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Informationen zum Buch

Senatorin Ellen Crease steckt mitten im Wahlkampf, als ihr Mann, ein abgebrühte und erfolgreiche Bestattungsunternehmer, in seinem Ehebett erschossen wird. Sofort wittern ihre politischen Gegner die Chance, ihr den Mord anzuhängen. Sogar ihr Stiefsohn beschuldigt sie öffentlich der Tat. Niemand glaubt an Ellens Unschuld - außer Richter Richard Quinn. Doch je mehr er versucht, dass Netz der Intrigen aufzudecken, um so mehr gerät er selber in Gefahr...

 

Über Phillip Margolin

Phillip Margolin gehört zu den erfolgreichsten Thriller-Autoren der USA. Margolin startete seine berufliche Laufbahn allerdings nicht als Autor, sondern als Rechtsanwalt. Seine Erfahrungen als Strafverteidiger verknüpft Margolin gekonnt mit seiner Leidenschaft für Justiz-Thriller. Inspiriert von seiner früheren Liebe zu Perry-Mason-Büchern, schreibt Phillip Margolin seit Jahrzehnten erfolgreiche Thriller-Bestseller.

Zahlreiche Romane von Phillip Margolin standen auf der Bestsellerliste der New York Times und wurden u.a. von Warner Bros und HBO verfilmt.

Bekannte Buch-Serien von Phillip Margolin: Amanda Jaffe Serie, Robin Lockwood Serie

 

Bei Aufbau Digital sind folgende Romane von Phillip Margolin erschienen: »Die schöne Schläferin«, »Die Schuld wird nie vergehen«, »Auf ewig unvergessen«, »Auf glühenden Kohlen«, »Nach Einbruch der Nacht«, »Die Witwe des Leichenbestatters«, »Das Gift der Erinnerung«, »Der letzte Unschuldige«, »Der schlagende Beweis«.

 

Informationen zum Übersetzer

Klaus Berr, geboren 1957 in Schongau, studierte Germanistik und Anglistik in München. Nach einem einjährigen Aufenthalt in Wales als "Assistant Teacher", arbeitete Berr als Übersetzer von u.a. Lawrence Ferlinghetti, Tony Parsons, William Owen Roberts, Will Self und Phillip Margolin.

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Phillip Margolin

Die Witwe des
Leichenbestatters

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Klaus Berr

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Teil 1. Die Witwe des Leichenbestatters

   1. Kapitel

   2. Kapitel

   3. Kapitel

   4. Kapitel

   5. Kapitel

   6. Kapitel

   7. Kapitel

   8. Kapitel

   9. Kapitel

   10. Kapitel

   11. Kapitel

Teil 2. Die Bucht der verlorenen Seelen

   12. Kapitel

   13. Kapitel

   14. Kapitel

   15. Kapitel

Teil 3. Eine Woche in der Hölle

   16. Kapitel

   17. Kapitel

   18. Kapitel

   19. Kapitel

   20. Kapitel

   21. Kapitel

   22. Kapitel

Teil 4. Politische Notwendigkeit

   23. Kapitel

   24. Kapitel

   25. Kapitel

   26. Kapitel

Epilog

Dank

Impressum

 

 

 

Für Tante Bea

Teil 1
Die Witwe des Leichenbestatters

Teil 2
Die Bucht der verlorenen Seelen

Teil 3
Eine Woche in der Hölle

Teil 4
Politische Notwendigkeit

1. Kapitel

Leroy Dennis prophezeite üble Fahrbedingungen, als sie aus der Funkzentrale die Nachricht erhielten, dass es sich bei dem Schauplatz der Schiesserei um eine Villa am Crestview Drive handle. Eine Woche sintflutartiger Regenfälle hatte Oregon verwüstet. Flüsse traten über die Ufer, Städte wurden evakuiert, Stromausfälle waren die Norm, und Erdrutsche blockierten Wege und Straßen im ganzen Staat. Die schlimmsten dieser Erdrutsche in Portland gab es in den Hügeln, die das Stadtzentrum überragten. Der Crestview Drive führte über den Gipfel von Portlands höchstem Hügel.

Lou Anthony wählte die direkte Route zum Tatort. Auf halber Höhe der Southwest Chandler Road hätte ein Berg aus Schlamm der Fahrt der beiden Mordermittler beinahe ein Ende gesetzt. Fackeln brannten entlang der Fahrbahn, um Autofahrer vor der Gefahr zu warnen. Der grässliche Regen, die alles verschlingende Schwärze hinter den Lichtkegeln der Scheinwerfer und der wabernde Rauch der Fackeln brachten Anthony auf den Gedanken, ob er sich vielleicht in einen Winkel der Hölle verirrt hatte.

»Was haben wir, Leroy?« fragte Anthony, während er dem Erdrutsch auswich.

»Ein gewisser James Allen hat die 911 angerufen«, antwortete der schlanke schwarze Detective. »Er arbeitet für den Besitzer, Lamar Hoyt. Zwei Tote, sagt Allen. Ein Mann ist ins Haus eingebrochen und hat Hoyt erschossen. Dann hat die Frau den Täter erschossen.«

»Hoyt! Das ist Ellen Creases Mann.«

»Ist Crease nicht die Senatorin, die früher mal Polizistin war?«

Anthony nickte. »Sogar eine gute, und eine erstklassige Schützin.«

Dennis schüttelte den Kopf. »Da hat sich der Kerl das falsche Haus zum Einbruch ausgesucht.«

Es gab nur wenige Laternen am Crestview Drive; dazwischen war die Straße pechschwarz, aber Anthony und Dennis fanden den Tatort ohne Probleme. Dieser Teil der West Hills war in große Grundstücke parzelliert, und so standen nur wenige Häuser an der schmalen Landstraße. Eine hohe Ziegelmauer begrenzte das Anwesen der Hoyts. Über dem Mauerrand kämpften die Äste einer riesigen Eiche verzweifelt gegen die Elemente wie die kraftlosen Arme eines müden Boxers. Vor einem schmiedeeisernen Tor hielt Anthony an. Ein gelbschwarzes Metallschild an den gut zwei Meter hohen, mit Speerspitzen versehenen Gitterstangen warnte Eindringlinge vor dem elektronischen Sicherheitssystem. Ein schwarzer Metallkasten mit einem Schlitz für eine Plastikkarte war in der Höhe des Fahrerfensters an der Mauer befestigt. Daneben befand sich eine Gegensprechanlage. Anthony wollte sie eben betätigen, als Dennis bemerkte, dass das Tor einen Spalt offenstand. Dennis sprang in den Sturm und stieß das Tor auf.

Als Dennis wieder im Auto saß, fuhr Anthony langsam die geschwungene Auffahrt zu dem dreistöckigen Landhaus im Tudorstil hoch. Kaum hatte Anthony angehalten, ging die mit Schnitzwerk reichverzierte Haustür auf und ein verängstigter Mann in Bademantel und Pyjama stürzte in den Regen. Er war knapp unter einsachtzig groß und schlank. Der Regen klatschte ihm die ungekämmten, graumelierten Haare an den Kopf und sprenkelte die Gläser seiner Brille.

»Sie sind oben im großen Schlafzimmer«, sagte er und deutete hinauf in den ersten Stock. »Sie will ihn nicht allein lassen. Ich habe bereits einen Krankenwagen gerufen.«

Der Mann führte die beiden Detectives in eine geräumige Eingangshalle, in der ein riesiger Perserteppich einen Großteil des Parkettbodens bedeckte. Vor ihnen führte eine breite Treppe mit poliertem Eichengeländer nach oben.

Anthony strich sich den Regen aus den schütteren, roten Haaren. Er war ein großer Mann mit kantigem Kinn, einer gebrochenen Nase und graublauen Augen. Seine Schultern waren zu breit, und seine Kleidung passte ihm nie richtig. Unter seinem Regenmantel trug er ein an den Ellbogen durchgescheuertes und zerknittertes braunes Tweedsakko und eine dunkelbraune Bundfaltenhose. Anthony hatte sich angewöhnt, sein Sakko immer zuzuknöpfen, um seinen allmählich sich entwickelnden Bierbauch zu verstecken. Die blaue Strickkrawatte, die sein Sohn ihm zu seinem vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte, hing auf Halbmast.

»Darf ich fragen, wer Sie sind, Sir?« fragte Anthony.

»James Allen, Mr. Hoyts Hausmeister.«

»Okay. Was ist hier passiert, Mr. Allen?«

»Ich wohne über der Garage. Dem großen Schlafzimmer genau gegenüber. Es gab einen Schuss. Erst dachte ich, es hat gedonnert. Dann fielen weitere Schüsse. Ich rannte nach nebenan und sah einen Mann auf dem Boden neben dem Bett. Und viel Blut. Und Mrs. Crease … Sie saß auf dem Bett und hielt Mr. Hoyt in den Armen … Ich glaube, er ist tot, aber sicher weiß ich es nicht. Sie lässt mich nicht zu ihm. Sie hat eine Waffe.«

»Bitte bringen Sie uns nach oben, Mr. Allen«, sagte Anthony.

Die Detectives folgten dem Hausmeister über die geschwungene Treppe in den ersten Stock, ohne die Ölgemälde und Gobelins im Treppenhaus eines Blickes zu würdigen. Dennis hatte seine Waffe gezückt, aber er kam sich komisch damit vor. Die Gefahr war wohl vorüber. Allen führte sie zu einem Zimmer am Ende eines schwach erhellten, mit Teppichboden ausgelegten Gangs. Die Tür war offen.

»Bitte sagen Sie Senatorin Crease, dass wir von der Polizei sind«, trug Anthony Allen auf. Der Detective kannte Crease gut genug, um sie Ellen zu nennen, aber er hatte keine Ahnung, in welcher Verfassung sie war. Und wenn sie eine Waffe hatte, wollte er kein Risiko eingehen.

»Mrs. Crease, hier ist James Allen. Ich habe zwei Polizisten bei mir. Sie wollen ins Schlafzimmer kommen.«

Allen machte ein Schritt ins Zimmer, aber Anthony hielt ihn am Arm zurück.

»Ich halte es für besser, wenn Sie unten auf den Krankenwagen und die anderen Beamten warten.«

Allen zögerte, sagte dann: »Wie Sie wollen« und ging über den Gang davon.

»Ich bin Lou Anthony, Senatorin. Sie kennen mich. Ich bin Beamter der Polizei von Portland. Mein Partner und ich kommen jetzt ins Zimmer.«

Anthony atmete tief ein und trat durch die Tür. Die Schlafzimmerbeleuchtung war ausgeschaltet, aber das Licht aus dem Gang tauchte das große Zimmer in einen fahlgelben Schein. Auf halbem Weg zwischen Tür und westlicher Wand lag ein Mann auf dem Boden. Die Beine des Toten waren an den Knien abgeknickt, als sei er zu Boden gesackt. Seine Füße berührten beinahe den provenzalischen Schrank, der gegenüber des Doppelbetts an der Südwand stand. Die Schranktüren waren offen, und Anthony sah einen Fernseher. Der Kopf des Mannes lag am Fuß des Bettes in einer Blutlache. Neben seiner Hand lag ein 45er Revolver.

Anthony wandte den Blick von dem Toten ab und betrachtete die Szene direkt vor sich. Auf der von der Tür entfernten Seite des Bettes saß, als würde sie für eines von Caravàggios düsteren Ölgemälden posieren, Ellen Crease. Sie hatte das Gesicht von Anthony abgewandt, der Rücken ihres einfachen, weißen Nachthemds war blutbespritzt. Lamar Hoyts nackter Körper lag quer über dem Bett. Creases Rücken verdeckte einen Teil seines Oberkörpers, aber Anthony konnte zwei Einschusswunden und dünne Blutspuren erkennen, die durch die dichte, graue Behaarung auf Hoyts bärengleicher Brust sickerten. Hoyts großer Kopf ruhte im Schoss seiner Frau; Crease schaukelte leicht hin und her und gab leise, wimmernde Laute von sich. Anthony bemerkte, dass ihre rechte Hand auf der massigen Brust ihres Gatten lag und ihre linke einen 38er Special hielt.

»Senatorin«, sagte Anthony sanft. »Ich komme jetzt um das Bett herum.«

Crease schaukelte und schluchzte weiter. Der Detective drückte sich an dem Schrank vorbei, stieg über die ausgewaschenen Jeans des Toten und musterte seine marineblaue Windjacke. Die Haare des Toten waren feucht vom Regen und blutgetränkt. Seine Kleidung war triefnass.

Anthony wandte den Blick ab und konzentrierte sich auf Crease. Sie hielt weiter die Waffe in der Hand, allerdings mit schlaffem Griff, und sie starrte ihren Gatten an. Was von Hoyts Gesicht noch übrig war, war verschmiert mit Blut, das auch das weiße Nachthemd durchtränkte. Als Anthony neben ihr stand, sah Crease hoch. Ihr Gesicht war tränenfleckig und von Trauer gezeichnet.

 

Fünfundvierzig Minuten später verstopften Polizeiautos, ein Krankenwagen und der Transporter des Leichenbeschauers die Einfahrt vor dem Hoytschen Haus. Während die Spurensicherung den Tatort untersuchte, wartete Lou Anthony in einem der tiefen, roten Ledersessel in der Bibliothek geduldig auf Ellen Crease. Das Zimmer war ungewöhnlich sauber, und er spürte, dass es nicht sehr häufig benutzt wurde. Anthony hatte sich einige der handgefertigten, ledergebundenen Bücher angesehen, die dicht an dicht in den deckenhohen Kirschholzregalen standen. Er hatte keinen einzigen Band mit geknicktem Rücken entdeckt. Er hielt eben eine Ausgabe von Hemingways Kurzgeschichten in der Hand, als Ellen Crease in Jeans, dunkelblauer Bluse und einem weiten, dunkelgrünen irischen Wollpullover die Bibliothek betrat.

Senatorin Ellen Crease war fünfunddreißig, aber sie hatte den kompakten, athletischen Körper einer zehn Jahre jüngeren Frau. Creases Persönlichkeit war so robust wie ihre Statur. Ihre Haut war dunkel, und ihre glatten schwarzen Haare umrahmten ein Gesicht, das immer auf der Hut zu sein schien. Ellen Crease hatte absolut nichts Zierliches. Sie war eine Eisenfaust, die nie in einen Samthandschuh passen würde.

»Hallo, Lou«, sagte Crease und streckte ihm die Hand hin, als sei er ein politischer Verbündeter. Anthony stellte hastig das Buch zurück und schüttelte ihr die Hand. »Mein Beileid wegen Lamar. Wie geht’s?«

Crease zuckte die Achseln. Anthony staunte über ihre Gefasstheit. Er hatte ihren Kummer gesehen, aber jetzt war jede Spur ihrer Tränen getilgt. Der Detective nahm an, dass sie ihre Gefühle unterdrückte. Vermutlich unterdrückte sie auch jegliche Gefühle bezüglich der Tötung des Eindringlings, aber Anthony wusste, dass das Schuldbewusstsein bald an die Oberfläche kommen würde, um sie zu quälen, so wie es ihn gequält hatte, als er in Ausübung seiner Pflicht einen Mann erschossen hatte. Ein Untersuchungsausschuss hatte Anthony von jeder Schuld freigesprochen, er hatte sogar eine Auszeichnung erhalten. Trotzdem hatte er Jahre gebraucht, um die Schiesserei zu verarbeiten. Für die meisten Menschen ist es sehr schwierig, die Tötung eines Menschen, auch wenn es aus Notwehr geschieht, zu bewältigen.

»Fühlen Sie sich in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?« fragte Anthony.

»Ich will es hinter mich bringen, Lou, also gehen wir’s an.«

Crease setzte sich Anthony gegenüber in einen Sessel und nahm sich eine schlanke Mouton Davidoff Cadet aus einem Humidor, der auf einem Beistelltisch aus Eichenholz stand. Anthony sah zu, wie sie sich die Zigarre anzündete. Ihre Hand war erstaunlich ruhig.

»Da es einen Schusswechsel gab, muss ich Ihnen Ihre Rechte verlesen«, sagte Anthony entschuldigend.

»Betrachten Sie sie als verlesen.«

Anthony zögerte, er war unsicher, ob die Aufklärung nicht dennoch nötig war. Er wollte Crease Unannehmlichkeiten soweit als möglich ersparen; die Befragung zu beschleunigen, war eine gute Möglichkeit dazu.

»Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was passiert ist?« Crease zog an ihrer Zigarre. Das Rauchen schien sie zu beruhigen. Einen Augenblick lang schloss sie die Augen. Sie sah sehr erschöpft aus. Als sie anfing zu reden, klang ihre Stimme ausdruckslos.

»Lamar wollte früh ins Bett, aber ich musste noch arbeiten. Sie wissen, dass ich mitten im Wahlkampf gegen Ben Gage um die republikanische Nominierung für den U.S. Senat stecke?«

Anthony nickte.

»Ich hatte noch an einer Rede zu feilen, die ich morgen Abend halten soll, und eine Gesetzesvorlage zu Schmalspureisenbahnen durchzuarbeiten. Lamar wollte Sex vor dem Einschlafen, und das haben wir auch getan. Danach bin ich aufgestanden, um ein Nachthemd anzuziehen, damit ich nach unten in mein Arbeitszimmer gehen konnte. Ich wollte eben ins Bad, als es sehr hell blitzte. Ich ging zum Fenster. Als ich hinaussah, blitzte es noch einmal. Die Umgebung des Pools war plötzlich taghell. Ich glaubte, einen Mann unter den Bäumen vor der Mauer stehen zu sehen, aber bevor ich genau hinschauen konnte, wurde es wieder dunkel. Ich tat es als Einbildung ab.«

»Wir haben unter einem der Bäume Fußabdrücke gefunden. Der Eindringling muss von dort aus das Haus beobachtet haben.«

»Wisst ihr schon, wer es war?«

»Nein. Er hatte keinen Ausweis bei sich, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn identifiziert haben. Erzählen Sie weiter.«

Eine Sekunde lang versagte Creases Selbstbeherrschung. Sie schloss die Augen. Anthony wartete, bis die Senatorin fortfahren konnte.

»Als ich aus dem Bad kam, wollte Lamar kuscheln, und ich habe das Licht im Bad abgedreht, mein Nachthemd angezogen und bin zu ihm ins Bett gestiegen. Wir haben uns ein wenig unterhalten. Nicht lange. Dann sagte ich Lamar, ich müsse jetzt anfangen zu arbeiten. Ich setzte mich in meiner Hälfte des Betts auf …«

»Das ist die Hälfte am Fenster, die von der Tür und dem Bad abgewandte Seite?« fragte Anthony.

»Genau.«

»Okay, und dann?«

»Die Tür krachte auf, und dieser Mann kam herein. Ich konnte sehen, dass er eine Waffe hatte, weil im Gang das Licht brannte.«

Wieder bekam Creases Fassade einen Riss, aber sie fasste sich schnell und hatte sich wieder unter Kontrolle.

»Ich habe immer einen kurzläufigen 38er Smith and Wesson unter dem Bett. Er ist mit Hohlspitzmunition geladen. Ich habe mich seitlich aus dem Bett gebeugt, um ihn zu holen. Ich hörte drei Schüsse und kam feuernd wieder hoch. Ich sah den Mann zu Boden gehen. Erst als ich sicher war, dass er tot war, habe ich mich um Lamar gekümmert.«

Creases Stimme wurde heiser, ihre Augen feucht. Sie schüttelte den Kopf und zog wütend an ihrer Zigarre.

»Der Mistkerl hat Lamar umgebracht, einfach so. Ich konnte nicht mal mehr was zu ihm sagen.«

Crease hielt inne, sie konnte nicht mehr fortfahren.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Scheiße, nein, Lou.«

Anthony fühlte sich schrecklich. Er gab ihr Zeit, sich zu sammeln.

»Hören Sie, ich will’s kurz machen. Falls ich noch Fragen haben sollte, haben die Zeit bis später. Nur noch zwei Sachen, okay?«

Crease nickte.

»Als ich ankam, war das Tor offen. Bei dem ausgeklügelten Sicherheitssystem, das Ihr Mann hatte, warum war es nicht verschlossen?

»Anfangs war es verschlossen. Aber dann gab’s einen Stromausfall. Als der behoben war, haben wir vergessen, es wieder zu schließen.«

»Ist das auch der Grund, warum die Alarmanlage im Haus ausgeschaltet war?«

»Nein, ich schalte die Anlage erst ein, wenn ich zu Bett gehe. Und wie gesagt, ich wollte noch eine Stunde oder so arbeiten.«

»Das alles ist mir sehr schwer gefallen, Ellen. Ich will, dass Sie das wissen. Für uns alle auf dem Revier sind Sie ein Star. Niemand wirft Ihnen etwas vor. Sie haben richtig gehandelt.«

»Ich weiß, Lou«, erwiderte Crease, jetzt kalt wie Eis. »Mir tut nur leid, dass ich den Scheißkerl nicht schneller erschossen habe, denn dann wäre Lamar noch am …«

Ein Krachen und Geschrei ließen Anthony aufspringen. Als er die Bibliothekstür öffnete, sah er zwei Männer der Bestattungsanstalt wie erstarrt mitten auf der Treppe stehen. Zwischen ihnen lag auf einer Trage der Leichensack mit Lamar Hoyts sterblichen Überresten, die sie zu der Rollbahre am Fuß der Treppe schaffen wollten. Rücklings auf dieser Rollbahre lag ein großer, muskulöser Mann in Jeans, einem karierten Flanellhemd und einem Regenmantel. Drei Polizisten versuchten ihn auf die Rollbahre zu drücken, die in diesem Handgemenge auf dem Parkett hin und her schlitterte. Einer der Beamten drückte dem Mann den Arm auf den Rücken, ein zweiter versuchte, einen Würgegriff anzusetzen. Der Mann drehte und wand sich, bis er Anthony direkt ins Gesicht sah. Die Ähnlichkeit mit Lamar Hoyt war unverkennbar.

Der Beamte, der ihn im Würgegriff hatte, drückte fester zu, und der Mann wehrte sich nicht mehr. Ein zweiter fesselte ihm die Hände auf den Rücken. Dann zerrten sie den Mann von der Bahre und stellten ihn auf die Füße. Bevor Anthony etwas sagen konnte, rauschte Ellen Crease an ihm vorbei und durchquerte die Diele. Als der Eindringling Crease erkannte, verzerrte sich sein Gesicht vor Zorn und er machte schreiend einen Satz auf sie zu.

»Das warst du, du Schlampe.«

Crease blieb vor dem Mann stehen, starrte ihn verächtlich an und schlug ihm dann so fest ins Gesicht, dass sein Kopf zur Seite schnellte. Anthony fiel ihr in den Arm, bevor sie noch einmal zuschlagen konnte.

»Wer ist das?« fragte er.

»Dieses erbärmliche Stück Scheiße ist Lamar Hoyt junior.«

Anthony trat zwischen Crease und ihren Stiefsohn und sah dem wütenden Mann ins Gesicht.

»Beruhigen Sie sich«, sagte Anthony bestimmt.

»Diese Schlampe hat ihn umgebracht. Sie hat meinen Vater umgebracht«, schrie Junior.

Die Beamten hielten ihn fest, und Anthony packte ihn am Kragen seines Flanellhemds. Er roch den Schnaps in seinem Atem.

»Wollen Sie eine Nacht in der Ausnüchterungszelle verbringen?«

»Wäre nicht das erste Mal«, keifte Crease. Der junge Mann wollte sich wieder auf sie stürzen, konnte sich aber nicht aus Anthonys eisernem Griff lösen.

»Bitte warten Sie in der Bibliothek auf mich, Senatorin«, befahl Anthony wütend. Crease zögerte erst, entfernte sich dann aber von dem Knäuel.

Anthony deutete zur Treppe. »Herrgott noch mal, das ist die Leiche Ihres Vaters. Lassen Sie diese Männer sie fortschaffen.«

Junior starrte den Leichensack an, als würde er ihn zum ersten Mal sehen.

»Bringen Sie ihn hier rein«, sagte Anthony zu den Beamten und deutete auf einen kleinen Salon direkt neben der Diele. Nachdem sie den Auftrag ausgeführt hatten, winkte Anthony sie weg. Junior warf sich auf ein kleines Sofa. Anthony setzte sich neben ihn. Hoyts Sohn war gut einsachtzig groß und kräftig. Auf seinem großen Kopf lockten sich schwarze Haare, er hatte braune Augen, und seine Nase war kurz und dick wie die seines Vaters.

»Muss ich Sie gefesselt lassen?«

»Ich bin in Ordnung«, murmelte Junior.

»Wenn ich sie ihnen abnehmen lasse und Sie spielen sich wieder auf, bedeutet das eine Nacht im Gefängnis.«

Anthony winkte, und der Beamte mit dem Schlüssel schloss die Handschellen auf. Junior rieb sich die Gelenke. Er machte ein verdrossenes Gesicht.

»Was sollte denn das vorher? Dieses Geschrei?«

Juniors Züge verhärteten sich. »Warum haben Sie sie nicht verhaftet?«

»Senatorin Crease?«

»Ich weiß, dass sie ihn umgebracht hat.«

»Mr. Hoyt, Ihr Vater wurde von einem Einbrecher ermordet. Er stürzte ins Schlafzimmer und erschoss ihn. Senatorin Crease hat den Einbrecher erschossen. Ellen Crease hat Ihren Vater nicht getötet, sie hat versucht, ihn zu schützen.«

»Das werde ich nie glauben. Ich weiß, dass diese Schlampe dahintersteckt. Sie wollte ihn tot, und sie hat ihren Willen durchgesetzt.

2. Kapitel

Der ehrenwerte Richard Quinn, Richter am Bezirksgericht des Multnomah County, war beinahe einsneunzig groß, ging aber leicht gebückt, als würde er sich seiner Größe schämen. Trotz seiner Statur und seines Rangs war der neununddreißigjährige Richter alles andere als furchteinflößend. Er lächelte leicht und wirkte hin und wieder etwas abgelenkt. Seine blauen Augen waren freundlich, und seine dichten schwarzen Haare fielen ihm in die Stirn, was ihm ein jungenhaftes Aussehen gab.

Quinns Arbeitstag endete für gewöhnlich zwischen fünf und sechs, aber heute war er bis sieben in seinem Amtszimmer geblieben, um am Fall Gideon zu arbeiten. Und wegen eines vom Regen verursachten Unfalls auf dem Sunset Highway hatte seine ansonsten zwanzigminütige Heimfahrt fünfzig Minuten gedauert. Als Quinn in Hereford Farms eintraf, war er erschöpft und hungrig.

Die Häuser in den Farms fingen bei einer halben Million an. Quinn und Laura hatten sich das Anwesen problemlos leisten können, als sie vor fünf Jahren hierher zogen. Quinn verdiente bei Price, Winward, Lexington, Rice and Quinn jährlich einen sechsstelligen Betrag, und Laura, damals noch Angestellte der Kanzlei auf der Überholspur zur Teilhaberschaft, bekam ein hohes fünfstelliges Gehalt mit der Aussicht auf mehr. Quinn hatte das alte Kolonialhaus in Portland Heights geliebt, in dem er wohnte, als er Laura den Heiratsantrag machte, und er hatte sich lange gegen den Umzug in die Vorstadt gewehrt.

Quinn konnte die Probleme in ihrer Ehe auf die Streitigkeiten über das Haus in Portland Heights zurückführen. Laura hatte das Gefühl, es sei zu klein für die Partys, die sie geben, und zu weit entfernt von dem Gountry Club, dem sie beitreten wollte. In der Blüte der neuen Liebe war es für Quinn einfach gewesen nachzugeben, aber er hatte sich nie wohl gefühlt in dem neuen Haus, das ihm eher wie ein Vorführmodell denn wie ein richtiges Zuhause vorkam. Es hatte eine gewölbte Decke im Esszimmer und im Wohnzimmer und keine Wände, die die einzelnen Bereiche trennte. Ein Lüster hing hoch über dem Steinfußboden in der Eingangshalle. Glaswände ließen tagsüber das Licht in jeden Winkel strömen. Eine Wendeltreppe führte in den ersten Stock. Quinn musste zugeben, dass das Haus eindrucksvoll war, aber Hereford Farms und alle Häuser innerhalb ihrer gesicherten Mauern waren steril, und Quinn bezweifelte, dass er sich in dieser vorstädtischen Enklave je zu Hause fühlen würde.

Quinn öffnete die Haustür. Er wollte eben Laura rufen, als ihm einfiel, dass sie an diesem Abend am Tennisturnier des Country Clubs teilnahm. Er hängte seinen nassen Regenmantel in den Dielenschrank und machte sich in der Küche ein Abendessen. Es gab noch verschiedene Salate vom Vortag und eine Suppe, die er sich aufwärmen konnte. Gemeinsame Mahlzeiten kamen eher selten vor, und wenn, dann aßen sie auswärts oder holten sich schnell ein Fertiggerichtessen aus dem örtlichen Supermarkt, weil Laura immer bis spät arbeitete. Keiner der Anwälte bei Price, Winward hatte einen normalen Acht-Stunden-Tag. Viele arbeiteten so schwer, dass sie gesundheitliche Probleme bekamen, vor der Zeit ausbrannten oder exzessiv tranken. Laura war eine der Fleißigsten der Firma, aber sie war in ausgezeichneter gesundheitlicher Verfassung und rührte Alkohol kaum an. Die Arbeit verschaffte ihr den Kick.

 

Quinn las im Bett, als er die Haustür hörte. Er sah auf die Uhr. Kurz vor zehn. Quinn lauschte, wie Laura in der Küche hantierte. Die Kühlschranktür schwang zu. Leises Klappern war zu vernehmen, wenn ein Glas oder ein Teller die Theke traf, an der Laura gern aß. Später dann hörte Quinn leise Schritte, als seine Frau die Wendeltreppe in den ersten Stock hochstieg.

Sie trug ihren Trainingsanzug, als sie das Schlafzimmer betrat. Sie war dreiunddreißig, sechs Jahre jünger als der Richter. Ihre Haut war blass, ihre Haare karamelfarben, ihre Augen dunkelblau. Auch ohne Make-up und mit wirren Haaren war Laura sehr attraktiv. Sie war außerdem eine der gescheitesten Frauen, die Quinn je getroffen hatte. Ihr schneller Aufstieg zur Teilhaberin war ein Beweis ihrer Intelligenz und der sturen Entschlossenheit, mit der sie alles anging. Diese sture Entschlossenheit konnte aber auch Probleme verursachen, wenn es in einer Ehe Konflikte gab. Wenn Laura etwas wirklich wollte, gab sie so gut wie nie nach. Sie hatte auf dem Haus bestanden und sich geweigert, über Kinder auch nur nachzudenken, solange ihre Karriere noch im Steigen begriffen war.

Der einzige wichtige Punkt, bei dem sich Quinn Lauras Wünschen nicht gefügt hatte, war sein Richteramt.

»Wie ging’s?« fragte Quinn, als Laura den Trainingsanzug auszog und den Reißverschluss ihrer Tennisshorts öffnete.

»Ich habe Patsy Tang zwei zu null geschlagen«, erwiderte Laura beiläufig. »Damit stehe ich im Viertelfinale.«

»Super. Hattest du Probleme beim Fahren?«

»Nein. Der Erdrutsch auf der Quail Terrace ist schon wieder weggeräumt.«

Laura stieg aus ihrem Tennisdress und zog BH und Slip aus. Seit beinahe schon sieben Jahren sah Quinn seine Frau fast jeden Tag nackt, aber sie erregte ihn noch immer.

»Wann bist du nach Hause gekommen?« fragte Laura.

»Gegen acht.«

»Was hat dich so lange aufgehalten?«

»Gideon. Er hatte zwei Richter des Obersten Gerichtshofs, vier Bezirksrichter, einen Bürgermeister und mehrere Geistliche, die für ihn aussagten. Wir haben überzogen.«

Frederick Gideon war Bezirksrichter des Lane County mit Amtssitz in Eugene, Oregon, einer kleinen Stadt hundert Meilen südlich von Portland, die vor allem deswegen bekannt war, weil sie die University of Oregon beherbergte. Gideon war ein beliebter, gewissenhafter Jurist, der einige schlechte Investitionen getätigt hatte. Die Verluste waren so schlimm, dass er die Schulausbildung seiner Töchter nicht mehr bezahlen konnte. Gideon war sehr verzweifelt, als der Besitzer einer Baufirma, Angeklagter in einem Millionenprozess, an ihn herantrat, um ihn zu bestechen. In einem Augenblick der Schwäche akzeptierte Gideon das Geld und gewährte dem Beklagten einen Freispruch.

Die Anwälte des Klägers waren verblüfft über das Urteil, das keine logische Grundlage hatte. Ein Privatdetektiv, der für den Kläger arbeitete, spürte Beweise für die Bestechung auf. Richter Gideon, der Besitzer der Baufirma und zwei weitere Männer wurden verhaftet. Gideon traf mit der Staatsanwaltschaft ein Abkommen. Er trat von seinem Richteramt zurück, sagte gegen die Mitangeklagten aus und durfte im Gegenzug auf ›schuldig in einem minder schweren Fall von Bestechlichkeit plädieren, was eine Höchststrafe von fünf Jahren Gefängnis nach sich ziehen würde. Quinn hatte den Fall übertragen bekommen, weil alle Richter des Lane County befangen waren. Den ganzen Tag über hatte er Zeuge um Zeuge gehört, die alle Gideons Tugenden rühmten und um Milde baten. Am folgenden Morgen würden die Anwälte ihre Schlussplädoyers halten, und er würde ein Urteil sprechen müssen.

»Wie wirst du dich entscheiden?« fragte Laura.

»Ich weiß es noch nicht.«

Laura raffte ihre schmutzige Wäsche zusammen und setzte sich neben Quinn aufs Bett.

»Hat die Staatsanwaltschaft neue Beweise gegen ihn vorgelegt?«

»Nein. Jane hat sogar durchblicken lassen, dass sie nichts gegen eine Bewährungsstrafe hätte. Trotzdem …«

Quinn hielt inne, frustriert von den widersprüchlichen Gefühlen, die ihn Umtrieben, seit er den Fall Gideon übernommen hatte. Er hatte nur laut wiederholt, was er sich den ganzen Tag schon vorgesagt hatte.

»Ich verstehe nicht, warum dieser Fall so schwierig für dich ist«, sagte Laura.

»Er ist Richter. Wenn ein Richter das Gesetz bricht, gelten andere Regeln.«

»Ein Richter ist auch nur ein Mensch.«

»Das stimmt, aber er muss andere Maßstäbe an sich selbst ansetzen. Wenn man die Robe anzieht, sondert man sich vom Rest der Menschheit ab.«

»Blödsinn. Man wird doch noch kein Gott, wenn man den Eid ablegt. Gideon stand stark unter Druck. Du hättest an seiner Stelle vielleicht dasselbe getan.«

»Nein, nie«, erwiderte Quinn mit Bestimmtheit.

»Wie kannst du das sagen, wenn du noch nicht in Gideons Lage warst?«

»Richter zu sein ist mehr als nur ein Job. Amerikaner werden zur Hochachtung vor dem Gesetz erzogen, und sie erwarten, dass Richter das Gesetz gerecht anwenden. Wenn ein Richter sich bestechen lässt, untergräbt er diesen Glauben.«

»Ich glaube, jetzt übertreibst du ein bisschen. Wir reden von einem einzelnen Richter im Lane County, Oregon. Ich glaube nicht, dass das Land sich selbst zerstört, weil Fred Gideon ein bisschen Geld genommen hat, um seinen Kindern das College zu zahlen.«

»Du würdest bei Gideon also Nachsicht walten lassen?«

»Ich würde ihm Bewährung geben.«

»Warum?«

»Herrgott noch mal, Dick«, keifte Laura. »Er ist Familienvater. Schick ihn ins Gefängnis, und du zerstörst eine Familie. Und wozu? Wegen irgendeiner Theorie, die du im Sozialkundeunterricht gelernt hast?«

Quinn sah sie erstaunt an.

»Wie kannst du so was sagen? Du bist Anwältin. Hast du denn keine Achtung vor dem System, für das du arbeitest?«

»Ich arbeite in der realen Welt, nicht in einem Elfenbeinturm. Fred Gideon ist ein armer, überarbeiteter und unterbezahlter Kerl, der durchgedreht hat, weil er Angst hatte, dass er seine Kinder vom College nehmen muss.«

»Gideons Kinder könnten ja auch auf die University of Oregon gehen«, erwiderte Quinn verstimmt. »Es muss ja nicht unbedingt die Ivy League sein. Du hast dich auch so hochgearbeitet. Viele Kinder tun das.«

Lauras Züge verdüsterten sich, und Quinn tat es leid, kaum dass er die Worte ausgesprochen hatte. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr hatte Laura in einem Nobelvorort am Nordufer von Long Island, New York, gelebt. Dann hatte ihr Vater seinen Job als Ingenieur verloren und fiel in eine tiefe Depression. Die Familie musste den Country Club und den Beach Club verlassen. Lauras private Tennis- und Klavierstunden hörten auf, und ihre Mutter fing an, Rabattmarken zu sammeln und Kleidung in Billigläden einzukaufen. Lauras Vater war gezwungen, einen Aushilfsjob als Verkäufer anzunehmen, aber seine Frau wollte er nicht arbeiten lassen. Seine Depressionen wurden schlimmer, und Lauras Eltern fingen an zu streiten. Als Laura dreizehn war, hatte ihr Vater sich mit einer anderen Frau eingelassen, ihre Eltern wurden geschieden, und sie lebte von da an mit ihrer Mutter in einer winzigen Wohnung in Queens.

Laura hatte die neue Lage bewältigt, indem sie den ganzen Tag nur lernte und Tennis spielte. Obwohl sie ein Sport-Teilstipendium hatte, musste sie neben dem Studium arbeiten. In ihren Augen war das Unvermögen ihres Vaters, ihr die Collegeausbildung zu finanzieren, ein weiterer Beweis für seinen Verrat.

»Ich bin mir sicher, dass du die richtige Entscheidung treffen wirst«, sagte Laura kalt und ging ohne ein weiteres Wort ins Bad. Quinn wusste, dass er Laura verletzt hatte, und er fühlte sich schlecht deswegen, aber der mangelnde Respekt seiner Frau für seine Arbeit deprimierte und ärgerte ihn.

Quinn versuchte zu lesen, aber das Buch interessierte ihn nicht mehr. Etwas später ging die Badtür wieder auf. Laura ging zu ihrer Kommode und streifte sich ihr Nachthemd über. Sie wirkte noch immer aufgewühlt. Quinn wollte nicht, dass Laura wütend einschlief. Als sie unter der Decke steckte, fiel Quinn ein, dass er eine gute Nachricht für sie hatte.

»Ich werde bei dieser Juristentagung im Bay Reef Resort auf St. Jerome sprechen. Die Organisatoren haben es heute Nachmittag bestätigt.«

Quinns Leselampe brannte noch, und er sah, dass sich in Lauras Gesicht nur geringes Interesse zeigte.

»Ich habe mir gedacht, dass du vielleicht mitkommen könntest. Wir könnten ein paar Tage früher hinfliegen und einen Urlaub daraus machen. Sprechen werde ich nur am Donnerstag. Die ganze restliche Woche hätten wir dann für uns.«

»Ich hab viel zu tun, Dick«, erwiderte sie kalt. »Da ist der Media Corp.-Prozess und der Hunter Air-Vertrag.«

»Die Konferenz ist erst in der letzten Februarwoche. Da bleibt dir genügend Zeit, deine Arbeit zu organisieren. Komm, Laura. Es wird uns guttun. Wir hatten seit zwei Jahren keinen richtigen Urlaub mehr.«

Quinn wartete.

»Es würde mich wirklich freuen, wenn du mitkommst«, sagte Quinn, als er das Schweigen nicht mehr aushielt. »Ich könnte die Pause auch gut gebrauchen. Wir könnten eine schöne Zeit auf St. Jerome haben. Ich habe mich umgehört, die Insel soll sehr schön sein. Sand, Sonne. Wir könnten am Pool liegen und uns mit Banana-Daiquiris abfüllen. Was hältst du davon?«

Laura taute langsam auf. »Aber ich kann dir im Augenblick noch nichts versprechen«, sagte sie.

»Wenn du nicht bei mir bist, ist es nichts als Arbeit.«

»Ich rede mit Mort Camden.«

Quinn strahlte, und das zauberte ein Lächeln auf Lauras Gesicht. Quinn drückte sich an sie.

»Ich werde bestimmt traurig, wenn du nicht bei mir bist.«

Laura streichelte Quinn die Wange. »Manchmal bist du wie ein kleiner Junge.«

Quinn schob die Hand unter Lauras Nachthemd. Im ersten Augenblick verkrampfte sie, doch dann entspannte sie sich und küsste ihn. Quinn machte einen längeren Kuss daraus. Laura streichelte seinen Hals. Sie hatten sich seit eineinhalb Wochen nicht geliebt. Ihre Berührung wirkte wie ein Stromimpuls auf seine Nervenenden, und er war sofort steif. Quinn ließ seine Finger über ihren Rücken wandern, bis er ihre Hinterbacken in beiden Händen hielt. Er genoss die Spannung in ihren Muskeln. Quinn spürte, wie Laura seine Pyjamahose aufknöpfte. Er zog die Hände nach vorn, damit er ihren Busen streicheln konnte. Sein Mund war trocken vor Erregung. Er wollte mit Laura spielen, um ihr gemeinsames Vergnügen zu verlängern. Seine Finger fanden ihre Nippel, und er streichelte sie, bis sie hart waren. Doch viel zu schnell schob Laura ihn in sich, und er war gefangen im schnellen Rhythmus ihrer Bewegungen, bis er wenige Augenblicke später explodierte und erschlaffte, erschöpft, aber nicht befriedigt wegen der Hast ihres Liebesspiels.

Quinn spürte das Bett sich bewegen, als Laura aufstand und ins Bad ging. Er spielte den schnellen Verkehr im Geiste noch einmal durch, und dabei fiel ihm auf, dass Sex mit Laura im letzten Jahr immer unbefriedigender geworden war. Quinn starrte zur Decke und versuchte sich zu erinnern, wann der Sex mit Laura aufgehört hatte, Spaß zu machen. Er wusste, dass es ihm vor der Heirat unheimlich viel Spaß gemacht hatte, und er war sicher, dass der Sex auch noch gut gewesen war, als sie in dem alten Haus in Portland Heights gewohnt hatten, aber irgendwann später war ihm der Verdacht gekommen, dass Laura es nur noch aus Gewohnheit machte, und er fing an, sich allein und einsam zu fühlen, wenn sie miteinander schliefen.

Allerdings erregte Laura Quinn noch immer, und sie verweigerte sich ihm nie. Andererseits ergriff Laura kaum noch die Initiative, so wie sie es getan hatte, als sie noch miteinander gingen, und sie schien alles zu tun, um schnell fertig zu werden, als sei Sex nur eine lästige Arbeit, wie Geschirrwaschen, die sie hinter sich bringen wollte, um sich Wichtigerem zuwenden zu können.

Quinn fragte sich, was passieren würde, wenn er eine Weile nicht mehr mit Laura schlief, aber er befürchtete, dass ihr mangelndes Interesse nur in seiner Einbildung existierte und sein Rückzug sie verletzen könnte. Das konnte Quinn Laura nicht antun. Und er fürchtete noch mehr, dass Laura einfach nichts sagen und ihre Ehe eine reine Gewohnheitsgemeinschaft werden würde.

Die Toilettenspülung ging, und Quinn hörte Wasser ins Waschbecken laufen. Er stieg aus dem Bett und schob sich an Laura vorbei. Es wäre schön gewesen, wenn sie ihn im Vorübergehen berührt hätte, nur um zu zeigen, dass sie an ihn dachte. Quinn schloss die Badtür. Er fühlte sich plötzlich traurig und besiegt. Verzweifelt sehnte er sich danach, die frühen Tage ihrer Beziehung zurückzuholen, als ihre Leidenschaft noch der seinen entsprach, Sex für beide in befriedigter Erschöpfung gipfelte und er einschlafen konnte, ohne dass Zweifel seine Gedanken umwölkten.

3. Kapitel

Lou Anthony fuhr vom Anwesen der Hoyts direkt ins Justice Center, um seinen ersten Bericht zu diktieren. Im letzten Abschnitt befasste er sich mit dem Vorfall mit Lamar Hoyt junior, dessen Verhalten zum Teil durch den Alkohol erklärt wurde, den er konsumiert hatte, und zum Teil durch seinen intensiven Hass auf Ellen Crease.

Lamar Hoyt senior war zweiundsechzig, als er ermordet wurde. Er war ein abgebrühter Geschäftsmann, der aus den Bestattungsinstituten seines Vaters ein Imperium gemacht hatte. Junior war der einzige Spross aus Hoyts erster Ehe. Er hatte kaum das College geschafft, wo er sich mehr für Football als für seine Studienfächer interessierte. Er hatte alles Mögliche ausprobiert und in mehreren Jobs versagt, bis ihm sein Vater die Leitung der Bestattungsinstitute übertrug. Junior hatte das Stammgeschäft der Familie zwar nicht gerade zu rauschenden Erfolgen getrieben, aber er schaffte es, es profitabel zu halten. Daneben genoss er seinen Ruf als Säufer, Frauenheld und Raufbold, und er nahm es seinem Senior übel, dass er ihm eine bedeutendere Rolle in Hoyt Industries, dem väterlichen Firmenkonglomerat, verweigerte. Anthony hatte all dies von Ellen Crease erfahren, nachdem ein Beamter der Portlander Polizei Junior vom Anwesen geleitet und nach Hause gefahren hatte. Crease verachtete ihren Stiefsohn als Säufer und Schwächling.

Anthony lebte allein, also störte er auch niemanden, als er um halb drei morgens in sein kleines Haus stolperte. Lous Frau war nach zweiundzwanzigjähriger Ehe vor drei Jahren an Krebs gestorben, aber er hatte das Haus behalten, der Kinder wegen, wenn sie ihn besuchten. Der Tumor in Susans Körper war bei einer Routineuntersuchung entdeckt worden, und der Kampf um ihr Leben war heftig, aber kurz gewesen. Lous Sohn war damals im ersten Semester auf dem College, und seine Tochter war eben an der Oregon State aufgenommen worden. Er war dankbar, dass Susan mit dem Wissen gestorben war, dass beide sich gut entwickelten. Sonst gab es nicht viel, wofür er dankbar war, außer für seine Arbeit, die ihn beschäftigt hielt und von seinem Kummer ablenkte.

Nach wenigen Stunden Schlaf saß Anthony wieder an seinem Schreibtisch im Büro, ging die Abschrift seines Berichts noch einmal durch und wartete auf die Ergebnisse der forensischen Untersuchung und der Haus-zu-Haus-Befragung in der Nachbarschaft des Tatorts, die er gleich nach seiner Ankunft auf dem Hoytschen Anwesen angeordnet hatte. Von der Befragung erwartete er sich nicht viel. Vor der Mauer, die das Anwesen umgab, hatte man ein gestohlenes Auto entdeckt. Er nahm an, dass es das Fluchtauto des Einbrechers war. Dass es noch immer in der Nähe des Tatorts stand, bedeutete, dass der Täter wahrscheinlich allein gearbeitet hatte, aber man konnte nie wissen. Vielleicht hatte es einen Komplizen gegeben, der zu Fuß verschwunden war, aber Anthony konnte sich nicht so recht vorstellen, dass jemand in dem Sturm der letzten Nacht auf diesen Gedanken gekommen war, wenn ein hübsches trockenes Auto zur Verfügung stand. Die Häuser am Crestview Drive standen alle weit zurückgesetzt von der Straße, und er bezweifelte, dass ein Komplize, der sich vom Tatort davonstahl, überhaupt einem Nachbarn aufgefallen wäre. Aber es waren schon merkwürdigere Sachen passiert, und vielleicht war ja irgendein verrückter Nachbar draußen beim Joggen oder beim Gassigehen mit dem Hund.

»Lou.«

Anthony hob den Kopf und sah einen aufgeregten Leroy Dennis, der mit einem Stapel Papieren in der Hand hereinkam.

»Was hältst du davon, wenn du mich zum Mittagessen einlädst?« fragte Dennis.

»Warum sollte ich dich zum Mittagessen einladen? Als ich das letzte Mal die Spendierhosen anhatte, hast du so viel gegessen, dass ich fast Bankrott anmelden musste.«

Es war eines der großen Geheimnisse, dass Dennis essen und essen konnte, ohne ein Gramm zuzunehmen.

»Ich bin noch im Wachstum, Lou. Mein Körper braucht mehr als der des Durchschnittsmannes. Hat was mit meiner Potenz zu tun.«

»Jetzt mach mal halblang«, schnaubte Anthony, »oder gib mir wenigstens einen Grund, warum ich dir helfen sollte, Selbstmord mit einer Überdosis Cholesterin zu begehen.«

Dennis aß nicht nur wie eine Maschine, er hatte auch eine Abneigung gegen jede Nahrung, die nur entfernt gesund war.

»Hier ist der Grund«, sagte Dennis und schüttelte die Dokumente in seiner Hand.

»Was ist das?«

»Mm-mm. Kein Essen, keine Fakten. Verdammt, ich bin so hungrig, dass ich glatt dieses außergewöhnlich gute und schwer zu findende Beweismaterial hier verputzen könnte.«

Anthony lachte. »Du bist wahrscheinlich das größte Arschloch im ganzen Büro, Leroy, aber ich wollte sowieso bald zum Essen gehen.«

Anthony stand auf und ging zum Schrank, um seinen Regenmantel zu holen. Dennis folgte ihm.

»Und, was hast du?« fragte er.

»Den Namen unseres Täters«, antwortete Dennis, und seine Stimme klang plötzlich wieder ernst. »Ich habe die Fingerabdrücke des Einbrechers durchs AFIS laufen lassen«, erklärte Dennis und meinte damit das Automatisierte Fingerabdruck-Identifikationssystem, ein Computerprogramm, mit dem man unbekannte Fingerabdrücke mit den in den Dateien des FBI-Rechners gespeicherten Abdrücken vergleichen konnte. »Vor einer Stunde haben wir einen Treffer gelandet.«

»Und wen haben wir?«

»Martin Jablonski. Einschlägig vorbestraft. Bewaffneter Überfall, Körperverletzung, Einbruch. Er wurde vor Acht Monaten auf Bewährung aus dem Oregon State Prison entlassen, wo er wegen eines brutalen Hauseinbruchs seit sechs Jahren einsaß. Hat einem älteren Ehepaar mit der Pistole eins übergezogen. Ich habe mit seinem Bewährungshelfer gesprochen. Jablonski lebte angeblich mit seiner Frau, Conchita Jablonski, und seinen zwei Kindern in einer Wohnung an der Martin Luther King in der Nähe der Burnside Bridge. Seit seiner Entlassung war er arbeitslos und hat sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten.«

»Der Staatsanwalt soll einen Antrag auf einen Durchsuchungsbefehl stellen, und wenn wir den haben, wollen wir der kleinen Frau einen Besuch abstatten«, sagte Anthony.

Dennis grinste. »Was glaubst du denn, was ich die letzte Stunde gemacht habe? Ich bin dir um zwei Schritte voraus. Sondra Barrett hat den Schein bereits in Arbeit. Sie bringt ihn gleich nach dem Mittagessen zu einem Richter. Und, gehen wir jetzt?«

 

Anthony parkte das Auto vor einem alten Backsteingebäude wenige Blocks von der Burnside Bridge entfernt. Die Jablonskis wohnten im dritten Stock. Als sie die Treppe hochstiegen, jammerte Dennis über das Fehlen eines Aufzugs und den entsetzlichen Gestank im Treppenhaus.

Der dritte Stock war schlecht beleuchtet. Das Tageslicht musste sich seinen Weg durch ein schmutzstarrendes Fenster am Ende des Gangs bahnen und war so fahl, dass nur noch ein trübgelber Schein übrigblieb. Die Glühbirnen an der Decke waren entweder kaputt oder so schwach, dass Anthony sich fragte, warum der Hausmeister sie überhaupt eingeschaltet hatte.

Die Wohnung der Jablonskis hatte keine Klingel, und so hämmerte Anthony mit fleischiger Hand gegen die Tür und bellte: »Mrs. Jablonski«, während er lauschte, ob drinnen eine Bewegung zu hören war. Nach dem dritten Versuch vernahm Anthony ein nervöses »Wer da?« von der anderen Seite der Tür.

»Ich bin Detective Anthony von der Portlander Polizei, Mrs. Jablonski.«

»Ich will nicht mit Ihnen reden«, entgegnete Conchita Jablonski. Ein starker spanischer Akzent färbte ihre Stimme. »Gehen Sie weg.«

»Was?«

»Ich hab gesagt, ich will mit keinem Bullen nich’ reden. Lassen Sie mich in Ruh.«

»Tut mir leid, Mrs. Jablonski, aber Sie haben keine andere Wahl. Ich habe einen Durchsuchungsbefehl. Wenn Sie die Tür nicht öffnen, lasse ich den Hausmeister mit dem Nachschlüssel kommen. Es geht um Ihren Gatten.«

Kein Laut drang aus der Wohnung. Nach dreißig Sekunden Stille wandte Anthony sich an Dennis. »Wart hier, während ich den Schlüssel hole.«

Dennis nickte. Anthony wollte eben zur Treppe gehen, als er das Schloss aufgehen hörte. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Conchita Jablonski starrte Anthony durch die Lücke an. Die Sicherheitskette war noch vorgelegt. Anthony hielt seine Marke in die Höhe, damit Mrs. Jablonski sie durch den Spalt sehen konnte.

»Das hier ist Detective Dennis«, sagte Anthony und zeigte über die Schulter. Dennis lächelte sie freundlich an, aber Mrs. Jablonski betrachtete die Männer weiter argwöhnisch. »Wir müssen mit Ihnen über Martin reden.«

»Wozu denn?«

»Dürfen wir bitte eintreten? Ich will über Ihre Privatangelegenheiten nicht hier im Treppenhaus reden, wo alle Nachbarn es hören können.«

Mrs. Jablonski zögerte. Dann schloss sie kurz die Tür und nahm die Sicherheitskette ab. Augenblicke später ging die Tür auf, und Dennis folgte Anthony in die Wohnung.

Es war eine kleine Wohnung, zwei schmale Schlafzimmer, ein kleines Wohnzimmer und eine winzige Kochnische, die vom Wohnzimmer durch eine niedere Anrichte abgetrennt war. Doch beide Detectives waren beeindruckt, wie sauber Conchita Jablonski diese Wohnung hielt. Ihre beiden Kinder drängten sich in der Tür zu einem der Schlafzimmer. Sie sahen gut gepflegt aus. Ein Junge und ein Mädchen, beide sechs oder sieben, mit großen Augen, brauner Haut und weichen schwarzen Haaren.