Cover

HEINRICH CHRISTIAN RUST

Tröstungen

Ein Gebetsweg durch
die Offenbarung

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Ich widme dieses Buch
Dr. Jürgen Moltmann
in Dankbarkeit für alle ökumenische Verbundenheit und in der Vorfreude auf die Vollendung und ewige Herrlichkeit Gottes.

INHALT

Über den Autor

(K)ein Buch mit sieben Siegeln? Eine Einführung

Buch der Tröstungen

Buch der Offenbarung

Buch der Erwartungen

Anlass, Abfassung und Aufbau des Buches

Auslegung und Zugang zum Buch

Ein Gebetsweg durch die Offenbarung

Der Gebetsweg Kapitel für Kapitel durch die Offenbarung

1 | Offenbarung Jesu Christi

Offenbar

2 | Hören, was der Geist sagt

Höre doch!

3 | Überwinden durch den Überwinder

Wer überwindet …

4 | Die Perspektive des Himmels

Perspektivwechsel

5 | Das Lamm und das Buch

Über-Wunden

6 | Das Ende beginnt

Wie lange noch?

7 | Gottes Trost für seine Leute

Tränentrost

8 | Feurige Gebete der Heiligen

Glühende Gebete

9 | Aufrüttelnde Gerichte und Unbußfertigkeit

Bußfertig

10 | Entscheidende Konsequenzen

Bittersüß

11 | Niedergang und Aufstieg der Gemeinde Jesu

Wie viel Macht hast du?

12 | Der Gegenspieler Gottes

Stopp! Kein Zugang für Verkläger!

13 | Der Antichrist und sein Reich

Unglaublich

14 | Die Überwindergemeinde – Gottes Realität

Eins zählt

15 | Die letzten Gerichte

Zornige Liebe

16 | Schalen des Zornes Gottes – Wachsamkeit des Menschen

Bereit

17 | Demaskierungen des Bösen

Verknäulte Verführungen – gelüftetes Geheimnis

18 | Das Ende von Ende

Gefallen!

19 | Hochzeitliche Freude über den Fall des Bösen

Endgültige Freude

20 | Der Tod Satans und das Weltgericht

Der Tod ist tot!

21 | Der Himmel auf Erden – das messianische Reich

Gott pur

22 | Die neue Schöpfung Gottes kommt

Maranatha! Komm!

Über den Autor

Heinrich Christian Rust ist Pastor der evangelisch-freikirchlichen Friedenskirche in Braunschweig. Er ist als Autor, Referent und theologischer Lehrer bekannt. Über die Konfessionsgrenzen hinweg engagiert er sich in nationalen und internationalen Initiativen.

(K)ein Buch mit sieben Siegeln?

EINE EINFÜHRUNG

Buch der Tröstungen

Als ich geboren wurde, lebten nur etwa ein Drittel so viele Menschen auf der Welt wie heute. Mittlerweile sind es um die 7,75 Milliarden. Die Erde wird voller. Es wird enger. Die Uhrzeiger an der Weltenuhr und der alte blaue Planet drehen sich gefühlt immer schneller, sodass einem schwindelig werden könnte. Die globalen, universalen Gleichgewichtsstörungen bringen die Gletscher zum Weinen, die Winde zum Toben. Ganze Nationen reißen sich um einen Platz am gedeckten Tisch und kämpfen ums Überleben auf dieser Welt. Parlamente taumeln, Menschenmassen treibt es auf die Straßen. Ein winziges Virus führt einen weltweiten Krieg gegen die Nationen. Wir brauchen Lösungen, schnelle und nachhaltige Lösungen für die gewaltigen Probleme auf unserem Erdball!

Doch meine Seele sehnt sich nicht nur nach Lösungen, sondern ebenso nach Tröstungen. Nicht nur nach Zukunft, sondern auch nach Gegenwart. Der Erlösergott ist ebenso der Tröstergott. Er ist uns nah, er ist gegenwärtig, selbst wenn wir keine Antworten auf die brennenden Fragen unseres Lebens im 21. Jahrhundert haben. Oder zieht er sich doch zurück von seiner Welt? Straft er uns mit Ohnmacht und Ratlosigkeit? Warum greift der Gott des Friedens nicht ein in das Chaos der unzählig Leidenden? Warum schwanken selbst seine Kinder, sein Volk, seine Kirche? Warum überzeugen mich die vollmundigen Zukunftsträumer, die genialen Wissenschaftler und die politischen Berufsoptimisten kaum, wenn sie mir eine bessere Welt verheißen wollen? Ist es fünf vor zwölf auf der Weltenuhr? Werden ganze Länder versinken, Meere kippen, Menschen und Tiere nur noch ums Überleben kämpfen?

Ich bin in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen und kann mich an keinen Tag meines Lebens erinnern, an dem nicht für mich gebetet wurde oder an dem ich selbst nicht zu Jesus Christus gebetet hätte. Er ist der Heiland, der Herr, der Freund des Lebens, meines Lebens. Diese Wahrheit habe ich Jahr für Jahr immer wieder mit neuen Worten voller Vertrauen gebetet, gepredigt und gesungen. Der Glaube gibt mir Halt, er eröffnet mir eine Zukunft, die hier auf der Erde schon beginnt und auf eine Vollendung zusteuert. Ich spreche vom Reich Gottes, dieser Lebenswirklichkeit, die geprägt ist durch Gottes Gegenwart und seine heilende Zuwendung. Jesus Christus ist derselbe, gestern, heute und in Ewigkeit (Hebräer 13,8)! Warum sollte ich den Kopf hängen lassen, selbst wenn diese Welt unterginge? Ich gehöre zu der Mannschaft, die nach dem Motto lebt: Ich bin mehr als nur ein Kämpfer, mehr als lediglich ein Überwinder oder Optimist: Ich bin von Gott geliebt! Was Gott angefangen hat, das bringt er auch zum Ziel!

Allerdings kenne ich sehr wohl die Weltuntergangsstimmung mit ihren novembrigen Grautönen und deprimierenden Mollgesängen. Und doch ist mir gleichermaßen die harmonische Dur des neuen Liedes bekannt, das der Geist Gottes in mir Tag für Tag anstimmt. Es wird hell, farbig und fröhlich. Ich kenne Tage, da gluckse ich nur so vor Freude und Dankbarkeit über all dem Guten, das ich erlebe. Da sind diese beispielhaften Erfahrungen der Autorität Jesu, wenn ich Wunder erlebe: das unerklärbare und häufig sogar unerwartete Eingreifen Gottes in Krankheitsnot, Orientierungslosigkeit oder Armut. Wie viele Wunder habe ich schon erlebt! Wo Christus ist, da gibt es auch diese Anzeichen der neuen Wirklichkeit des Reiches Gottes.

Dennoch weiß ich gleichfalls von wunderlichen Zeiten, von Stunden, die Wunden schlagen und Narben hinterlassen. Und dann sind da auch jene Momente, in denen ich unter Schmerzen und Traurigkeit seufze und meine erdrückenden Fragen mich verstummen lassen. Augenblicke, in denen alle Gebete verhallen wollen; da pocht das Leiden seine Löcher in die Seele.

Warum gibt es diese beiden Seiten im Leben eines Christen, im Leben seines Volkes, seiner Kirche? Warum gibt es herrliche Höhen der Gottesgegenwart und traurige Todestäler, in denen wir schreien: »Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen?« (Psalm 22,2). Das Einmaleins des angebrochenen Gottesreiches, dieser neuen Wirklichkeit, lässt sich wohl nicht in schlichten Glaubenssätzen erlernen oder in theologischen Denk-Ouvertüren erfassen. Jesus Christus hat nach seiner Himmelfahrt nicht aufgehört zu leben. Er will mir begegnen. Er will mir nahe sein. Er tröstet mich durch seinen Geist, durch sein Wort, durch das Abendmahl und die Gemeinschaft der Erlösten. Er offenbart sich.

»Lesen Sie viel in der Johannes-Offenbarung! Es ist ein Trostbuch. Vergessen Sie das niemals!« Der sonst recht gefasste Theologieprofessor stand vor uns Studierenden mit Tränen in den Augen, so als würde er uns ein Geheimnis anvertrauen. Damals habe ich nicht gewusst, was er da sagen wollte. Doch zunehmend greife ich zur Bibel und schlage genau dieses letzte biblische Buch auf, um Trost zu finden. Immer dann, wenn mich die lauten Fragen zu ersticken drohen, wenn die Welt sich in den Schwindel drehen will.

Die Johannes-Offenbarung war mir lange Jahre wie ein »Buch mit sieben Siegeln«, das ich einfach nicht verstand. Da waren die reichlichen Hinweise auf alttestamentliche Propheten, die symbolische Sprache einer fremdartigen Apokalyptik, die angstmachenden Gerichtsszenen, die sich kapitelweise durch das Buch ziehen. Ich erinnere mich, wie ich in meiner Kindheit und Jugendzeit die Hochrechnungen einiger Endzeitler hörte, die angeblich herausgefunden hatten, was der Zeiger auf der Weltenuhr nun wirklich anzeigte. Sie lasen die Offenbarung wie eine Art Fahrplan für diese Endzeit. Da wurde ein bevorstehender neuer Weltkrieg vorhergesagt, der Antichrist erhielt immer einmal wieder ein neues Gesicht und die Christen sollten sich bloß nicht verführen lassen. Für einige stand die »große Trübsal« nun unmittelbar bevor, für die anderen gab es kein anderes Thema als das der Wiederkunft Jesu.

Ja, die ganze Kirchengeschichte berichtet immer wieder von eigenwilligen und sehr seltsamen Positionen zur Johannes-Offenbarung. So hat beispielsweise der größte Teil der Ostkirche das letzte Buch der Bibel für Jahrhunderte geradezu ignoriert. Und auch die Reformatoren behandelten es halbherzig. Martin Luther vertrat die Auffassung, dass »Christus darinnen weder gelehrt noch erkannt wird« (September-Testament 1522). Huldrych Zwingli behauptete sogar, dass die Offenbarung kein biblisches Buch sei (Berner Disputation 1528), und auch Jean Calvin hat es in seiner Bibelauslegung einfach übergangen. Braucht man dieses Buch der Bibel überhaupt?

Doch die Kirchengeschichte zeugt gleichfalls von einer ungewöhnlichen Beliebtheit und Verbreitung der Johannes-Offenbarung, nicht nur in Kunst und Dichtung. Johann A. Bengel (1687–1752) machte es zum Dauerthema für den Pietismus. »Ohne Tränen wurde die Offenbarung nicht geschrieben, sie wird auch ohne Tränen nicht verstanden« – so lautete sein hermeneutisches Credo zu diesem Buch der Tränen und der Tröstungen.

Die Offenbarung ist eine Schrift, die nicht nur zur Ratlosigkeit oder Empörung führt, sondern die auch emporhebt, wenn einen alles erdrücken will. Der Himmel berührt die Erde und die Erde berührt den Himmel. Es ist die Offenbarung des in den Himmel erhöhten Jesus Christus, die er seinem Apostel Johannes anvertraute. Dieser wurde davon ergriffen, getröstet und aufgerichtet. »Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige, und ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit« (Offenbarung 1,17-181).

Doch dieses letzte Buch der Bibel soll nicht nur Johannes, sondern alle berühren, verändern und trösten, die es hören oder lesen. »Glückselig« werden die Menschen genannt, die seine Worte lesen, hören und bewahren (1,3). Es ist nicht nur ein Buch von rätselhaften Szenen und Zahlen, sondern es gibt zärtlichen Zuspruch, prächtige Perspektiven des erhöhten Herrn an eine fragende, angegriffene, weinende Christenheit. Es sind nicht Vertröstungen auf eine ferne Zukunft, sondern Tröstungen, die der gegenwärtige Christus selbst durch seinen Geist mitteilt.

Ich selbst habe in der Offenbarung schon viel Trost und Ermutigung erfahren. Gott hat direkt durch sie zu mir gesprochen und mich auferbaut. Mit diesem Buch will ich Sie einladen, der Johannes-Offenbarung neue Aufmerksamkeit zu geben. Dabei möchte ich vermeiden, dass wir uns in theologischen Auslegungskorridoren verirren oder in fiktiven Berechnungen der Zeit verlieren. Das betende Lesen dieser Offenbarungsschrift hat mir neue Zugänge eröffnet und mich von manchen abwegigen, irreführenden Auslegungen zurückgehalten – dies möchte ich mit Ihnen teilen.

Im Hauptteil dieses Buches finden Sie zunächst zu jedem Kapitel der Johannes-Offenbarung kompakt einige hoffentlich hilfreiche exegetische Betrachtungen, die Ihnen das Verständnis erleichtern und einen Überblick verschaffen. Sodann betrachte ich jeweils einen Vers aus dem jeweiligen Kapitel betend; ich meditiere darüber und höre dabei auf die Stimme Gottes.

Damit wir die Offenbarung aber besser verstehen und einordnen können, möchte ich vorab in dieser Einführung noch einige grundlegende Fragen beantworten – zu ihrer Intention, ihrem Aufbau und ihrer Auslegung.

Buch der Offenbarung

Die Johannes-Offenbarung ist weder ein pures Geschichtsbuch noch ein Erzeugnis kunstvoller apokalyptischer Dichtung. Es handelt sich im buchstäblichen Sinne um eine »Offenbarung« (griech. apokalypsis). Der Begriff bezeichnet einen Vorgang der »Entschleierung« von »schleierhaften«, ja, rätselhaften und geheimnisvollen Wirklichkeiten, die man als »Geheimnis« (griech. mysterion) bezeichnen kann. Derartige Offenbarungen kommen nicht aufgrund menschlicher Weisheit zustande, etwa durch eine Aneinanderreihung und logische Deutung von offensichtlichen Fakten, die man mit seinen natürlichen Sinnen erfassen kann. Paulus erläutert diese Entschlüsselung von geistlichen Geheimnissen mit folgenden Worten

Wir reden Gottes Weisheit in einem Geheimnis (mysterion), die verborgene, die Gott vorherbestimmt hat, vor den Zeitaltern, zu unserer Herrlichkeit … Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott denen bereitet, die ihn lieben. Uns aber hat Gott es offenbart durch seinen Geist, denn der Geist erforscht alles, auch die Tiefen Gottes … Davon reden wir auch, nicht in Worten, gelehrt durch menschliche Weisheit, sondern in Worten, gelehrt durch den Geist, indem wir Geistliches durch Geistliches deuten. Ein natürlicher Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird (1. Korinther 2,7.9-10.13-14).

Der biblische Begriff apokalypsis beschreibt nicht in erster Linie eine Literaturgattung, sondern verortet die Quelle der Erkenntnis bei einem sich offenbarenden Gott, der durch den Heiligen Geist kommuniziert. Zudem erläutert Paulus, dass der Zugang, die Deutung einer solchen Offenbarung, bei dem Empfänger, Hörer und Lesenden eine geistliche Kompetenz voraussetzt. Alle, die sich an eine Auslegung der Johannes-Offenbarung wagen, ohne vom Geist Gottes dazu befähigt zu sein, werden sich folglich schnell als Unwissende oder Besserwissende gegenüber dem Text vorfinden. Das Zeugnis Jesu ist hingegen der Geist der »Weissagung« (griech. propheteia – 19,10). Der Fokus des letzten Buches der Bibel ist demnach die Offenbarung Jesu Christi, des erhöhten Herrn, dem alle Autorität im Himmel und auf der Erde gegeben ist. Das unterscheidet dieses Buch von den Evangelientexten, welche Jesus auf der Erde beschreiben.

In erster Linie geht es in der Offenbarung nicht um neue Erkenntnisse aus der himmlischen Welt, wie denn nun die Abläufe am Ende dieser Weltzeit vorgesehen sind. Im Zentrum steht Jesus Christus selbst. Er offenbart sich als der Erhöhte, als der zur Rechten Gottes Sitzende. Ohne den, der in seinem Sterben die Sünden der Welt wie ein Lamm trug, der auferweckt ist von den Toten und nun der ewig Lebendige ist, erhöht in den Thronsaal des Himmels – ohne diesen Heiland wird der Trost der Welt niemals aufleuchten!

Zudem werden in einer Offenbarung Gottes Worte gehört. Es geht um klare Aussagen, nicht allein um Bilder oder Visionen, die rätselhaft bleiben. Der Offenbarungsempfänger sieht und hört eine himmlische Wirklichkeit, die nur ansatzweise mit den Worten und Bildern dieser Welt verglichen werden kann. Er nimmt Farben und Lichtqualitäten, Epochen und Zeiträume sowie symbolische Figuren und Gebilde wahr. Engel führen Johannes wie Navigatoren durch das ganze Geschehen hindurch. Sie geben ihm Anweisungen, wie er mit dem Gehörten und Geschauten umgehen soll. Nicht diese himmlischen Boten sollen angebetet werden, sondern Gott! Die persönliche Ergriffenheit des Offenbarungsempfängers, die zuweilen ekstatische Züge annehmen kann, soll genauso wenig die Aufmerksamkeit haben wie diese Boten und Engel (19,10). Hier in dieser Weltzeit sind wir allerdings eingebunden in unsere Kommunikationsmöglichkeiten, in unsere Denkfiguren, in Raum und Zeit. Die sichtbare Welt (Immanenz) zeigt Spuren der himmlischen Realität (Transzendenz) auf; sie ist nicht identisch und dennoch irgendwie davon geprägt, auf sie bezogen und in sie verwoben (Kohärenz). Man bedenke, dass Jesus vielfach in Gleichnissen und Analogien von dieser neuen Welt Gottes sprach.

Hier wird ein entscheidendes Merkmal der Prophetie wichtig: Der sich offenbarende Gott ist »von Ewigkeit zu Ewigkeit«. Er sprengt alle irdischen Zeitvorstellungen. Die von Gott gegebene Zeit, alle Tage diese Welt, konzentrieren sich in seiner Gegenwart auf einen Moment. Bei ihm sind »tausend Jahre wie ein Tag« (Psalm 90,4; 2. Petrus 3,8). Der »Jüngste Tag« hat im prophetischen Geschehen immer einen Bezug zum Heute. Der Prophet kann bis in Detailaussagen, ja, bis in die Sprachgebung hinein, Worte und Informationen empfangen, die er in seiner Zeit noch niemals wahrgenommen hat.

Wir erspüren diesen Zusammenfluss von Zeit in der Ewigkeit bereits bei den großartigen alttestamentlichen Verheißungen auf den Messias, zum Beispiel in Jesaja Kapitel 53. Die Tage, die Jahre, die Jahrtausende schrumpfen im Moment der Offenbarung auf einen Augenblick und eröffnen die Sicht für Neues. Zu der alten Erde, die vergehen wird, gehört das Eingebundensein in Raum und Zeit. Wenn nun Christus sich aus der Ewigkeit mitteilt, so nutzt er Worte und Zeiten, die der Offenbarungsempfänger entweder offensichtlich erkennt oder über die er nur in Vergleichen und Analogien reden kann, bzw. über die er und alle, die es hören, intensiv in einer Deutungsphase nachsinnen sollen. Zugleich bezieht sich der Geist Gottes auf konkrete historische Ereignisse, die sowohl in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihre Relevanz haben. Der Heilige Geist greift zurück auf schon ergangene alttestamentliche Prophetie, aber sie wird in einen neuen Zusammenhang gestellt. Während die alttestamentliche Prophetie auf den Messias wartet und ihn verheißt, geht die neutestamentliche davon aus, dass der Messias gegenwärtig ist. Der »Geist der Weisheit und Offenbarung« (Epheser 1,17) gibt dabei stets Einsicht in das Wesen, die Wirksamkeit und die Wege Gottes.

Buch der Erwartungen

Je mehr wir christliche Offenbarung und Prophetie verstehen, umso weniger verwundert es, wenn Zeitangaben verschlüsselt sind, wenn symbolische Figuren und Abläufe in der Gestalt der Sprache und Kultur der spätjüdischen Apokalyptik und der antiken Welt geäußert werden, aber dennoch ihre Bedeutung über diese Zeit hinaus behalten. Viele Ausleger der Johannes-Offenbarung sehen einen engen Bezug zu den etwa 30 apokalyptischen spätjüdischen Schriften (ca. 200 v. Chr.–200 n. Chr.), wie z. B. der des Henoch (106 Kapitel). Sie befassen sich mit dem Thema der ausbleibenden Verheißungen und gehen davon aus, dass man am Ende dieser Weltepoche stehe. Warum regiert Jahwe nicht offensichtlicher? Wann und wie werden das Ende und das neue messianische Reich kommen?

Verbreitet war in den apokalyptischen jüdischen Schriften das zeitliche Konstrukt eines Weltwochenschemas. Dabei wurden jeweils 1000 Jahre für einen Tag angesetzt. Nach zwei gesetzlosen Jahrtausenden folgten 2000 Jahre unter dem Gesetz (Thora). Sodann konzipierte man eine weitere messianische Zeitepoche, die mit dem Kommen des Messias beginnen würde, in der das wiederhergestellte israelische Reich die Vorherrschaft unter den Weltvölkern innehabe. Nach diesen »Tagen des Messias« folge dann eine Vollendungszeit, eine Zeit des »Weltensabbat«.

Auch die Zahlensymbolik ist in der spätjüdischen Apokalyptik wichtig; etwa die Sieben als Zahl der Vollkommenheit, die Zahl Dreieinhalb entsprechend als Symbol für Unvollkommenheit. Die Zahl Zwölf symbolisierte die Vollzahl der Erwählten des Volkes Gottes oder die Zahl 1000 eine von Gott gesetzte Vollzahl.

Es stellt sich die Frage, inwieweit die Johannes-Offenbarung mit der Gattung der spätapokalyptischen Schriften korrespondiert. Zwar ist eine Sprach- und Denkgemeinschaft zwischen der Johannes-Offenbarung und diesen spätjüdischen Apokalypsen nicht zu leugnen, aber es gibt zugleich wesentliche Unterschiede. In den Augen der spätjüdischen Apokalyptiker war die Chance der Buße, einer weltverändernden Umkehr, nicht mehr gegeben. Da ging es nur noch um die Ablösung des alten Äons und den Einbruch einer neuen messianischen Welt, verbunden mit dem Kommen des Messias. Diese Ablösung wurde genauestens beschrieben und berechnet. Gottes Handeln wurde geradezu bewusst planbar dargelegt. Das Ende der alten Welt stand im Mittelpunkt, nicht der Messias. Die Verfasser jener jüdischen Apokalypsen blieben anonym bzw. unbekannt. Anders verhält es sich mit der Johannes-Offenbarung: Eindeutig werden hier Verfasser, Ort, Zeit und Empfänger benannt. Zwar nehmen die Texte auch Zahlen und in der jüdischen Apokalyptik gebräuchliche Denkfiguren und Symbole auf, aber der Blick auf die Bilder der Zukunft ist nur erlaubt mit dem Anblick des gekreuzigten, auferstandenen und erhöhten Messias. Auffallend und herausragend ist außerdem die besondere Naherwartung der Johannes-Offenbarung. Sie unterscheidet sich sowohl von den apokalyptischen Planspielen der spätjüdischen Schriften als auch von den strafansagenden Gerichtsworten der alttestamentlichen Propheten vom »Tag des Herrn«. In allen alttestamentlichen Bezügen ist es ein Kampftag, an welchem sich Jahwe endgültig gegen seine Feinde durchsetzt. Der Prophet Amos schockiert schließlich durch seine klare Aussage, dass dieser »Tag des Herrn« auch für das Volk Israel zur »Finsternis«, zum Gericht wird (Amos 5,18).

Der »Tag des Herrn«, verbunden mit der Messiaserwartung, wird in den apokalyptischen spätjüdischen Schriften berechenbar vorgestellt. In den neutestamentlichen Ausführungen hingegen ist er bereits mit dem ersten Kommen Jesu Christi angebrochen (2. Korinther 6,2). Die Vollendung steht allerdings noch aus. Der Berechnung von »Zeit und Stunde« (Markus 13,32) wird eine deutliche Absage erteilt. Wachsamkeit ist geboten, jedoch keine Rechnerei! Die vollendete Gottesherrschaft kommt nicht so, dass man sie berechnen kann (Lukas 17,20-23). Vielmehr ist mit Christus das Reich Gottes, die neue erwartete Wirklichkeit bereits gekommen. Jesus markiert den Beginn der neuen Zeit mit den Worten: »Von nun an werdet ihr den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen auf den Wolken des Himmels« (Matthäus 26,64). »Von nun an« bezieht sich auf Karfreitag, Ostern und die Himmelfahrt Jesu, aber auch auf seine Wiederkunft.

Der »Tag des Herrn« begann mit der Ankunft Jesu auf der Erde. Aber dieser Tag war nicht nur der Gerichtstag, an dem die Sünden der Welt ans Kreuz getragen wurden, sondern auch der erste Tag der neuen Wirklichkeit des »Reiches Gottes«; der Tag, an dem Buße und Neuanfang für alle Menschen ermöglicht wurden, an dem die Auferstehung ihren Anfang nahm. Christus wird ebenfalls den Zielpunkt der Vollendung setzen, alles Unrecht aufdecken und ins Licht bringen. »Der Tag des Herrn« beginnt mit dem ersten Kommen Jesu und er vollendet sich mit seiner Wiederkunft. Deshalb ist der Quellort der Naherwartung in Christus selbst gegeben.

In der Johannes-Offenbarung leuchten die letzten Kapitel die Zielgerade aus, welche in den spätjüdischen Apokalypsen nur als »Weltensabbat« angedeutet wird. Der neue Himmel und die neue Erde sind frei von der menschlichen Zeit. Gott wird »alles in allem« sein (1. Korinther 15,28). Gerade dieser endzeitliche Fixpunkt ist wie eine Verankerung der wartenden Leidenschaft Gottes für seine verlorene Schöpfung. Die Gemeinde Jesu stimmt ein in das lockende, aufrüttelnde und tröstende Wort des Geistes, das sich wie ein roter Faden durch alle Kapitel zieht: »Und der Geist und die Braut sagen: Komm! Und wer es hört, spreche: Komm! Und wen dürstet, der komme! Wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst!« (22,17).

Anlass, Abfassung und Aufbau des Buches

»Am Ende geht es um diese eine Frage: Wen betest du an?« – Das habe ich als Pastor häufiger bei Beerdigungen gesagt, um zu betonen, dass die Frage der Gottzugehörigkeit sich mit zunehmendem Alter erneut stellen kann. Auch die vielen Fragen nach der Sinnhaftigkeit des gelebten Lebens verblassen, wenn die Anbetung zum Thema wird. So ist es nicht erstaunlich, dass sich das Thema der Anbetung wie ein roter Faden durch die Johannes-Offenbarung zieht. Der tragende Begriff »anbeten« (griech. proskynein) kommt im Neuen Testament 59 Mal vor; davon allein 24 Mal im letzten Buch der Bibel. Zudem finden wir häufig sinnverwandte Wörter wie »ehren«, »verherrlichen«, »danken« oder »lobpreisen«. Dabei ist auffallend, dass auch die nicht christlichen Bewohner der Erde als Anbetende bezeichnet werden. Sie beten jedoch nicht Jesus, das Lamm oder den dreieinen Gott an, sondern »sie beten den Drachen an, weil er dem Tier die Macht gab, und sie beten das Tier an und sagten: Wer ist dem Tier gleich?« (13,4).

Die Endzeit wird von einem Zusammenstoß der Anbeter gekennzeichnet sein. Sicher werden auch Lehre gegen Lehre, Prophetie gegen Prophetie, Zeugnis gegen Zeugnis stehen, aber die eigentliche Auseinandersetzung geschieht in der Anbetung. Sie ist nicht nur eine Art liturgisches Rahmenprogramm, sondern deutet auf den Höhepunkt der Vollendung.

Und ich hörte etwas wie eine Stimme einer großen Volksmenge und wie ein Rauschen vieler Wasser und wie ein Rollen starker Donner, die sprachen: Halleluja! Denn der Herr, unser Gott, der Allmächtige, hat die Herrschaft angetreten. Lasst uns fröhlich sein und jubeln und ihm die Ehre gegeben; denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und seine Frau hat sich bereit gemacht (19,6-7).

Die Frage der Anbetung spielte sicher auch angesichts des Kaiserkultes im Römischen Reich eine entscheidende Rolle für die junge Christenheit. So forderte Domitian (Regierungszeit 81–96 n. Chr.) als erster römischer Kaiser die göttliche Verehrung seiner Person und ließ sich »Gott und Herr« nennen. Die damalige Welt war religiös, wobei Rom als Zentrum erst spät dazukam. Vielmehr wurden Tempel für den Kaiserkult in der kleinasiatischen Provinz vorangetrieben. Die Hauptstadt Ephesus zählte schon bald eine Viertelmillion Einwohner, Laodizea hatte Banken und Industrie, die weit über seine Grenzen hinaus bekannt waren. Die Provinz »Asia« galt als Hochburg des »Hellenismus«, jener Kulturbewegung, in der es um ein Zusammenwachsen der Menschheit ging, und zwar auf Kosten der religiösen, sozialen, kulturellen und politischen Eigenprägungen. Es ging um eine kulturelle Verschmelzung von Abend- und Morgenland, von Orient und Okzident. Die Sprache dieser neu aufbrechenden Kultur war die »Koine« (Altgriechisch), in der auch die Johannes-Offenbarung und alle Schriften des Neuen Testamentes verfasst sind.

Der Kaiserkult war neben Rom vor allen Dingen in dieser Provinz Asia beheimatet, allen voran in Ephesus, wo sich eine Statue des Kaisers Domitian in vierfacher Lebensgröße befand. Dieser brachte die Christen im 1. Jahrhundert n. Chr. zunehmend in Konflikte. Die kleinen Gemeinden, die zunächst als jüdische Splittergruppen angesehen wurden, kamen nun immer mehr in den Blick, da sie sich in allen Bevölkerungsschichten ausbreiteten. Die Verweigerung der Anbetung des Kaisers galt als Terror, als Verweigerung der Staatsräson. Die deshalb zunehmende Verfolgung versetzte die junge Christenheit in Schrecken und Angst. Sollte man sich nicht irgendwie mit dem Kaiserkult arrangieren?

Die Sendschreiben an die sieben Gemeinden in der römischen Provinz Asia (Kapitel 2–3) gingen also direkt in das Zentrum der damaligen kulturellen und religiös geprägten Welt. Die Gemeinden standen in der Gefahr, die Anbetung zum Randthema zu machen und sich über christliche Ethik oder andere Werke zu definieren. Oberflächlichkeit, aber auch Irrlehren und die Angst vor Verfolgungen prägten die junge Christenheit, die repräsentativ in den Sendschreiben an die Gemeinden angesprochen wird.

Wir dürfen annehmen, dass der Verfasser der Offenbarung, der Apostel Johannes, Sohn des Zebedäus, in diesem Umfeld gelebt hat. So bezeugt es bereits die frühchristliche Schrift von Justin (160 n. Chr.). Auch der Jurist und Kirchenvater Tertullian erwähnte in seinen Aufzeichnungen und Hinweisen zur Johannes-Offenbarung um 220 n. Chr. den Jesusjünger Johannes, der die Gemeinden der Provinz Asia vom Zentrum Ephesus aus leitete. Kaiser Domitian habe diesen »Alten« nach Rom bringen, ihn verhören und foltern lassen, indem er ihn in heißes Öl eintauchte. Johannes habe diese Folter jedoch wie durch ein Wunder überlebt. Man wollte ihn offenbar nicht zum Märtyrer machen und so wurde er nach Patmos, einer einsamen kleinen Insel im Mittelmeer vor der Westküste der heutigen Türkei, verbannt. Es ist also denkbar, dass bei der Schilderung der »Sieben-Hügel-Stadt« (Kapitel 17) mit ihrem Stolz und Luxus und ihrem Terror und Blutvergießen persönliche Erfahrungen des Verfassers aus seiner Zeit in Rom einfließen. Und es ist wahrscheinlich, dass es sich bei Johannes, der sich schon im ersten Vers der Offenbarung vorstellt, um den Apostel handelt, der zur Zeit Jesu wohl der jüngste unter den Jüngern war. Er schrieb nun als alter Mann vermutlich Anfang der 90er-Jahre des ersten Jahrhunderts von der Insel Patmos (1,9) aus der Verbannung.

Sprachlich gesehen gibt es nachweisbare Parallelen zu den anderen johanneischen Schriften im Neuen Testament, jedoch auch gewisse Unterschiede. So werden die sonst üblichen Hauptbegriffe des Johannes-Evangeliums wie Wahrheit, Liebe, Licht und Finsternis nur am Rande erwähnt. Dennoch ist die feingliedrige, wortschöpferische sprachliche Gesamtkomposition typisch für Johannes. Trotz der sehr leidenschaftlichen Beschreibung haben die Aufzeichnungen eine große Klarheit im Aufbau. Je sorgfältiger man dieses letzte Buch der Bibel studiert, umso mehr verschwindet das Empfinden, dass es sich hier um eine apokalyptische, prophetisch inspirierte, unverständliche Aneinanderreihung von Visionen handelt.