Kopf, auf die Schulter, als wäre er angeschossen. Ich wollte mir sicher sein, dass er da ist, dass ihm nichts passiert ist. Auch die zutiefst leidenden Eltern, die ich im Fernsehen sehen konnte, waren mir vertraut, weil sie aussehen wie die Eltern, auf die ich in der Schule meiner Kinder beim Elternabend treffe. Wir wissen um die Gefährdung unserer Kinder und wollen sie beschützen, so, wie das auch die Eltern der Ermordeten von Hanau wollten und am Ende doch nicht konnten. Der Tod dieser jungen Menschen ist also plötzlich und konkret in meine Welt eingebrochen. Wer phänotypisch erkennbar ist, wie die ebenfalls ermordete Mercedes Kierpacz, erfährt Rassismus. In Hanau war er wieder einmal tödlich. Dass so etwas jederzeit geschehen kann, ist auf einem abstrakten Niveau klar. Unmittelbar, durch das eigene Lebensumfeld, zu registrieren, dass Rassismus potenziell dein Leben bedroht oder das deiner Geschwister, Kinder, Freunde, Verwandten, und zwar im Hier und Jetzt – das ist es, wofür dieser Anschlag steht.

JH: Nach dem Anschlag konnte man in den sozialen Netzwerken das Video eines Jungen sehen, der überlebt hatte, und sich an den Abend in der Shisha-Bar erinnert.

NF: Er lag im Krankenhaus, von einem Schuss in die Schulter verwundet und tief verstört. Ich habe mir das Video von Muhammed B. auf dem Handy angeschaut und musste auch in diesem Moment weinen. Aber eigentlich war das kein Weinen mehr. Das war Klagen. Klageweinen. Er sah genauso aus wie mein Junge. Die gleiche Frisur, der gleiche leichte Oberlippenbart. Diese Jungs sehen schon so früh so viel älter aus, als sie eigentlich sind. Muhammed erzählte, was passiert war und während er sprach, weinte er auch. Er hatte versucht, sich hinter einer Wand in Sicherheit zu bringen, wurde aber trotzdem angeschossen. Neben, unter und über ihm lagen andere junge Männer, von denen einer eine schwere Verletzung am Hals hatte und sagte: »Bruder, ich kann meine Zunge nicht spüren, ich kann nicht atmen.«7 Muhammed hielt dem Verletzten die Schusswunde im Hals zu, konnte ihm aber nicht helfen. Er starb.

JH: I can’t breathe. Ein Satz, den wir inzwischen aus einem weiteren Video kennen, das den Mord an George Floyd zeigt und auf dem seine letzten Worte zu hören sind. Ein Satz, der später zigfach auf Plakaten bei Demonstrationen in der ganzen Welt zu lesen war und geradezu sinnbildlich all die rassistischen Morde zu verbinden scheint. Was mir an Muhammed, aber auch den jungen Männern, die bei dem Anschlag getötet wurden, aufgefallen ist, betrifft etwas, das Sie auch gerade erwähnten, sie wirkten sehr erwachsen und kräftig.

NF: An den Körpern lässt sich viel ablesen. Es ist kein Zufall, dass viele junge Migranten, wie es oft heißt, »pumpen«. Regelmäßig ins Sportstudio gehen. Vielleicht weil sie unterschwellig darauf vorbereitet sein wollen, dass sie im Laufe ihres Lebens mit Gewalt konfrontiert sein werden. Damit demonstrieren sie Widerstandsfähigkeit, die sie anders nicht exerzieren können, weil sie nicht in realer Macht sind, keine Position haben, keines dieser feingeistigen Tools der Wehrhaftigkeit und Alltagssicherheit besitzen, wie bürgerliche Mittelschichtskinder ohne Migrationshintergrund. Also versuchen sie das Instrument zu nutzen, das sie haben: ihren Körper. Und so entsteht bei vielen dieser Jungs, die sich schon so lange in einem abwertenden, hasserfüllten Klima ihren Alltag und ihre Normalität erkämpfen müssen, eine Art Körperpanzer. Ein Begriff, der auf Klaus Theweleit zurückgeht. Er benutzt ihn in seinem Buch »Männerphantasien«, vor allem, um Männlichkeitsinszenierungen zu beschreiben.8 Körperpanzer sind dabei Mittel der Angstabwehr. Oft werden die gepanzerten Körper der migrantischen Jungs belächelt, als Bedrohung angesehen oder als Kompensation mangelnder Intelligenz betrachtet. Ich sehe darin eine Form der Angstregulation.

JH: Der amerikanische Essayist Ta-Nehisi Coates, auf den ich sicher noch öfter zu sprechen komme, weil seine Texte und Bücher für mich wichtige Lektüren sind, hat in seinem Buch »Zwischen mir und der Welt« sehr eindrucksvoll über die allgegenwärtige und jahrhundertealte existenzielle Bedrohung des Schwarzen Körpers in Amerika geschrieben. An einer Stelle beschreibt er, um bei Ihrer Formulierung zu bleiben, Formen der Angstregulation bei Schwarzen Jugendlichen in New York.9 »Rüstungen gegen die Welt« nennt er die Posen, überdimensionierten Kleidungsstücke und pumpenden Beats aus den Ghettoblastern, die auf den Betrachter vermeintlich wie ein Lifestyle wirken, aber für die Schwarzen Jugendlichen die Funktion haben, sich zu schützen, ihre Angst zu kaschieren.

NF: Diese Körper reagieren auf Anrufungen, wie der französische Philosoph Louis Althusser das nennt und die amerikanische Wissenschaftlerin Judith Butler weiter ausführt.10 Jedes Individuum wird bestehenden Ideologien oder Normen unterworfen oder unterwirft sich freiwillig den Vorstellungen, die es über sie oder ihn als Individuum oder als Teil einer sozialen Gruppe gibt. Wenn also von migrantischen Jungs gedacht wird, dass sie nicht an Bildung interessiert sind, sondern vor allem auf körperliche Präsenz Wert legen, dann findet eine doppelte Unterwerfung statt. Einerseits unterwirft die Mehrheitsgesellschaft diese Jungs, indem sie sie permanent außerhalb der Normalvorstellungen platziert. Andererseits unterwerfen sie sich selbst den Anrufungen. Im gedanklichen und gesellschaftlichen Repertoire gibt es nicht viele Rollenbilder für sie. Und damit meine ich speziell jene Bilder, die im Kopf erscheinen, wenn man das Wort Migrant hört. Das ist nicht einfach eine statistische Kategorie, sondern sie verbindet sich immer mit Türken, Arabern, Schwarzen oder Geflüchteten und nicht mit dem Sohn der englischen Nachbarn. Wenn man an migrantische junge Männer denkt, assoziiert man Hauptschule, Tipico, Handyladen, Türsteher, maximal noch Fußball. Nicht Rollenbilder wie Kindergärtner, Arzt, Rechtsanwalt oder Krankenpfleger. Ich will damit sagen: Wenn das Angebot an Rollen, die migrantische Jungs in der Gesellschaft performen können, so eng ist, performen sie auch eher in diesem engen Raster. Sie spielen auf die Erwartungen zurück wie eine Rückhand im Tennis. Sie bieten die Körper, den Gang und die Sprache an, die die Gesellschaft von ihnen erwartet. Das ist keine aktive Erwartung – nach dem Motto ›Hey, spiel mir mal den Migranten!‹ –, das ist, nach Althusser, auch ein sich Untergeben, ein Vorwegnehmen der Anrufungen. Somit reproduziert sich die ideologische Grundlage immer weiter und wird zur empirischen Realität.

JH: Wie hat Ihr Sohn selbst auf Hanau reagiert?

NF: Er ist in einem Alter, in dem er normalerweise sagt, du nervst, du übertreibst, aber in dem Moment war er sehr durchlässig. Mich hat überrascht, dass er am Morgen nach dem Anschlag als Erstes zu mir sagte: »Gott sei Dank war es kein islamistischer Anschlag.« Das hat mich sehr beschäftigt, weil mir klar wurde, wie sehr ihn dieses Thema bewegt.

JH: Was meinte er mit »Gott sei Dank war es kein islamistischer Anschlag«?

NF: In den vergangenen Jahren gab es eine Entwicklung, nicht nur, aber auch in Deutschland, in deren Verlauf der Islam und die Muslime immer stärker unter Verdacht gerieten. Das belastet die Erwachsenen, aber auch die Kinder. Denn sie erfahren ihre Religion als etwas Positives, gleichzeitig haftet sie ihnen an wie ein Makel. Das ist ein Mismatch. Sie wollen ihre Religion alltäglich leben oder auch nur im Hintergrund als Vibe mitlaufen lassen und nicht permanent auf Vorurteile reagieren. Sie sehen den realen islamistischen Terror und seine Propaganda der Unfreiheit sehr wohl, aber sie haben gleichzeitig nicht die Möglichkeit, in einem gesellschaftlichen Klima aufzuwachsen, in dem ihre Religion alltäglich ist und der Terror des Islamismus davon unterschieden wird. Das verunsichert die Jugendlichen. So sind wir doch gar nicht, denken sie. Oder etwa doch? Das ist so, als würde man als Christ in ein anderes Land migrieren und dort mit einer gänzlich anderen, abwertenden Vorstellung von Jesus konfrontiert werden. Nach dem Motto: Jesus war ein Verrückter! Er hielt sich für den Sohn Gottes und die tödlichsten Kriege der Geschichte sind von Christen geführt worden, deswegen kann man ihnen nicht vertrauen. In Bezug auf Hanau kam bei meinem Sohn wahrscheinlich das unangenehme Gefühl auf, wäre es ein islamistischer Terroranschlag gewesen, hätte er erneut in eine Verteidigungsposition gehen müssen. Für etwas, das er gar nicht verteidigen möchte. Einfach nur, weil man nicht erträgt, dass unter der Diskussion über einen islamistischen Anschlag die Schönheit der eigenen Religion mit begraben wird und man sich im Zuge der berechtigten Kritik lauter hässliche, islamfeindliche Dinge anhören muss, die einen selbst zum potenziellen Täter machen.

JH: Hat sich Ihr Sohn auch bedroht gefühlt?

NF: Nein, aber er hat mich gebeten, keine Talkshow-Anfragen anzunehmen, um nicht danach Hate über mich im Internet zu lesen. So etwas passiert ja relativ häufig, und es ist schon für Erwachsene nicht leicht, damit umzugehen. Für Kinder ist es ungleich schwerer. Es gibt ein Video von einer französischen Schulklasse auf Youtube, die einen Ausflug ins Stadtparlament unternimmt.11 Während die Klasse in den Zuschauerrängen sitzt, wird eine Mutter, die als Begleitung dabei ist und ein Kopftuch trägt, von einer Abgeordneten des Front National mit den Worten angegriffen, Frankreich sei laizistisch und eine Frau mit Kopftuch habe hier nichts zu suchen. Der neunjährige Sohn dieser Frau musste mit anhören, wie seine Mutter vor allen Leuten erniedrigt wurde. Dabei war er wahrscheinlich Minuten zuvor noch stolz darauf, dass sie als Betreuerin dabei war. Dem Jungen liefen die Tränen übers Gesicht. Bereits Kinder, die viel jünger sind als mein Sohn, registrieren solche Demütigungen in Bezug auf ihre und die Herkunft ihrer Eltern. Das können auch Blicke, harmlos gemeinte Fragen oder vermeintlich neutrale Diskussionen sein. Überall sind Stiche. Also, das war ein wichtiger Grund für mich, nach Hanau nicht in eine Talkshow zu gehen. Ein anderer war, dass ich weiß, in solchen Momenten und in solchen Formaten werden Diskussionen über rassistische Anschläge häufig nicht in der ihnen angemessenen Komplexität geführt und nur auf identitäre Debatten reduziert.

JH: Auch das hat mir der Anschlag gezeigt: in unserer Gesellschaft wurde in den vergangenen Jahren viel über Identitätspolitik diskutiert. Sie selbst haben ein Streitgespräch mit dem Soziologen Wolfgang Merkel geführt, in dem Sie beide schwerlich zueinandergekommen sind. Ganz allgemein formuliert ist der Vorwurf gegenüber Identitätspolitik, dass sie einzelne Gruppen der Gesellschaft spaltet und weiter auseinanderdividiert. Meine persönliche Erfahrung ist dagegen eine völlig andere. Mein Leben hat sich durch Identitätspolitik stark verändert, es ist reicher geworden. Nicht zuletzt durch unsere Debatte über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Migranten und Ostdeutschen. Seit zwei Jahren hat sich mein Bekanntenkreis um so viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte erweitert, dass das für mich, auch wenn das ein wenig pathetisch klingt, ebenso lebensverändernd war wie die Gespräche mit Jüdinnen und Juden, die ich schon länger führe. Sie haben mich über mein Deutschsein noch einmal grundsätzlich neu nachdenken lassen, auch über antisemitische Kontinuitäten vom Nationalsozialismus bis heute. Durch den Austausch mit Migrantinnen und Migranten bin ich nun auf eine unverhoffte Art noch einmal anders in diesem Land heimisch geworden. Das war für mich einerseits augenöffnend, andererseits habe ich eine emotionale Nähe gespürt, die ich so nicht kannte. Oder anders gesagt, nur aus Begegnungen mit Ostdeutschen kenne. Gesellschaftliche Minderheiten, so scheint mir, können gedanklich zusammenrücken, wenn sie sich begegnen, sie zeigen sich einander, connecten oder aber, mit derselben, ein wenig übertriebenen Energie, stoßen sie sich vehement voneinander ab. Was ich sagen will: mit mir ist das Gegenteil dessen passiert, was oft beschrieben wird. Identitätspolitische Prozesse haben mich nicht isoliert, sondern geöffnet. Ich bin froh über diese Öffnung, die eine des Kopfes und des Herzens gleichermaßen ist. Einige dieser, nun ja, neuen Bekannten habe ich nach dem Anschlag von Hanau ebenfalls angerufen, jedes Mal bin ich auf dasselbe Entsetzen, dieselbe Verwundung gestoßen wie bei Ihnen. Alle erzählten, dass sie viel geweint hätten. Es ist schwer, mit solchen starken Gefühlen am Telefon umzugehen. Natürlich versucht man, Solidarität und Mitgefühl zu senden. Aber es fühlt sich schal an, denn der Graben zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen lässt sich kaum schließen. Ich habe mir die Frage gestellt, wie stark kann Solidarität und Mithilfe tatsächlich sein?

NF: Auch Robert Habeck von Bündnis 90/Die Grünen hat mich nach Hanau angerufen. Das war ein starkes Zeichen, denn es war überhaupt nicht auf Öffentlichkeit ausgerichtet. Eher eine Mischung aus Schutzangebot und ernsthaftem Mitgefühl. Man darf Symbolpolitik und ihre nachhaltige Wirkung gerade auf Minderheiten nicht unterschätzen. Aber die über den Schock entstandene Bindung muss zu konkreter Politik führen. Die Bedrohung von rechts findet nicht nur punktuell statt, sondern sie ist allgegenwärtig. Vor allem für Migranten. Sichtbare Migranten. Aber zunehmend auch für Frauen und Politikerinnen, die sich beispielsweise im Umfeld von Fluchtunterkünften engagieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat nach Hanau von Rassismus als Gift gesprochen und Innenminister Horst Seehofer hat klargemacht, dass Rechtsextremismus derzeit die größte Gefahr für Deutschland darstellt. Dass in diesem Augenblick von einem rassistischen Anschlag und nicht mehr von einem fremdenfeindlichen gesprochen wurde, wie so oft in der Vergangenheit, war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Die Ermordeten waren keine Fremden. Sie kamen aus Deutschland. Gleichzeitig ist durch die Debatte um die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen im Februar 2020 klar geworden, dass viele Menschen erkennen, dass sich die rechte Bedrohung politisch etablieren kann. Ich beobachte beispielsweise im linksliberalen Milieu eine Veränderung, eine größere Bereitschaft zur Reaktion. Über viele Jahre, eigentlich seit dem Historikerstreit und der Maxime von Jürgen Habermas, dass aufgeklärt und demokratisch nur sein kann, wer aus der verfehlten deutschen Geschichte lernt, hat sich sowohl im linken wie auch im liberalen und bürgerlich-konservativen Lager zunehmend ein Konsens verfestigt, der darin mündete, dass Demokratie letztlich hegemonial ist.12 Viele haben mit einer gewissen Gelassenheit an die Unerschütterlichkeit der Demokratie geglaubt, weil sie davon überzeugt waren, auch ein paar Spinner auf der rechten Seite können ihr nichts anhaben.

JH: Das ist ja aber auch der entscheidende Irrtum gewesen, oder?

NF: Richtig. Aus der Grundüberzeugung heraus, die Rechten, zumal demokratisch gewählt, können die Demokratie letztlich nicht erschüttern, dachten viele, dass die Migranten, die sich über Rassismus beklagen, dramatisieren, dass die Frauen, die sich über Sexismus beklagen, dramatisieren, dass die Linken, die sich über Klassismus beklagen, irgendwie anachronistisch sind. Bis sich die Dinge in den letzten zehn Jahren schrittweise nach rechts verschoben haben und zu dem führten, was wir heute Konsensverschiebung nennen. Etwa seit 2010 und dem Erscheinen von Thilo Sarrazins Bestseller »Deutschland schafft sich ab« hat es eine revisionistische Wende gegeben, verbunden mit einer Verschiebung der Sagbarkeitsgrenzen. Den meisten ist nur in Erinnerung geblieben, dass Sarrazin ein migrationsfeindliches Buch geschrieben hat. Aber in Wahrheit war es auch ein zutiefst abwertendes, klassenverachtendes Buch. Gekoppelt an das Narrativ der Muslimfeindlichkeit, das sehr anschlussfähig war, brach sich ein zunehmend spalterischer Diskurs durch den Schutzwall der Bürgerlichkeit. Seit Thüringen höre ich mehr und mehr Stimmen, die sagen: Die Demokratie ist in Gefahr. Dass sich ein Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD wählen ließ, hat ein irritiertes Milieu scheinbar wieder on track gesetzt. Es wird sich zeigen, in welche Richtung das weitergehen wird.

JH: Es hat wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass Thüringen und Hanau zeitlich so dicht beieinanderlagen, aber in beiden Krisen, so unterschiedlich sie sind, kann man deutlich sehen, dass die Mehrheitsgesellschaft sich das Recht herausgenommen hat, entscheidende Entwicklungen, die sich über Jahrzehnte vollzogen haben, weitgehend zu ignorieren. Letztlich stehen Hanau und Thüringen genauso wie Halle, denn auch die Zahlen antisemitischer Übergriffe sind ja in den vergangenen Jahren beängstigend angestiegen, am vorläufigen Ende eines Kontinuums. Wenn Sie sagen, dass kaum jemand in der migrantischen Community überrascht war, dass sich so ein Anschlag ereignet, aber die allermeisten emotional betroffen waren, dann gilt das, glaube ich, bezüglich des Aufstiegs der AfD für viele Ostdeutsche auch: Kaum jemand konnte überrascht sein, dass die AfD 2017 mit so hohen Wahlergebnissen in den Bundestag einziehen würde. Betroffen gemacht hat es viele. Auch die Tatsache, dass sich der FDP-Abgeordnete Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD ins Thüringer Ministerpräsidentenamt wählen ließ, war einerseits überraschend, andererseits wiederum nicht. Mein Kollege Martin Machowecz, der in Erfurt zugegen war, schrieb gleich darauf einen aufwühlenden Text, der den Titel »Es ist passiert« trug. Mit einem Es-würde-einmal-Passieren war allerdings absolut zu rechnen gewesen. Letztlich eine Frage der Zeit. Hinzu kommt: Wenn man sich die Ereignisse von Thüringen genau anschaut, ist auch im Nachhinein nicht ganz klar, wie viele Leute in diesen Plan tatsächlich eingeweiht waren. Es scheinen einige gewesen zu sein. Zumindest Politiker wie Annegret Kramp-Karrenbauer oder Christian Lindner waren, sagen wir, höchstwahrscheinlich im Bild. Dennoch haben sie die Dinge laufen lassen. Sie müssen also angenommen haben, es wird schon gut gehen. Aber sowohl Hanau als auch Thüringen haben gezeigt, aus Worten folgen Taten. Sie haben es beschrieben. Genau das markiert die gewaltige Verschiebung der vergangenen Jahre: aus Worten sind immer häufiger und immer verlässlicher Taten geworden. Dass die Zivilgesellschaft mittlerweile so stark protestiert, ist ein ermutigendes Signal. Aber es ist auch erschreckend zu sehen, dass sich erst Katastrophen, dramatische Realitätseinbrüche ereignen müssen, bis sich Gesellschaften eines Problems wirklich bewusst werden. Dabei beschreiben meine Kollegen und ich schon sehr lange, dass der Osten kippt, um einmal Wolfgang Thierse zu zitieren, der das in einem Aufsatz sogar schon 2001 schrieb. Vor 20 Jahren! Für mich war dieser Beitrag damals sehr wichtig, endlich durchbrach jemand die üblichen Floskeln und Beschreibungsroutinen, zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, jemand sprach an, was ich tagtäglich im Osten wahrnahm. Viele aber widersprachen dem damaligen Bundestagspräsidenten. Gerhard Schröder zum Beispiel sagte: »Der Osten kippt nicht!« Mit solchen einfachen Entgegnungen wurde immer wieder versucht, Probleme aus der Welt zu schaffen. Als würden jene, die auf Fehlentwicklungen hinweisen, nichts anderes im Sinn haben, als die Zustände schlecht zu machen.

NF: Demokratien sind eben träge. Sie fußen auf verankerten institutionellen Abläufen. Es dauert, bis sich etwas ändert. Demokratien taugen daher auch gut zur Besitzstandswahrung. Dennoch, und das hat tatsächlich etwas mit dem Schock zu tun, den solche Ereignisse wie Hanau und Thüringen auslösen, es ist etwas in Bewegung gekommen. Vielen scheint klar geworden zu sein: Alleine schaffen wir das nicht mehr.

JH: Ich gebe Ihnen recht, in den Tagen nach Hanau haben wir eine Bewegung gesehen, eine Lernbewegung. Rassismus wurde benannt. Aber wir haben diese Bilder der Betroffenheit schon so oft gesehen. Wir haben Reden darüber, dass sich eine solche Tat nicht wiederholen dürfe, schon so oft gehört. Sie verweisen letztlich auf nichts anderes, als auf die Jahre der Verdrängung zuvor.

NF: Ich bin da optimistischer. Vorsichtig optimistisch. Seit Hanau und Thüringen klingen die Stimmen etwas anders. Die Parteien haben auf den Gewaltexzess von Hanau nicht wie üblich mit einem autoritären Ordnungsversprechen geantwortet – nach der Devise mehr Polizei und höhere Strafen –, sondern mit der Positionierung zu einer offenen Demokratie. Sie haben dem Ruf nach mehr Versicherheitlichung widersprochen und zugegeben, die rechtsextremistische Gefahr lange unterschätzt zu haben.13 Thüringen, wie gesagt, war in meinen Augen ein Weckruf für ein gesamtes, mit den Jahren etwas schläfrig gewordenes, demokratisches Milieu.

JH: Teilerfolg würde ich das nennen. Politisch betrachtet sind wir nach Thüringen keinen Schritt weiter. Das wären wir erst in dem Moment, in dem die Wahlergebnisse der AfD in den ostdeutschen Ländern nennenswert zurückgingen. Durch Corona hat sich das allenfalls angedeutet, aber längst noch nicht vollzogen, wie einige gehofft haben mögen. Und so lange das nicht passiert, bleibt die AfD ein mächtiger Player. Wie lange wird es gelingen, in den ostdeutschen Ländern jeweils Koalitionen um sie herum zu bauen? Deswegen würde ich Ihnen auch widersprechen. Ja, es hat sich zivilgesellschaftlicher Widerstand gezeigt, die Kemmerich-Wahl hat eine große Debatte ausgelöst, das Schlimmste konnte noch einmal abgewendet werden und die zweite Wahl am 4. März 2020 lief einigermaßen glatt. Aber in Wahrheit sind wir nicht weiter. Eigentlich keinen Millimeter. Die thüringische AfD ist aus dem Schlammassel in Erfurt jedenfalls nicht geschwächt hervorgegangen.

NF: Aber wissen wir inzwischen nicht schon viel mehr? Wie zielgerichtet rechte Politik funktioniert. Wie organisiert und systematisch sich rechte Akteure in Regionen ansiedeln, in denen Menschen aufgrund ihrer Bildung, Biographie oder ökonomischen Struktur anfällig für rechte Versprechen sind. Dass Björn Höcke, Alexander Gauland, Jörg Meuthen, alle diese Granden der AfD, inklusive des Vordenkers der Neuen Rechten und Identitären Götz Kubitschek und Ellen Kositza, seiner Frau, aus dem Westen kommen und im Osten Erfolge feiern.

JH: Ja, das wissen wir. Aber, offen gestanden, ich bin keine Anhängerin dieser Darstellung. Wir kommen um die Tatsache nicht herum, dass die AfD enorme Wählerschaften im Osten hat. Dass sie weitgehend vom Westen finanziert wird, in ihren Spitzen dominant westdeutsch ist, das ist alles bekannt. Aber die Frage muss sein, wie schaffen wir es, dass sie im Osten nicht mehr gewählt wird und die gesellschaftliche Atmosphäre nicht mehr derart beeinflussen kann.

NF: Ich finde es schon wichtig, zu analysieren, wie es politischen Figuren gelingen kann, ihren dominanzkulturellen Habitus unsichtbar zu machen und für die Underdogs und Deklassierten zu sprechen. So, wie Donald Trump als Milliardär von den Arbeitern im Rust Belt, also der sogenannten White Working Class gewählt wurde, obwohl seine finanzpolitische Strategie, zum Beispiel die Reichen aus der Steuerschuld zu entlassen oder die Krankenversicherung abschaffen zu wollen, sich gegen die Interessen der »kleinen Leute« richtet. So ist es auch mit der westdeutschen Führungselite der AfD. Sie will die Lebensbedingungen der Menschen in Ostdeutschland nicht strukturell verbessern.

JH: Das ist alles sehr richtig. Und ich bin im Grunde froh, wenn Sie die Rolle derer übernehmen, die sagt: Schaut euch an, wie westdeutsch die AfD ist! Ich kenne dieses Argument von ostdeutscher Seite. Es klingt oft nach Entschuldigung und vereinfacht die Problematik, als ginge es hier nur um eine Schuld des Westens. Wir müssen die enorm hohen AfD-Zahlen in Zukunft verhindern, was – wie Thüringen zeigt – nicht einfach wird. Aber ähnlich wie Sie versuchen, im Zusammenhang mit dem Attentat von Hanau auch Wegweisendes zu sehen, kann ich versuchen, aus den katastrophalen Ereignissen von Thüringen positive Effekte herauszulesen.

NF: Welche könnten das sein?

JH: