Über das Buch

Sara Sligars temporeiches Debüt: Eine berühmte Fotografin stirbt unter mysteriösen Umständen, zwanzig Jahre später ist eine junge Frau besessen davon, die Wahrheit rauszufinden — um jeden Preis

Die junge Archivarin Kate soll den riesigen Nachlass der Künstlerin Miranda Brand sortieren. Auftraggeber ist Theo, Mirandas Sohn. Der Mittdreißiger ist schön, kühl, wohlhabend. Und übt eine gefährliche Anziehung auf Kate aus. Immer tiefer verstrickt sie sich in das Leben der Brands, liest heimlich das Tagebuch der Künstlerin. Die Beschäftigung mit Mirandas Tod wird ihr zur verhängnisvollen Obsession. Wurde die Fotografin ermordet? Was weiß Theo darüber? In atemberaubenden Bildern und glasklarer Sprache dringt Sara Sligar ein in die Geheimnisse und Lügen zweier magnetischer Frauen, die mehr verbindet, als sie ahnen.

Sara Sligar

Alles, was zu ihr gehört

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Brauns

hanserblau

»Psychothriller, Künstlerinnenroman, feines Debüt.«

Jury der Krimibestenliste von Deutschlandradio Kultur und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Kate soll den Nachlass der Künstlerin Miranda Brand sortieren. Auftraggeber ist Theo, Mirandas Sohn. Ein kühler, wohlhabender Mann, der eine gefährliche Anziehung auf Kate ausübt. Immer tiefer verstrickt sie sich in das Leben der Brands und in den Nachlass, bis Mirandas Tod ihr zur Obsession wird. Wurde die Fotografin ermordet? Und was weiß Theo darüber?

»Sara Sligars Debütroman verwebt Ruhm, Gewalt, weibliche Selbstbestimmung, Künstlertum und psychische Gesundheit zu einem spannenden Ganzen.«Die Presse am Sonntag

»Ein hochspannendes, komplexes Debüt — Sara Sligar ist ein Name, den man sich merken sollte.«BÜCHER Magazin

Fotografieren ist ein Akt der Gewalt. Wenn wir einen Menschen mit der Kamera einfangen, reißen wir ihn aus Raum und Zeit und bannen ihn auf ein Stück Fotopapier, um ihn für die Ewigkeit festzuhalten. Man muss sich dieser Gewalt bewusst sein. Sich an ihr erfreuen. Ich glaube, deshalb mache ich so viele Selbstporträts. Denn der Mensch, den zu verletzen mir am leichtesten fällt, war schon immer ich selbst.

Miranda Brand (1956—1993)

1.

Kate

Juni 2017

Kalifornien offenbarte sich unter ihr als eine Reihe von Flecken, nicht unähnlich einem Rubbellos, in den Löchern der Wolkendecke zeigten sich zunächst waldige Hügel, während das Flugzeug langsam an Höhe verlor. Die Landschaft war wie aufgeteilt: die lila Berge, das lange Oval der Bucht. Als die letzte Wolke verschwand, streifte eine Böe das Flugzeug und presste die Passagiere in ihre Gurte, sodass in dem Moment, in dem sich unter Kate der Blick auf das gesamte Panorama öffnete, ihr die Angst wie ein Kloß in der Kehle saß. Das Flugzeug fing sich schnell, und sie ärgerte sich über die Turbulenzen, weil sie sich um einen ungetrübten ersten Eindruck betrogen fühlte. Der Mann neben ihr bekreuzigte sich.

»Ich hasse Landungen«, sagte er und steckte sich einen Cracker in den Mund. »Heutzutage scheint niemand mehr zu wissen, wie man so ein Ding fliegt.«

Kate fiel auf, dass sie sich an die Armlehne klammerte. Nur an die linke, denn der Mann hatte die zwischen ihnen liegende irgendwo über Colorado in Beschlag genommen. Kate entspannte bewusst die Hand. Ihre Wimpern klebten aneinander, und auf der Zunge hatte sie den Geschmack von Spülwasser. Der Morgen — übermüdet und verkatert auf den verspäteten Flieger warten; unüberlegt eine Flughafenbrezel bei der Zwischenlandung essen — wirkte schon sehr weit weg, überlagert von allem ekligen Übel, das eine Reise ans andere Ende des Landes so mit sich bringt.

»War das mal angenehmer?«, fragte sie den Mann. Nicht, weil sie sonderlich an einer Antwort interessiert war, sondern, weil sie nicht anders konnte. Das Fragen war ihr schon immer leichtgefallen. Als sie im Grundschulalter war, hatten ihre Eltern aufgehört, sie zum Einkaufen mitzunehmen, denn Kate hatte sie gnadenlos gelöchert, wie die Einkaufswagen gefertigt wurden oder wie das Befeuchtungssystem der Gemüseauslage funktionierte. Im College wurde ihr gesagt, sie hätte ein Talent für die Sokratische Methode.

»Oh, absolut«, sagte der Crackertyp. »Ich fliege beruflich seit dreiunddreißig Jahren. Schlecht wird mir bei der Landung erst seit vielleicht zehn Jahren. Man sollte meinen, dass der technische Fortschritt die Reise angenehmer machen würde, aber schlussendlich liegt es wohl an der Ausbildung.« Er nahm sich einen weiteren Cracker. »Kommen Sie aus San Francisco?«

»New York. Ich fange hier einen neuen Job an.«

»Ach, ja? Was machen Sie denn?«

»Ich bin Archivarin.« Das Wort fühlte sich fremd an, sie rollte es auf der Zunge herum wie eine Murmel. Weil ihr Sitznachbar so gar keine Reaktion zeigte, fügte sie hinzu: »Ich arbeite mit alten Dokumenten.«

»Und das ist ein echter Beruf?«

»Ja.«

»Machen Sie das schon immer?«

»Nein, ich habe zuletzt bei einer Zeitung gearbeitet.«

Sein Gesichtsausdruck gewann an Härte. »Sie sind Journalistin?«

»Copy Editor.«

»Dann überprüfen Sie Kommas?«

»Ja. Und auch Fakten, all so was hab ich gemacht.« Die Vergangenheitsform tat weh.

»Mir war gar nicht klar, dass heutzutage tatsächlich noch Fakten geprüft werden«, sagte er. »Ich hole mir meine Informationen nur noch von Leuten, die ich kenne — von meiner Frau, meinen Freunden. Zu denen hab ich einen direkten Draht. Ich zapfe gerne unmittelbar die Quelle an.«

Kate presste die Lippen aufeinander. Sie bereute längst, auf das Gespräch eingegangen zu sein, wusste aber nicht, wie sie es höflich beenden konnte. Es gab schließlich Regeln. Sei zuvorkommend. Heuchle Interesse. Gib ihnen, was sie wollen. Du willst es doch auch. Er lächelte sie an und trommelte mit dem Finger auf die Armlehne, verstreute Crackerkrümel.

»Wie dem auch sei«, sagte er, »klingt jedenfalls nach einer guten Entscheidung, die Branche zu wechseln.«

Dieser Typ. Er erinnerte sie an Leonard Webb, obwohl Leonard das sicher nicht gern gehört hätte. Er hätte den dicken Bauch dieses Typen gehasst, das karierte Hemd und das Näseln, das auf eine Herkunft aus dem mittleren Westen hindeutete. Und Kate hasste den Typen dafür, dass er sie überhaupt an Leonard erinnerte.

Das Flugzeug machte noch einen Satz. Hinter ihnen schrie jemand. Das Anschnalllämpchen über ihnen erlosch, was keine Absicht sein konnte. Die noch unvertraute Skyline vor dem ovalen Fenster kippte, und Kates Magen rebellierte.

Der Typ wartete auf die Gegenfrage, also gehorchte sie, wenn auch widerwillig. »Und was machen Sie?«

»Versicherung. Für die Landwirte. Ich stelle sicher, dass sie ihr Land nicht unter Wert ansetzen. Bin viel unterwegs.«

»Dann überprüfen Sie also auch Fakten, im weitesten Sinn.«

Er schaute sie an, als wäre sie verrückt. »Nein.«

Das Flugzeug setzte zum Landeanflug an, sie waren direkt über dem Meer. Die Oberfläche wirkte so nah, dass Kate überzeugt war, sie würden gleich hineinstürzen. Sie stellte sich vor, wie die Wellen über ihr zusammenschlugen. Wäre das eine Erleichterung? Bevor sie eine Antwort gefunden hatte, erschien fester Boden unter ihnen, ein Wunder aus Asphalt, und die Räder setzten auf.

Gepäckausgabe. Kate wartete mit den anderen müden Fluggästen, während die Koffer sie umkreisten wie Alligatoren. Das Gepäckband zog endlos oft an ihr vorbei, die Menge lichtete sich, weil mehr und mehr Leute mit ihren Gepäckstücken wiedervereinigt wurden, nur Kates Tasche tauchte nicht auf. Sie fing an zu schwitzen. Drei Monate waren eine lange Zeit, und sie hatte nur diese eine Tasche gepackt und mitgebracht. Wenn ihre Kleidung jetzt verschwand, wäre sie komplett allein. Nicht mal ein Outlet-Pullover, der ihr Gesellschaft leisten konnte.

Als nur noch sie und ein nervöser Student am Gepäckband standen, kullerte ihre ausgefranste rote Reisetasche die Rampe herunter. Vor Erleichterung wurde ihr schwindelig, als würde sich ihr Kopf mit Helium füllen.

Vor dem Ankunftsterminal sah Kate sich nach ihrer Tante um. Die Straße war völlig verstopft von hupenden Autos, in denen hektische Fahrer über ihren Lenkrädern hingen. Kate entdeckte ihre Tante schließlich, die ihr aus einem frisch gewachsten Volvo zuwinkte. Louise ließ den Wagen einfach auf der mittleren Spur stehen, wofür sie ein paar schrille Pfiffe vom Ordner erntete, die sie aber geflissentlich ignorierte. Sie umarmte Kate, und dann griff sie nach ihren Schultern, obwohl Kate sicher fünfzehn Zentimeter größer war als sie, und musterte sie eindringlich.

Auch Kate machte eine Bestandsaufnahme. Sie hatte ihre Tante seit drei Jahren nicht gesehen, aber Louise sah immer noch genauso aus wie früher. Sie war nur gebräunter. Wie eine Holzterrasse, der ein frischer, aber unwirklicher Braunton verpasst worden war. Sie war zierlich — sie hatte einen Stoffwechsel, der selbst Schweinefett sofort in sehnige Muskeln verwandelte —, und auf ihrem Kopf thronte eine kleingelockte Mähne, die immer ein bisschen feucht wirkte. Louise war eine härtere, glänzendere Version von Kates Mutter, als wäre sie in Lack getunkt und zum Trocknen rausgestellt worden. Wenn Kate sich richtig erinnerte, dann war Louise neugierig und nervtötend, weshalb sie hoffte, dass ihre Tante sich geändert hatte oder sie selbst geduldiger geworden war. Oder aber dass sie sich schlichtweg falsch erinnerte.

Irgendwann ließ Louise endlich die Hände sinken und verkündete: »Du siehst erschöpft aus.«

Kate brachte ein Lächeln zustande. »War ein langer Tag.«

»Ja, drei Zwischenlandungen! Du hättest einen Direktflug buchen sollen.« Louise griff nach ihrer Reisetasche und wuchtete sie, trotz Kates Protest, in den Kofferraum. »Ich habe eine tolle Creme für dich, die hilft sofort gegen deine Augenringe. Hast du schon was gegessen? Wir haben eine Menge zu Hause. Oh, ich sollte Frank anrufen, damit er die Steaks zum Auftauen rauslegt.«

Wenn Louise eine aufgefrischte Terrasse war, glich Kate einer schlecht verputzten Wand kurz vorm Abriss. Teile von ihr bröselten in die milde Luft Kaliforniens. »Ich kann ihm eine SMS von unterwegs schicken, wenn du magst.«

»Ach ja.« Louise nickte, als hätte Kate sie an eine Stadt erinnert, in der sie vor vielen Jahren mal gewesen war. »SMS

Louise redete permanent, während sie sich durch sämtliche Über- und Unterführungen San Franciscos fädelten, Wörter sprudelten aus ihr wie aus einem geplatzten Feuerhydranten. Sie erzählte, dass sie das Gästezimmer hergerichtet hatten, dass sie sich auf Kates Besuch freuten, dass sie sich schon eine Menge Ausflüge überlegt hätten. Sie überquerten die Golden Gate Bridge und fuhren ins Marin County, nahmen die Abfahrt nach Sausalito, sahen das Schild nach Tiburon — und noch immer redete Louise.

Kate versuchte zuzuhören, aber der Wortschwall schwappte vorbei, ohne einzusickern. Sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe und betrachtete die Umgebung mit halb offenen Augen. Hier oben war das Licht dicht und satt, viel goldener als unten am Flughafen. Es umschloss die großen Häuser auf den Hügeln, die Yachten im Hafen. Die Leute zahlten viel Geld, um in diesem Licht zu leben.

»Übrigens«, sagte Louise, als sie auf eine steile Abfahrt bog, »habe ich dir die Atlantic von letzter Woche aufgehoben. Da ist ein Artikel drin, den du lesen solltest.«

»Ja?«

»Darin geht es darum, dass deine Generation sich sehr verloren fühlt. Hat irgendetwas mit den Substanzen zu tun, die das Gehirn freisetzt, wenn man auf Bildschirme schaut. Und mit der Wirtschaft. Am Ende ging es dem jungen Mann, den sie begleitet haben, aber viel besser. Da war ihm bewusst geworden, dass er Jura studieren musste. Es ist einfach eine große Hilfe, wenn man das Richtige für sich findet, nicht wahr?«

Kate schaute ihre Tante an. »Absolut.«

Sie wusste, von welchem Artikel Louise sprach. Er war überall gewesen. Ein paar Tage lang war das Internet geradezu überschwemmt worden von Memes und Kommentaren über die einfallslosen Zitate und die so offensichtlich gestellten Fotos. Ihre Collegefreunde hatten sich in Gruppennachrichten darüber lustig gemacht. Also, auch nicht alle, sondern die mit guten Jobs. Die anderen, wie eben auch Kate, waren still geblieben.

»Dein Job war einfach nicht das Richtige für dich«, fuhr Louise fort. »Da war keine Leidenschaft, sonst wärst du nicht … also … Was ich sagen will: Wie es dir jetzt geht, ist völlig normal.«

»Danke.«

»Und Jura ist ja immer eine Option.«

»Okay.«

»Wenn du den Eignungstest LSAT bestehst. Fayes Sohn hat den gemacht, soweit ich weiß. Vielleicht kannst du dir ja seine Unterlagen ausleihen.«

Sie meint es gut, mahnte Kate sich. Das sagten sie in Kates Familie heimlich über Louise. Sie meint es gut. Zum Beispiel als Louise einem Cousin, einem trockenen Alkoholiker, erklärte, wie wichtig es sei, »sich ab und zu mal gehen zu lassen«, oder als sie auf die damals siebenjährige Kate aufpasste und sie dann Hals über Kopf in die Notaufnahme brachte, weil sie einen tödlichen Ausschlag vermutete, der sich als Sonnenbrand entpuppte. Sie sagten es jedes Jahr, wenn sie unfassbar hohe Schecks zu Geburtstagen oder Weihnachten schickte, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass das viele Geld für ihre stolzen Verwandten aus Neuengland einer Beleidigung gleichkam. Louise war aufdringlich, selbstgefällig und übergriffig, wenn auch mit den besten Absichten.

»Hast du Theo Brand schon getroffen?«, fragte Kate im verzweifelten Versuch, das Thema zu wechseln. »Soweit ich weiß, wollte er letzte Woche anreisen, um das Haus auf Vordermann zu bringen.«

»Roberta hat ihn im Supermarkt gesehen. Er war wohl …« Louise verstummte.

»Er war wohl was?«

»Nichts.«

»Sag schon.« Kate setzte sich auf. »Ich werde ihn morgen so oder so treffen.«

»Also, Roberta hat gesagt, er war … nicht gerade nett.« Louise drehte am Steuer; sie hatten eine kurvenreiche Straße erreicht. Das Meer lag plötzlich vor ihnen wie eine blaue Decke, die man straff über die felsige Oberfläche des Planeten gespannt hatte. »Er wollte nicht mit ihr sprechen.«

»Vielleicht war er müde. Er hat schließlich zwei kleine Kinder.« Ihre Stimmen waren während des Telefoninterviews im Hintergrund zu hören gewesen, hoch und quengelig.

Louise schnaubte. »Andere Leute haben auch Kinder und können trotzdem grüßen.«

»Okay.«

»Außerdem war es noch mehr. Sie hatte das Gefühl, er würde durch sie durchsehen.« Louise schauderte, und der Wagen scherte kurz seitlich aus. »Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass du allein im Haus bist mit ihm. Du erzählst mir bitte sofort, wenn da irgendwas Komisches vorgeht.«

»Nein«, sagte Kate. »Kann ich nicht. Ich habe eine Verschwiegenheitsvereinbarung unterschrieben.«

»Du hast was?« Der Wagen scherte wieder seitlich aus. Kate klammerte sich an den Griff über der Beifahrertür.

»Das ist nicht ungewöhnlich.«

»Es klingt sehr ungewöhnlich.«

»Ist es aber nicht.« Kate musste fast lachen. So viel dazu, dass sie sich vielleicht falsch erinnerte. »Ich dachte, du hast den Job für eine gute Idee gehalten. Du hast ihn mir schließlich vermittelt.«

»Ich hab Theo Brands Putzhilfe deinen Lebenslauf gegeben«, sagte Louise. »Vermittelt hab ich gar nichts.«

»Du weißt, was ich meine.«

Louises Finger umschlossen das Steuer fester.

»Ich habe mich aber nicht für ihn verbürgt«, nuschelte sie.

Kate seufzte. Das war so typisch für ihre Familie. Drängte dich dazu, etwas zu tun, und wenn du es getan hattest, verhielten sie sich, als wäre es das Dümmste, was du je tun konntest.

Sie fuhren nun parallel zum Ufer. Jenseits der dünnen Leitplanke war das Wasser silbrig und funkelte unter dem weißen Abendhimmel. Möwen breiteten ihre Flügel aus und stürzten sich die dunklen, steinalten Klippen hinab. Drehten im letzten Moment ab, stürzten sich dann erneut hinunter. Begeistert vom Wind in den Federn — oder auf der Suche nach ihrem nächsten Opfer.

Zwanzig Stunden zuvor war Kate in New York gewesen, genauer gesagt in Bushwick, bei einer Geburtstagsfeier von jemandem, den sie nicht kannte. Ihre beste Freundin hatte sie mitgeschleppt. Kate hatte Partys mal geliebt. Sie war charmant gewesen und hatte ihre überschüssige Energie für clevere Wortspiele nutzen können. Das war jetzt schwieriger. Sie wurde nervös und unsicher. Sie verpasste den Einsatz, um geistreiche Kommentare beizusteuern. Sie wollte nicht erkannt, nicht angestarrt werden von Leuten, die sich fragten, ob sie noch immer verrückt war, welche Medikamente sie nahm, ob sie eine Abfindung von der Zeitung bekommen hatte. Oder schlimmer noch, ob sie langweilig war.

Aber Natasha, ihre ehemalige Mitbewohnerin, hatte ein Druckmittel: Kate verbrachte die Nacht vor ihrem Abflug bei ihr, weil sie sehr früh zum Flughafen musste, und obwohl sie bis Ende des Monats noch offiziell bei Natasha wohnte, musste man doch die geltenden Regeln guter Gastlichkeit wahren. Und ein guter Gast war zu allem bereit.

Mittlerweile war es nach Mitternacht, eigentlich hatte sie längst gehen wollen, schließlich würde der Wecker unerbittlich früh klingeln. Aber gerade näherten sie sich diesem Moment der Party: Indie-Electro machte dem Nostalgiepop Platz, die teuren Biere der Kleinbrauereien wichen der Billigmarke, und eine Reihe ärztlich abgesegneter Joints machten diskret die Runde.

Kate stand am offenen Fenster und betrachtete die Skyline. Sie hatte gerade ausreichend getrunken, um sich grob zu betäuben. Um ihre Nervosität zu entschärfen. Die, wäre Kate nur einen Moment unaufmerksam, allzu schnell wieder zünden würde. Feuchtes Alu an ihrer Schulter. Natasha mit einer weiteren Dose Bier. Gott sei Dank.

»Wie geht’s dir?«, fragte Natasha. Ihr Ton überfreundlich.

»Gut.«

»Niemand hier, den du kennst, oder? Hab ich doch versprochen.«

»Ja, stimmt. Schöne Party. Ich bin froh, dass ich mitgekommen bin.«

Falls Natasha bewusst war, dass Kate log, ließ sie es sich nicht anmerken. »Ich will nicht, dass du umziehst«, sagte sie und strich sich die Braids über die Schulter. »Was soll ich denn ohne dich machen? Mit wem soll ich Kaffee trinken gehen?«

»Du kommst schon klar«, sagte Kate. »Was soll ich denn ohne dich machen, wenn ich mit meiner verrückten Tante und meinem Onkel in Kalifornien mitten in einem Haufen vergilbter alter Zettel hocke?«

»Du liebst vergilbte alte Zettel. Du wirst sicher total braun werden. Und dann findest du alle Geheimnisse von Miranda Brand raus und schreibst ein Buch, verdienst eine Million Dollar und kaufst eine dieser pinken Villen. Wirst in alle Fernsehshows eingeladen. Kommst nie wieder zurück nach New York.«

Das klang eigentlich ganz gut. New York war schließlich jetzt verbrannte Erde. Wenn Kate an ihrem üblichen Bahnsteig stand oder an einer nur zu bekannten Bar vorbeiging, erinnerte sie sich daran, wie sie diese Orte gesehen hatte, bevor ihr Leben auf den Kopf gestellt wurde. Außerdem würde sie hier sowieso keinen Job finden. Weder bei der Times noch bei der Post noch irgendwo sonst, wo Leonard Webb Freunde hatte — und das war so ziemlich jede Redaktion an der Ostküste. Kalifornien war ein weißes Laken an der Wäscheleine, von jedem Wissen bereinigt.

»Ich werde dich in meiner Pulitzer-Dankesrede erwähnen«, sagte Kate.

»Vergiss den Pulitzer, lieber gleich den Nobelpreis.«

Kate lachte und schüttelte den Kopf. Vor dem Fenster erstreckte sich ein Meer aus Flachdächern, fleckig von Vogelkacke, das in der Ferne mit der schwarzen Schlange namens East River verschmolz. Dahinter erstrahlten die Williamsburg Bridge und die beleuchteten Wolkenkratzer Manhattans. Auf der anderen Straßenseite flackerte eine neonfarbene Alkoholreklame. Aus dem jamaikanischen Imbiss unten drang der Geruch von Kochbananen und mariniertem Hühnchen herauf. Etwa einen Kilometer entfernt hing ein Hubschrauber unbeweglich in der Luft. Wupp-wupp-wupp. Der Scheinwerfer machte Jagd auf seine Beute.

Bei dem Anblick erschauderte Kate, und dann sagte sie, was sie schon seit einer Stunde dachte. »Die Typen dahinten beobachten mich.«

»Wer?«

Ohne hinzuschauen, nickte Kate Richtung Küche, wo ein paar junge Männer mit identischen Hipsterbrillen zusammenstanden. »Die wissen von der Sache mit Leonard.«

Natasha schielte zu ihnen. »Nein, tun sie nicht.«

»Das sind Journalisten.«

»Nein, das sind Anwälte. Ich kenne sie.«

»Vielleicht arbeiten sie bei der Kanzlei, bei der ich mich erkundigt habe, ob ich ihn verklagen kann.«

»Die kennen dich nicht«, sagte Natasha bestimmt, und Kate zuckte zusammen. Da musste Natasha bewusst geworden sein, wie sie klang, denn sie legte Kate einen Arm um die Schulter und fügte hinzu: »Du wirst mir fehlen.«

»Du wirst mir auch fehlen«, sagte Kate.

Das war gleichzeitig wahr und nicht wahr. Kate hatte das Gefühl, seit Jahren eine Maske zu tragen, und nun war plötzlich das Gummi gerissen, ohne das die Maske nicht länger ihr wahres Gesicht verbarg. Natasha würde ihr unendlich fehlen. Sie waren seit über zehn Jahren befreundet, waren zusammen zwanzig und dreißig geworden, hatten gemeinsam Liebeskummer, Tode und die täglichen Enttäuschungen des Lebens durchgestanden. Aber wenn Kate sie jetzt sah, konnte sie nur an jenen Morgen denken, als Natasha in ihr Zimmer kam, um Kate (ungewaschen, unbeweglich, den Blick auf den größer werdenden Kreis gerichtet, den die Heizung in den Frost an der Fensterscheibe fraß) zu sagen, dass sie Kates Mutter gebeten hatte, sie abzuholen.

Das würde ihr nicht fehlen. Die Scham darüber, an ihrem absoluten Tiefpunkt gesehen worden zu sein.

Auch nicht die Vorsicht, die sie nun immer in Natashas Stimme hörte. Oder der Eindruck, der sie manchmal beschlich, dass Natasha erleichtert über ihren Umzug war.

Plötzlich war da Bewegung, zwei verschwitzte Arme legten sich von hinten um Natasha. Ihr Freund, Liam, verlangte sie zurück.

»Du musst mit mir tanzen«, sagte er zu Natasha. »Du liebst dieses Lied. Kate, du auch.«

»Ich komme gleich«, sagte Kate.

Natasha glaubte ihr oder tat so, jedenfalls waren Natasha und Liam innerhalb weniger Sekunden in der Menge verschwunden.

Kate wandte sich wieder zum Fenster und lehnte sich vor, stützte die Ellbogen auf das schmierige Geländer des französischen Balkons. Sie schaute die acht Geschosse hinunter bis zum Bürgersteig. Der Asphalt war brüchig und dreckig. Ein Essensbehälter lag platt getreten dort unten. Zwei Stockwerke unter Kate kam immer wieder eine Hand ins Blickfeld, dort unten schien jemand beherzt zu gestikulieren. Wie ein kleiner Fisch, der sich durch Algen fädelte.

Es war ein Fehler gewesen, herzukommen. Sie wäre besser auf der schäbigen Couch geblieben und hätte unter der geliehenen Bettdecke gezittert und geschwitzt und auf bessere Zeiten gewartet. Wildtiere überwinterten so: Sie machten sich ein Nest aus Blättern und gruben Höhlengänge im Wurzelwerk von Bäumen, sie verkrochen sich in wärmende Dunkelheit, um den Winter zu verschlafen, der sie sonst umbringen würde. Nur Menschen hielten Selbstschutz für eine Schwäche. Als Kate ihren Winter aussaß, sagten alle, sie müsse da durch, es hinter sich lassen, darüber reden. Als könnten Richtungsvorgaben helfen. Als wäre klar, dass danach wirklich etwas Besseres wartete. Dabei wussten doch alle nur, dass etwas wartete.

Plötzlich sah sie sich selbst dort unten auf dem Asphalt, die Gliedmaßen in unnatürlichen Winkeln vom Körper abgespreizt. Blut, das ihr aus der Nase lief. Die Vorstellung war so klar und deutlich, als würde sie ein übersättigtes Foto betrachten, alles war so scharf, dass es einem Befehl gleichkam. Spring!

Sie schreckte zurück, stieß gegen jemanden. Ein Fluch, etwas Nasses an ihrer linken Schulter.

»Sorry«, murmelte sie, ohne sich umzudrehen.

Sie musste hier weg.

Sie bahnte sich den Weg zur Wohnungstür und schlüpfte in den muffigen Hausflur, wo sie so lange den Aufzugknopf drückte, bis die Türen sich endlich mit einem Seufzen öffneten.

Auf dem Weg nach unten betrachtete sie sich im welligen Metall der Tür. Ihre Haare waren platt. Der Lippenstift verblasst. Neuerdings waren da kleine Fältchen an den Augenwinkeln. Früher, wenn sie nachts hin und wieder einen Blick auf sich mit verwischtem Lidstrich oder zerzaustem blondem Haar erhascht hatte, war ihre Reaktion immer ein Fuck, yeah gewesen. Heutzutage erkannte sie ihr Gegenüber im Spiegel manchmal gar nicht. Es lag nicht am Alter. Das letzte Jahr hatte sie verändert, hatte sie geschwächt, ausgelaugt.

»Du musst einfach ein bisschen Farbe bekommen«, hatte ihre Mutter letzte Woche gesagt. »Du brauchst Sonne.«

Kate wollte ihr glauben. Wollte, dass Kalifornien die Lösung für alles war, das alles bewerkstelligen konnte: ihre blasse Haut bräunen, ihr glanzloses Haar auffrischen und dann tief in sie hineingreifen und das notdürftig geklebte Chaos reparieren.

Der Aufzug glitt ein weiteres Stockwerk hinunter. Gar kein so großer Unterschied zum Springen. Auch hier zog die Schwerkraft sie hinunter. Der Aufzug bewegte sich bloß langsam, der Boden fing sie beim Fallen auf. Hier. Und hier. Und hier, bis sie im Erdgeschoss angekommen war, ganz unten, und die Tür aufging, ihre Spiegelung in zwei Teile riss und dann verschwinden ließ.

Miranda

1. Teilbestand, Schriftverkehr

Karton 1, Persönlicher Schriftverkehr

Mappe: Eggers, Hal (beinhaltet 39 Fotokopien von MBs Briefen aus HEs Privatsammlung)

27. Dezember 1990

Lieber Hal,

lieben Dank für die Anfrage, ob ich einen »Bekenntnis-Essay« schreiben würde. Das muss ich hochachtungsvoll ablehnen.

Und hier kommt der Grund dafür, du unfassbarer Idiot.

Du willst etwas haben, das so ist wie der Biss in eine reife Feige: saftig, intensiv, explosiv. Aber Bekenntnisse sind nicht sexy. Bekenntnisse sind wie Weichteilbrüche. Wie Organe, die sich durch kleine Öffnungen nach außen quetschen. Wie ein Körper, der sich selbst übergibt. Feucht und zuckend. Bekenntnisse sollten nie direktem Sonnenlicht ausgesetzt werden.

Selbstverständlich wollen die Fans das. Sie sind Kannibalen, Feinschmecker, hungrige Raubtiere, sie wollen sich darin verbeißen und es zerreißen. Sie wollen zum innersten Kreis gehören.

Aber ich werde sie nicht bedienen. Kann ich nicht.

Ich bin keine Aktienprämie.

Ich bin keine staatliche Institution.

Meine Fotos machen dich doch schon reich, oder etwa nicht? Was kümmert dich das also? Die Essays, Presseerklärungen, Vorträge vor Spendern, das sind doch alles nur Wörter. Die Fotos verkaufen sich selbst. Die Fotos sagen alles, was ich sagen will.

Hochachtungsvoll,

dein Goldesel Miranda

4. Januar 1991

Miranda, meine Liebe,

SELBSTVERSTÄNDLICH möchte ich nicht, dass du dich von mir BENUTZT fühlst — ich hielt ein solches Bekenntnis einfach für eine gute Gelegenheit, um deine GESCHICHTE zu erzählen!

Außerdem finde ich, du stellst das gesamte Genre in ein schlechtes Licht. Schriftbekenntnisse sind SEHR beliebt. Hast du Sylvia Plath nicht gelesen? Und ich will doch gar nicht, dass du ALLES preisgibst. Du kannst doch die ILLUSION eines Bekenntnisses kreieren. Heutzutage muss man die Welt als Bühne verstehen, denk nur mal an Cindy, denk an den bezaubernden Herrn aus North Carolina, den ich letztes Jahr unter Vertrag genommen habe … du nimmst das viel zu WÖRTLICH, wie immer!

Ich habe Romi gesagt, dass du definitiv etwas zum Ausstellungskatalog beisteuern wirst. Er hat eine VISION, wie er deine Beiträge einbetten will, die ich sehr INNOVATIV finde. Wir könnten ein Interview inszenieren, GANZ EGAL, Hauptsache IRGENDWAS. Deine Einsiedlerinnen-Masche ist mittlerweile überholt. Dafür machst du das schon zu lange.

Übrigens gibt es einen Interessenten, der die vollständige Bottle-Girls-Serie kaufen will, aber ich habe keine Abzüge mehr von Nummer 4, seit ich den letzten verkauft habe. Wir haben nur 7 der gedruckten 10 verkauft, deshalb müssten davon noch welche bei dir rumschwirren. Könntest du mal nachsehen?

Hal

18. Januar 1991

Hal,

ich habe dir die 3 verbliebenen Abzüge von BG#4 per Kurier geschickt. Ich kann gern nächsten Monat neue machen.

Lass mich raten, welche Themen Romi vorgeschlagen hat.

Mutterschaft.

Ehe.

Zu viel Erfolg.

Zu wenig Erfolg.

Meine Vagina. Wer drin war, wer rauskam, ob ich mich nach der Geburt hab enger nähen lassen.

Ob meine Glanzzeit vorbei ist.

Ob ich zu teuer gehandelt werde.

Ob ich vergessen werde.

Was in Nangussett passiert ist.

Ob die Narben auf meinen Fotos echt sind.

Oder ob ich das alles inszeniert habe.

Nein? Nichts davon?

Ehrlich?

Wenn dir Romi das nächste Mal auf einem Klo einen runterholt, solltest du ihn, statt zu versprechen, dass ich irgendeinen Scheiß mache, daran erinnern, dass ich für die Ausstellung den Abzug #6 der Capillaries will, der im MoMA hängt, nicht den aus Chicago. Die Sättigung ist anders. Mir egal, welches leichter zu versichern ist.

M