Achte gut auf diesen Tag,

denn er ist das Leben –

das Leben allen Lebens.

In seinem kurzen Ablauf liegt alle seine

Wirklichkeit und Wahrheit des Daseins,

die Wonne des Wachsens,

die Größe der Tat,

die Herrlichkeit der Kraft.

Denn das Gestern ist nichts als ein Traum

und das Morgen nur eine Vision.

Das Heute jedoch, recht gelebt,

macht jedes Gestern

zu einem Traum voller Glück

und jedes Morgen

zu einer Vision voller Hoffnung.

Darum achte gut auf diesen Tag.

Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī

Liebe Marie,

du ziehst jetzt in die weite Welt und ich freue mich für dich. Wie du dir vielleicht denken kannst, fällt es mir aber auch schwer, dich gehen zu lassen. Du und dein lautes Lachen werden mir fehlen und deine besonderen Kochkreationen. Unsere Kuschelstunden auf dem Sofa, wenn wir Weibergespräche geführt haben, werde ich vermissen und selbst das Chaos, das du überall in unserem Häuschen verbreitet hast, fehlt mir schon jetzt.

Nun, da du auf eigenen Füßen stehen wirst, wollte ich dir etwas mitgeben: Ich habe vor vielen Jahren einen ganz besonderen Tag erlebt, der mein Leben umgekrempelt hat. Hätte es diesen Tag nicht gegeben, wäre alles ganz anders (und sicher nicht besser) gekommen. Ich bin auch jetzt, wenn ich das hier schreibe, noch so dankbar für diesen Tag, dass mir die Tränen kommen. Lies einfach das kleine Buch, das ich dir mitschicke, lass dich mitnehmen und achte gut auf diesen Tag.

Inhaltsverzeichnis

I

Brich mal wieder aus deinem Leben aus
und trau dich was.

Wo ist denn hier die Schuhabteilung, fragte ich mich mit Blick auf die Uhr. Ich liebte dieses Kaufhaus mit seinen sensationell gestalteten Stockwerken – jedes in einem anderen Design und einer anderen Farbwelt. Es war allein ein Genuss, die Rolltreppe in der Mitte mit dem vielen Freiraum nach oben zu fahren. Wenn ich hier gefühlt hochschwebte, hatte ich jedes Mal das Gefühl, es wäre alles gut, oder zumindest, es könnte alles gut werden. Finn, mein ach so sparsamer Göttergatte, meinte neulich, hier sei sicher alles 20 Prozent teurer. Das war mir jetzt gerade mal egal. Heute war einer dieser bescheuerten Tage, heute musste ich mir etwas gönnen!

Die Kinder hatten uns schon um halb sechs aus dem Bett geworfen, weil Lasse Marie „als Experiment“ ein Büschel Haare ausgerissen hatte – im Schlaf, damit sie’s nicht merkt. Das Büschel hielt er noch wie eine Trophäe in der Hand. Marie hatte ihm daraufhin seine heiligen Pokémon-Karten zerschnitten. Es war ein unglaublicher Kraftakt gewesen, die beiden überhaupt in Kindergarten und Schule zu verfrachten. Dann hatte ich schon eine Runde Großeinkauf bei Aldi und im Bauhaus hinter mir. Immer auf der Suche nach den günstigsten Produkten. Ja, wir mussten aufs Geld schauen, damit wir die Raten immer schön weiterbezahlen konnten. Jawoll, mein Göttergatte und ich arbeiteten hart für unser grandioses Reihenhäuschen in einem Vorort von Frankfurt, den man nicht mit Namen kennen musste.

Ich schaute auf die Uhr. Eine halbe Stunde blieb mir noch, bevor ich Lasse vom Kindergarten und Marie von der Schule abholen musste. Ich war mir nicht sicher, ob das Theater nicht heute Mittag weitergehen würde. Und ich brauchte dringend Schuhe. Meine ausgelatschten Rieker machten jedenfalls nicht mehr viel her – okay, hier war ich richtig. Damenschuhe, soweit das Auge reichte. Ich nahm mir fest vor, diesmal keine bequemen Treter zu kaufen. Dieses Mal würde ich Schuhe kaufen, die ich tragen würde, wenn alles und vor allem ich ganz anders wäre. „Haben Sie den auch in 41?“, fragte ich und hielt einen hellblauen Stiletto hoch. Die Verkäuferin lächelte müde und machte sich auf die Suche. Ja, ich weiß, 41 war schon am Rande der Norm, aber konnte ich etwas dafür, dass ich mit meinen 1,60 Metern Schuhgröße 41 hatte?

Oh Gott, hier, der wär’s!, seufzte ich innerlich. Dieser D’Orsay sah nicht nur elegant aus, es fühlte sich an wie nach Hause kommen, als er sich ganz mühelos und zärtlich an meinen Fuß schmiegte. 269 Euro? Ja hatten die sie noch alle? Wer konnte sich denn das leisten? Ich beschloss, mir dennoch den zweiten bringen zu lassen, heute war mein Schuhtag, basta. „Könnten Sie mir bitte hier noch den anderen bringen? Ach, den Hellblauen gibt es nicht mehr in 41, wie schade! Aber diesen hier, den gibt es in 41, das weiß ich ganz bestimmt!“ Ich schaute der Verkäuferin hypnotisierend in die Augen, keine Ahnung, vielleicht half das. Sie drehte genervt auf ihrem Slingback um und machte sich wieder auf den Weg. Derweil bewunderte ich die mattschimmernde Oberfläche des weiß-roséfarbenen Schuhs. Sah aus wie der Lotus-Lack, den Finn bei unserem nächsten Auto unbedingt haben wollte. War sicher auch kindertauglich, weil der Dreck ja abperlte, haha.

Hier wären noch ein paar funktionalere Chelseas, damit konnte ich auch mal mit Lasse Fußball spielen, aber irgendwie hatte ich mich heute in den D’Orsay verguckt. Damit durch Paris flanieren, das wäre ein Traum. Aber mein Paris-Gutschein von vor zwei Jahren von Finn schlummerte immer noch geduldig in der Schublade. Entweder meine Eltern hatten keine Zeit, die Kinder zu nehmen oder Finn musste mal wieder am Samstag eine Extraschicht einlegen. So wurde das nie etwas – auch nicht mit unserer Ehe. Wo bleibt die Verkäuferin denn nur, stöhnte ich, ich musste los. Verflixt, ich kam eh schon zu spät. Ah, da kam sie endlich – und jaaa! Sie hatte meinen Schuh in der Hand, sie trug ihn wie eine Trophäe vor sich her. So heilig ist er jetzt auch wieder nicht, oder doch?, dachte ich. An ihren Schuhen sollst du sie erkennen, stand das nicht schon in der Bibel?

„Bitte sehr, Ihr Schuh. Sie haben gesehen, dort finden Sie die Strümpfchen, bitte nicht barfuß unsere Schuhe anprobieren.“

„Ja, kein Problem, vielen Dank.“

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Nein danke, ich komme schon zurecht.“ Nach unserem kurzen Wortwechsel stöckelte die Verkäuferin davon mit ihrer Konfektionsgröße 36 und den farblich zum Kostüm geschminkten Lippen. Na ja, man konnte einfach nicht alles haben. Aber ich hatte diesen D’Orsay, der echt ein Traum, aber definitiv zu teuer war. Auch im Spiegel sah er wirklich gut aus an meinem Fuß. Nur die „Strümpfchen“ störten das Bild. Ich musste ihn einfach mitnehmen, auch wenn es nicht vernünftig war.

Wo ist sie denn, die Dame? Ach, Schwätzchen halten, na klar, ist ja sonst auch zu langweilig hier. Soll ich? Da ist doch keinerlei Teil dran, was piepsen wird, oder doch? Hilfe, ich hab noch nie was geklaut – aber warum eigentlich nicht! Irgendwie sind das meine Schuhe, auch wenn gerade Ebbe in der Kasse ist. Gell, ihr wollt zu Mamanina – habe ich doch gewusst. Meine Gedanken rasten wie eine Affenbande hin und her, mein Herz klopfte schneller und ich fühlte, wie mir die Hitze ins Gesicht kroch. Was tat ich denn da, war ich noch bei Trost? Aber als würde ich auf Autopilot fahren, schaute ich nach rechts und links, niemand schien mich zu beobachten – und versenkte die Schuhe in meiner Großraum-Handtasche. Endlich wusste ich, wozu ich immer so einen Monster-Shopper mit mir herumschleppte.

Mit inzwischen bis zum Hals pochenden Herzen stiefelte ich in meinen alten Schuhen so schnell wie möglich in die entgegengesetzte Richtung zum Ausgang. Den Karton hatte ich noch unauffällig ins Regal geschoben, in der Hoffnung, dass die Dame so stark in ihr Gespräch involviert war, dass sie keinen Verdacht schöpfte. Gleich war ich draußen, jetzt wurde es aber auch höchste Zeit, die Kinder warteten vermutlich schon. Als Kind war es sicher demütigend, wenn man als letztes abgeholt wurde, so als wollte einen keiner haben.

Was war denn das für ein Geräusch? Oh Gott, meine Schuhe hatten doch was drin! Ich schimpfte mit mir: Das kommt eben davon, wenn man keine Ahnung von Technik hat, sicher so ein Chip. Und was sollte ich jetzt machen? Ich blickte mich wie ein gehetztes Reh nach einem Fluchtweg um. Doch da kam bereits ein freundlich lächelnder Herr der Security auf mich zu, erkennbar an seiner adretten Uniformjacke.

„Dürfen wir einen Blick in Ihre Tasche werfen, sicher handelt es sich um ein Missverständnis?“

Ich nickte ergeben, während sich mir vor Scham alle Körperhärchen aufstellten und ich spürte, wie die brennende Hitze in mein Gesicht stieg. Er hob eine Augenbraue, als er die weiß schimmernden Schuhe entdeckte. Diese leuchteten verräterisch wie ein Fremdkörper aus den Untiefen meiner Tasche heraus. Sein Blick war nun nicht mehr freundlich.

„Ich muss Sie bitten mitzukommen, außer Sie haben einen Kassenzettel?“

„Entschuldigen Sie, ich habe es wirklich eilig und müsste in dem Moment meine Kinder abholen. Hier ist meine Kreditkarte, können wir das nicht einvernehmlich regeln?“ Schon während ich es aussprach, fand ich mich selbst ganz unausstehlich. Aber ich hatte es wirklich eilig. So ein Mist, was hatte ich mir nur dabei gedacht? Und das jetzt noch Finn erzählen, und wenn die Kinder es mitbekamen, während Muttern täglich versuchte, ihnen Anstand und Ehrlichkeit beizubringen, Hilfe! Am liebsten hätte ich meinen Kopf gegen eine Wand geschlagen, wie konnte ich nur so bescheuert sein!

Der Security-Mann nahm mich am Arm, drückte ein wenig das Fleisch über meinem Ellbogen zusammen, genauso wie ich mir das immer in den Filmen vorstellte. Musste das sein? Ich versuchte, mich unauffällig zu befreien, aber er drückte gleich fester. Die Vorstellung war doch lächerlich, dass ich davonrennen würde. Sah doch jeder, dass ich nicht gerade sportlich war mit meinen zehn Kilo zu viel auf den Rippen. Da blieb mir nur, meine letzte Würde zusammenzukratzen. Ich richtete mich auf und hielt meinen Kopf so gerade ich konnte und sah nicht nach links und rechts. Sicher musterten uns bereits die ersten Gaffer. Ich würde auch diese megapeinliche Situation überleben. Ich war schließlich eine gestandene Frau, die schon vieles im Leben überlebt hatte.

Oh nein, vielleicht musste Finn mich hier abholen, oder sie riefen sogar die Polizei? Vielleicht verlor ich sogar meinen Job, sowas konnte schon zu einer Kettenreaktion

führen, die mein Leben total aus der Bahn werfen würde! Aber welches Leben eigentlich? Die Gedanken rasten wie ein Hochgeschwindigkeitszug durch meinen Kopf, während wir im gläsernen Aufzug nach oben fuhren. Zwölf Stockwerke hatte dieses Kaufhaus. Sonderbar, von außen kam es mir viel niedriger vor.

II

Nimm dankbar an, was das Leben dir in den Weg
stellt und an Möglichkeiten bietet.

Wir traten aus dem Aufzug. Hier befanden sich keine Verkaufsräume mehr, aber die Flure und abgehenden halb offenen Räume wirkten noch schicker als unten. Wenn ich könnte, würde ich am liebsten versinken mit meiner leicht angeschmuddelten Jeans. Sicher roch ich inzwischen auch nach kaltem Angstschweiß. Ich passte hierher wie eine billige Leuchtreklame in einen Zen-Garten. Der Mann bat mich, durch eine dunkelgraue Rauchglastür zu treten. Spöttisch sagte er: „Hier, die Dame möchte zu Ihnen. Ich überlasse sie Ihren zauberhaften Händen.“ Hinter dem Schreibtisch saß eine elegante Frau, die nun von ihrem Laptop aufschaute und mich kurz prüfend, aber nicht unfreundlich musterte. „Danke, Henning, Sie können gehen.“

Er nickte und drehte ab. Ließ es sich aber nicht nehmen, mir noch mal kurz in den Arm zu zwicken!

Die Dame stand auf und gab mir die Hand. Ihr Händedruck fühlte sich fest und trocken an. Dieser Hand kann man vertrauen, dachte ich. Tja, mir leider nicht mehr. Ich war jetzt eine Diebin Hatte ich schon ganz vergessen, weil hier alles so schick war. Ich schaute ihr ein wenig trotzig in die Augen oder wollte es zumindest tun Eigentlich war mir aber gar nicht wohl in meiner Haut.

„Lassen Sie doch mal sehen“, sagte sie. Und ich wusste sofort, was sie meinte. Ich reichte ihr die D’Orsays, die man mir interessanterweise nicht abgenommen hatte. „Gute Wahl“, nickte sie, „aber überteuert.“ Fast hätte ich gegrinst.