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Jens Rosteck

BIG SUR

Geschichten einer unbezähmbaren Küste

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© 2020 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag

Coverabbildung Orlando Hoetzel

Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-388-0

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-625-6

www.mare.de

Kein Mensch sollte durch das Leben gehen, ohne sich einmal der gesunden, ja langweiligen Einsamkeit auszusetzen, einer Situation, in der man allein auf sich selbst angewiesen ist und dadurch seine wahre und verborgene Stärke kennenlernt.

Jack Kerouac, Alone on a Mountaintop aus Lonesome Traveler

für Dierk Rabien
avec toute ma reconnaissance

INHALT

GRUNDSTEINE – AUFBRUCH UND INNEHALTEN

Alanis oder Die Freiheit

Linus oder Die Angst

KALEIDOSKOP – ANNÄHERUNGEN AN EIN PHÄNOMEN

»Into the Wild«

»The Long and Winding Road«

MOSAIK – PIONIERE DER EINSAMKEIT

Robinson oder Die Warnung

Pepé oder Der Tod

Henry oder Die Weisheit

Michael oder Die Stille

Joan oder Die Zuversicht

Jack oder Die Flucht

Oola oder Das Verschwinden

Liz oder Die Verklärung

SCHLUSSSTEIN – VOM NACHDENKEN UND ZUHÖREN

Ich oder Das Dharma

ANHANG

Auswahlbibliografie

Ausgewählte CDs, LPs und Musikempfehlungen

Zitatnachweise

GRUNDSTEINE – AUFBRUCH UND INNEHALTEN

And I was thinking to myself:
»This could be heaven or this could be hell.«

Eagles, Hotel California

Alanis oder Die Freiheit

Beginnen wir mit einer richtigen kleinen Ouvertüre. Mit einem kurzen Film, der zugleich auch ein Lied ist. Ein Popsong mit zärtlichem Country-Touch, erst wenige Jahre alt. Trotz seines angenehmen, lockeren Grundtempos nicht glamourös oder anstachelnd, sondern beiläufig erzählend, leicht und in sich ruhend. Das unauffällige Lied einer schmalen, glücklich wirkenden und fortwährend lächelnden Frau: nicht mehr ganz jung, doch sehr präsent. Mitten im Leben stehend. Ganz allein, am Steuer eines Vintage-Straßenkreuzers, kurvt sie einen offenbar nur von ihr befahrenen Highway am Ozean entlang. An Abgründen vorbei, auf Meereshorizonte zu, in einer Gegend ohne Behausungen oder irgendein Anzeichen städtischen Lebens, in einer Gegend, in der allein die Natur dominiert.

Wobei die singende Fahrerin jede zurückgelegte Meile, jeden Ausblick in vollen Zügen zu genießen scheint. Unterwegssein als Selbstzweck, Fortbewegung durch unberührte Einsamkeit als Sinnstiftung. Um dann, ihre Rolle wechselnd, als Hitchhikerin, mit Gitarre und Umhängetasche als Gepäck, an einer staubigen Wegbiegung auf eine Mitfahrgelegenheit zu warten. Oder einige Schnitte weiter ausgelassen an einem menschenleeren Strand entlangzutanzen, ihre dunkle Mähne dem Spiel des Windes ausliefernd. Oder ihren Blick in die Baumwipfel mächtiger Redwoods zu heben, in deren Geäst sich das morgendliche Sonnenlicht bricht. Oder sich, mit strahlendem Lachen, auf einem sattgrünen Rasen zu wälzen. Oder, als Gipfelstürmerin das ganze Universum umarmend, mit weiten Sprüngen dem Pazifikhimmel zuzustreben. Immer ist es ein und dieselbe Sängerin, im Hippie-Outfit, mit Schlapphut, Halsketten und Cowboystiefeln, die hier ihren Song abspult, sich von der Kamera feiern lässt und uns on the road in Dutzenden von Einstellungen ihren Traumort vorführt.

Der Star dieser musikalisch-filmischen Miniatur ist hingegen weniger sie selbst, Alanis Morissette, die diesen Titel 2012/13 als Bonustrack ihrem Album Havoc and Bright Lights hinzugefügt hat, sondern ein weltbekannter Küstenstreifen von schroffer Schönheit. In ihrem Video wird er wie in einem Super-8-Film ins richtige, ein wenig vergilbte Licht gesetzt. In ihrem Lied wird er ein ums andere Mal genannt, wie ein Mantra wiederholt, ja heraufbeschworen: Big Sur.

Der gleichnamige Song der kanadischen Liedermacherin, grundiert von Gitarren-Fingerpicking und einem unaufgeregt pulsierenden Beat, wie auch der dazugehörige Clip – ein echtes Roadmovie! – präsentieren sich Uneingeweihten wie Kennern als Quintessenz aller Big-Sur-Seligkeit. Sämtliche Klischees und Stereotype dieser mythischen Gegend sind hier versammelt und machen doch unbändige Lust, sich sofort in dieses raue kalifornische Paradies zu begeben – um unbekümmert zu leben und Freiheit verspüren zu dürfen: wie auf einer maritimen Route 66. Um es, nostalgieversessen, Alanis nachzutun. Ihr und uns begegnen Surfer und Aussteiger, Tramper mit gerecktem Daumen und Leute, die sie nach dem Weg fragt, Möwen und Raben. Straßen über Straßen ohne Gegenverkehr, verwaiste Hügel, Wiesen und Felsgrotten. Wir erblicken kilometerweite Strände, Klippen, Sonnenauf- und -untergänge zuhauf. Sixties-Feeling kommt auf. Momentaufnahmen und Versatzstücke: Klampfe in der Hand, Raubvögel, eine uralte Schreibmaschine, Mammutbäume, Berggipfel, Wälder und Buchten im Gegenlicht. Blumenkinder-Idyll, freie Liebe, ein im Wind flatterndes, ellenlanges Manuskript, das einer abgewickelten Klorolle gleicht oder auch einer Fahne oder einem Pamphlet. Gemeinsames Singen in der Dämmerung, Gespräche mit hobos, qualmende Joints, ein bärtiger Mann, der seine Finger zum Peace-Zeichen spreizt. Gesteinsformationen, von der Flut zurückgelassen und in kleine Inseln inmitten von nassem Sand verwandelt, von der Gischt umspült. Holzhütten auf Vorsprüngen mit atemberaubender Aussicht. Aneinandergereihte Briefkästen, allein auf weiter Flur.

Bilder wie Polaroid-Schnappschüsse, intensiv, für wenige Sekunden aufflackernd, verwackelt und kurz darauf schon ausgeblichen. Und mittendrin, ohne ein Gegenüber, die Singer-Songwriterin mit ihrem indianischen Äußeren und langen, im Meerwind wehenden Haaren. Kurz: eine Frau, die sich in einen Landstrich verliebt hat. An dem sie sich nicht sattsehen, von dem sie nicht genug bekommen kann. Und die, ungeschminkt und hoffnungslos romantisch, daraus eine wunderschöne Ode an diese majestätische Küste und die an ihr entlangführende Straße – den Highway One – macht. Big Sur.

Vier Minuten Sehnsuchtsmusik, vier Minuten appetitanregender Kurzfilm. Ein Ständchen. Ein kleines Fest der Lebenslust also, ein Bekenntnis zu einem Ort und einer Region, in der außergewöhnliche Glücksmomente gleich im Sekundentakt möglich scheinen. Am Anfang, noch bevor die Gitarre einsetzt und Alanis’ Stimme anhebt, lauschen wir für eine Weile der beeindruckenden Brandung, bekommen gigantische Wogen zu sehen, gegen die jeder Wellenbrecher machtlos wäre, spüren die Kraft des Meeres, das sich, laut Songtext »mit maskuliner Urgewalt«, in Felsnischen und an Steilküsten austobt, die Strände überschwemmt und den Klippen ordentlich zusetzt, eine fauchende, schwer bezähmbare Bestie. Die Windschutzscheibe und der Rückspiegel ihres in die Jahre gekommenen Flitzers dienen der Interpretin als Fenster in eine magische Welt. Und der Liedtext selbst setzt die entscheidenden Assoziationen frei, klappert all die Ausnahmegestalten ab, die Big Sur in der Vergangenheit ihre Aufwartung gemacht haben, damit es zu einer solchen Berühmtheit werden konnte. Eine ganze Ahnenreihe wird von Alanis ins Feld geführt, hemmungsloses Namedropping abgespult. Jack Kerouac und Henry – Miller natürlich – sind ihre Gewährsleute, Anaïs – Nin selbstverständlich – und Richard Brautigan ihre Garanten. Big-Sur-Urgestein. Ganz unbescheiden fügt sie sich und die früheren prominenten Bewohner und Besucher dieser Küste zu Paaren zusammen und nennt sich dabei zu allem Überfluss auch noch zuerst: Es geht um eine erfolgreich stattgefundene Ichfindung. »Me and Anaïs and Henry and Jack«, heißt es, oder auch: »Me and the Ohlone, the Esselen, the Salinan«, womit schon drei Stämme der indianischen Urbevölkerung genannt wären, die hier vor Urzeiten umhergestreift und auch ansässig waren, bevor der weiße Mann sie vertrieb und ausrottete. »Me and Julia, Helmuth«, singt Morissette und ist auf diese Weise auch mit den Pionieren, ersten Siedlern und legendären Ranchgründern der Big-Sur-Gründerzeit per Du; dass sie sie fast alle nur mit Vornamen erwähnt und sich selbstbewusst mit ihnen auf eine Stufe stellt, soll eine imaginäre Vertrautheit suggerieren – begegnet ist sie keinem der vielen Genannten, und auch gekannt hat sie keinen davon. Was zählt, ist, dass sie sich mit ihnen verbunden fühlt, in ihrer Aufbruchsstimmung und Verrücktheit, in ihrem Abenteuergeist, ihrer Begeisterungsfähigkeit und ihrem entdeckerischen Mut. Alanis gehört somit einer jüngeren Generation von Big-Sur-Verehrerinnen und -Verehrern an, die um die ruhmreiche und mythische Vorgeschichte des Landstrichs bestens Bescheid weiß. Sie ist einem Faszinosum erlegen, bekennt sich dazu und versteht sich nun als Erbin illustrer Vorgänger.

»Me« ist die zentrale Song-Silbe, ein lang ausgehaltener Spitzenton, der jeden Satz einleitet, jede herbeigewünschte Paarung beherrscht: Jeder der aufgerufenen Vorläufer ist von nun an ihr Partner. Und auch sonst kennt Alanis sich aus, wirft mit Codeworten wie »Molera« und »Ventana«, die Parks und Kultorte der Küste bezeichnen, nur so um sich, steigt den beliebten Bluff Trail hinauf, hat die entscheidenden Begriffe und Stichwörter parat. Wieder und wieder zählt sie visuell »typische« Highlights auf wie sich selbst überlassene Holzstämme, behelfsmäßige cabins und allgegenwärtige Frösche, hat selbstredend an einem »Schamanen«-Frühstück in einer kleinen Bucht teilgenommen. Fehlen darf ebenso wenig, dass die Bixby Creek Bridge, eines der wichtigsten landmarks am Highway, kurz in den Blick gerät. Sämtlich dienen sie als Belege für ihre Anwesenheit und ihr Angekommensein: gefilmte und besungene Postkartenmotive. Ihr Herzschlag, so verrät sie uns, werde bereits von den Wassergeräuschen im Wald bestimmt. Hier darf sie sich barfuß in der Natur verlieren, hier wähnt sie sich von ihrer Umgebung verstanden und gewärmt. Sie fühlt sich zugehörig. So ist es nur folgerichtig, dass sie bei jedem Refrain zum selben Schluss kommt, dass sie an jedem Strophenende mit Nachdruck bekräftigt: »Alle Straßen führen nach Big Sur, alle Fährten nach Hause laufen in Big Sur zusammen.« Ob sie sich hier nur vorübergehend aufhält oder für immer anzusiedeln gedenkt, bleibt offen. Aber zu ihrem home, ihrer Heimat, ist diese Küste, an der sie kristallklare Luft atmen und reichlich Ballast ihrer eigenen Vorgeschichte abwerfen kann, für sie mittlerweile unzweifelhaft geworden.

Fast beschleicht uns Zuschauer das Gefühl, von Alanis Morissette ein Big-Sur-Werbevideo vorgeführt zu bekommen, so »perfekt authentisch« ist hier alles, mit Inbrunst und Euphorie, in Szene gesetzt. Lässt sich eine noch emphatischere Hommage an den westlichsten Punkt des weiten amerikanischen Westens überhaupt vorstellen? Doch die magnetische Anziehungskraft, die diese Gegend am Ende der Welt auf sie ausübt, wirkt glaubwürdig und ansteckend. Ihr Enthusiasmus und auch ihr Stolz auf die gerade erworbene »Einbürgerung« haben etwas Unwiderstehliches. Was sie uns zu berichten hat, was sie uns präsentiert, das ist – wir nehmen es ihr ab – wahrhaft spektakulär.

Die letzten Szenen finden in der Abenddämmerung statt, die letzten Takte gehören dem sunset und dem Verebben der Emotionen. Ein ins Unendliche geweiteter Pazifikhimmel färbt sich erst orange, dann lila und schließlich blutrot. Einmal rollen die Wellen sogar für einen kurzen Moment rückwärts. Eine Gruppe friedlicher junger Menschen, nur noch als schwarze Silhouetten vor sattem Blau auszumachen, springt auf und wirft Hölzer und Stöckchen in die Luft – und geht so auf Tuchfühlung mit dem Universum.

Und Alanis? Sie entdeckt eine Tramperin am Straßenrand, setzt zurück, fordert sie zum Einsteigen auf. Die junge Frau, die sich zu ihr setzt und ihr zulächelt, ist niemand anders als sie selbst. Begierig, mitzufahren. Voller Optimismus. Zu allen Schandtaten bereit. »Me and me«, so könnte der nächste Refrain anfangen. Mit großen Namen braucht sie sich nun nicht länger zu schmücken, mit ihrem Vorwissen nicht länger anzugeben. Alanis, mittlerweile Schicksalslenkerin und Fahrgast zugleich, Alanis, die Wurzeln schlagen möchte und deren Glücksgefühle sich ganz von allein verdoppelt haben, ist frei.

Linus oder Die Angst

Ende Januar, an einem nicht allzu kühlen Wintermorgen des Jahres 1960, brach Linus Carl Pauling zu einem längeren Spaziergang außerhalb der Deer Flat Ranch auf, die der zweifache Nobelpreisträger seit 1956 mit seiner Frau Ava Helen bewohnte. Ihre Ranch, die herrliche Ausblicke auf den Ozean gewährte, anfangs nur mit dem Allernötigsten ausgestattet war, weder über einen Telefonanschluss noch Elektrizität verfügte und erst später zu einem komfortablen Domizil umgebaut wurde, befand sich im südlichen Abschnitt von Big Sur. Geschützt von einer kleinen Ausbuchtung der Küste, mehrere Meilen unterhalb von Gorda, aber noch nördlich von Ragged Point, unweit der Salmon Creek Falls und am Ende einer Abzweigung des Cabrillo Highway. Keine zwei Stunden, so die Planung, sollte Paulings Strand- und Waldbummel dauern. Es wurden vierundzwanzig.

Der damals Achtundfünfzigjährige, ein deutschstämmiger Chemiker aus Portland, Oregon, den man für seine bahnbrechenden Forschungen, etwa auf dem Gebiet der Quantenchemie, vielfach ausgezeichnet hatte, war in mehrfacher Hinsicht ein höchst ungewöhnlicher Wissenschaftler. Als Wegbereiter der Molekularbiologie galt er in universitären Kreisen als Pionier und veritables Genie, war anerkannt und unumstritten, erntete größte Bewunderung. Doch zählte er auch zu den ersten maßgeblichen Skeptikern, was die Nutzung der Atomenergie und den Umgang mit Nuklearwaffen anging, und wandelte sich, erschüttert durch entsprechende Erlebnisse und Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs und danach, allmählich zum Friedensaktivisten und erklärten Widersacher der Atomrüstung. Er sah es, gerade weil er allseits als Autorität wahrgenommen wurde, als seine Pflicht an, die Menschen auf allen Kontinenten über die Konsequenzen dieser bedenklichen Entwicklung aufzuklären und über die Gefahren des Wettrüstens sowie die Gesundheitsrisiken von Atomtests zu informieren.

Schon 1943 hatte er ein Angebot Robert Oppenheimers zur Mitwirkung am berühmt-berüchtigten »Manhattan Project« ausgeschlagen, damals indessen aus familiären Gründen. Einige Jahre später hatte er Albert Einsteins achtköpfigem »Emergeny Committee of Atomic Scientists« angehört, was ihn noch stärker zu einem friedliebenden, verantwortungsvollen und unbeirrbaren Ausnahmeakademiker formte. Paulings Engagement als Vorreiter eines neuen, wissenschaftlich begründeten Pazifismus trug ihm das Image als »Protagonist und Mentor linksliberalen Zeitgeistes«, wie die Zeit in einem Nachruf schreiben sollte, als Dissident, der sich in der Öffentlichkeit wiederholt detailliert über die bedenklichen Aspekte des Hochrüstens und die fatalen Nebenwirkungen von Atomtests ausließ, die Wertschätzung und Hochachtung zahlloser kritischer Mitbürger und Kollegen im In- und Ausland ein, führte allerdings auch dazu, dass man ihm, vor allem von staatlicher Seite, zunehmend mit Misstrauen begegnete.

Dieses lautstarke und nicht nachlassende Engagement, stets diplomatisch, wenngleich mit Entschiedenheit vorgebracht, sowie Paulings Mitgliedschaft in der sowjetrussischen Akademie der Wissenschaften waren den selbst ernannten Sittenwächtern, politischen Zensoren und Denunzianten der McCarthy-Ära, die hinter jeder pazifistischen Meinungsäußerung kommunistische Umtriebe und antiamerikanische Verschwörungen witterten, ein Dorn im Auge. So kam es zu der grotesken Situation, dass der Mahner, der nach Kriegsende bereits die Medal for Merit erhalten hatte, mithin die höchste zivile Auszeichnung der Vereinigten Staaten, Anfang der Fünfziger und somit auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges mit einem Ausreiseverbot belegt wurde, als er im westlichen Ausland an einem wissenschaftlichen Kongress teilnehmen wollte. Seinem internationalen Renommee tat diese absurde Demütigung, die ihn zeitweise ins innere Exil trieb, keinen Abbruch; die Rehabilitierung folgte auf dem Fuße. Außerhalb der USA war die Wertschätzung für seine Leistungen schier grenzenlos: 1954 erkannte man ihm den Nobelpreis für Chemie zu, ein Jahrzehnt danach den Gandhi-, den Lenin-Friedenspreis der UdSSR und den Friedensnobelpreis für sein Vorhaben und seinen Willen, fortan seine ganze Kraft dem Weltfrieden zu widmen. Diese zweimalige Ehrung durch das Nobelpreiskomitee in unterschiedlichen Disziplinen war zuvor und ist seitdem außer Marie Curie noch keiner anderen Einzelperson zuteilgeworden.

1960 lag dieser zweite Nobelpreis noch in der Zukunft, ebenso wie sein Einsatz gegen die zunächst unheilvolle, dann verheerende amerikanische Beteiligung am Vietnamkrieg oder auch der letzte, weit weniger überzeugende und von seltsamen Verlautbarungen und Publikationen beherrschte Schaffensabschnitt Paulings, in dem er mit wirren und nicht immer seriösen Theorien zur Lebensverbesserung und -verlängerung durch exzessiven Vitaminkonsum aufrief. Damals galt er noch nicht als Spinner, Wunderdoktor oder Guru, sondern ließ sich mit Vorliebe als liebenswürdiger Herr in den mittleren Jahren ablichten, spitzbübisch in die Kamera lächelnd, stets mit einer Baskenmütze angetan. Zu diesem Image als keineswegs abgehobener, sondern bodenständiger und naturverbundener Zeitgenosse, weise und schalkhaft zugleich, passte der Entschluss Linus’, was seinen Lebensmittelpunkt anging: dem aufreibenden universitären Umfeld in den Großstädten schon früh den Rücken zu kehren, den Medienrummel zu ignorieren und sich, wann immer es nur möglich war, nach Big Sur zurückzuziehen. Ava, die er schon mit Anfang zwanzig geheiratet hatte und die im Laufe der Jahre ihrerseits zu einer leidenschaftlichen Verfechterin von Frauen-, Friedens- und Bürgerrechten wurde, sowie ihre gemeinsamen vier Kinder, allesamt brillante Nachwuchswissenschaftler, folgten ihm gern in die selbst gewählte Einsamkeit und fühlten sich rasch auf der spartanisch eingerichteten Deer Flat Ranch und in deren näheren Umgebung wohl und heimisch.

An jenem Januarmorgen, einem Samstag, wäre Pauling die triviale Entscheidung für einen Spaziergang beinahe zum Verhängnis geworden. Ava hatte er mitgeteilt, er wolle den Zustand einiger Zäune überprüfen, die unweit vom Meer ihr Grundstück eingrenzten, und werde zum Mittagessen wieder zurück sein, zu dem ein Gast erwartet wurde. Nach Abschluss der Zaunkontrolle aber wandte sich Linus, der nur leichte Kleidung trug, einen Spazierstock mitführte und natürlich keine Wanderausrüstung dabeihatte, einem kleineren Berggipfel oberhalb des Strandes zu, in dessen Nähe er schon immer die Mündung des Salmon Creek vermutet hatte, wandte sich ohne erkennbares Motiv aber vom Meer ab und kam so – suchend, gedankenverloren – immer weiter von seinem ursprünglichen Weg ab. Neugier und Abenteuergeist trieben ihn an, als wäre er auf einer Exkursion.

Ohne auf Zeit und Orientierungspunkte zu achten, folgte er Wildfährten, kletterte über Felsen und kam auf einmal vor einer steil aufragenden steinernen Wand zum Stehen. Direkt über ihr musste der neue Weg irgendwo weitergehen, aber das Hindernis ließ sich weder frontal noch seitlich überwinden. Also bewegte er sich zentimeterweise an einer anderen Stelle auf zusehends unsicherem Gelände vorwärts, rutschte über Geröllbrocken, glitt aus, richtete sich auf, machte, als er einsehen musste, dass er auch hier nicht weiterkam, wieder kehrt und blickte, von einem ins Freie ragenden, ungeschützten Felsvorsprung aus, den er Minuten zuvor mühelos überquert hatte, zum ersten Mal wieder zurück – in die Richtung, aus der er gekommen war. Eine fatale Entscheidung: Unter ihm gähnte ein Abgrund, zwanzig Meter vor ihm in der Tiefe peitschten die Wellen gegen die Klippen, links und rechts von ihm führten alle Abzweigungen in die Irre, und weiter nach oben mochte er sich auch nicht wagen.

Aus unerklärlichem Grund fühlte er sich außerstande, auf dem bewährten Hinweg – der nun auch viel zu riskant auf ihn wirkte – wieder hinabzusteigen. Er saß fest. Plötzliche Todesangst überkam ihn. Und er beschloss, nachdem er sich, um Hilfe bittend, die Seele aus dem Leib geschrien hatte, einstweilen einfach tatenlos abzuwarten. Er hoffte, die Küste mit den Augen absuchend, auf das Erscheinen seiner Frau, die ihn vom Meer aus doch einfach entdecken musste, sobald sie sich auf die Suche nach ihm machte. Oder auf einen Geistesblitz, der nicht kam. Für unbestimmte Zeit, so viel stand fest, wurde der Felsvorsprung, weder besonders breit noch lang, wohl oder übel zu seinem neuen Zuhause oder Gefängnis. Sei es, weil ihm seine übliche Zuversicht abhandengekommen war, sei es, weil er das Vertrauen in Trittsicherheit und Schwindelfreiheit verloren hatte: Pauling ließ die Stunden im Sitzen verstreichen und hoffte, zwischen Grübeln und Panikattacken schwankend, inständig auf einen Wink des Schicksals. Erst kam ihm das Ganze fast lachhaft vor, dann erkannte er den Ernst seiner Lage. Mit Ungeduld war der verfahrenen Situation nicht beizukommen. Vernünftige Optionen, sich zu befreien, gab es keine. Die Essenszeit war längst vorüber, der Nachmittag zog sich in die Länge. Schatten senkten sich über ihn herab. Er fröstelte. Seine neuerlichen Rufe verhallten ungehört, und dann brach die Dämmerung herein.

Ihm wurde klar, dass er die Nacht hier würde verbringen müssen. Ohne Schutz vor Kälte und selbstverständlich ohne Verpflegung. In einer Vertiefung etwa auf der Mitte seines Felsens richtete er sich ein halbwegs bequemes Lager ein, brach Äste von den ihn umgebenden Büschen ab und formte sie zu einer Art Sitzkissen, schaufelte Erde unter sich und deckte sich, nachdem er die Beine ausgestreckt hatte, mit laubbehangenen Zweigen zu, so gut es eben ging. Inzwischen vermochte er nicht mehr zu entscheiden, wovor er sich am meisten fürchtete – hier tagelang zum Ausharren gezwungen zu sein, bis er schließlich verhungerte oder sich aus Verzweiflung in den Tod stürzte. Oder, von Müdigkeit übermannt, einzuschlafen, die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren und in die Tiefe zu gleiten. Daher entschloss er sich zu einer ganzen Reihe von Denkübungen: Er rekapitulierte die Gleichungen und Resultate seiner einstigen Forschung in allen Einzelheiten und sagte sie sich mit lauter Stimme vor; er ging, Reihe für Reihe, das Periodensystem der Elemente durch und versuchte sich dabei an jedes Detail zu erinnern; er zeichnete mit seinem Stock die verschiedenen Sternbilder über sich nach, denen, so dankbare wie zum Widerspruch unfähige, stumme Zuhörer, er kleine Vorträge hielt. Er sorgte dafür, dass ihm weder die Beine noch die Arme einschliefen. Zwischendurch zog Nebel auf, bewölkte sich der Nachthimmel. Kurz vor Morgengrauen hielt er sich weiterhin wach und zählte in allen ihm bekannten Sprachen mit eiserner Disziplin vor sich hin. Schließlich wurde es allmählich hell, und ein neuer Tag mit ungewissem Ausgang lag vor ihm.

In der Zwischenzeit hatte rund um die Deer Flat Ranch eine fieberhafte Suche nach Linus eingesetzt. Von seinem Ausbleiben beunruhigt und von einer kurzen Wanderung den Strand entlang ohne ein Lebenszeichen von ihm zurückkehrend, hatte Ava Alarm geschlagen und nacheinander einen Ranger, ihren Schwiegersohn und auch einen Sheriff mobilisiert, die, jeder für sich, auf die Suche gingen, einmal sogar in Reichweite Paulings gerieten und erst am späten Abend ihre Aktionen unverrichteter Dinge abbrechen mussten. Einer der Männer machte sich sogar erneut während der Nachtstunden auf, lief freilich abermals in die verkehrte Richtung, da er allein auf Avas Mutmaßungen angewiesen war. Am nächsten Morgen wurde die Suche, an der sich nun weitere Menschen beteiligten, ausgeweitet, und genau einen Tag nachdem der berühmte Forscher verschwunden war, gelang gegen zehn Uhr früh überraschend die Kontaktaufnahme zwischen einem der Retter und dem wild gestikulierenden Eingeschlossenen. Der Helfer informierte den Sheriff, der seinerseits Ava die beruhigende Nachricht zukommen ließ, dass ihr Ehemann lebend aufgefunden worden sei, und es wurden Stricke und Seile geordert. Doch noch bevor sie eintrafen, sah sich Pauling sehr wohl in der Lage, unter Hilfestellung des Sheriffs von allein von seinem Felsvorsprung hinunterzusteigen – etwas, was er sich vormals nicht getraut hatte. So als hätte er eine vorübergehende geistige Lähmung überwunden, fand er sein Selbstvertrauen wieder. Ohne gestützt werden zu müssen, gelang es dem sichtlich erleichterten Linus in Begleitung vom Sheriff und einem Mann aus dem Verstärkungstrupp, die Klippen hinter sich zu lassen und am Strand entlang wieder zu seinem Haus zu wandern. Sogar zu flachsen vermochte er. Und er nahm auch ein arg verspätetes Mittagessen ein. Noch schien ihm die gerade zurückliegende Erfahrung nicht zuzusetzen, er wirkte weder konfus noch überwältigt, ließ sich keine übertriebenen Emotionen anmerken und verfiel auch nicht in freudige Hysterie.

An einen vollständigen Rückzug und echte Entspannung daheim war jedoch an diesem Sonntag vorerst nicht zu denken. Zunächst galt es, viele Hände zu drücken, aufrichtigen Dank auszusprechen sowie einige aufdringliche Reporter und andere hartnäckige Neugierige abzuwimmeln, mit denen Ava ihre liebe Not hatte. Einige sensationslüsterne Journalisten hatten unterdessen, noch bevor man Linus ausfindig gemacht hatte, voreilig das törichte Gerücht in Umlauf gebracht, Pauling sei tot – was von einer Radiostation in der San Francisco Bay Area unüberprüft verbreitet wurde und zwei von Paulings erwachsenen Kindern zu Ohren kam, noch bevor es dementiert werden konnte. Sie waren entsetzt, mussten mehrere Stunden lang mit der Falschnachricht klarkommen und beruhigten sich erst wieder, als sie sich vor Ort persönlich vom Gegenteil überzeugen konnten.

Auch sonst war das Medienecho auf den Vorfall in Big Sur beträchtlich – bescheiden für heutige Verhältnisse, nach damaligen Maßstäben aber enorm und voller wilder Spekulationen. Was Linus anging, so ließen Nachwirkungen wie die Freude, überlebt, der Triumph, dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen, und die Einsicht, sich aus Fahrlässigkeit in eine bedrohliche Situation manövriert zu haben, noch eine Weile auf sich warten. Gemeinsam mit Ava belud er sein Auto und kehrte nur zwei Tage nach seiner Rettung an seine langjährige Wirkungsstätte in Pasadena, ans angesehene California Institute of Technology, kurz Caltech, zurück. Am Dienstag machte er sich dort zu einer Vorlesung auf, so als wäre es ein beliebiger Tag an der Uni und als hätte er sein traumatisches Erlebnis bereits vollständig verdrängt. Dann aber verließ ihn, von einer Minute auf die andere, kurz nach dem Eintreffen die Beherrschung. Er weigerte sich, ohne eine Erklärung abzugeben, an einer kleinen Willkommensfeier teilzunehmen, die man ihm zu Ehren ausrichten wollte, schritt grußlos, brüsk und in sich gekehrt an Kollegen, Studierenden und Freunden vorbei, verschanzte sich in seinem Büro und ließ alle Verdutzten wissen, dass er sich den Tag freinehme und solange um Rücksicht bitte, indem er eine entsprechende Notiz unter seiner Tür hindurchschob. Wieder wurde der Schwiegersohn verständigt, der Pauling gut zuredete und ihn schließlich heimfuhr, diesmal in das Haus in Pasadena.

Erst jetzt traf ihn der Schock mit ganzer Wucht. Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, dass er sich und den Seinen einen gehörigen Schrecken eingejagt, dass er sich selbst mit seiner leichtsinnigen Aktion eine Lektion in Demut erteilt hatte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als tagelang das Bett zu hüten, wo er das Erlebte wieder und wieder Revue passieren ließ und die monotone Erfahrung der Mutlosigkeit reaktivierte. Mit allen unerfreulichen Details. Ein zurate gezogener Arzt verordnete Ruhe und kümmerte sich vornehmlich um einen Hautausschlag Paulings, den sich sein Patient in seinem Bett aus Laub und Zweigen zugezogen und der Allergien und Juckreiz bei ihm ausgelöst hatte. Linus, dem Eloquenten, gingen die Worte aus. Stumm und teilnahmslos dämmerte er in seinem Schlafzimmer vor sich hin, haderte mit seinem Zustand, quälte sich mit Zweifeln und Selbstvorwürfen. Ein Besuch von Tochter und Enkelkindern heiterte ihn nicht auf, sondern ließ ihn die Fassung verlieren und in Tränen ausbrechen. Womöglich konnte ihn aber ein liebevolles und auch witziges Telegramm von Marlon Brando wieder aufmuntern. Darin bat der gefeierte Filmschauspieler den »lieben Dr. Pauling«, sich doch bitte in Zukunft von abschüssigem Gelände und steilen Felsen fernzuhalten. Jedenfalls so lange, bis die brennenden Fragen der Atomtests und der Abrüstung endgültig geklärt seien – schöner, ironischer und einfühlsamer konnte man kaum in wenige Worte fassen, dass viele Menschen in den USA und anderswo auf Linus’ Engagement nicht verzichten konnten und wollten, dass sie auf ihn, ein Vorbild und ein Ausbund an Geradlinigkeit, setzten und dass schon diese kurze Unterbrechung von ihnen als empfindlicher Verlust empfunden wurde.

Überall wurde der Hoffnungsträger Pauling vermisst. Glück- und Genesungswünsche aus der ganzen Welt trafen bei ihm ein; Hunderte sprachen ihm schriftlich und mündlich Mut zu. Vertraute wie Wildfremde versetzten sich in Briefen und Gedanken in die Lage des auf seiner Klippe Gefangenen, der sich insgeheim noch immer keinen Reim darauf machen konnte, warum er hoch oben über dem Meer, angezogen und festgehalten von einem übermächtigen, unsichtbaren Magneten, keinen Ausweg zu finden vermocht hatte und passiv geblieben war. Es war ihm ein Rätsel, warum er sich dort oben in der Einsamkeit als hilflos und handlungsunfähig erwiesen hatte. Zwei ganze Wochen dauerte die dringend notwendige Regenerationsphase, in der wohl auch viel Hektik und Stress als Folge seiner zahllosen Aktivitäten in den Vorjahren von ihm abfielen. Die Verunsicherung saß weit tiefer, als er es sich anfangs eingestehen mochte. Für alle Zeit war er zum Opfer seines eigenen Übermuts, seiner eigenen Naivität geworden – diese Erkenntnis ließ sich weder beschönigen noch auslöschen.

Als er einigermaßen erholt, bescheiden und dankbar geworden und erst unvollkommen geläutert wieder ins Alltagsleben zurückkehrte, wusste er nur eines mit Sicherheit: In Big Sur, wo er 1994 dann auch, nach einem erfüllten Dasein, dereinst das Zeitliche segnen sollte, hatte er, mutterseelenallein über dem Ozean thronend und von seiner eigenen Zaghaftigkeit wie eingekerkert, zum ersten Mal dem Tod ins Auge geblickt.

KALEIDOSKOP – ANNÄHERUNGEN AN EIN PHÄNOMEN

Dann drehte er sich nach Westen und flüsterte:
»Eines Tages werde ich ihn sehen, den gewaltigen Pazifik.«

Seine Worte waren voller Sehnsucht.
Es gab nichts, was er sich inniger wünschte.
Ich glaube nicht, dass ich je ein solches Sehnen in seiner Stimme gehört hatte.
Es ging nur um Wasser und Wellen,
aber sein Wunsch kam aus tiefster Seele.
An der Wand in seinem Zimmer hing ein riesiges Poster
mit dem Titel »Big Sur, Kalifornien«.
Manchmal lag er stundenlang auf seinem Bett
und starrte einfach nur auf das leuchtend blaue Meer
und seine weiß schäumenden Wellen,
die an gelben Felsen hochspritzten wie Champagner,
während weiter oben Möwen
über einer Küstenkiefer mit flacher Krone schwebten.

Es war ein besonderer Ozean.
Es war seiner.

Mark Thompson, El Greco und ich

»Into the Wild«

Big Sur. Zweimal drei Buchstaben. Zwei kurze Silben, eine englische und eine spanische, aber nicht spanisch ausgesprochene. Zwei Silben, die eigentlich nicht zusammengehören und klanglich kontrastieren. Und doch eine Einheit, unter der man sich unmittelbar etwas vorstellen kann. Etwas Gewaltiges. Denn Sur – das klingt wie Sir, das hat etwas Majestätisches und Herrschaftliches. Mit diesem winzigen Zwitternamen, mit dieser eigentümlichen Zusammen-Setzung von Unvereinbarem, verbindet man unwillkürlich auch ein gewaltiges Versprechen – hier beginnt der Große Süden, hier tut sich eine gänzlich neue, unbekannte Region von gigantischen Ausmaßen auf. Für Neugierige, Neuankömmlinge und Entdeckernaturen: eine Verheißung.

Big Sur. Ein schwach besiedeltes Niemandsland, in dem nur die Elemente zu Hause zu sein scheinen und kein sterbliches Wesen eine echte Heimat findet. Hier, im einstigen »el país grande del sur«, aus dem zwischenzeitlich »el sur grande« wurde, bevor man eine merkwürdige Mischbezeichnung dafür prägte; hier, wo sich ein riesiges Stück Land weder von den spanischen Kolonisten noch von den mexikanischen Verwaltern oder heutzutage von den Amerikanern vereinnahmen ließ und lässt, zerschellen die Wellen und brechen sich die heranflutenden, eisigen Wassermengen an der rauen, untergründigen Strömungen ausgesetzten Küste. Noch dazu, um es mit den Worten des Komponisten John Adams zu sagen, in einem quälend langsamen, aufreizend trägen Rhythmus von Furcht einflößender Kraft.

Big Sur. Kein Ort – eher eine Gemütsverfassung. So etwas wie ein Codewort für eine ungebrochene, stets erneuerbare Faszination. Eine Chiffre für Wildnis. Angesichts der Konfrontation mit einem unbezähmbaren »Nichts«. Pure Faszination? Oder vielmehr ein kaum durchschaubares Spiel aus Annäherung, Scheu und Berührungsangst, in dem man weniger Akteur als Getriebener ist – einhergehend mit einem mal beängstigenden, mal euphorisierenden, mal suchtverstärkenden Schwindelgefühl, das jeder Big-Sur-Novize durchmachen muss, wenn er an dieser Schwelle zum Pazifik angelangt ist und von der Steilküste in Richtung Hawaii und Asien blickt. Ein Küstenabschnitt, der viele Kilometer nördlich von Los Angeles verläuft und den seit jeher eine geradezu mythische Aura umgibt. Von Osten anreisend, macht sich so mancher Auswanderer auf, bewegt sich von der Atlantikküste, wo die Luft »mit ihrem Sole-Geschmack und dem salzigen Duft« (Adams) schon die noch in weiter Ferne liegende Begegnung mit dem Gegenüber, ganz im Westen des Kontinentes, »anzukündigen scheint«, auf Big Sur zu. Nach der Überquerung Nordamerikas zu guter Letzt an die schroffen kalifornischen Uferstreifen und an den »westlichen, jäh abfallenden Festlandsockel zu gelangen« ist nämlich noch heutzutage ein erschütterndes, im Wortsinne sensationelles Erlebnis.

Big Sur – eine von San Francisco und L.A. so ziemlich gleich weit entrückte Gegend, die aus nichts als zerfurchter Küstenlinie zu bestehen scheint. Von den hoch aufragenden Bergen und Gipfeln der imposanten Santa Lucia Mountains und vom dominierenden Cone Peak vollständig vom Rest des Landes abgetrennt. Von den Luxusvillen der Superreichen im nördlich gelegenen Carmel und im südlich gelegenen Santa Barbara unbeeindruckt und nicht aus der Ruhe zu bringen.

Mit Big Sur ist, im engeren Sinne, ein je nach Definition fünfundsiebzig bis neunzig Meilen langer Abschnitt zwischen Santa Cruz und Monterey im Norden und Morro Bay und San Luis Obispo im Süden benannt.

Verwaltungstechnisch ist Big Sur keine präzise »Einheit«. Und obwohl es einen Hauptort gleichen Namens gibt, der eher einer Ansammlung weniger Gebäude gleicht und als Drehscheibe für allgemeine Erledigungen und Einkäufe für den täglichen Bedarf fungiert, lässt er sich nicht als Dorf oder gar Stadt bezeichnen, sondern stellt bestenfalls eine praktische Begegnungsstätte dar. Geografisch und topografisch lässt sich Big Sur als ein jahrtausendelang völlig unzugänglicher und somit auch unerschlossener Küstenstreifen im mittleren Kalifornien definieren. Parallel zur ehemaligen königlichen Straße »El Camino Real«, die, als Ergänzung und Kontrapunkt des Meeressaums, weiter innen im Land, in einiger Entfernung zur Küste sowie teilweise den Tälern und mäandernden Kurven des Salinas River folgend, verlief. Historisch betrachtet spanisch-mexikanischen Ursprungs und dennoch ein ganz wesentlicher Bestandteil des »weißen« amerikanischen Traums.

Noch vor wenigen Dekaden »gab es« Big Sur, einstmals ein marginaler Bestandteil des mexikanisch-neuspanischen Territoriums »Alta California«, also gar nicht – mangels Straßen, Pfaden, geeigneter Querverbindungen, mangels Häfen oder geschützter Buchten. Eine auf den ersten Blick abweisende, für Menschen vollkommen unattraktive Region ohne Infrastruktur. Über Jahrhunderte ist wohl kaum jemand hierhergelangt – abgesehen von einigen Ureinwohnern, versprengten mexikanischen und spanischen Besatzern oder gelegentlich ein paar Schiffbrüchigen, die dann für alle Zeit, als dauerhaft Isolierte, in der Falle saßen, schlimmstenfalls elendig zugrunde gingen. Für die sich kaum eine Chance auftat, von dort zurück in die »Zivilisation« zu gelangen oder gerettet zu werden. Ein Naturparadies »in the middle of nowhere«, keine zwei Flugstunden von zwei Millionenstädten und riesigen Ballungszentren entfernt und paradoxerweise bis heute einzig einer staunenswert vielseitigen Fauna und Flora vorbehalten.

Alles Humane störte hier, wo Redwoods, verwunschene Strände und Endlosküsten das Sagen haben, nur. Von Siedlungen oder Geschichte war nicht die geringste Spur vorhanden. Mit dem, was wir »Kultur« nennen, war bislang keine Kreatur in Berührung gekommen. Big Sur: ein so mächtiges wie diskretes Fleckchen Erde, das der Inbesitznahme trotzte, das sich Eroberern und abenteuerlustigen self-made men standhaft verweigerte. Das sich nicht unterwerfen noch verwerten ließ. Widerständiges Land. Jungfräuliches Land.

Je weniger man über dieses prächtige, alle Sinne überwältigende Big Sur wissen oder auch nur in Erfahrung bringen konnte, desto mehr wurde es besungen. Desto häufiger wurden die wildesten Gerüchte über seine Beschaffenheit und seine Magie in die Welt gesetzt, gelangten vage Ahnungen und aus der Luft gegriffene Legenden über sein »fabelhaftes« Wesen in Umlauf, desto faszinierender, desto unerklärlicher und anziehender wurde diese rough coastline. Manche Debütanten, so wusste der Schriftsteller und Big-Sur-Experte Henry Miller aus Erfahrung, ließen sich zu wenig tauglichen Vergleichen »mit gewissen Teilen des Mittelmeergestades« hinreißen, andere bemühten Ähnlichkeiten mit der Küste Schottlands. Aber solche Gegenüberstellungen und bemühten Parallelen »besagen nichts. Big Sur hat ein eigenes Klima und einen eigenen Charakter. Hier berühren sich die äußersten Gegensätze. Es ist eine Gegend, wo man sich immer des Wetters, des Raumes, der Großartigkeit der Landschaft und ihres beredten Schweigens bewusst ist.«

Bis in die Neuzeit bewahrte diese coastline ihre Unschuld und ihre Geheimnisse. Während der Great Depression konnte man dann endlich hinter den Vorhang schauen und Einblicke gewinnen, was sich hinter diesem Naturwunder verbarg: Erst mit dem Bau eines neuen Abschnitts des mythischen kalifornischen Highway One, der sowohl eine bewundernswerte Pionierleistung von Straßenbauern, Ingenieuren und Architekten als auch eine veritable technische Errungenschaft darstellte und im Rahmen des New Deal fertiggestellt wurde, rückte Big Sur in den späten 1930ern allmählich in den Blick einer interessierten, ja neugierigen Allgemeinheit. Von diesem Highway aus, auch California State Route One – mit ihren Sektoren Cabrillo, Shoreline oder Pacific Coast Highway – genannt, wurden erste Aufnahmen angefertigt, präzisierte sich die Vorstellung von dieser einstmals unvorstellbaren Terra incognita.