Klaus Hübner

Kaiserschmarrn, Röschti und andere Schmankerl

Kein Twitter, kein Facebook

Von Menschen, Büchern und Bildern

Band 2

 

 

Außer der Reihe 42

 


Klaus Hübner

KAISERSCHMARRN, RÖSCHTI UND ANDERE SCHMANKERL

Kein Twitter, kein Facebook

Von Menschen, Büchern und Bildern

Band 2

 

Außer der Reihe 42

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: April 2020

p.machinery Michael Haitel

 

Titelabbildungen: Federlos (Kaiserschmarrn), Hans Braxmeier (Rösti), Reinhard Thrainer (Kaffeehaus), Jörg Vieli (Zürich), alle Pixabay

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda Michael Haitel

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda Michael Haitel

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

 

ISBN des Paperbacks: 978 3 95765 191 4

ISBN des Hardcovers: 978 39 5765 192 1

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 895 1

 


Vorwort

 

In der Wochenzeitung Die Zeit vom 10. Januar 2019 charakterisiert der 1995 mit dem Büchnerpreis bedachte Dichter Durs Grünbein unsere Gegenwart so: »Jeder sein eigener Handy-Sklave, jeder sein eigener von Computern und Tablets gesteuerter Idiot in der rund um die Uhr aktiven Netzwerkgemeinschaft«. Mir ist das zu pauschal. Jeder? Es gibt viele, die Handy, Computer und Tablet nutzen und trotzdem keine Sklaven oder Idioten sind. Und es gibt eine Menge Leute, die über ihr Tun nachdenken und zu manchem einfach »Nein« sagen. Wer zum Beispiel weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Einen ignoranten Technik- und Modernitätsverweigerer darf man ihn allein deshalb auch nicht nennen. Was aber dann? Man muss ihn sich nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht.

»Das Buch mag den neuen, scheinbar körperlosen, sein Erbe beanspruchenden, in überbordendem Maß Informationen zur Verfügung stellenden Medien in vielem unterlegen und ein im ureigenen Sinn des Wortes konservatives Medium sein, das gerade durch die Abgeschlossenheit seines Körpers, in dem Text, Bild und Gestaltung vollkommen ineinander aufgehen, wie kein anderes die Welt zu ordnen, manchmal sogar zu ersetzen verspricht«, schreibt die 1980 geborene Judith Schalansky im Vorwort ihres 2018 erschienenen Buchs Verzeichnis einiger Verluste. Dass weniger Bücher, vor allem weniger literarische Texte gelesen werden als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, ist ein Faktum. Das verheißungsvoll und schön klingende Wort »Sprachkunstwerk« hört sich heute sehr gestrig an. Wer ist neugierig auf Sprachkunstwerke? Und – um die Schraube noch weiter zu drehen – wer liest heute überhaupt noch Bücher über Bücher? Allzu viele Leute werden es nicht sein. Aber die sind wichtig. Wäre ich davon überzeugt, dass eine umfangreiche Sammlung von Interviews mit Literaten, literarischen Essays, Künstlerporträts, Glossen und Streiflichtern aller Art und obendrein auch noch vielen Buchrezensionen ein altmodisches und tendenziell nutzloses Unterfangen ist, hätte ich auf die Arbeit an diesem Projekt verzichtet und mich stattdessen – lesend natürlich – in einen wundermilden Biergarten zurückgezogen. Oder sonst wohin. Aber ich weiß ganz sicher, dass es immer noch einige, darunter auch relativ junge Leute gibt, die mit Interesse und manchmal mit Begeisterung genau das suchen: Begegnungen mit Literatur, mit Malerei, mit Kulturgeschichte – und mit den Menschen, die sie machen und gestalten. Auch die weiterhin enorme Aufmerksamkeit für Literaturfeste, Autorenlesungen, Ausstellungen und andere Kulturevents spricht dafür. Trotz des allenthalben konstatierten und oft bitter beklagten gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts von Kunst und Literatur können sich nur wenige Zeitgenossen ein Leben ganz ohne sie vorstellen. Und, nennen Sie mich ruhig einen Träumer, einen Fantasten oder einen hoffnungslosen Idealisten: Auch heute noch – und höchstwahrscheinlich auch in nächster Zukunft – lassen sich der Kunst und der Literatur soziale Funktionen zuschreiben, die nicht die allerunwichtigsten sind. Die Förderung der Wach- und Aufmerksamkeit für ein lebenswertes und vielleicht sogar schönes Leben – nicht nur für sich selbst – könnte man da anführen, die Erweckung und Intensivierung von Empathie für nicht konforme Mitmenschen und zunächst fremd anmutende Kulturen, die Weiterentwicklung verantwortungsvollen Handelns in Politik und Gesellschaft und noch manches mehr. Ich bin zum Beispiel ziemlich sicher, dass die deutsche Einwanderungs-, Flüchtlings- und Asylpolitik anders und besser aussehen würde, hätten die maßgeblichen Politiker und andere wichtige Entscheidungsträger die spätestens seit den 1990er-Jahren kaum noch zu übersehende interkulturelle Literatur – mit ihren vielfältigen Blicken »von außen« – wirklich wahrgenommen. Ich bin auch recht sicher, dass die intensive Lektüre von Literatur und Dichtung dazu führen kann, die überall festgestellte und kritisierte Verrohung der öffentlichen wie der privaten Sprache zu erkennen, nicht auf sie hereinzufallen oder ihr sogar bewusst entgegenzutreten. Und ich bin … oh weh, doch ein hoffnungsloser Idealist? Urteilen Sie selbst, fangen Sie einfach an zu lesen …

Das Projekt Kein Twitter, kein Facebook ist auf vier Bände angelegt und enthält ungefähr zwei Drittel meiner in den letzten beiden Jahrzehnten entstandenen Texte. Alle wurden leicht überarbeitet. Irgendwelche Positionierungen auf politischen, wissenschaftlichen oder kulturellen »Feldern« sind mit diesem Projekt nicht beabsichtigt. Nachweise der Erstpublikationen finden sich am Ende jedes Einzelbandes. Die Regelkonformität der Rechtschreibung ist der Lesbarkeit untergeordnet. Das modische Thema »Sprache und Gender« bleibt außen vor. Zu danken wäre vielen Freunden und Kollegen, auch wenn sie von meinen Plänen nichts wussten. Einer, der davon wusste, war der Schriftsteller Tiny Stricker, der mich zu diesem Projekt fast schon überreden musste und das mit Feingefühl und Beharrlichkeit getan hat. Danke, Tiny!

Voilà, der zweite Band beginnt …

 

Klaus Hübner

München, im April 2020

 


Literatur aus Österreich

 


Herzzeit für Philologen. Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan

 

Liebe ist immer etwas sehr Privates, und nur durch den Bekanntheitsgrad der Liebenden wächst ihr zuweilen ein Element von Öffentlichkeit zu. Das gilt mit einiger Sicherheit für das Verhältnis zwischen Ingeborg Bachmann (1926–1973) und Paul Celan (1920–1970). Die Werke dieser beiden Schriftsteller gehören zum Kernbestand der deutschsprachigen Literatur nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und sie gehören auch deshalb dazu, weil sie, auf unterschiedliche Art und Weise, vom deutschen Zivilisationsbruch in der NS-Zeit geprägt sind, vor allem von der fabrikmäßigen Ermordung vieler Millionen Juden und deren so unsagbaren wie unendlichen Folgen. Was wäre die deutschsprachige Lyrik ohne Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des Großen Bären (1956)? Ohne Mohn und Gedächtnis (1952) und Sprachgitter (1959)? Was wäre die Erinnerung an die Fünfziger- und Sechzigerjahre ohne die berühmte Gruppe 47? Unser Blick auf die Nachkriegszeit wäre unvollständig ohne die Verse, die Stimmen und die Fotos von Bachmann und Celan.

Dass die Tochter eines Kärntner Nazis der ersten Stunde und der jüdische Holocaustüberlebende aus Czernowitz, die sich im Mai 1948 in Wien kennenlernten, eine für ihre Literatur eminent folgenreiche Liebesbeziehung zu gestalten versuchten, die letztlich in Verzweiflung, Verstummen und Tod endete, weiß man seit Langem. Dokumentiert wird diese nicht nur poetische Korrespondenz in dem Band Herzzeit, und sie wird so gut dokumentiert, wie das durch Briefe und Gedichte, Kommentare und Nachworte überhaupt möglich ist. Gedichte? Mit In Ägypten, entstanden im Juni 1948 und »Ingeborg« gewidmet, beginnt Herzzeit. Der Titel des Bandes stammt aus dem Celan-Poem Köln, Am Hof, das nach dem Wiederaufleben der Liebesbeziehung im Herbst 1957 entstand. Beide Gedichte gehören zu den 196 in Herzzeit versammelten und ausführlichst kommentierten Dokumenten aus etwa zwanzig Jahren. Das Herausgeberteam hat ganze Arbeit geleistet, und entsprechend begeistert zeigten sich die Experten – wenn auch der eine oder andere Einwand gegenüber manchem Detail nicht ausblieb. Die Briefe, Postkarten, Widmungen und Grußtelegramme enthüllten ein »existenzielles Ringen um die deutsche Sprache im Angesicht der historischen Katastrophe« und offenbarten zudem »einen verzweifelten Kampf um private Verständigung und poetisches Verstehen«, schreibt der Kritiker Hubert Spiegel, der den »Kampf gegen das Verstummen, die Überwindung des Schweigens« als zentrales Thema der Briefe bezeichnet. Was unbedingt richtig ist, durch alles Auf und Ab dieses immer höchst gefährdeten Verhältnisses hindurch. Die junge Frau aus Klagenfurt wird zu einer erfolgreichen Dichterin, die Kritiker und Kollegen der Gruppe 47 im Sturm für sich einnimmt, während Celan mit seiner heute weltberühmten Todesfuge beim Gruppentreffen in Niendorf (1952) kopfschüttelnd abgetan wurde. Schon 1951 hatte der nach Paris gegangene Dichter seine spätere Frau Gisèle Lestrange kennengelernt. Bachmann war dem Komponisten Hans Werner Henze begegnet, und im Mai 1958, wenige Monate nach dem Wiederaufleben ihrer Liebesbeziehung zu Paul Celan, traf sie zum ersten Mal den Schweizer Schriftsteller Max Frisch, mit dem sie sich bald darauf zusammentat. Die Briefe zwischen Celan und Frisch, die man in Herzzeit aufgenommen hat, sind zum Verständnis der Konstellation ebenso wichtig wie die zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Auch sie bestätigen, was man ahnen konnte: Paul Celan, dessen Kosmos durch die sogenannte Goll-Affäre und durch eine als antisemitisch empfundene Kritik seines Sprachgitter-Bandes verdüstert wurde, war im Grunde auf Erden nicht zu helfen. Weder der Büchnerpreis konnte sein Gefühl tilgen, verraten worden zu sein, noch vermochten das die Hilfs- und Tröstversuche seiner Freunde – Ingeborg Bachmann an erster Stelle. Nichts und niemand konnte verhindern, dass der Mann, der die Dichtung in deutscher Sprache um eine ganze Dimension atemberaubend neuer lyrischer Ausdrucksmittel bereichert hat, 1970 seinem Leben ein Ende setzte. Drei Jahre später starb Ingeborg Bachmann an den Folgen eines Brandunfalls in Rom.

Muss man Herzzeit gelesen haben? Nein, das muss man nicht. Wer die literarischen Werke der Briefpartner nicht kennt, wird von der Lektüre nur wenig haben. Der für die Celan- und die Bachmann-Forschung äußerst wichtige Band könnte allerdings ein Anlass sein, sich den heute nicht mehr allgemein präsenten Texten zweier großer Poeten des 20. Jahrhunderts zuzuwenden. In Bachmanns Spätwerk, speziell in Drei Wege zum See und im Malina-Roman, kann man auch mehr über ihre unglückliche Liebe zum Autor der Todesfuge erfahren. Die Gedichte und Prosastücke aber, für die Ingeborg Bachmann und Paul Celan zu Recht berühmt geworden sind, ruhen meistens, oft lange nicht mehr gelesen, in den Regalen. Sie sollte man hervorholen und mit neuen Augen lesen. Sie sind das Primäre. Ihnen sollte man sich widmen. Und das geht zur Not auch ohne den beeindruckenden und aufschlussreichen Herzzeit-Band.

 

Ingeborg Bachmann / Paul Celan: Herzzeit. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2008: Suhrkamp Verlag. 399 S.

 


Aphoristik als Moralistik. Elazar Benyoëtz – Dichtung und Weisheit

 

Der wunderbaren Buchreihe Profile, die sich im Untertitel als Magazin des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek entpuppt, können in Deutschland wohl nur einige Marbacher Kataloge das Wasser reichen. Wunderschön aufgemacht, mit zahlreichen Fotos und Faksimiles aus dem Vorlass oder dem Privatbesitz des Dichters, ist kürzlich ein stattlicher Band über Elazar Benyoëtz erschienen: Korrespondenzen. Der 1937 als Paul Koppel in Wiener Neustadt geborene und Ende 1939 mit den Eltern nach Palästina gelangte Dichter, der in hebräischer Sprache debütierte und seit 1969 meistens auf Deutsch schreibt, ist nach wie vor einer der am wenigsten bekannten Chamisso-Preisträger. Schon 1988 hat er den Preis erhalten, und seitdem ist sein Werk ungeheuer angewachsen – Gedichte und Prosa, Essays und Briefe, vor allem aber Aphorismen. Benyoëtz schreibe »Aphoristik als Moralistik«, hat Harald Weinrich einmal gesagt – Korrespondenzen enthält auch eine kluge Auswahl aus seinem Briefwechsel mit dem Dichter. Aphorismenbände jedoch, und seien sie noch so brillant, kaufen die Leute selten.

Fast fünfzig Seiten umfasst die Einleitung, die die Überschrift »Folgenichtig. Oder: Ich unterschreibe nicht« trägt und von Elazar Benyoëtz selbst stammt. »Ich habe keine deutsche Umwelt, kein Deutsch um die Ohren, ich muss mein eigenes Herz essen«, heißt es in dieser autobiografischen Melange. Genauso fundamental: »Auschwitz und Deutsch sind unzertrennlich, Hebräisch und Auschwitz sind unvereinbar … Als ich ins Deutsche geriet, sah ich seinen großen Vorzug ein: in jeder anderen Sprache wäre es leichter, Jude zu sein.« Warum diese Collage aus Gedicht- und Prosazeilen, Aphorismen, Briefstellen und Zitaten? Weil man dem Poeten damit wohl am nächsten kommt, und er selbst sich vielleicht auch: »Das Hohelied der Fälscher läuft unter ›Memoiren‹.« Ein Fälscher will Benyoëtz nicht sein – er spricht als Dichter, immer. Und als religiöser Mensch: »Wenn ich etwas über Gott und die Dichtung sagen möchte, will ich nicht gezwungen werden, mein Urteil über Arafat oder Sharon abzugeben. Mit Fragen solcher Art wird die Poesie öffentlich ausgepeitscht.« Das Problem dabei: Wer hört noch zu? »Welche Blumen sind es noch, durch die man heute sprechen könnte?«

Um diesen eminenten Dichter zu entdecken oder genauer kennenzulernen, kommen diese Korrespondenzen gerade recht. Zwölf Experten, darunter der Schriftstellerkollege Robert Menasse und die profilierte Wiener Kritikerin Daniela Strigl, beleuchten und deuten sein Werk, und die von Michael Hansel zusammengestellte »Korrespondenz in Bildern und Texten« liefert aufschlussreiche Fotos. Zum Beispiel eins von Benyoëtz und SAID (Stuttgart 1998), auf dem im Hintergrund deutlich ein Schriftzug zu erkennen ist: »Viele Kulturen – eine Sprache.«

 

Elazar Benyoëtz, Korrespondenzen. Herausgegeben von Bernhard Fetz, Michael Hansel und Gerhard Langer (= Profile 21). Wien 2014: Zsolnay Verlag. 269 S.

 


Fremde Denkräume. Elazar Benyoëtz zum achtzigsten Geburtstag

 

Der in Wiener Neustadt geborene und in Palästina aufgewachsene Elazar Benyoëtz, der mit dem literarischen Schreiben in seiner »Muttersprache Hebräisch« angefangen hat und seit 1969 meistens in seiner »Vatersprache Deutsch« publiziert, ist inzwischen einer der am wenigsten bekannten Chamisso-Preisträger. Das liegt natürlich daran, dass er Israel nur noch selten verlässt und im hiesigen Literaturbetrieb so gut wie nicht präsent ist. Es liegt aber mit Sicherheit auch daran, dass seine Art des Dichtens und Denkens völlig quer steht zu einem Zeitgeist, dem das möglichst mühelose und möglichst unterhaltsame Konsumieren von Medien aller Art den Zugang zu einer Weisheit blockiert, deren gedankenreiche Widerständigkeit ohne Reflexion und Empathie nicht zu haben ist.

In seinem 2001 erschienenen Band Allerwegsdahin hat Elazar Benyoëtz seinen Weg als Jude und Israeli ins Deutsche, wie der sich an Jakob Wassermann anlehnende Untertitel lautet, erläutert: »Deutsch schreibend, nehme ich Anteil an dem vergossenen, an dem verflossenen Leben und verschreibe mich der Zukunft alles buchstäblich Vergänglichen … Vergänglichkeit wird begangen, und sie erstreckt sich weithin, weitaus. Niemand würde aus meinen Texten entnehmen, dass ich in Tel Aviv fast geboren und daselbst Strand- und Straßenkind war.« Am 29. Oktober 1981 schrieb der Dichter an Harald Weinrich: »Deutsch war mir nie eine Fremdsprache, auf einem dürftigen Niveau begleitet sie mein Gehör fast unaufhörlich.« Das Niveau blieb natürlich nicht sehr lange dürftig: »Ich liebte die Dichtung, die Dichter, die Gedichte, die Strophen, die Zeilen, über alles Jakob Haringer … Else Lasker-Schüler gab mir den Segen, Haringer gab mir nichts, er ließ mich aber wissen, dass es Dichter unter Umständen gibt, und andere – unter allen Umständen.«

Bereits 1988 hat Elazar Benyoëtz den Chamisso-Preis erhalten, und seitdem ist sein Werk ungeheuer angewachsen – Gedichte und Prosa, Essays und Briefe, vor allem aber Aphorismen. Harald Weinrich nennt in seinem Vorwort zur Studie Der israelische Aphoristiker Elazar Benyoëtz, die Christoph Grubitz 1994 veröffentlicht hat, den Aphorismus »eine eigenartige Gattung«, und er fährt fort: »Sie ist, außer durch ihre knappe, prägnante, pointierte Form, auch durch ihren Inhalt definiert: Aphoristik als Moralistik.« Zum aphoristischen Sprechen dieses Dichters gehören das Entlarven sprachlicher Gewohnheiten durch ihr Wörtlichnehmen oder ihr Umdeuten, manchmal auch das absichtliche Missverstehen und der bewusste Verstoß gegen grammatische Regeln. Seit 1969, als er mit Sahadutha in Deutschland debütierte, hat Elazar Benyoëtz weit mehr als dreißig Aphorismenbände veröffentlicht. »Ein guter Aphorismus ist von erschöpfender, ein schlechter von ermüdender Kürze«, hat er einmal formuliert. Nicht nur das Gedicht, auch der Aphorismus ist für Benyoëtz eine dem Verstummen benachbarte Ausdrucksform, eine »Bruchstelle des Schweigens«. Die konzise, manchmal bis zum Einzelwort verknappte literarische Form des Aphorismus sei »als unsystematisches Erlebnisdenken und Erkenntnisspiel im Grenzgebiet von Wissenschaft, Philosophie und Literatur besonders auf die kritische Weiterarbeit des Lesers angewiesen«, heißt es im Metzler Literatur Lexikon. Die Hauptthemen von Elazar Benyoëtz sind Sprache, Vergänglichkeit, Erinnerung und Glauben – große Themen aller Dichtung überhaupt, höchst geeignet für die »kritische Weiterarbeit des Lesers«. Wobei zu präzisieren wäre: eines dazu auch bereiten, eines geduldigen, zweifelnden und nachdenklichen Lesers. Im Grunde möchte man nur noch zitieren: »Ein Dichter / muss auch leere, / vollendet leere Seiten / schreiben können.« Oder: »Man hat die Wahl, / die man trifft.« Oder auch – jeder kennt das und hat es doch noch nie so formuliert gesehen: »Es ist leichter, / sich verständlich zu machen, / als sich zu erklären.« Anders gesagt: »Dem Verständnis / stehen alle Erklärungen / im Wege.« Und im Hinblick auf das neue Modewort »postfaktisch« könnte man mal über folgenden Aphorismus sinnieren: »Auch Tatsachen / bleiben nicht gern / bei den Fakten.« Was macht man damit? Erwägen, überlegen, weiter nachdenken natürlich – mit Elazar Benyoëtz! Doch wer mag heute noch hinhören, nachfühlen, sich verzaubern lassen, mitdenken und bedenken?

Elazar Benyoëtz spricht aus einer anderen Zeit, und er spricht aus der Fremde: »Ich habe keine deutsche Umwelt, kein Deutsch um die Ohren, ich muss mein eigenes Herz essen«, heißt es in einem autobiografisch grundierten Essay, in dem er seine Schreibsituation erläutert. Diese ist, schon immer und heute erst recht, vom barbarischen Zivilisationsbruch des NS-Terrors unauslöschlich geprägt: »Auschwitz und Deutsch sind unzertrennlich, Hebräisch und Auschwitz sind unvereinbar … Als ich ins Deutsche geriet, sah ich seinen großen Vorzug ein: In jeder anderen Sprache wäre es leichter, Jude zu sein.« Was es bedeutet, nach dem brutalen Einschnitt des Holocaust im 20. und 21. Jahrhundert »Jude zu sein«, auch das erfährt man in den Aphorismen, Gedichten, Prosaskizzen und Briefen von Elazar Benyoëtz. Und man erfährt es nur dort, denn vermeintlich leichter Zugängliches zu schreiben hat er stets verweigert: »Das Hohelied der Fälscher läuft unter ›Memoiren‹.« Und ein Fälscher, der über die Abgründe menschlicher Existenz allzu glatt und flott hinweggeht, will Benyoëtz nicht sein. Er spricht nicht als Unterhaltungsschriftsteller, er spricht als Dichter, und zwar immer: »Nicht alles ist Dichtung, und Dichtung ist nicht die Wahrheit, aber sie ist das, was wir von der Wahrheit haben und von ihr zu berichten wissen.« Zugleich ist er ein religiöser Mensch, dem das Buch Kohelet das einzige unumschränkt geltende Vorbild ist. Doch nicht der Glaube überzeugt, nur die Sprache: »Sprichst du nicht viel und bleibst du dem Wenigen treu, kommst du glimpflich, gerade noch gottesfürchtig davon. Davon? Wenn du nicht fragst, wohin. In jedem Fall wirst du gerichtet.« Literatur und Religiosität gehören bei ihm unauflöslich zusammen: »Ist Gott mit mir, ist es auch das ganze Alphabet.«

Niemand darf, in welchem Kontext auch immer, das Werk und die Person dieses Poeten für eigene Zwecke instrumentalisieren – was das angeht, wird Benyoëtz ganz deutlich: »Wenn ich etwas über Gott und die Dichtung sagen möchte, will ich nicht gezwungen werden, mein Urteil über Arafat oder Sharon abzugeben. Mit Fragen solcher Art wird die Poesie öffentlich ausgepeitscht.« Einen ähnlich emphatischen Begriff von Poesie wie Benyoëtz hat wohl kaum ein anderer zeitgenössischer Autor. Das Wichtigste an seinen großartigen Gedichten und sinnreichen Aphorismen ist der Denkraum, den sie mit nur wenigen Worten öffnen. Wer sich von der Literatur nicht ausschließlich Nutzen und Vergnügen, sondern noch dazu das Öffnen solcher Denkräume erwartet, der blättere in den Büchern von Elazar Benyoëtz. Da steht alles drin.

 

Elazar Benyoëtz: Allerwegsdahin. Mein Weg als Jude und Israeli ins Deutsche. Zürich/Hamburg 2001.

Elazar Benyoëtz: Die Eselin Bileams und Kohelets Hund. München 2007.

Elazar Benyoëtz: Der Mensch besteht von Fall zu Fall. Aphorismen. Mit einem Nachwort von Friedemann Spicker. Stuttgart 2009.

Elazar Benyoëtz: Korrespondenzen. Herausgegeben von Bernhard Fetz, Michael Hansel und Gerhard Langer (= Profile 21). Wien 2014.

 


Sein Weg als Israeli und Jude ins Deutsche. Neues von Elazar Benyoëtz

 

Aber? Wenndig? Soll der Buchtitel ein hochreflektiertes, konjunktivisches Schreiben mit musilschem Möglichkeitssinn ankündigen? Im Duden jedenfalls wird man »aberwenndig« vergeblich suchen. Elazar Benyoëtz hat unter diesem Titel eine Fülle autobiografischer Splitter zu einem Lebensmosaik zusammengetragen. »Mein Weg – ein großes Wort auch dies, ich lass' es lieber fallen; zerbricht es, findet es Anklang vielleicht. Splitter sind die Bedeutungen dessen, was Sinn hatte« (18). Die Splitter verdichten sich zur Bilanz, zur Summe eines ungewöhnlichen Lebens: »>Man kann nicht über seinen Schatten springen<: die wachsende Lebenserfahrung ist dieser Schatten« (29). Was dieses Dichter- und Gelehrtenleben durchgängig prägt und es für Nachgeborene anregend und reich macht, ist nicht allein sein historischer Ort: »Rom wie Jerusalem sind … nur noch über Auschwitz zu erreichen« (167). Es ist auch das geistige Dazwischen, das aus dieser Verortung hervorgegangen ist: »Für den Israeli denke ich zu deutsch, für den Deutschen zu jüdisch« (276). Und es ist die Singularität dieses Lebens: »Den umgekehrten Weg, aus dem Deutschen ins Hebräische, sind viele gegangen; den Weg als israelischer Dichter ins Deutsche ging niemand, außer mir« (380).

Zunächst fällt auf, dass Aberwenndig womöglich das erste deutsche Buch ist, das wie ein hebräisches gelesen werden will, also von rechts nach links. Was anfangs etwas verwirrend ist – aber wirklich nur anfangs. Am Text und an der Lesefolge ändert sich ja nichts, wenn man das Buch »hebräisch« in Händen hält. Weiter fällt bald auf, dass Aberwenndig einen Vorgänger hat. Schon in seinem 2001 erschienenen Band Allerwegsdahin hatte Elazar Benyoëtz seinen Weg als Jude und Israeli ins Deutsche, wie der sich an Jakob Wassermann anlehnende Untertitel beider Bücher lautet, knapp erläutert. In Aberwenndig liest man, ähnlich wie schon in Allerwegsdahin: »Niemand würde aus meinen Texten entnehmen, dass ich in Tel Aviv fast geboren und daselbst Strand- und Straßenkind war. Ich wollte immer in die Welt hinaus schwimmen, am Ende saß ich im Zug und hörte das entsetzliche Rollen von Wien bis Köln. Züge, deutsche Atemzüge« (96). Die Hauptthemen von Elazar Benyoëtz sind Sprache, Vergänglichkeit, Erinnerung und Glauben – große Themen aller Dichtung überhaupt. Er hat Gedichte und Prosa, Essays und Briefe, vor allem aber Aphorismen veröffentlicht. Nicht nur das Gedicht, auch der Aphorismus ist für ihn eine dem Verstummen benachbarte Ausdrucksform, eine Art Bruchstelle des Schweigens.

Seine spezielle Art aphoristischer Moralistik findet sich selbstverständlich auch im neuen Band, neben zahlreichen Zitaten aus Literatur und Philosophie, vor allem solchen aus dem Alten Testament. Etwa: »Aller Gründe Grund ist Bodenlosigkeit« (10). Oder: »Wo nichts einleuchtet / gibt es nichts aufzuklären« (197). Doch die Aphorismen machen nur einen Bruchteil des gesamten Buches aus – auch, weil der Dichter weiß, dass man nicht allzu viele hintereinander weg lesen kann. Außerdem: »Gute Aphorismen sind von erschöpfender, schlechte von ermüdender Kürze« (44). Schlechte Aphorismen sucht man hier vergebens. Was man jedoch allenthalben findet, sind gute Gedichte und kluge Prosastücke, von denen viele speziell für Literaturhistoriker hoch interessant sind, auch weil sie mit Urteilen nicht sparen: »Im Gegensatz zu den wenigen anderen, die sich mit ihr messen können, war sie, Gertrud Kolmar, nicht entschieden, aber fraglos die größte deutsch-jüdische Dichterin im 20. Jahrhundert« (185). Oder: »Auf Celan kann die deutsche Sprache nicht verzichten, sowenig sie das Recht auch hat, auf ihn Anspruch zu erheben« (186). Zu derartigen Betrachtungen und Sentenzen – »Anne Frank ist das Lächeln Kafkas« (214) – treten prägnante Briefe oder Briefstellen von Dichterinnen wie Margarete Susman oder Marie Luise Kaschnitz, dem nach Jerusalem vertriebenen Dramatiker Max Zweig, dem im Londoner Exil lebenden Schriftsteller H. G. Adler, dem Romanisten und Sprachwissenschaftler Harald Weinrich, dem Frankfurter Philosophen Theodor W. Adorno, dem Theologen und Friedenskämpfer Rufus Flügge und vielen anderen Korrespondenzpartnern des Autors.

1963 kam Elazar Benyoëtz zum ersten Mal nach Berlin, und bald darauf begann er mit der konkreten Arbeit an einem Projekt, das inzwischen Kanon- und Kultstatus besitzt und bis heute einmalig geblieben ist: die Bibliographia Judaica. »Ich lege meinen Weg zurück, ziehe mit Moses Mendelssohn von Dessau aus und eben durch das Rosenthaler Tor in Berlin ein … ich warte nur noch, bis Salomon Maimon eintrifft, mit dem ich mich besser unterhalten zu können hoffe als mit Mendelssohn« (64). Dieser gewaltigen bibliografischen Arbeit liegt eine Überzeugung zugrunde, die Elazar Benyoëtz so formuliert: »Zu einem tiefen, gut fundierten jüdischen Selbstverständnis würde heute, nach meinem Dafürhalten, die jiddische Sprache gehören – und die deutsche Literatur. In diesen beiden Sprachen hat jüdische Geistigkeit, wie immer sie gedeutet werden mag, ihren höchsten und im hier gedachten Sinn auch ihren letzten Ausdruck gefunden. Die deutsche Sprache spielte das jüdische Schicksal. Das Schicksal des jüdischen Volkes, von Jiddisch bis Auschwitz, ist deutsch geprägt. Was man für Jüdisch hält, was jüdisch haltbar ist, es lässt sich ohne Deutsch nicht breit genug denken, geschweige denn ausdenken« (89). Das nicht ohne Umwege verlaufene Entstehen der Bibliographia Judaica wird in Aberwenndig genauer geschildert, nicht ohne die Verdienste anderer Forscher und Gelehrter zu betonen, speziell die der engsten Mitarbeiterin: »Dass die Bibliographia Judaica als Lexikon deutsch-jüdischer Autoren heute in 21 Bänden abgeschlossen vorliegt, ist das Verdienst Renate Heuers« (282).

Seit 1969, als er mit Sahadutha in Deutschland debütierte, hat Elazar Benyoëtz mehr als dreißig Bücher veröffentlicht. Zweifel auch am eigenen Tun sind ihm nicht fremd: »Lieber jeden Tag im Irrtum, als für immer im Recht« (219). Sein Werk hat große Anerkennung gefunden, von der Zuerkennung des Adelbert-von-Chamisso-Preises (1988) und der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande (1997) bis zur Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (2003) – die entsprechenden Redetexte finden sich in Aberwenndig auch. Dennoch ist Elazar Benyoëtz nicht sehr bekannt. Was es bedeutet, nach dem brutalen Einschnitt des Holocausts im 20. und 21. Jahrhundert Jude zu sein, erfährt man durch sein Werk. Er spricht aus einer anderen Zeit, und er spricht aus der Fremde. Seine Art des Dichtens und Denkens steht quer zu einem Zeitgeist, dem das möglichst mühelose und möglichst unterhaltsame Konsumieren von Medien aller Art den Zugang zu einer Weisheit blockiert, deren gedankenreiche Widerständigkeit ohne Reflexion und Empfindsamkeit nicht zu haben ist. Aber wer mag heute noch hinhören, nachfühlen, sich verzaubern lassen, mitdenken und bedenken? Wohl kaum ein anderer zeitgenössischer Autor hat einen ähnlich emphatischen Begriff von Poesie. Das Wichtigste an seinen Texten ist der Denkraum, den sie mit nur wenigen Worten öffnen. Wer sich von der Literatur nicht ausschließlich Nutzen und Vergnügen, sondern noch dazu das Öffnen solcher Denkräume erwartet, der blättere in den Büchern von Elazar Benyoëtz. Im Herbst 2018 ist bei Königshausen & Neumann ein weiteres Werk erschienen: Feindeutig. Zwei kleinere Publikationen sind anderswo in Vorbereitung. Seit Kurzem liegt im Erev-Rav Verlag ein Sammelband mit dem Titel Zitat und Zeugenschaft. Eine Spurensuche im Werk von Elazar Benyoëtz vor. An Lektüren mangelt es nicht.

 

Elazar Benyoëtz: Aberwenndig. Mein Weg als Israeli und Jude ins Deutsche. Würzburg 2018: Verlag Königshausen & Neumann. 429 S.

 


Unerhörte Begebenheiten im Land der Pharaonen. Christoph Braendles Novelle über den Unterschied zwischen einem Engel

 

Christoph Braendle, 1953 geboren, ist der relativ seltene Fall eines dichtenden Schweizers aus Wien – beziehungsweise eines bemerkenswerten Wiener Schriftstellers Schweizer Herkunft. Seit 1987 lebt er an der Donau und schreibt Theaterstücke, Prosa, Essays, Reportagen und Artikel vielerlei Art, und weil er nicht nur einen genauen und eigentümlichen, sondern auch immer noch einen fremden Blick auf die österreichische Metropole hat, war er genau der Richtige, um zu der ungewöhnlich liebevoll gestalteten Buchreihe Picus Lesereisen den Wien-Band beizusteuern. Er heißt Liebe, Freud und schöner Tod und ist für poetisch gestimmte Wienliebhaber und Wienreisende ein sogenanntes Muss. Die Grenzen zwischen Tatsachen und Literatengarn allerdings muss der Leser schon selbst entdecken. Das gilt noch weit mehr für Braendles neuesten Lesereisen-Band mit dem literarisch ambitionierten Titel Der Unterschied zwischen einem Engel – Ägyptische Novelle. Wenn Engel reisen – nun gut; wenn sie aber, wie man hier schon nach den ersten Sätzen bemerkt, auch noch schreiben können, dann freut sich der Leser. Zu Recht. In diesem Falle erfährt er erst einmal viel über das Ägypten von heute – über seine faszinierende Millionenmetropole Kairo, über den Sinai, über Suez, Luxor und Alexandria, über den Nil, über die großen Wüsten und ihre geheimnisvollen Oasen. Aber auch über unerträgliche Abgaswolken über den Staus der Hauptstadt und eine nicht zu kontrollierende Bevölkerungsexplosion, über die reale Armut der meisten Ägypter und die vagen Zukunftshoffnungen junger Leute, über die Versprechungen und die Absurditäten des trotz mancher Risiken seit Jahren anhaltenden Touristenbooms. Und über unergründliche interkulturelle Begebenheiten auf Nilschiffen und Kamelrücken. Haben wir also einen nützlichen schmalen Reiseführer vor uns? Auch – und eben gerade nicht.

Womit wir beim Kern der Sache wären, nämlich bei der Literatur, die jüngst ein anderer Schweizer Autor, Markus Werner, um den Roman Der ägyptische Heinrich bereichert hat, eine schöne, aber streckenweise auch ein wenig zähe Ägyptenlektüre. »Zäh« oder »harzig« aber sind Attribute, die auf Christoph Braendles kurzweilige, partienweise sogar durchaus komische Novelle am allerwenigsten zutreffen. Sein Unterschied zwischen einem Engel ist ein erstaunlicher Prosatext, ein sprachlich geschliffenes, vor (Selbst-) Ironie berstendes, mit Zitaten und literarischen Anspielungen gespicktes und dabei entspannt und unangestrengt daherkommendes kleines Meisterstück aus der Werkstatt eines der Welt mit Liebe zugewandten Literaten der stilistischen Extraklasse. Das heißt für den Leser: Ein gewisses Interesse für Ägypten wäre keine ganz schlechte Voraussetzung für die Braendle-Lektüre, und dennoch darf man sich auch ohne engere Beziehung zu Eseln, Kamelen und Wüstensand auf diese Novelle freuen. Aber der Reihe nach.

Der Protagonist heißt Paul und ist ein Esel, in gewisser Hinsicht jedenfalls. Weil das so ist, wird er von seinem Chef, dem Doktor Renner, zu einem Kongress nach Kairo geschickt – dort sollen sich die Eselsforscher treffen, die berühmtesten Asinologen der Welt. Und er, der Nicht-Akademiker Paul, er darf dabei sein. »Kairo. Wie das klingt. Und wie es nachklingt, lockt und verführt … Ich hab’ eine Arbeit, sagt er, eine gute, liebe Frau. Obwohl, denkt er, die Sehnsucht, denkt Paul … Zum Kollegen Simatovic sagt er, man kann in Wien leben und trotzdem Wünsche haben.« Zehn Tage soll die Reise währen, für Unterkunft ist gesorgt, und der flugscheue Paul wird mächtig nervös. Aber kaum ist er auf ägyptischem Boden, kommt er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Kairo nimmt ihn gefangen. Seine Gastgeber erklären ihm die Stadt, in der ungefähr dreimal so viele Menschen leben wie in der gesamten Schweiz und in der der Wahnsinn das einzige Ordnungsmuster zu sein scheint, auf das Verlass ist. Und immer wieder taucht irgendein Esel auf, als schlecht behandeltes Alltagslasttier und zugleich als spätestens seit Bileam aus dem Buche Moses literarisch belastetes Dingsymbol. Prächtige Gebäude sind zu bestaunen, bemerkenswerte Kaffeehäuser ganz ohne Wiener Flair tun sich auf, Kamele kreuzen Pauls Wege, und dann die kleinen Hausboote auf dem imposanten Fluss – kurzum: Paul verliebt sich in seine neue Umgebung, der Rückflug wird auf unbestimmte Zeit verschoben, und Braendles romantisch gestimmter und dennoch ganz unsentimentaler Held zieht ins Gelobte Land, unterquert den Suezkanal, besucht das Katharinenkloster und besteigt den Berg Sinai. »Ich muss nur wissen, was der Unterschied zwischen einem Engel ist, denkt er im Traum, ich muss nur wissen, was der Unterschied zwischen einem Engel ist. Aber er kann sich beim besten Willen nicht erinnern.«

Der Erfinder dieses ungewöhnlichen Ägyptentouristen lässt kaum einen Topos der klassischen Reiseliteratur aus – aber er macht aus allen Topoi etwas, was Neues und Überraschendes zumeist. Etwa aus der schönen Vorstellung von der Wüste als einem Ort göttlicher Offenbarung zur Läuterung und Reinigung des inneren Menschen, die Uwe Lindemann kürzlich in einer umfangreichen Untersuchung näher erläutert hat (Die Wüste. Terra incognita – Erlebnis – Symbol. Eine Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen in der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart). Paul begegnet in der Wüste sowohl Tod und Ewigkeit – und, damit einhergehend, der von den Ägyptern auch konkret vorgelebten Relativität von Zeit – als auch dem blühenden Leben, das in seinem Fall Anna heißt, voll Liebreiz ist und den rasch verliebten Reisenden unter anderem christliche Demut lehrt. Dass es in der Oase Baharyya ein Hotel Alpenblick geben soll und einen merkwürdigen Schweizer Geschäftsmann mit dem Lieblingsspruch »S’Glück isch es Vögeli« – das sind zwei kleine Beispiele für Braendles bisweilen skurrile Prosaversatzstücke, die immer ihren unabweisbaren Sinn für das Textganze haben und bei aller Komik niemals als lediglich witzige Dichtergags daherkommen.

Paul schließt sich einer deutschen Reisegruppe an, die eine Kamelreise ins mehrere Hundert Kilometer entfernte und nahe der libyschen Grenze liegende Siwa plant, und wie er sowohl seinem Kamel als auch der holden Anna näherkommt, das erzählt Braendle derart gekonnt, witzig, bezaubernd und ergreifend, dass es manchem Leser durchaus Tränen in die Augen treiben könnte: »Der Rücken eines Kamels ist großartig für die Seele, sagt er, und ganz grässlich für den Arsch. Hirschtalg hilft, rät Anna und meint, sie habe genug.« Die Zeit verliert langsam ihr Gesicht, Pauls allerwerteste Schmerzen werden allmählich unerträglich, und seine Glückserlebnisse an Annas Seite werden es in gewissem Sinne ebenfalls.

Von ganz unaufgeregt erzählten unerhörten Begebenheiten ist die Rede, krude Touristenwirklichkeit, religiös-spirituelle Erfahrungen und eine überbordende dichterische Fantasie vermischen und verweben sich, bis die Kamele schließlich den Jeeps weichen müssen. »Die Wüste hat uns hergegeben, sagt Paul, aber wer weiß, ob wir noch die Gleichen sind?« Ohne Anna in El-Alamein und Alexandria, übers Fernsehen konfrontiert mit dem balkanischen Kriegsgeschehen des letzten Jahres, und ohne Anna in Luxor und auf dem Nil: Paul, dem Zauber dieses einzigartigen Ägypten längst erlegen, bleibt ein Liebender, und um Frieden, Liebe und Glück kreisen die Gedanken und Empfindungen, die ihn umtreiben. Am Ende steht eine Vision, die Paul in einem Brief an Doktor Renner so formuliert: »Man muss mit dem Herzen denken, dachte ich, oder mit der Leber, dem Magen, mit der Milz … Und dann dachte ich mit dem Herzen; und ich begriff« – das Weltbild der Pharaonen nämlich. Der Brief – und damit fast die ganze Novelle – endet mit der schlüssigen, wenn auch vielleicht größenwahnsinnigen Frage: »Wird mir ewiges Wissen beschieden sein, während Sie, Renner, nicht einmal den Unterschied zwischen einem Engel erkennen?«

Was immer man von Engeln hält – Braendles Novelle ist keineswegs nur ein schmales Ägyptenbuch, das für eine Handvoll Orientfans von Interesse wäre und ins übliche Reiseliteraturregal gehörte. Hier ist kein eifrig protokollierender Reisereporter am Werk, und für die wohlfeilen Insidertipps und Freizeitinfos sind andere Bücher zuständig. Dass Christoph Braendle seine nüchtern romantische Liebeserklärung an Ägypten – und weit darüber hinaus: an den fragilen Zauber irdischen Daseins überhaupt – in der genannten Buchreihe veröffentlicht, ist für die Picus Lesereisen ein unschätzbarer Gewinn. Für den Autor mag darin auch eine Gefahr liegen – die nämlich, als eminenter Prosadichter und Stilist von hohen Graden weiterhin zu wenig bekannt zu sein und zu wenig geschätzt zu werden. Und das hat dieser Schweizer aus Wien nicht verdient, gerade nach diesem eindrucksvollen kleinen Buch nicht. Man sollte es lesen. Oder wenigstens verschenken. Oder beides.

 

Christoph Braendle: Liebe, Freud und schöner Tod. Wiener Sonaten. Wien 1998: Picus Verlag. 131 S.

Christoph Braendle: Der Unterschied zwischen einem Engel – Ägyptische Novelle. Wien 2000: Picus Verlag. 129 S.

 


Wer ist schon ein Held? Christoph Braendles Romanbiografie über Fritz Molden

 

Christoph Braendle ist ein ungewöhnlich vielseitiger Autor. Er schreibt Theaterstücke und Erzählungen, Essays und Reportagen, er verfasst auch glänzende Reiseprosa, und nun überrascht er seine Lesergemeinde mit einem längeren Text, der mit einem echten Leben und den Erinnerungen daran spielt und den er »Romanbiografie« nennt. Das ist per se ein mehr als heikles Genre. »Ich warne ausdrücklich davor, die in diesem Buch genannten Ereignisse unkritisch und ohne Überprüfung als Tatsachen zu werten«, schreibt der Autor denn auch in seinem kurzen Nachwort. Außerdem heißt der Mann, um den sich alles dreht, auch noch Fritz Molden, eine Institution weit über Wien hinaus und eine lebendige Legende nicht nur in Österreich. Als ob dies alles zusammen nicht schon genug wäre, trägt das Buch den Untertitel Ein österreichischer Held, ohne Fragezeichen wohlgemerkt, und auf seinen letzten fünf Seiten liest man nicht ohne Staunen »Anmerkungen von Fritz Molden zu Christoph Braendles Romanbiografie«. Diese Anmerkungen sollen, so möchte es der reale Fritz Molden, dem Leser »als Entscheidungshilfe im Wettstreit zwischen Biografie, romanhafter Fantasie, kritischer Meinung des Autors und meiner eigenen Wahrnehmung bzw. Überzeugung dienen«.

Verwirrend? Skurril! Was ist denn das für ein merkwürdiges Werk? Literatur? Ohne Zweifel – das ist bei diesem Autor gar nicht anders möglich. Ein Roman? Man kann es so nennen, aber man darf auch von einer längeren Erzählung sprechen. Ein Sachbuch? Gewiss auch, und zwar ein hervorragendes zur Landeskunde der Republik Österreich. Eine Biografie? Eigentlich nicht, denn Historiker können ihr nicht trauen – aber irgendwie doch, denn erzählt wird in der Hauptsache das Leben einer historisch gewordenen und immer noch weiter werdenden Person der Zeitgeschichte. Wohin also mit diesem Buch? Genau in dieser Frage übrigens liegt auch eine gewisse Gefahr verborgen – die nämlich, dass Braendle einmal mehr durch die herkömmlichen Raster des Literaturbetriebs und der Feuilletons fallen könnte. Und auch durch die der politischen Lager, zumal in Österreich: den Konservativen zu kritisch, den Linken zu eigensinnig. Das aber hätte er nicht verdient, und sein jüngstes Buch erst recht nicht.

»Der Mann ist alt, traurig und von der Erschöpfung grau im Gesicht. Er hat geredet. Einen Tag und eine Nacht lang hat er pausenlos geredet und mir die lange Geschichte eines langen Lebens erzählt, das voll der Höhepunkte und Freuden war. Jetzt ist die Kraft verbraucht.« Mit diesen Sätzen beginnt Braendles Buch, und weil es ein Roman sein soll, taucht gleich ein »Arbeitgeber« des fiktiven Ichs auf, der einen Bildband namens »Helden des 20. Jahrhunderts« plane und jenem Ich-Erzähler befohlen habe, nach Wien zu fahren und diesen Fritz Molden zu besuchen. Was tut der Erzähler? »Ich höre den Geschichten zu, ich mache Notizen, frage nach und maße mir trotzdem nicht an, ein Urteil zu fällen, weil es einen unzulässigen Eingriff in die Bewertungen meines Arbeitgebers bedeutete, und weil ich dafür bekannt bin, dass meine Meinung hin und her schwankt wie Schilf im Wind. Ich muss anfügen, dass ich Schweizer bin. Für einen Schweizer ist dieses Schwanken typisch und wird im Allgemeinen nicht verachtet, sondern im Gegenteil hoch geschätzt als Unabhängigkeit und als neutraler Sinn.« Der Erzähler also wird ein Protokoll verfassen, übrigens eines, das sich zunehmend von ihm emanzipiert und zu einer eigenen Instanz mausert, und erst der Leser – pardon, der Arbeitgeber – wird entscheiden, ob Fritz Molden das ist, »was man vermutet, nämlich ein österreichischer Held«. Das klingt ein wenig kompliziert und sogar ein bisschen hölzern, und das ist es auch immer mal wieder, bei Passagen nämlich, in denen sich das Protokoll ein bisschen zu oft in die so spannende wie lehrreiche Geschichte des Helden einmischt. Man muss sich erst einmal gewöhnen an die Erzählbrüche, die Braendles Konstruktion mit sich bringt. Aber keine Sorge – das gelingt zumindest dem literarisch erfahrenen Leser bald, und dafür wird er auch reichlich belohnt. Denn was hier erzählt wird, erreicht das Niveau der allerbesten Unterhaltungsliteratur und das der nachdenkenswertesten Essayistik zugleich. Es wird äußerst feinfühlig und scharfsinnig dargeboten, ist mit höchster sprachlicher Souveränität verdichtet – poetische Passagen fehlen nicht – und weist all die Eigenschaften auf, die auf die Werkstatt eines Könners schließen lassen. Weil das so ist, liest man oft atemlos immer weiter und wird bisweilen schwindelig vor einer solchen Fülle von Lebensstoff. Und vor dem Ernst und der Tiefe vieler philosophischer Reflexionen über Ethik und Moral, die das Protokoll ihm abgewinnt. Das literarische Können ihres Autors also macht diese Romanbiografie zum Ereignis – übrigens auch für Leser, die mit dem Namen Molden bisher nur wenig anfangen konnten.

Der geschenkte Gaul

Hier übrigens haben wir auch den Kern der politischen Brisanz des neuen Braendle-Buches im heutigen Österreich, zu der der Autor vor allem im sechsten Kapitel mit seinen autonomen und eigensinnigen Kommentaren zur Lage im Schüssel-Haider-Land manches beiträgt. Wie immer man seine bedächtig abwägenden Situationsbewertungen beurteilt – am Ende dieser Romanbiografie ist das durch den Konkurs angeknackste Ich des Helden wieder einigermaßen intakt, und Fritz Molden erscheint dem Autor wie dem Leser als ein fast weiser alter Mann, dem der Respekt schwerlich zu versagen ist. »Besuchen Sie mich alsdann, und an Unterhaltung soll es Ihnen gewiss nicht fehlen«, sagt er am Schluss – und dass Braendle für diesen Schluss eben dieses Zitat gewählt hat, ist ein gelungener, weil in vielerlei Hinsicht passender Griff in die Trickkiste. Denn diese Worte stehen auch im letzten Absatz eines Buches, dessen Affinitäten zu Christoph Braendles brillantem neuen Werk das Thema einer germanistischen Magisterarbeit sein könnten. Es heißt: »Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen.« War der eigentlich ein Held?

 

Christoph Braendle: Fritz Molden – Ein österreichischer Held. Romanbiografie. Graz/Wien/Köln 2001: Styria Verlag. 207 S.