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Charlotte Peter

Die Geschichte eines hässlichen Mädchens

Eine etwas andere Biographie

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Impressum

© Münster Verlag Basel 2018

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Bilder:

Charlotte Peter

Umschlaggestaltung:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Bern

Lektorat:

Christine Krokauer

Gestaltung und Satz:

Christoph Krokauer, Würzburg

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Adobe Jenson Pro

Papier:

Umschlag, 135g/m2, Bilderdruck glänzend, holzfrei; Inhalt, 90g/m2, Bilderdruck bläulichweiss, 1,14-fach, holzfrei

ISBN 978-3-905896-97-8

eISBN 978-3-907301-03-6

Printed in Germany

www.muensterverlag.ch

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Die schöne Grossmutter – eine Heidi der anderen Art

Kapitel 2

Meine schönen Freundinnen

Kapitel 3

Schönheit im Büro, auf der Bühne und im Bundeshaus

Kapitel 4

Schönheit, Liebe, Lust und Frust

Kapitel 5

Philosophische Betrachtung zur Schönheit im Alter

Vorwort

Dieses Buch zu schreiben tat weh, denn es zeigt auch die Schattenseite meines Lebens. Ich war nie hübsch, ich trug einen Dämon in mir, der immer wieder mahnte: Du bist nicht schön, du musst dich bescheiden, darfst keine grosse Liebe erwarten, sondern du musst dein Glück anderswo suchen. Der Dämon wurde mir von meiner Mutter und deren Familiengeschichte eingepflanzt. Ihn zu vergessen war jahrzehntelang nicht möglich, denn er rief sich bei jedem Blick in den Spiegel energisch zurück. Ihn zu überwinden brauchte es fast ein ganzes Leben und viel Nachdenken. So habe ich mir zum Beispiel oft überlegt, was mit einer hübschen Charlotte geschehen wäre. Hätte ich vielleicht früh geheiratet, zwei oder drei Kinder bekommen, ein durchschnittliches ruhiges Leben geführt? Wäre ich Hostess bei der Swissair geworden oder gar Tänzerin? Was für Möglichkeiten hätten sich einer selbstbewussten attraktiven Journalistin geboten? Fragen, die sich nicht beantworten liessen.

Klar war nur Eines: Schönheit ist eine Macht, die sehr viel bewirken kann und das im Positiven, wie auch im Negativen. Schönheit kann in den Himmel tragen, aus einem armen Mäuschen eine Prinzessin machen. Schönheit kann aber auch zur Jagd nach Unerreichbarem und zu falschem Glamour verführen. Das Problem wurde zu einem Rätselspiel und bot manche Überraschungen. Im Folgenden eine Auswahl der interessantesten und, wie ich hoffe, unterhaltsamsten Geschichten, dies ohne moralischen oder belehrenden Anspruch.

Kapitel 1

Die schöne Grossmutter – eine Heidi der anderen Art

Es geschah kurz nach Schuleintritt in der ersten Klasse, ich bummelte mit Hedi, einer Kameradin, und traf meine Mutter. «Wer ist das Mädchen?», wollte sie wissen und fügte gleich hinzu: «Das Mädchen ist ja bildschön, die Eltern können glücklich sein, die Eltern können stolz sein. Dieses Mädchen wird eine brillante Partie machen. Die Eltern können glücklich sein …» Meine Mutter liebte Wiederholungen, weshalb ich das Sätzchen von den stolzen Eltern, auch bezogen auf andere hübsche Mädchen, sehr oft zu hören bekam. Ein fatales Votum. Ich verstand, dass ich ganz und gar nicht schön bin, meine Eltern nicht beglücken kann, keine Aussicht auf eine gute Heirat habe. Ein Sätzchen, das sich wie ein böser Dämon in mir festkrallte, mich verunsicherte, schüchtern machte und zum einsamen Steppenwolf werden liess. Ich musste alt werden, um meinen Dämon einigermassen in Griff zu bekommen.

Doch es gibt noch einen weit bedeutenderen Schönheitsfall in der Familie. Meine Grossmutter Paula war ein armes, aber sehr hübsches Bauernmädchen, das, wie die berühmte Heidi von Johanna Spyri, vor dem Ersten Weltkrieg lebte und durch Zufall in den Bann einer deutschen Grossstadt geriet. Bei meiner Grossmutter war es eine Love Story der schnulzigen Art. Ein feiner Herr aus Stuttgart, der in der Gegend von Basel einen Stage absolvierte, verliebte sich in die Dorfschönheit und hatte zunächst ein Problem. Sein Vater war durchaus nicht erfreut, liess sich aber auf Grund der begeisterten Schilderungen des Sohnes dazu bewegen, in die Schweiz zu kommen, um die Auserwählte zu begutachten. Was dann geschah, wurde mir immer wieder erzählt, es war die romantische Saga meiner Jugend, die Saga von Schönheit, Glück und Trauer. In Paulas Familie gab es fünf Töchter, die dem Besucher aus Deutschland nacheinander präsentiert und von ihm nacheinander beurteilt wurden: «Nein, die nicht … die auch nicht, die ist ebenfalls nicht hübsch genug …» Dann endlich erschien meine schöne Grossmutter und wurde gnädig aufgenommen. Ein Verdikt mit gewichtigen Folgen.

Das Glück des jungen Paares führte aus nie geklärten Gründen dazu, dass Paula jeden Kontakt zur eigenen Familie abbrach. Wollte sie der Armseligkeit entrinnen, etwas Besseres werden? Stritt sie sich mit den neidischen Schwestern? Mochten die Eltern den vornehmen Deutschen nicht? Das Thema war tabu, schweizerische Verwandte meiner Mutter gab es angeblich nicht, sie wurden totgeschwiegen. Obwohl die bescheidenen Kleinbauern keine Autostunde von Zürich entfernt wohnten, habe ich sie nie kennengelernt, die feinen Stuttgarter dagegen sehr bald.

Dann das grosse Unheil. Paulas Mann starb mit 23 Jahren an einem Nierenversagen, die junge Witwe, die ihr drittes Kind erwartete, blieb hilflos zurück. Unterstützung vom Staat oder von Verwandten war nicht zu erwarten und so hätten die beiden Buben und das kleine Mädchen wohl als Verdingkinder geendet, doch der Schwiegervater übernahm die Fürsorge. Er bezahlte einen ausreichenden Unterhalt, die kleine Familie musste keinen Mangel leiden und wurde im Dorf zum bestaunten, aber auch kritisch beobachteten Sonderfall. «Ich durfte meine Puppe mit in die Schule nehmen und mein Bruder Eugen konnte mit den Lehrern essen», erzählte meine Mutter.

Paula blieb ihrem verstorbenen Mann mehr als sechzig Jahre lang treu, sie trug nur noch schwarze und graue Kleider, dazu um den Hals ein schwarzes Samtbändchen, erzog ihre Kinder zu Anstand und folgte der Tochter nach deren Hochzeit erst nach Aarau, dann nach Zürich, wo ich geboren wurde. Sie besuchte jeden Sonntag die Kirche, hatte keine Freunde, keinen Hund und keinen Vogel, las keine Bücher, interessierte sich weder für Mode noch für Blumen, noch für Sport, noch für Musik, strickte pro Jahr zwei Pullover, einen für mich und einen für meine Schwester Ruth, sie tat vierzig Jahre lang fast nichts als aus dem Fenster schauen, war freundlich und still, sie atmete, doch sie lebte nicht. Die Schönheit hatte einst ihr Schicksal bestimmt, nun welkte sie dahin wie eine müde Rose.

Stuttgart aber wurde zum gelobten Land, die Stuttgarter zur wahren Familie. Meine Mutter Amalie verbrachte acht Jahre jenseits der Grenze bei ihrem Grossvater. Er war blind, wurde von einer Haushälterin, gerufen Marie, und einer Putzfrau betreut. Amalie musste ihm den Handelsteil in der Zeitung vorlesen, am Bobserbrunnen Wasser holen, zum Mittagsschlaf eine Decke über seinen Knien ausbreiten und Ähnliches. Daneben blieb Zeit für Groschenromane, Bummeln in der Stadt und Kontakt mit Tante Helene, Onkel Ferdinand, Cousine Anneliese und Vetter Walter. Von ihnen lernte das Bauernmädchen (unsere Heidi) die feinere Lebensart, Kenntnisse, die sie wie Honig aufschlürfte. Sie faltete bald Servietten zu Fächern, erfuhr, was in der Oper geschieht, welche Gläser sich für Rotwein eignen und welche Zigarren für einen gediegenen Herrn angemessen sind. Praktischer war da noch die Erklärung der Tante, wie sich eine Frau während ihrer Tage bequem und hygienisch schützen kann.

Zu leben wie vor dem Ersten Weltkrieg in Stuttgart wurde für meine Mutter zum Lebensziel. Mit den Stuttgartern hatten wir stets guten Kontakt, dies besonders mit Anneliese, der Cousine meiner Mutter, die einst erklärte: «In Stuttgart war das gar nicht so nobel, wir lebten ganz gewöhnlich, kaum anders als ihr in Zürich.» Wir haben uns umarmt und gelacht; Stuttgart oder Zürich ist wie Spätzle oder Spätzli – gar kein so grosser Unterschied.

Dass das Glück meiner Grossmutter allein ihrer Schönheit zu verdanken war, habe ich erst viel später erfahren. Ausser ihr gab es in der Familie Woertz noch eine zweite unpassende Schwiegertochter. Sie hiess Luise, arbeitete als Kellnerin in einem Stuttgarter Bierlokal und sollte auf Wunsch des Grossvaters von einem seiner studierenden Söhne beurteilt werden. Dummerweise irrte sich dieser, testete mit einem Annäherungsversuch die falsche Luise, wurde geküsst und erstattete einen höchst negativen Bericht. Die Bier-Mamsell wurde nie in den Clan ihres Mannes aufgenommen und bekam als früh Verwitwete auch keine Unterstützung. Ihre Tochter Maria erinnerte sich: «Einmal wurde ich hübsch gekleidet und mit einer rosaroten Masche im Haar zum Grossvater gebracht, der mir zum Abschied fünf Reichsmark schenkte.» Mehr war für die unerwünschte Enkelin nicht drin. (Ich habe versucht abzuschätzen, wie viel Geld meiner Grossmutter ihre Schönheit eingebracht hat – nach heutigem Wert müssten es inklusive Erbschaft über zwei Millionen Franken gewesen sein, von denen nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder und Enkel profitierten). Maria hätte allen Grund gehabt, wütend zu sein, doch sie akzeptierte die Ungerechtigkeit der alten Welt, war sehr fromm, pilgerte einige Male nach Rom, dies mit jeweiligem Unterbruch der Reise in Zürich, brachte uns einst gar einen päpstlichen Ablassbrief mit. Wir fanden das komisch.

Doch zurück zu Heidi. Bei Johanna Spyri wird das bodenständige Leben in den Alpen verklärt, die gute Geissenmilch, der frische Käse, das Schlafen auf duftendem Heu, die reine Bergluft, die wunderbarer Weise mithilft, dass das behinderte Stadtmädchen Klara gesund wird. Bei unserem Familien-Heidi lief es ganz anders, für Amalie lag die bessere Welt in den Luxusgeschäften an der Königsstrasse, beim Konzertflügel der Cousine Anneliese, bei der gelöcherten Spätzlepresse der Haushälterin Marie (meine Mutter hat die Presse geerbt und in ihr zürcherische Spätzli gekocht).

Spätzle waren mit der geerbten Presse leicht zu machen, doch meine Mutter wollte auch den Chic der Königsstrasse haben, zum Beispiel ein Skunk-Cape mit senkrecht verlaufenden Fellen, wie es Tante Helene vor dem Ersten Weltkrieg gekauft hatte. Das gab es an der Zürcher Bahnhofstrasse (ein Ersatz für die Königsstrasse) nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Immerhin hatten auch wir feine Pelzgeschäfte und so setzte es meine Mutter durch, mit fast fünfzig Jahren Verspätung doch noch zu einem Skunk-Cape mit Königsstrassen-Senkrecht-Verarbeitung zu kommen.

Noch bedeutender als das Pelzchen waren für uns Kinder einige praktische Dinge, die Amalie aus Stuttgart übernahm. Meine Schwester und ich bekamen Klavierunterricht (wie Anneliese), meinem Vater schenkte sie Havanna-Zigarren (die gleichen, die der Onkel in Stuttgart rauchte), sie kümmerte sich nie um die armen kleinbäuerlichen Verwandten (nach dem Vorbild des Grossvaters, dem eine Kellnerin zu wenig war), sie ging nie ohne Hut und Handschuhe ausser Haus, sie wollte stets das Bessere und das Noblere haben: Kleider von der Bahnhofstrasse, Schwimmen im Bad des Grand Hotel Dolder, teure Schützenwürste statt billigere Cervelats, Rosen als allein passende Blumengabe und vieles mehr.

Stuttgart erlebte meine Mutter als staunende Heidi, Stuttgart wurde für sie das Mass aller Dinge. Für mich ein Grund zu prüfen, wie das heute ist. Ein Katzensprung. Ich stieg am Zürcher Hauptbahnhof in den Zug und stand bereits drei Stunden später an der hundertfach gelobten Königsstrasse, die gleich gegenüber dem Bahnhof beginnt. Nein, als armes, von königlicher Noblesse verwirrtes Alpenkind habe ich mich nicht gefühlt, mir erschien die autofreie Shopping-Passage eher als mitteleuropäischer Durchschnitt. Vorbei der aristokratische Glanz, im alten Schloss ist nun ein sehenswertes und sehr publikumsfreundliches Landesmuseum eingerichtet, wo ich im letzten Saal den vier württembergischen Königen begegnete. Da stehen sie in voller Pracht, eingehüllt in rotem Samt und Hermelin, gepanzert mit Orden, geschmückt mit Krone und Zepter. Meine Mutter fand solches Gepränge wunderbar, lobte aber auch die Schlichtheit, mit der der König seine Hunde im Schlossgarten spazieren führte. Der Glaswürfel, der nahe vom Schloss moderne Kunst zelebriert, hätte ihr wohl weniger gefallen, ebenso wenig das lockere Angebot von sportlicher Mode, soliden Schuhen, mässig teurer Haushaltsware, zahlbarem Goldschmuck, Würsten und Bratkartoffeln. Berühmte Labels, Pariser Haute Couture, Nerzmäntel, Luxusuhren und Sterneköche konnte ich nicht entdecken, doch auch bescheidene Spätzle waren zu meinem Leidwesen nicht zu finden. Stattdessen offerierten die Restaurants meines Fünfsternhotels Steigenberger Pommes Frites. Eine Württembergerin, die seit mehr als dreissig Jahren in Zürich lebt, hat es mit erklärt: «Stuttgart ist modern geworden, Spätzle sind nur noch Hausmannskost, zu haben in den Kneipen beim Markt und in Supermärkten, übrigens auch in Zürcher Supermärkten wie Migros, Coop, Aldi, Lidl etc.» Wir lachten und ich dachte an Anneliese und ihren lockeren Städtevergleich: Zürich oder Stuttgart ist wie Spätzle oder Spätzli.

Anders als für meine Mutter wurde Stuttgart für mich nie zur besseren Welt, doch ich mag die Stadt meines Grossvaters gern, die Liebenswürdigkeit, mit der im Lindenmuseum die Kulturen Asiens gezeigt werden, die bestens gepflegten Häuser und Kulturdenkmäler, die Freundlichkeit der Menschen – der Kellner im Steigenberger-Hotel nannte mir sogar den Namen einer Kneipe, die Spätzle serviert. Nach Stuttgart komme ich immer wieder gerne.

Vom Grossvater erzählte die Mutter sehr oft, doch es waren immer wieder die gleichen Geschichte: Familie durch Pelzhandel in Russland vermögend geworden, Söhne zum Studium an der Universität Heidelberg, wo sich der Grossvater als bester Lateiner profilierte, Abbruch des Studiums und Abenteuerreise mit Segelschiff ums Kap Horn. (Die immer wieder hochgejubelte Fahrt ums Kap habe ich nachgemacht, allerdings nicht mit Segeln, sondern mit Motoren.) In Chile ging es flott weiter: Bekanntschaft mit einem nur mässig frommen Missionar, mit dem er wilde Pferde einfing und zuritt, zudem pflegte der Grossvater gute Beziehungen zur Kolonie der deutschen Auswanderer, war oft zu üppigen Dinners eingeladen, wurde dem Präsidenten vorgestellt und schliesslich dessen Sekretär. Viel über das Leben im Santiago des 19. Jahrhunderts hat meine Mutter nicht erfahren oder sie hat die Erzählungen des Grossvaters vergessen. In Erinnerung blieben allein Banalitäten: die Knoblauchknollen, die stets neben jedem Gedeck lagen und vor Krankheiten schützen sollten, die zwei Dutzend weisser Hemden, die handbemalten Fächer der Damen und vor allem die goldenen Knöpfe an den Westen, die bei den feinen Herren Mode waren. Die beiden akzeptierten Enkelinnen Amalia und Anneliese erbten die Knöpfe und liessen daraus Ohrringe machen, Maria ging einmal mehr leer aus. Das war zwar ungerecht, wurde jedoch im alten Kaiserreich weit herum als normal betrachtet.

Mein Urgrossvater hätte in Chile bleiben können, wo er vielleicht dank seines Sprachtalents – er sprach schnell fliessend Spanisch – und dank seiner schlauen Anpassungsfähigkeit zu Geld und Ansehen gelangt wäre, doch er zog es vor, zurück nach Stuttgart zu kommen. Und wiederum war ihm das Glück hold. Er heiratete eine brave Bürgerstochter, die eine halbe Million Goldmark in die Ehe brachte, zeugte fünf Söhne und etablierte sich als Privatier. Einen Beruf ausüben musste er nie, er war einer von jenen Kapitalisten, die Karl Marx nicht leiden konnte, was damals nur von wenigen Revoluzzern verstanden wurde.

Etwas weniger gut lief es mit den fünf Söhnen. Der Älteste, der meine Grossmutter geheiratet hatte, starb – wie wir wissen – mit 23 Jahren, der Mann der Kellnerin wurde kaum älter, ein dritter Bruder etablierte sich als Landarzt, wäre aber lieber Geigenspieler geworden. Er pflegte seine Patienten spät abends mit einer Pferdekutsche zu besuchen, speiste nach Mitternacht und spielte nachher noch lange auf seiner Violine. Geheiratet hat er erst mit beinahe fünfzig und bekam von seiner häuslich-untertänigen Frau den Sohn Herbert, der uns einst in Zürich besuchte. Daheim wurde der leicht Körperbehinderte von seiner Mutter und einer Haushälterin nach Noten verwöhnt, übte – obwohl gescheit und gut geschult – nie einen Beruf aus, lebte wie sein Grossvater als zufriedener Privatier.

Ein zweiter Mediziner in der Familie erlag seiner Morphiumsucht, nur Onkel Ferdinand machte alles richtig, heiratete eine passende Frau mit passender Mitgift, gründete eine Kamerafabrik, verdiente im Ersten Weltkrieg durch Lieferungen an die Armee ein ansehnliches Vermögen, verkaufte das Unternehmen zur rechten Zeit an Zeiss Ikon, rettete sein Geld in die Schweiz und übersiedelte mit Frau Helene und Sohn Walter nach Zürich. Die Tochter Anneliese hatte sehr jung einen deutschen Geschäftsmann geheiratet, mit dem sie erst in Hamburg, dann in Kairo, danach in New York lebte. Eine gute Partie, wie die Familie hoffte. Geschäfte hatten sich stets gelohnt, sogar besser als die Studien der beiden Ärzte. Zudem sah Friedrich blendend aus, verteilte Handküsse mit vollendeter Eleganz und stammte aus einer befreundeten Familie. Meine Mutter hielt den schönen Mann für albern, womit sie für einmal Recht hatte. Frieder scheiterte erst in der Hansestadt, dann bei den Pyramiden, dann bei den Wolkenkratzern, in der Geschäftswelt nützt Schönheit einem Mann wenig. Unterdessen war Anneliese nicht nur Mutter des Töchterchens Ursula geworden, sie hatte sich auch zu einer modernen, selbstsicheren Frau entwickelt. Auf die Unterstützung der Eltern wollte sie nicht mehr angewiesen sein, lieber wurde sie Barpianistin in Manhattan, was Urseli einst ausplauderte. Es folgte die Scheidung und die Übersiedlung nach Zürich, wo ihr Vater das Haus an der Resedastrasse gekauft hatte, in dem ich noch heute wohne.

Eine Adresse mit Krimi-Vergangenheit. Es hatte ursprünglich dem österreichischen k-u-k-Generalkonsul gehört, der im Ersten Weltkrieg beschuldigt worden war, Spione zu unterstützen. Die Alliierten engagierten daher einen Meistereinbrecher aus Neapel. Er sollte Beweismittel finden und als Lohn den Schmuck der Wiener Gattin einstecken dürfen. Datum der Aktion war ein Abend, an dem der Konsul zu einem Diplomatentreffen nach Bern eingeladen war. Aber auch die Zürcher Polizei schlief nicht. Sie rückte an der Resedastrasse an, der Dieb floh, sprang in die Limmat und wurde samt Schmuck und Dokumenten aus dem Wasser gefischt. Darauf liess der Generalkonsul im Erdgeschoss Eisengitter anbringen, hinter denen ich mich noch heute sicher fühle.

Anneliese erging es vielleicht ähnlich. Sie übersiedelte nach der Scheidung zu den Eltern, fand sich in Zürich schnell zurecht, wurde nicht Barpianistin, sondern Betreiberin einer Gymnastikschule, übernahm nach dem Tod ihrer Eltern das Haus im Seefeld und heiratete schliesslich den Schweizer Jus-Professor Karl Oftinger. Dieser kam als Kämpfer gegen den Lärm zu einiger Bekanntheit, fand die Resedastrasse zu laut und verkaufte das Haus meinem Vater.

Dem lauten Lärmgegner verdanke ich Hunderte von Flugtickets und das durch Zufall. Als Erzfeind von Fluglärm schrieb Oftinger einst einen Leserbrief an die NZZ, in dem es hiess: «Wenn ein Geschäftsmann in einer dringenden Angelegenheit nach Athen fliegt, kann man das noch tolerieren, wenn aber gewisse Leute zum blossen Vergnügen nach Athen fliegen, ist das unakzeptabel.» Als Reisejournalistin und Reiseleiterin gehörte ich zu den «gewissen Leuten» und schrieb ebenfalls einen Brief an die NZZ: «Wer im Flugzeug nach Athen reist, weckt einige Leute in Kloten und einige Leute in Heliopolis, wer mit dem Auto nach Athen fährt, weckt halb Europa.» Mein Kommentar gefiel dem Chefredaktor der neugegründeten Swissair Bordzeitung, er lud mich zur Mitarbeit ein und schon war ich Swissair-Schreiberling. Mit wahrer Freude verfasste ich Reiseberichte, PR-Material, Inserattexte und Bücher wie «Flug 502 Fernost», «Visit Sri Lanka», «Visit USA» und «Visit the Far east», hatte während Jahrzehnten fast stets ein Flugticket in der Tasche und lauschte immer wieder ungeduldig auf das Anlaufen der Triebwerke, das für mich wie Musik klingt. Fliegen wurde zu meiner Leidenschaft. Ich hatte meinen Traumberuf gefunden, ebenso mein Plätzchen im journalistischen Umfeld.

Mit Anneliese verstand ich mich prächtig. Sie war tüchtig, weltgewandt, unternehmungslustig, unkonventionell, chic und fröhlich. Ihre Barpianisten-Tätigkeit habe ich bewundert, dass meine Mutter die Hübschere gewesen sein soll, kümmerte mich wenig. Nur eine oft wiederholte kleine Geschichte mochte ich nicht gern hören: «Einmal begegneten wir auf einem Spaziergang einigen Studenten», erzählte meine Mutter. «Einer von ihnen schenkte mir Blumen, die Anneliese bekam keine Blumen, sie war einfach zu pummelig und hat sich wohl geärgert.» Was für ein unhöflicher Bursche und was für eine herzlose Cousine.

Endlich gab es bei den Stuttgartern auch noch einen jüngeren Bruder von Anneliese. Er hätte in Berlin studieren sollen, kurvte aber lieber mit seinem schnellen Motorboot auf dem Zürichsee herum. Mein Vater sollte ihn daher einst in Berlin, wo er öfter geschäftlich zu tun hatte, besuchen und ermahnen. Vergebliche Mühe, Walter genoss die Burschenherrlichkeit und lag noch um zwölf Uhr mittags tief in den Federn. Auch später wollte es nicht klappen, kein abgeschlossenes Studium, kein Job und die Zeit der feinen Privatiers war nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig vorbei. Walter starb überraschend an einem ungenannten Leiden, man flüsterte von Selbstmord.