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© 2019 Brigitte Vollenberg, Britt Glaser, Dirk Juschkat, Harald Landgraf Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7504-7541-0

Inhalt

Vorwort

Das Buch ist das Ergebnis eines Literaturprojektes der Gladbecker Autorin Brigitte Vollenberg, der Autoren Harald Landgraf, Dirk Juschkat und der Autorin Britt Glaser aus Oer-Erkenschwick. Idee war, anlässlich des 100. Geburtstages der Stadt Gladbeck ein literarisches Werk zu schaffen, das Gegenwart und Geschichte zusammenfließen lässt, als wäre es aus einem Guss.

So wurde mit Ludolfus de Witteringe eine historische Figur gefunden, die das ermöglichte. Was wäre, wenn er damals, vor etwa 800 Jahren, zu einem literarischen Fest eingeladen hätte und man aus der Jetztzeit in die Vergangenheit reisen könnte? Mit diesem Gedanken-Experiment war die Grundlage gelegt, ein großartiges Projekt mit literarischen Einzelleistungen zu beginnen. Das Resultat dieser liebevoll für Gladbecker geschaffenen Gemeinschaftsarbeit halten Sie nun in Ihren Händen.

Da über die historische Figur des Ritters, dem wohl einstigen Erbauer des Hauses und heutigen Schlosses Wittringen, nicht wirklich viel bekannt oder geschichtlich überliefert ist, waren der Fantasie Tür und Tor geöffnet. Klar, dass alle in den Episoden geschilderten Einzelheiten frei erfunden sind, aber tatsächlich auch hätten passieren können …

Das Schöne daran ist, dass im Nachhinein Ludolfus den Autoren ans Herz gewachsen ist.

Die fantastischen
Geschichten des
Ludolfus de Witteringe

Trällernd zogen Alex und Micha zum Mittelalterfest, zeitgemäß mit Pelzwesten und mittelalterlichen Hosen bekleidet. An ihren Ledergürteln trugen sie Ledertaschen und Trinkhörner. Schon auf dem Weg stießen sie mit ihren Hörnern an, in die sie zuvor Met gefüllt hatten. Kurz dahinter folgten ihre Freundinnen Claudia und Isabelle in langen, farbigen Röcken. Dazu passten blaue und rote Blusen mit Schnürung. Ihre Bundhauben ließen sie lässig vom Hals herabhängen. Zusätzlich trugen sie schicke Perlenketten. Sie redeten über ihre Arbeit. Doch nun war ”brutal Freizeit” angesagt. So nannten sie es. Natürlich waren sie nicht die einzigen auf dem Weg zum Mittelalterfest. Zahlreiche Menschen in langen Gewändern, teils mit Kapuzen und Helmen oder mit Requisiten wie Schilde und Schwertern, strömten zum Schlosshof Wittringen.

Was Alex und Claudia, Micha und Isabelle nicht wussten, war, dass sich andere vor rund 800 Jahren auch schon zu den sommerlichen Lesungen auf der Burg getroffen hatten, auf Einladung von Ludolfus de Witteringe. Auf der Brücke zum Schloss an der Burgstraße stand ein großer Bilderrahmen mitten im Weg, was die vier schon von Weitem sahen.

In nächster Nähe spiegelten sie sich darin. Auf einem Aufsteller stand geschrieben: „Der Weg zum Feste erfolgt durch diesen Spiegel.“

„Das klingt ja komplett sinnfrei“, tönte Alex.

„Als wenn es ein Zauberspiegel wäre.“

„Wär aber cool“, sagte Claudia.

„Wenn man hindurchgehen kann, obwohl man sich selbst drin sieht, dann ist das echt abgefahren gemacht“, kommentierte Micha, der schon mal mit seinem Fuß in den Rahmen hinein stupste.

Da andere schon von hinten drängten, sie teils überholten und einfach durchgingen, stellten sie sich etwas abseits.

„Na, die anderen gehen auch alle durch“, sagte Isabelle. „Ist wohl nur ein Trick.“

Neben dem Aufsteller stand noch ein Beistelltisch, darauf abgelegt waren Flyer zum Fest und auch Infos zum Spiegel, der wohl aus dem Jahr 1219 stammte.

Gefunden wurden seine Scherben im Schlamm des Schlossteichs schon vor vielen Jahrhunderten. Ausgegraben, gereinigt und wieder zusammengesetzt, doch dann mit Tüchern verhüllt im Magazin des Hauses an eine Wand gestellt, hinter einen Bauernschrank. Später wiederentdeckt durch Heimatforscher, die allerdings zu schweigen hatten über die geheimnisvolle Kraft, die er in sich trug. Niemals hatte er der Öffentlichkeit präsentiert werden dürfen. Die Funktion: Immer dann, wenn sich das Fest der sommerlichen Lesung zum 100. Male jährte und die Sonne stark genug schien, dann kann man durch ihn durchschreiten, obwohl man sich darin spiegelt.

Natürlich hielten die vier den gesamten Text für einen PR-Gag und glaubten dem Ganzen nicht. Sie beschlossen, den anderen zu folgen und gingen durch den Spiegel und spürten … gar nichts.

Alle anderen Menschen, die sie trafen, verhielten sich auch völlig normal, begaben sich auf den Schlosshof, nahmen Getränke an den mittelalterlichen Schankbuden zu sich, aßen vor Ort gebackenes Brot und geräucherten Fisch.

Ludolfus de Witteringe trat vor die Herrschaften, sprach nach einigen Sätzen der Danksagung an alle angereisten Ritter und Gefolgsleute, edlen Damen und interessierten Bürgern ein großes Willkommen aus. Und begrüßte insbesondere seine Verwandten aus Horst, die es ja erst möglich gemacht hatten, dass er an diesem Ort seine Festung, wie er es nannte, hatte errichten können.

„Echt authentisch gemacht“, sagte Alex. „Ja, als wären wir im Mittelalter gelandet“, stimmte Micha zu. Claudia nickte ebenfalls: „Auch super edle Stoffe, was der anhat, war bestimmt nicht billig, sich das alles anfertigen zu lassen.“

„Von der Stange ist das nicht“, meinte Alex. „Ich lass mal die Hörner füllen“, Micha stupste Alex in die Seite, um dessen Horn entgegenzunehmen und zog zum Metstand.

Inzwischen ging die Rede Ludolfus weiter. „... und gerade als Freund der hohen Kunst der Literatur freue ich mich insbesondere, die zahlreichen Erzähler und Dichter, die von Eschenbache und Vogelweides, auf diesem Feste ankündigen zu dürfen. Sicher werden auch wieder einige Texte dabei sein – so kenne ich doch meine lieben Freunde aus nah und fern – Texte dabei sein, die mich aufs Korn nehmen, aber ha, ha, ha …, ihr wisst ja, dass es mir nichts ausmacht. Nur passet auf, dass euch die Schriften nicht verloren gehen, sie sollten für die Nachwelt ...“

Ein Schneider und eine Magd standen beieinander und tuschelten, als sie Ludolfus reden hörten. „Sicher erzählt er jetzt wieder von der Zukunft, von irgendwelchen Maschinen, die das Schreiben übernehmen“, sagte der Schneider. „Gut, dass ich das Schneiderhandwerk ausübe, das wird so leicht keine Apparatur übernehmen können.“

„Ja, er redet viel und hat eine große Fantasie“, entgegnete die Magd. „Erinnern Sie sich noch an die Geschichte mit den Vögeln? Als Ludolfus auf Vögeln durch die Lüfte segeln wollte wie mit dem Pferd übers Land?“

„Hihi, jah“, sagte der Schneider und lachte.

„Und die Pferde werden auch bald Apparaturen sein!“

„Genau, haha, alles nur noch Apparaturen.“

„Bald präsentiert er uns die Schrift: Ludolfus Apparaturen.“

„Genau, haha.“

Claudia knuffte Alex in die Seite. „Heee, was stößt ihr mich denn heute alle an?“ „Ganz schön anstößig hier“, feixte Isa und grinste sardonisch.

Claudia begann zu erzählen: „Weißt du, was die beiden da drüben, … dreh dich jetzt nicht um …, gerade erzählt haben? Der eine hat 'ne große Schere dabei, scheint sich als Schneiderlein verkleidet zu haben und die andere ist 'ne Magd. Aber beide sind komplett plemplem, die tun so, als kennen die diesen Ludolfus wirklich, haben die hier Walking Acts im Publikum, die Mittelalter spielen?“

Applaus brandete auf, Ludolfus hatte seine lange, einleitende Rede beendet und der erste mit ihm sehr gut befreundete Dichter betrat den Mittelpunkt auf dem Schlosshof, entrollte mit stolzer Brust und vollem Selbstbewusstsein ein Pergament, von dem er rhythmisch seine Verse ablas.

Der Spiegel | Dirk Juschkat

Gestern, heute, jede Zeit,

Zukunft und Vergangenheit:

alles werden Menschen sehen,

die durch diesen Spiegel gehen.

Und vom Strahl der Macht getroffen

bleiben keine Fragen offen.

Ritter, Mägde, Herren, Damen,

die zu einem Zweck nur kamen,

um der Worte Laut zu frönen,

die in kunterbunten Tönen

von Ereignissen berichten,

manchmal sogar in Gedichten.

Er vereint hier alle Leute,

die von damals und von heute,

schickt gemeinsam sie zur Feier,

Witteringe, Schmitz und Meier,

und so lauschen sie den Werken,

ohne Zauber zu bemerken.

Nur den Leser dieser Seiten

wird das Wissen stets begleiten,

welches bitte nachzusehen,

um den Anlass zu verstehen,

so ein Buch von uns zu schreiben,

es nicht konnten lassen bleiben.

Gladbeck feiert – Hundert Jahre

sind wir Stadt und eine wahre

Perle ist das Wasserschloss,

dem Ludolfus einst entspross.

Und um beides zu verbinden,

mussten wir den Spiegel finden …!

Der Dichter verbeugte sich nach diesem Vortrage, woraufhin das Publikum hocherfreut laut zu klatschen begann. „Unglaublich.”

„Bravo!”

„Mehr davon!”, war zu hören.

Auch Ludolfus, der gastgebende Moderator, war sichtlich gerührt bis entzückt.

„Am besten finde ich diese Schmitz und Meier”, verkündete er lauthals.

„Wieviel Met muss man getrunken haben, um auf solche Einfälle zu kommen. Ho, ho. Aber Spaß beiseite. Wir wollen mehr Geschichten hören, am besten etwas über die Zukunft, über Maschinen und Kutschen ohne Pferde …“

Inzwischen war Micha vom Brauereiwagen mit gefüllten Hörnern zurückgekehrt: „Hey, der hat mein Geld nicht angenommen und mich echt gefragt, aus welchem Land ich komme.“ Micha tippte mit seinem Zeigefinger auf seine Stirn. „Ich sagte, ich komme aus Gladbeck. Er fragte, habt Ihr von Gladebeke eigene Münzen?“

„Ja, schon gehört“, sagte Alex. „Sowas hat Claudia auch schon erzählt. Alles Walking Acts hier, gekaufte Schauspieler, Stand-in-Doubles. Wie bist du dann an das Bier gekommen?“

„Zahlt alles dieser Ludolfus, wurde mir gesagt, kommt mir mittlerweile zu mittelalterlich vor, das Ganze.”

„Ich besorge uns mal Wein”, sagte Claudia zu Isabelle, „war ja klar, dass unsere Typen nur zwei Hände haben.”

„Lass die mal, die fahren jetzt schon voll ihren Film”, sagte Isabelle. „Und bringst du mir ein Quell-Wasser mit, einer muss, glaube ich, bei klarem Verstand bleiben.“

Und eh sie sich versahen, trat der nächste Schriftsteller in den Schlosshof, um seine Auszüge zu präsentieren. Gleich sollte es spannend werden.

Die zweite Chance | Britt Glaser

„Muss es denn wirklich sein?“, fragte Hildegard mit erstickter Stimme. „Gibt es denn keinen anderen Weg?“

„Ihr könntet zusehen, wie euer Hab und Gut sich in alle Winde verstreut, er ist nun mal ein …“

„Aber muss er denn gleich getötet werden?“, unterbrach sie den Geistlichen.

„Nun lasst doch euren Verstand walten! Ludolfus ist ein Träumer! Ein Taugenichts! Niemals schafft er es, alles zu verwalten. Bei der ersten Gelegenheit würde man ihn übers Ohr hauen. Ihr würdet alles verlieren. Am Ende steht ihr ohne irgendwas da. Ihr seid eine Witwe und denkt an euren zweiten Sohn. Denkt an den kleinen Leonhard, er soll doch ein schönes Leben haben.“

„Aber Ludolfus soll deshalb sterben?“, fragte Hildegard und schluchzte.

Der Geistliche legte eine Hand auf ihre Schulter und flüsterte:

„Er wird nichts spüren.“

„Wirklich nicht?“

„Er wird einfach nur einschlafen, ich verspreche es.“

„Oh Gott im Himmel, was tue ich nur?“, sprach die Mutter und schluchzte.

„Ich werde euch Halt geben und wie bisher bei allen Geschäften helfen.“

Hildegard hielt sich die Hände vors Gesicht und weinte.

„Gebt mir ein paar Tage Zeit, dann ist es vorbei. Ich helfe euch bei allem und wir verwalten die Burg. Der kleine Leonhard kann dann ungestört heranwachsen.“

Ludolfus tüftelte schon den ganzen Tag. Er schloss den großen Topf, der über dem Feuer hing, mit einem Deckel. Das siedende Wasser hob von Zeit zu Zeit den Deckel und schwappte aus dem Topf ins Feuer. Es zischte jedes Mal laut und der Wasserdampf stieg empor. Ludolfus besah das Spektakel von allen Seiten. Hockte sich vor die Feuerstelle und stützte den Kopf mit seinen Händen. Er murmelte etwas vor sich hin. Die Köchin lief mit einem Korb voll Gemüse an ihm vorbei und meinte: „Na, Ludolfus, bist du wieder in Erfinderlaune?“

„Ach Agnes, es muss doch für etwas gut sein, wenn das Feuer solche Kraft hat und sieh nur, was passiert, wenn das Wasser ins Feuer fällt.“

„Ich schaue lieber, was das Mahl für heute Abend macht“, sagte Agnes und strich Ludolfus liebevoll über den Kopf.

„Wenn du vorher schon hungrig bist, schau in der Küche vorbei, hörst du?“

Ludolfus murmelte etwas Unverständliches, was wohl ein „Ja, ist gut“ heißen sollte.

Die Küchenhilfe nahm Agnes den Korb ab und sprach:

„Dieser Ludolfus, immerzu auf der Suche nach neuen Erfindungen!“

„Ja, das ist er. Aber so ist es besser, als wenn er nur über den Tod seines Vaters nachdenkt.“

„Das sehe ich genauso, doch es gibt auch böse Zungen, die behaupten, Ludolfus ist nicht fähig, die Burg zu führen. Jetzt nach seines Vaters Tod.“