Ingeborg Villinger

Gretha Jünger

Die unsichtbare Frau

Klett-Cotta

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© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Die Briefe von Alexander Mitscherlich werden mit freundlicher Genehmigung von Matthias Mitscherlich und dem Deutschen Literaturarchiv abgedruckt.

Die Briefe von Joseph Breitbach werden mit freundlicher Genehmigung von Wolfgang Mettmann abgedruckt.

Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung eines Fotos von © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98352-4

E-Book: ISBN 978-3-608-12072-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Lucas, Nora und Noelia

Vorwort

Als »Frau Ernst Jünger« ist sie aus den Biographien ihres Ehemannes bekannt. Nahezu unbekannt ist, dass sie als Autorin unter ihrem Geburtsnamen Gretha von Jeinsen mit einem beachtlichen Briefwerk und eigenen literarischen Veröffentlichungen von großer Erzählkraft firmiert. Ihre Texte werden gemeinhin lediglich für Ernst Jüngers Lebensbeschreibungen herangezogen. Gegen solche Unsichtbarkeit im Schatten ihres Mannes bestand sie bereits in jungen Jahren auf sichtbarer Selbstbestimmung, ja selbst mitten in den Wirren des Zweiten Weltkriegs pochte sie mit Nachdruck darauf, ihren eigenen Namen zu tragen und nicht etwa bloß »das Spiegelbild des Mannes zu sein«.[1]

Auf solcher Eigenständigkeit zu beharren, war für die 1906 geborene Gretha von Jeinsen nicht einfach, denn das Kaiserreich kennzeichnete die scheinbare Stabilität der Tradition. Doch mit der Industrialisierung stellte sich bald die soziale Frage und in ihrem Schlepptau die Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter in Ehe, Beruf und Gesellschaft. Beide zersetzten die Traditionsbestände von innen her, bis schließlich in Deutschland und Europa der »Verfall der Welt von gestern« besiegelt wurde.[2] Danach begann auf den Trümmern des Ersten Weltkrieges der Aufbau der unvollendet gebliebenen Republik, auf die wir längst als die »zerrissenen Jahre« zurückblicken.[3] Mit Kaiserreich und Weimarer Republik prägten zwei politische Phasen ungeheurer Spannung und hoher Ambivalenzen Grethas Kindheit und Jugend. Ihre Erinnerungen daran zeigen, wie intensiv ihre Erfahrungen mit den kollektiven Beständen interagieren. So sehen wir ihren entschlossenen Aufbruch zur selbständigen Neuen Frau als Pianistin und Schauspielerin auf den Theaterbühnen und ihre nahezu zeitgleiche Erfahrung, dass »Frauen ein Nichts sind im Vergleich zu dem alles überragenden und alles überschattenden männlichen Prinzip, eine Wolke, ein sich auflösendes Gebilde etwa, dem erst der gewaltige Göttervater Gestalt verleiht« – so hält es ihr ironischer Rückblick fest.[4]

Dass für sie neben dem Start in die Moderne der Weimarer Jahre, den prägenden Erfahrungen zweier Weltkriege und dem schillernden »Gitter von Licht und Schatten« der Jüngerschen Strahlungen das Verhältnis der Geschlechter eine gewichtige Rolle spielte, liegt auf der Hand.[5] Dass es ihr sogar zum Prisma der kulturellen und politischen Verfasstheit deutscher Geschichte wurde, ist dem zeittypischen Ideal hegemonial-soldatischer Männlichkeit geschuldet, das Ernst Jünger in ausgeprägter Weise verkörperte. Seine heroisch inszenierte Identität formte ein höchst spannungsreiches Paarverhältnis, dessen »Eiswüsten« und »Raubtiergeruch« Gretha im Verlauf ihres gemeinsamen Lebens einen nicht geringen Tribut abverlangte. Doch ihre Erfahrungen waren angesichts der tiefen Gräben der deutschen Geschichte mit ihrem kaiserlich-autoritären und NS-diktatorischen Reich kein Einzelfall, sondern veranschaulichen ein »Jahrhundertproblem«, dessen Schatten bis weit in unsere Tage hineinreichen.[6] Bei Gretha Jünger schärfte es das Sensorium für Formen des Zusammenlebens wie für politische Fragen und Perspektiven, die sie bis zuletzt mit großem Interesse verfolgte. Sie gehörten neben ihren immensen Lektüren und ihrer literarischen Produktivität im Dezennium der 1950er Jahre zu ihren Grundantrieben.

Der Gang durch Gretha Jüngers Leben entführt in eine bewegte Bildergalerie historischer Tableaus, die ein Lehrstück deutscher Kultur- und Politikgeschichte sind. Trotz der Zeitbedingtheit manch ihrer Perspektiven vermittelt ihre Biographie vielfältige überdauernde Einsichten. Nicht die geringste davon ist die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung, die sie mit existenzieller Wucht und Ungezwungenheit versuchte mit ihren kultur- und naturnahen Lebenswelten in Einklang zu bringen. Für sie meinte das: die freie Gestaltung ihrer emotionalen, künstlerischen und literarischen Möglichkeiten in Verbindung mit Anerkennung und Respekt. Ihr anhaltendes Ringen darum hat bis heute wenig an Aktualität verloren.[7]

Gretha Jüngers Biographie zu Papier zu bringen, erforderte die Überwindung hoher Hürden bei der Spurensuche nach der »Unsichtbaren«: Archive wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört, die Ereignisse des Juli 1944 veranlassten auch sie, ihre Notizen und Tagebücher zu verbrennen, die danach entstandenen sind bis heute unauffindbar, Ähnliches gilt für Teile ihrer Korrespondenz. Doch erfreulicherweise fanden sich nicht wenige Nachfolger der Adressaten ihrer Briefe und nicht zuletzt auch Archive, allen voran das Deutsche Literaturarchiv Marbach, die das Vorhaben dieser Biographie mit eigenen Erinnerungen, Briefen und Dokumenten unterstützten.

Besonders hervorzuheben ist, dass die Biographie dokumentarisches Neuland betreten konnte mit den hier erstmals zur Verfügung stehenden Briefen des Ehebriefwechsel von Ernst und Gretha Jünger. Dieser immens umfangreiche Briefwechsel der Jahre 1922 bis 1960 wird derzeit von Detlev Schöttker und Anja Keith für den Druck vorbereitet und im Verlag Klett-Cotta erscheinen. Die hier wiedergegebenen Auszüge aus diesen Briefen bieten nicht nur inhaltlich einen facettenreichen und authentischen Einblick in die Lebensabläufe, sondern machen auch die Atmosphäre im gegenseitigen Umgang des Paares im Verlauf von vielen Jahrzehnten unmittelbar erfahrbar.

Gretha Jüngers Erinnerungsbände Palette (1949) und Silhouetten (1955) dagegen gewähren zwar biographische Orientierungspunkte, können jedoch nicht als Dokumente verstanden werden, da sie eine deutliche Differenz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit erkennen lassen. Dass Erinnerungen von nur begrenzt dokumentarischem Charakter sind, ist zwar ein Gemeinplatz, doch in diesem Falle kommt dem Erinnern als werbendem Verstehen für das Erzählte ein besonderer Stellenwert zu. Denn die spürbare Einmischung der Gegenwart während ihrer Niederschrift ist Resultat der Brückenzeit zwischen zwei politischen Systemen und ein Hinweis auf die Zeit, in der sie entstanden sind. Diesem Umstand verdanken sich vermutlich manch unbewusste, doch auch einige absichtsvoll gelenkte Verschiebungen, wie Parallel-Lektüren anhand von Briefen und anderen Texten erkennen lassen.

Ein empfindliches Defizit besteht bis heute hinsichtlich ihrer offenbar umfänglichen literarischen Produktion, deren Anfänge in die 1930er Jahre zurückreichen, jedoch wohl vorwiegend in den Nachkriegsjahren entstand und in Briefen gut dokumentiert ist. Diese Lücke zu schließen, bleibt eine lohnende Aufgabe.

Ingeborg Villinger, Mai 2020

1  Familienroman und Herkunft (1906–1922)

Vergangenheit und Zukunft zwischen Rittern, Tod und Türmen

»Wir könnten dort ein Ekeby schaffen, wie wir es uns längst erträumten, der Insel im Strome gleich!«, schreibt Gretha Jünger 1946 an Fritz Lindemann(1), nachdem sie ein Domizil dafür gefunden hatte. Ekeby war ihrem »Seelenfreund«[1] wohlvertraut, denn so nannte sie seit Dekaden ihren ersehnten imaginären Ort der verlorenen Stammgüter, von denen die Geschichte ihrer Familie so suggestiv erzählt. Ihr Verlust war für sie von solcher Tragweite, dass sie 1955 ihre Erinnerungen damit beginnen lässt: »Das Recht eines meiner Vorfahren, seinen gesamten Besitz, der drei Güter umfaßte, in einer einzigen Nacht an seine jüngeren Brüder zu verspielen und für sich und seine Nachkommen den endgültigen Verzicht auszusprechen, wurde noch von meinem Großvater angefochten; und auch mein Vater setzte einen dieser langwierigen Prozesse fort, die zwar zur Armut führen aber zu keinem Richterspruch. Das Bild dieses Ahnen bildet den einzigen Bestand, der mir verblieb. […] Ich betrachte dieses Profil mit den dunklen Augen, der geraden Nase und dem für unser Geschlecht typischen Merkmal – der stark betonten Unterlippe – nicht ohne Sympathie und kann ihm durchaus nicht gram sein. Man behauptet, daß die physiognomische Ähnlichkeit zwischen ihm und mir erstaunlich sei.«[2]

Emotionen und Spielleidenschaft, Prozesse und verlorene Güter, aber auch Ritter und efeuumrankte Türme prägen Grethas imaginäre Familienerzählung, in deren Verlauf die Strahlkraft jenes sagenhaften Vorfahren mit der besonderen Unterlippe hervortritt, der zornig aufbrausend »seinen Rivalen und Verführer seiner Frau im Beichtstuhl erschlug«.[3] Diesem genealogischen Arsenal ihrer landadligen Herkunftsfamilie von Jeinsen entnahm sie die »Waffen« zur Bewältigung der ihr Leben begleitenden, teilweise heftigen Krisen.[4] Dass sie ihre Distinktionsmerkmale – ob ironisch, dramatisch oder ins Komische gewendet – meist treffsicher inszenierte, verdeutlicht ihr Brief an Ernst Jünger, in dem sie ihn als »seriösen Herrn« klassifiziert, doch »ohne die Jeinsen’sche Unterlippe, versteht sich«.[5] Sie traf damit einen wunden Punkt, denn Ernst Jünger war bereits in jungen Jahren von großen Selbstzweifeln geplagt, in denen er schon früh eine »Prädestiniertheit zur verkrachten Existenz« erkennen wollte, gegen die er sich mit einer Panzerung, jederzeit in Sorge um seinen guten Ruf, zu schützen suchte.[6]

Als Gretha Jünger im Alter von vierzig Jahren ihr neues Ekeby fand, 1946, ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war ihre Krisenlage bedrückend: Sie fühlte sich bis zur Unsichtbarkeit marginalisiert und wusste nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren zum ersten Mal nicht, ob sie ihr bisheriges Leben an der Seite von Ernst Jünger, mit dem sie seit zwanzig Jahren verheiratet war, fortsetzen konnte. In dieser Zeit mobilisierte sie das Narrativ ihres Familienromans, der die Geschichten ihrer Familie seit Generationen im Familiengedächtnis lebendig hält. Sie träumte von der Wiederkehr der vor Jahrhunderten verspielten Güter und knüpfte damit an die dem 19. Jahrhundert entstammende »Pathosformel« einer »natürlichen Genealogie« an, die ihr Reputation und Stärke verlieh.[7]

Denn Ekeby, so die Erwartung, führt sie zurück an ihre verlorenen »Quellen«, hier will sie ihr persönliches und soziales Leben neu einrichten.[8] An diesem endlich gefundenen »romantischen Sitz« der von ihr so geschätzten Alten Welt soll es Türme geben für die verschiedenen Musen und Freunde; »dem Dichter, dem Schauspieler, dem Maler und dem Astrologen« soll je ein Turm zur Verfügung stehen, in dem er sich in Gemeinschaft mit den anderen Künsten entfalten kann.[9] An ihrem Zukunftsentwurf fällt auf, dass in dieser Turmgesellschaft der Platz für sie selbst gänzlich unbestimmt bleibt, ja gar nicht vorhanden ist. Diese Unsichtbarkeit ihrer Person erweist sich als Merkmal ihrer Biographie, das sich erst in dem Augenblick auflöst, als die exzessive Leserin Gretha Jünger selbst zur Feder greift und nicht ohne Erfolg mit eigener literarischer Produktion beginnt.

Gefunden hatte sie das Vorbild für ihr Lebensmodell Ekeby bereits in den frühen 1920er Jahren in dem Roman Gösta Berling (1891) der Schwedin Selma Lagerlöf(1), die 1909 den Literaturnobelpreis erhielt und auch in Deutschland eine viel beachtete Autorin war. Nach Krieg und Nazikatastrophe wurde Lagerlöfs(2) Ekeby für Gretha Jünger endgültig zu einem von Aufbruch und Neuanfang geprägten Tagtraum, den sie als »Geheimes Deutschland« mit einem Kreis von George(1)-Verehrern, Vertrauten und Freunden zu realisieren versuchte.[10] Selma Lagerlöf(3) schildert Ekeby als ein in abgelegener Landschaft liegendes großes Gut oder Schloss im Besitz der dort unsichtbar, doch allpräsent herrschenden Marschallin, in der Gretha Jünger ihr Alter Ego sah.[11] Ähnlich der Marschallin will auch sie den in den Türmen tätigen »Kavalieren« ein produktiv-tätiges, intellektuelles Leben ermöglichen, mit dem sie – so ihre Vorstellung – inmitten »aller Wüsten und ausgeglühten Höhlen« nach dem Zweiten Weltkrieg auf die künftige kulturelle Gestalt Deutschlands Einfluss nehmen.[12] Im ersten Nachkriegsjahr glaubte sie den Ort im Schloss des Grafen Schulenburg(1) in Hehlen an der Weser gefunden zu haben, und der von ihr auserkorene Personenkreis stellte sich in Kirchhorst ein, um das neue Ekeby gemeinsam zu verwirklichen.[13] Die Gespräche und Abläufe dieses Projektes schildert Gretha Jünger sehr ausführlich in den Briefen an die Freunde, dagegen deutet sie dieses Projekt in ihren publizierten Erinnerungen lediglich an – in einer für die Öffentlichkeit bestimmten Version.[14]

Gretha Jüngers Familienroman zwischen Erzählung und Wirklichkeit

Gretha Jüngers Sehnsucht nach Ekeby ist zwar mit realen Erfahrungen ihrer frühen Lebensjahre verbunden, ihr Familienroman hat jedoch wenig Ähnlichkeit damit. Umso mehr überrascht, welche Bedeutung sie weit zurückreichenden Ereignissen der Familiengeschichte ihrer eigenen Gegenwart beimisst, denn sie war zutiefst davon überzeugt, dass die Spielsucht ihres Vorfahren und deren Folgen massiven Einfluss auf ihr Leben hatten.[15] Ihr Familienroman legt nahe, dass er den gesamten Besitz ihrer Linie der weitverzweigten Familie von Jeinsen alleine erben sollte. »Der Älteste bekommt alles«, so sah es die Erbübertragung eines Majorates vor, die in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert zunehmend verbreitete Praxis war. Noch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 regelt, dass der Besitz »unter mehreren gleich nahen an den Älteren geht«, womit ein Vermögen als unteilbar und unveräußerlich festgelegt wurde. Eine solche Politik der toten Hand greift massiv in die Zukunft nachfolgender Generationen ein. Im Laufe der Zeit wurde diese Form der Erbfolge jedoch zunehmend als illegitim empfunden und mit »hohem Konfliktpotential aufgeladen«.[16] Viele Geschichten erzählen von unheilvollen Nachwirkungen dieser Praxis, die als Benachteiligung in der Rangfolge und spätestens um die Wende zum 19. Jahrhundert auch als emotionale Nachrangigkeit elterlicher Liebe erfahren wurde.[17]

Ein solcher Geschwisterkonflikt prägte offenbar auch Gretha Jüngers Urszene, die die Folgen des verhängnisvollen Glücksspiels durch den »Verschwender« (möglicherweise handelte es sich um eines der späterhin verbotenen »Hazard«-Spiele) als Auflösung des Rechts der Güterverfügung erzählt.[18] Demnach scheint am nächtlichen Spieltisch ein schwelender Konflikt ausgetragen worden zu sein, mit nachhaltigen Folgen für Gretha Jünger: »In meiner Kindheit litt ich sehr unter der Vorstellung, daß sich unter den Parkbäumen jenes alten Besitzes die fremden Basen und Vettern tummeln würden, während wir uns mit der Etage einer Stadtwohnung begnügen mußten.«[19] Hier zeigt sich die soziale Degradierung, die sie mit dem Verlust des Erbes und der Unterbrechung des Kontinuums von Vergangenheit und Zukunft verband. Diesen Verlust rückgängig zu machen und die alte Einheit wiederzuerlangen, widmete Gretha Jünger ihre ganze Triebkraft, Lagerlöfs(4) Ekeby war dafür das Modell.

Betrachtet man Gretha Jüngers Familienroman allerdings im Lichte von Archivdokumenten, entsteht eine etwas andere, wenn auch höchst plausible Geschichte: Im Familienstammbaum der von Jeinsen findet sich erst mit (1)Herman Friedrich von Jeinsen (1690–1758) die von ihr beschriebene Brüderkonstellation: Er war ein senior familiae mit drei jüngeren Brüdern, der allerdings nicht zu ihrer direkten Familienlinie gehört, zu ihr also nicht in einem Verhältnis des Erbvaters stand.[20] Dennoch könnte die Nacht des Glücksspiels in jener Konstellation im Zeitraum zwischen 1720 und 1750 stattgefunden haben, würde also mindestens 200 Jahre zurückliegen und ging vermutlich via Erzählung ins kollektive Gedächtnis der Familie ein.[21] Auch sind, anders als von Gretha Jünger berichtet, weder die Nachkommen dieser Linie noch die ihrer eigenen Stammlinie in einer der zahlreichen Prozessakten um die Majoratsnachfolge verzeichnet.[22] Die Dokumente legen vielmehr nahe, dass Gretha Jüngers Familienroman eine kreative Erinnerungserzählung aus fein gesponnenen, sich überkreuzenden, mehrfach kodierten Diskursen in Verbindung mit erlebter Gegenwart ist. Sie nimmt die konkreten Erfahrungen und romantisierenden Erinnerungen der heilen Welt eines bäuerlichen Landgutes aus Kindertagen ebenso auf wie die reale ökonomische Verlusterfahrung im Verbund mit sozialer Deklassierung und juristischen Prozessen ihrer Kernfamilie in der Weimarer Republik.

Denn Prozesse wurden geführt, allerdings von ihrem Vater Harry von Jeinsen(1) (1877–1948), und sie drehten sich nicht um die am Spieltisch gesprengte Generationenfolge, sondern um dessen kriegsbedingt verlorene Einkünfte im Dienst der Stadt Hannover. Dass Gretha sie dennoch als generationenübergreifende juristische Auseinandersetzungen um die verlorenen Stammgüter erzählte, nobilitiert deren sozial deklassierende Gründe. Zumal in einer Zeit, in der Besitzverlust zur Alltagserfahrung gehörte und der symbolische Erfolg einer solchen Erzählung gesichert war: Stammbäume und Familienromane boten sich als Fluchtweg aus der ungeliebten Gegenwart an. Er führt jedoch kaum zu einer Analyse der realen Ursachen sozialer Probleme, die in diesem Fall auf den Ersten Weltkrieg und seine Folgen in der Weimarer Republik zurückzuführen waren.

Gretha Jüngers Kindheit und Jugend standen ganz im Zeichen dieser in den 1920er Jahren von breiten Bevölkerungsschichten geteilten Situation. Sie wurde nicht nur als individuelles Schicksal, sondern auch als deutsches Kollektivschicksal empfunden, das sich politisch in Begriffen wie »Versailler Diktat« und »Schandfrieden« artikulierte. Mit ihnen verband sich ein starker Affekt gegen die Weimarer Republik, die erste Demokratie in Deutschland, die viele Menschen nicht als Sachwalterin des schweren Erbes von Kaiserreich und Krieg sahen, sondern die sie für die ökonomische Krise verantwortlich machten. Auch Gretha Jünger adressierte die Probleme an die aktuell politisch Verantwortlichen und an die weit vergangene Familienhistorie: Ihre Flucht vor der Realität mittels der eigenwilligen Darstellung der »Armutsprozesse« ihres Vaters, die sie in »Verschwenderprozesse« um das Erbe ihres Vorvorfahren umkodierte, könnte vollständiger kaum sein.

Auf diesem Königsweg aus einem deklassierenden Kollektivschicksal begleitet sie eine Art symbolisches Erbe: das ihr übertragene kulturelle und biologische Kapital. Wie eingangs verdeutlicht, operiert sie mit einem ins Gesicht geschriebenen Erbgut: dem für ihr »Geschlecht typischen Merkmal« einer »stark betonten Unterlippe«.[23] Mit dieser Benennung einer physiognomischen Eigenheit reiht sie sich ein in den bildungsbürgerlichen Diskurs der viel porträtierten »Habsburger Unterlippe«. Sie wurde berühmt durch die Vererbungs- und Rasselehren im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert und war Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher und populärer Publikationen seit dem 14. Jahrhundert bis in die späten 1930er Jahre – ein Diskurs, der Gretha Jünger offensichtlich wohlvertraut war.[24] Die bis in die Antike zurückreichende Kunst der physiognomischen Deutung wurde in der Zeit der Aufklärung mit den Physiognomischen Fragmenten (1775–1778) des Schweizer Pastors Johann Caspar Lavater(1) berühmt. Sie führte zur weit verbreiteten Mode des Zeichnens von Silhouetten, die den Charakter eines Menschen ausdeuten helfen sollten. Im 19. Jahrhundert entstanden daraus vererbungsbiologische Kriterien, die die Generationenfolge in die menschliche Physis verlagern und anhand von äußeren Merkmalen und Charakterähnlichkeiten das individuelle »Fort- und Nachleben im Erbe« bestimmen.[25] Diese Verschiebung brachte nicht nur den »physiognomischen Furor eines Oswald Spengler(1)« mit seinem Porträt der »Kulturen im Sog des Untergangs« hervor, sondern führte auch zur Idee eines biologischen Erbes, die schließlich zum Unterbau des Rassismus wurde, einer bis heute wirksamen Vorstellung von der Ordnung der Dinge.[26]

Gretha Jünger war Lavaters(2) physiognomisches Musterbuch der Menschenkunde geläufig, wie bereits der Titel Silhouetten ihrer 1955 erschienenen Erinnerungen nahelegt. Zielsicher platziert sie darin zur Errichtung einer ehelichen Drohkulisse den biologischen Erbdiskurs, den sie mit dem habsburgischen Dynastie-Diskurs verbindet. Sie nobilitiert damit ihre landadlige Herkunft durch Parallelen zum Hochadel und erhöht auf diese Weise ihr symbolisches Kapital. In Verbindung mit dem sagenhaften Vorfahren und eifersüchtigen Beichtstuhlmörder gewinnt auf diesem Wege ihr gesamtes »väterliches Geschlecht« eine eigenwillige, rebellisch-kriegerische Aura.[27]

Diesen Erb-Reigen brachte sie bei Bedarf gegen Ernst Jünger in Stellung. Besonders heftig war dies der Fall, als sie massiv von »verratener Liebe« und Eifersucht betroffen war, ausgelöst durch die Demaskierung seiner Affären in seinem Pariser Tagebuch (1949), mit dem ihre Situation für die gesamte Öffentlichkeit entzifferbar wurde. Gegen diese Zumutung setzte sie sich mit dem symbolischen Kapital adligen Sonderbewusstseins zur Wehr. Dass sie diese Drohkulisse aus Versatzstücken und im Stil eines Ritterdramas inszenierte, zeigte bei aller Entschiedenheit in der Sache ihre große Spielfreude mit Hang zum Dramatischen und ihre Vorliebe für die ganz großen Gefühle. Doch jenseits von Stammbaum, Familienroman und symbolischer Aufwertung sieht die biographische Wirklichkeit ihrer Kindheits- und Jugendjahre im bürgerlichen Ambiente ihrer Geburtsstadt Hannover deutlich anders aus.

Bürgerliche Kindheit und romantische Gefühle auf dem Land

Gretha Jünger wurde am 14. März 1906 mit den Namen Lidy Toni Margarete Anni von Jeinsen ins Geburtsregister eingetragen, ihr Rufname in der Familie war Gretchen, was ihr aufs Äußerste missfiel. »Vielleicht wissen Sie nicht, dass ich – gleich der Reventlow(1) mit ihrem Geldkomplex – an einem Familienkomplex leide: es ist das Schlimmste aller Übel«, schrieb sie 1943 rückblickend an ihre langjährige Briefpartnerin Anne von Katte(1). »[Der Komplex] verfolgt mich fast seit meiner Geburt, seit meinem zweiten Lebensjahre, in dem ich mir, mit den Füssen stampfend, meinen Vornamen gab. Bis dahin nannte man mich Gretchen. Ich finde, dass nichts so sehr diese beiden verschiedenen Welten erhellt, wie dieser Umstand; er besagt alles. Stellen Sie sich vor, wie ich als Gretchen einherwandle! Ich zog es also vor, ihn zornig von mir zu weisen, und setzte mich durch. Meine Mutter meinte dazu: ›Das ist ein merkwürdiges Kind, Gott weiss, woher sie das alles hat.‹«[28] Als zweitgeborenes, jüngstes Kind von Helene Emma Johanne Nebel(1) (geb. 1879), genannt Emmy, und Heinrich Wilhelm Andreas von Jeinsen(2) (geb. 1877), genannt Harry, erinnert sich Gretha Jünger gerne an ihre Rolle als rebellische, unbequeme, gegen alle Konventionen aufbegehrende Tochter. »Es ist gut, daß ich bereits in der Wiege Rebellin war, wie meine Mutter immer wieder versichert. Man gewöhnt sich daran.«[29] Mit dieser Charakterskizze ihrer Person versucht sie – insbesondere für ihren Leser Ernst Jünger – die gelungene Übernahme des rebellischen Erbes ihrer Vorväter zu bestätigen.

Gretchen – mit dieser Verniedlichung von Margarete demonstrieren Emmy(2) und Harry von Jeinsen(3) ihre Zugehörigkeit zu Klasse und sozialem Milieu des Bildungsbürgertums, aber auch ihr Geschlechterprogramm, das dem Geist des Kaiserreiches entspricht. Gretha Jüngers Zorn, ja ihre Verachtung, richtet sich gegen die elterliche Erziehung nach dem Vorbild einer dessen bürgerliche Konventionen verkörpernden Frauenfigur.[30] Allen bildungsbürgerlichen Vorlieben zum Trotz kann Goethes Faust so wenig als schätzenswerter Vertreter seines Geschlechts im Umgang mit Gretchen gelten, wie man der eigenen Tochter deren Schicksal wünschen möchte. Doch trotz ihres Fehltritts mit letalem Ausgang verlor diese Figur ganz offensichtlich weder bei potenziellen Ehepartnern noch bei den Eltern an Attraktivität als weibliches Ideal. Im Gegenteil: In der Hochzeit des Goethe-Kults, in der spätestens seit der Reichsgründung »Goethedienst« ein »Gottesdienst« war, versprach der Name bürgerlichen Distinktionsgewinn.[31]

Gretha Jüngers eigene Namengebung war ein geradezu programmatischer Gegenentwurf, ja eine Kampfansage an die Gretchen-Semantik, die sie mit Stolz in den Silhouetten hervorhebt: Nicht Greta, sondern Gre-th-a sollte die Schreibweise ihres im deutschen Sprachraum kaum geläufigen nom de guerre sein. Bis auf eine höchst populäre Ausnahme, die damals in aller Munde und möglicherweise Vorbild für Grethas Selbsttaufe war: Es handelt sich um Lady Gretha MacLeod(1), Geburtsname Margaretha Geertruida Zelle, besser bekannt als Mata Hari (1876–1917). So nannte sich die erfolgreiche, geheimnis- und skandalumwitterte Tänzerin und mutmaßliche Agentin für den britischen Geheimdienst MI5, für Frankreich und das deutsche Kaiserreich (geführt als H 21). Ihr alle Konventionen sprengender Lebenslauf, ihre Vorliebe für alles Soldatische, für Disziplin und die Strenge der Offiziere, ihr berüchtigter indischer Schleiertanz, den sie in Cabarets, Theatern und Salons vorführte, war in allen Zeitungsmedien präsent und wurde rasch ein viel bearbeiteter Stoff für Bühne und Film; 1920 gab es eine erste Verfilmung mit Asta Nielsen(1), 1931 spielte Greta Garbo(1) diese Rolle. Als Frauenfigur beschäftigte sie die Phantasie junger Mädchen bereits während des Ersten Weltkriegs und in der Weimarer Republik. Möglicherweise identifizierte sich auch die fünfzehnjährige Gretha mit dieser aufregend-anrüchigen Frauenfigur, denn wie die Tänzerin hatte auch sie die Ausbildung einer höheren Tochter, war sehr musikalisch und erhoffte sich eine Theaterkarriere der leichten Muse in Cabaret und Theater.[32] Unbürgerlich, unkonventionell und mit künstlerischem Talent – die Gretha der Mata Hari(2) mit ihrem abenteuerlichen Leben einer femme fatale taugte in vielerlei Hinsicht zum heimlichen Vorbild für Grethas Bühnenträume. Doch dass sie sich mit einer solch elaborierten th-Version selbst aus der Taufe hob, fand ganz sicher nicht bereits im zweiten Lebensjahr statt, wie sie in ihrem Brief an Anne von Katte(2) suggeriert, sondern dürfte ein Akt der jungen Schauspielanwärterin gewesen sein, wie sie in ihren Eigenwilligen Betrachtungen erinnert.

Das Gretchen der Eltern mit dem spätbürgerlichen sozialen Kapital des Kaiserreichs stand in denkbar großem Kontrast zu Gretha von Jeinsens eigenem Frauenideal, wenngleich es ihr lange Zeit schwerfiel, sich von den Vorstellungen ihrer Eltern zu lösen. Dennoch: In dieser Differenz zwischen Gretchen und Gretha spiegelt sich nicht nur ihre eigene Identitätsfindung in ihrer ganzen Ambivalenz, sondern auch die Intensität des tiefen »Unmuts zwischen den Generationen«, der die Gesellschaft der Weimarer Republik in ganz besonderer Weise prägte.[33]

Im Gegensatz dazu lässt die Schilderung ihres vier Jahre älteren Bruders Kurt(1) (1902–1943), dessen eigentlicher Name Bruno Julius August von Jeinsen war, erkennen, dass ihr Männerbild deutlich traditioneller als ihr eigenes weibliches Wunschbild ausfällt. Denn ihn verehrte sie als höchst männliche Erscheinung: Kriegerisch gestimmt, »leichtfertig, unüberlegt«, aber der »beste Kerl von der Welt«, war der spätere Schüler mit der grünen Mütze des naturwissenschaftlichen Realgymnasiums der Bismarckschule, danach Student der Ingenieurswissenschaften an der Technischen Hochschule Hannover, das prägende Rollenmodell für ihre lebenslange Bevorzugung eines draufgängerischen Männertypus. Seine Leichtfertigkeit jedenfalls sah sie dem lebensfrohen Bruder, der, von Frauen umschwärmt, bis zu seinem 41. Lebensjahr bereits dreimal verheiratet war, gerne nach. Sozialisiert durch die vier Jahre des Ersten Weltkrieges, pflegte der 16-jährige Kurt(2) martialisch-soldatische Verhaltensweisen der Freikorpsler, schätzte häusliche Kriegsspiele mit der Schwester, legte Verstecke für Waffen und Munition in ihrem Zimmer an und nahm in der Weimarer Republik aktiv teil an kämpferischen Auseinandersetzungen organisierter Gruppen. Seine jüngere Schwester Gretha unterwarf er den Initiationsriten dieser Männerwelt, sie bewunderte und verehrte ihn ob der männlich-militärischen Tapferkeitsrituale und seines offenbar stets unbekümmert-fröhlichen Aktionismus.[34]

Dabei war Kurt(3)(4)[35]