Winter, Weihrauch, Wasserleiche

Paula Telge

Winter, Weihrauch, Wasserleiche

24 Weihnachtskrimis -
Von Amrum bis Hallstatt

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Paula Telge

Im Knaur Verlag sind bereits folgende Weihnachtskrimi-Anthologien erschienen:

 

Maria, Mord und Mandelplätzchen

Glöckchen, Gift und Gänsebraten

Süßer die Schreie nie klingen

Stollen, Schnee und Sensenmann

Türchen, Tod und Tannenbaum

Plätzchen, Punsch und Psychokiller

Kerzen, Killer, Krippenspiel

Makronen, Mistel, Meuchelmord

Lametta, Lichter, Leichenschmaus

Rentier, Raubmord, Rauschgoldengel

 

 

 

Über die Herausgeberin:

Paula Telge, aufgewachsen in Mülheim an der Ruhr, absolvierte eine Ausbildung zur Medienkauffrau Digital und Print und studierte Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Sie arbeitet in der Verlagsbranche.

Alle Jahre wieder

Kommt die Grausamkeit

Auf die Erde nieder,

Und bringt uns allen Leid;

Kehrt mit ihrem Schauer

Ein in jedes Haus,

Geht auf allen Wegen

Mit uns ein und aus;

Ist auch mir zur Seite

Still und unerkannt,

Dass sie treu mich leite

An der bösen Hand.

Andreas Eschbach

Die Engel vom
Stuttgarter Hauptbahnhof

Stuttgart

Über den Autor

Andreas Eschbach, Jahrgang 1959, schreibt seit seinem 12. Lebensjahr. Er studierte Luft- und Raumfahrttechnik und arbeitete zunächst als Softwareentwickler. Bis 1996 Geschäftsführer einer IT-Beratungsfirma, lebt er seit 2003 als freier Schriftsteller in der Bretagne. Er ist verheiratet und hat einen Sohn. Zu seinen bekanntesten Romanen zählen Das Jesus-Video, Die Haarteppichknüpfer, Eine Billion Dollar, Ausgebrannt, Herr aller Dinge und NSA.

Die tote Frau lag im Gästezimmer, direkt unter einer Radierung, die den Stuttgarter Fernsehturm zeigte. Das weißblonde Haar war am Hinterkopf verklebt von getrocknetem Blut. Auf dem Nachttisch stand ein Adventskranz mit elektrischen Kerzen.

»Er hat sie mit dem Schürhaken erschlagen«, fasste Bäumle die Ergebnisse der bisherigen Ermittlungen zusammen. »Nicht hier, unten im Wohnzimmer. Das Blut verschwindet optisch im Teppichmuster, aber wenn man genauer hinschaut, sieht man es noch deutlich. Wir haben seine Fingerabdrücke auf dem Schürhaken, und die hintere Tür ist aufgebrochen. Fußtritt von außen.«

»Verstehe.« Der Kommissar nickte sinnend, sah sich um. Die Tür des Gästezimmers war verschlossen gewesen, der Schlüssel verschwunden; man hatte sie aufbrechen müssen.

»Der Name des Opfers ist Regula Walz. Die Mutter von Frau Astenberg. Einundsiebzig Jahre alt, seit neun Jahren verwitwet, war über Weihnachten zu Gast.«

Und kalt war es hier drinnen! Beide Fenster standen weit offen, ließen die Dunkelheit des Gartens herein und die winterliche Nachtluft.

»Ergibt ein ziemlich eindeutiges Bild«, fuhr Bäumle eifrig fort. »Ein obdachloser Mann will auch mal Weihnachten feiern wie andere Leute. Er wartet, bis die Astenbergs das Haus verlassen, um zur Kirche zu gehen, dann dringt er ein. Bedient sich in der Küche und verzieht sich anschließend mit der Weinflasche ins Wohnzimmer. Von all dem Lärm wacht die Schwiegermutter auf, von deren Anwesenheit er nichts weiß. Ihr war nicht wohl, sie hat sich früh hingelegt, kommt aber nun herunter und überrascht ihn. Er erschlägt sie, räumt sie weg, lässt sich jedoch nicht weiter stören. Er duscht, kleidet sich aus dem Kleiderschrank des Hausherrn neu ein und macht es sich dann seelenruhig vor dem Kamin gemütlich.«

»Wie heißt der Mann eigentlich?«, fragte der Kommissar.

Bäumle konsultierte sein Notizbuch. »Bode, Eberhard Bode. Ist auch aktenkundig, aber an die Details komme ich heute erst, wenn wir zurück im Büro sind.«

»Ja, Heiligabend haben wir uns wohl alle anders vorgestellt«, meinte der Kommissar und spähte in den Flur hinaus. Außer dem Gästezimmer gab es hier oben nur zwei Arbeitszimmer; beide Astenbergs waren Gymnasiallehrer.

Schon beeindruckend, was man sich leisten konnte mit zwei Einkommen ohne Kinder: ein Haus am Killesberg, und nicht eins von den kleinsten.

»Aber was hatte er vor, wenn die Astenbergs aus der Kirche zurückkommen? Ich meine, das muss ihm doch klar gewesen sein, dass die jetzt nicht tagelang wegbleiben. Wollte er die auch umbringen?«

Bäumle lächelte dünn. »Was das anbelangt, hat er eine echt tolle Geschichte zu erzählen.«

***

Im Flur und die Treppe hinab hingen noch mehr Radierungen, alle teuer gerahmt. Sie stammten offenbar aus der gleichen Serie, alles Stuttgarter Motive: Der Bonatzbau des alten Hauptbahnhofs, die Jubiläumssäule auf dem Schlossplatz, die Stiftskirche, die Solitude und so weiter.

In der Tür zum Wohnzimmer lehnte der Neuzugang im Kommissariat, Alexandra Hofer. Und mal wieder über ihr Handy gebeugt, selbstvergessen am Scrollen. Diese jungen Leute, immer mit dem halben Kopf im Internet! Normalerweise hätte er ihr jetzt einen Vortrag gehalten darüber, wie wichtig Aufmerksamkeit und Beobachtung in ihrem Beruf waren. Aber es war Weihnachten, und sie erlebte, soweit er wusste, heute ihren ersten Mordfall: In Ordnung, da ein bisschen weggetreten zu sein.

Er nickte ihr also nur zu, ging an ihr vorbei und ließ das Ambiente des weitläufigen Wohnzimmers auf sich wirken. Stuckdecke. Goldener Kronleuchter. Ein ovaler Esstisch aus edlem Holz. Ein Buffetschrank voll teuren Geschirrs. Weiter vorne die Fensterfront zum Garten, eine opulente Sitzgruppe, viele Bücherregale, ein prächtig geschmückter Weihnachtsbaum. Davor der offene Kamin; das Feuer darin ging gerade aus, man roch es noch.

Und auf dem Läufer vor dem Kamin standen noch die Nummern, die die Blutflecken markierten, für den Fotografen.

Der Mann saß in einem der Sessel und hatte etwas Verwahrlostes an sich, obwohl er frisch geduscht und neu eingekleidet war: die Haare, dachte der Kommissar. Völlig ausgewachsen und formlos, genau wie der zottelige Bart.

Der Kommissar nickte den beiden Polizisten zu, die den Mann bewachten, und sagte dann: »Herr Bode?«

Der Mann sah auf, mit flackerndem Blick. Ganz nüchtern war er auch nicht mehr. »Ja?«

»Kriminalhauptkommissar Friedrich. Ich leite die Ermittlungen in diesem Fall.« Er setzte sich auf das Sofa. »Also, erzählen Sie mir, was passiert ist.«

»Das hab ich aber alles schon Ihrem Kollegen … ich meine … ich war das nicht! Ich versteh nicht, was das soll! Ich bring doch niemanden um!«

Der Kommissar unterdrückte ein Seufzen. »Gehen wir der Reihe nach vor. Wieso haben Sie sich ausgerechnet dieses Haus ausgesucht, um einzubrechen?«

Bode schüttelte heftig den Kopf. »Ich bin nicht eingebrochen!«

»Wie kommt’s dann, dass Sie hier sind?«

»Na, die haben mich doch eingeladen!«

Einen Moment lang verschlug es dem Kommissar die Sprache. »Eingeladen?«

»Ja!«

»Und wie das?« Er beugte sich vor, stützte sich mit den Unterarmen auf den Knien ab. »Erzählen Sie.«

Der Blick des Mannes schweifte umher, gleichzeitig rieb er mit den Händen an der Hose auf und ab. Suchte er nach Worten, oder suchte er nach einer Geschichte, die ihm wie eine glaubwürdige Ausrede vorkam? Schwer zu sagen.

»Also … also das war so«, begann er schließlich. »Ich war am Bahnhof. Am Hauptbahnhof. Da, wo noch die Baustelle ist. Da hatte ich einen guten Platz gefunden, einen richtig guten Platz. Da kam warme Luft raus, verstehen Sie? Von den Arbeiten im Tunnel. Unten. Und warme Luft, herrlich, sag ich Ihnen. Ich hab mir gesagt, Ebbi, das ist ja wie Weihnachten. Und das ist witzig, weil, es ist ja Weihnachten, nicht wahr?« Er lachte unnatürlich laut, wie jemand, der unbedingt will, dass alle mitlachen.

Der Kommissar lachte nicht. Er warf einen Blick auf den prächtig geschmückten Tannenbaum in der Ecke vor dem Fenster zum Garten, ein Traum in Rot und Silber, und fragte: »Und weiter?«

Bode sank wieder in sich zusammen. »Ja. Also … ich hatt’s mir gerade gemütlich gemacht, da kam plötzlich diese Frau an. Frau Astenberg. Pelzmantel und ’ne helle Pelzmütze und so, total schick. Ja, und dann sagt sie zu mir, sie wollen mich einladen. Zum Essen, zum Übernachten, und ein Geschenk wollten sie mir auch geben. Weil Weihnachten ist und sie keine Kinder haben und sie jemandem was Gutes tun wollen, der es brauchen kann.« Er nickte, mit glänzenden Augen, wie jemand, der tagträumte. »Ja, so war das. Ich hab’s erst nicht geglaubt, aber sie hat nicht lockergelassen, und schließlich bin ich mit. Ihr Mann hat gewartet, wir haben meine Sachen in den Kofferraum gelegt, und dann, also ehrlich, ich in ’nem Mercedes! Das war wie ein Traum, sag ich Ihnen. Eine Weile hab ich gedacht, vielleicht bin ich ja gestorben und hab’s gar nicht gemerkt, und die beiden sind die Engel, die mich abholen und in den Himmel bringen. Aber dann haben sie mich hierhergebracht.«

Der Kommissar musterte den Mann und versuchte, sich darüber klar zu werden, was er davon halten sollte. Er kannte das. Manche Obdachlose waren begnadete Geschichtenerzähler, nicht zuletzt, weil sie das, was ihnen eine wirre Fantasie eingab, allen Ernstes selber glaubten.

Eberhard Bode mochte Anfang vierzig sein, war hager, aber stabil gebaut. Einst musste er recht gut ausgesehen haben, doch mit seinem vernarbten Gesicht und seiner mehrfach gebrochenen Nase war er deutlich »vom Leben gezeichnet«, von dem harten Leben auf der Straße.

Weihnachten auf einem Abluftschacht? Obwohl es hinter dem Hauptbahnhof, nur ein paar Straßen weiter, ein großes Männerwohnheim gab? Stuttgart tat für Obdachlose mehr als die meisten Städte, und das wusste Bode unter Garantie auch.

»Ja, dann sind wir hier reingekommen«, fuhr der Mann fort, mit verträumter Stimme. »Der Duft … himmlisch, sag ich Ihnen. Der Tisch war schon gedeckt, im Kamin hat ein Feuer gebrannt … Ich hätt fast geheult. Ehrlich. Dass es so gute Menschen gibt, hab ich gedacht. So gute Menschen.«

»Und dann?«

»Dann haben wir gegessen.«

Der Kommissar furchte die Augenbrauen. »Aber doch sicher nicht gleich?«

»Doch, doch. Sie hatten’s ja eilig, weil sie so lange nach jemandem suchen mussten, der mit ihnen geht. Und sie wollten noch in die Kirche, in die Weihnachtsmesse.«

»Aber Sie haben doch bestimmt nicht besonders, hmm … frisch gerochen?«

Bode nickte. »Schon, ja. Hab ich nicht. Aber Frau Astenberg hat gemeint, es reicht, wenn ich mir schnell die Hände wasche, und ich soll nach dem Essen in aller Ruhe duschen, der Geruch stört sie nicht. Weil das … wie hat sie’s gesagt? Das sei menschlich. Ja, genau. Menschlich.«

Der Kommissar holte tief Luft. »Verstehe. Also – Sie haben gegessen. Was gab es?«

»Oh!« Der Mann schloss die Augen, leckte sich die Lippen. »Es war wunderbar. Erst gab es Suppe. Dann … Ich weiß nicht, ein großer, gebratener Vogel, eine Gans vielleicht? So gut! Dazu Kartoffelbrei und Erbsen mit Möhren … und Rotwein, ein guter, kann ich Ihnen sagen! Und hinterher einen Nachtisch, so einen weißen Schaum, süß … herrlich.«

Es hielt den Kommissar nicht länger auf der Couch. Er sprang auf, ging umher, studierte die Regale. Viele Gesamtausgaben. Hegel natürlich, in Leder gebunden gar. Die Werke von Thaddäus Troll. Gedichte von Eduard Mörike. Eine Vitrine mit Golfpokalen und Fotos, die einen jüngeren Julius Astenberg mit Stuttgarter Prominenten zeigten – mit dem Altbürgermeister Manfred Rommel, mit dem Fußballer Jürgen Klinsmann, mit dem Sternekoch Vincent Klink …

Der Vorhang vor der Fensterfront zum Garten stand offen, des Weihnachtsbaums wegen. Der Blick ging bis zur Straße, weil die Hecke, die einen im Sommer vor neugierigen Blicken schützte, jetzt im Winter nur dürres Gestrüpp war. Man sah die Straße und dahinter den Stuttgarter Talkessel.

»Und nach dem Essen? Da sind Herr und Frau Astenberg einfach gegangen? Und haben Ihnen das Haus überlassen?«

»Ja.« Der Mann nickte energisch. »Genau so war’s. Sie haben mir gezeigt, wo alles ist, das Bad und Seife und Handtücher und so weiter, und sie haben gesagt, ich soll mir aus dem Kleiderschrank nehmen, was mir passt, nur die Anzüge nicht. Und dann sind sie los. Sie hat das Gesangbuch mitgenommen, und er hat noch den Müll mit rausgenommen, in einem schwarzen Sack. Sie haben gesagt, es wird vielleicht zwei Stunden dauern, dann kommen sie zurück und es gibt Bescherung, und ich soll nicht vorher spionieren und die Überraschung verderben. Hab ich auch nicht gemacht, ehrlich nicht. Ich hab geduscht und was angezogen, wie sie’s gesagt haben. Dann hab ich das Feuer geschürt, weil Herr Astenberg mich gebeten hat, es nicht ausgehen zu lassen. Dann hab ich die Weinflasche aufgemacht, die er mir hingestellt hat.«

Die Flasche stand immer noch auf dem Tischchen neben dem Ohrensessel vor dem Kamin. Ein trockener Lemberger aus Heilbronn, der wenigstens vierzig Euro pro Flasche kostete.

»Und dann? Kam auf einmal die Mutter von Frau Astenberg die Treppe herunter, hat Sie zur Rede gestellt, und Sie haben sie erschlagen?«

»Nein!«, schrie Bode auf. »Niemand ist gekommen! Ich hab da gesessen, Wein getrunken und ins Feuer geschaut … bis plötzlich die Polizei hereingestürmt ist! Ich hab niemanden erschlagen! Und ich bin auch nicht eingebrochen. Die haben mich eingeladen, Herr Kommissar, eingeladen! Weil sie gute Menschen sind!«

Der Kommissar seufzte. »Ich würde Ihnen gern glauben. Bloß ist die Sache die, dass in der Spülmaschine nur zwei schmutzige Teller stehen. Zwei Suppenteller. Zwei Dessertschalen. Zwei Messer, zwei Gabeln, zwei Löffel. Zwei Gläser. Wenn Sie tatsächlich mit den Astenbergs zu Abend gegessen hätten, müssten es aber jeweils drei sein, nicht wahr?«

***

»Na, zu viel versprochen?«, fragte Bäumle, als sie sich hinterher im Flur berieten. Hier lagen die Sachen des Mannes: ein versiffter, zusammengerollter Schlafsack, zwei Plastiktüten, deren Inhalt zu untersuchen sie noch vor sich herschoben, und die abgelegten Kleidungsstücke.

»Sie hatten recht«, meinte der Kommissar. »Abenteuerliche Story.«

»Die ihm niemand glaubt«, warf der Kollege Demir ein, während er seine beschlagene Brille trocken rieb. Er war draußen in der Kälte gewesen, hatte die Nachbarn befragt, soweit welche anzutreffen waren.

Murat Demir war an Heiligabend eine Konstante im Kommissariat. Als Muslim feierte er Weihnachten nicht, sondern meldete sich jedes Jahr freiwillig zum Dienst an den Feiertagen. Und freute sich über die Sonderzulage.

Der Kommissar nickte ihm auffordernd zu, worauf er erzählte: »Niemand hat irgendwas gesehen oder gehört. Aber alle Nachbarn, mit denen ich gesprochen habe, sind sich einig, dass die Astenbergs so etwas nie tun würden. Das seien Leute, die in der Kirche zwei Euro in den Klingelbeutel werfen, für beide zusammen. Nie im Leben würden die einen Penner von der Straße holen an Weihnachten.« Demir hob die Hände. »Sagen die Nachbarn. Einstimmig.«

»Und, wie gesagt, auf dem Schürhaken sind seine Fingerabdrücke«, ergänzte Bäumle.

Dr. Schiller, die Notärztin, kam die Treppe herunter und dünstete schlechte Laune aus. »Der Tod«, brummte sie, »kann eine Stunde her sein, aber auch vier. Irgendwas dazwischen.«

»Franziska!«, bat der Kommissar. »Geht’s nicht genauer?«

»Wir sind hier nicht im Fernsehen. Das Zimmer da oben war eiskalt, so was verfälscht.«

»Aber sie ist jedenfalls im Verlauf des Abends umgebracht worden?«

»Ja«, sagte die Ärztin, während sie ihren Overall abstreifte. »Definitiv. Genauso definitiv, wie ich jetzt wieder nach Hause fahre zu Mann und Familie, wenn’s recht ist.«

***

Das Ehepaar Astenberg saß in der Küche. Eine Polizistin hatte ein Auge auf die beiden: Die Frau kauerte verheult auf ihrem Stuhl, der Mann brodelte vor Wut. Auf dem Küchenbord standen die Reste des Abendessens. Einst sorgsam abgedeckt, damit sie abkühlten, ehe man sie in den Kühlschrank packte, lag nun alles achtlos aufgerissen da. Ein gebrauchtes Messer steckte in der halben Gans, Löffel im Kartoffelbrei, im Gemüse und in der Schale mit der Vanillecreme.

Der Kommissar setzte sich mit dem Rücken zu diesem Anblick. Aus dieser Perspektive sah die Küche aus wie aus einem Werbeprospekt: Über dem auf Hochglanz polierten Gasherd hing ein edles Gewürzbord, im Regal standen elegant beschriftete Porzellandosen für Zucker, Mehl, Grieß und anderes, der Messerblock war eindrucksvoll bestückt. Ganz automatisch zählte er die Messer durch, aber es fehlte tatsächlich nur das eine, das jemand in die Gans gespießt hatte.

»Ich nehme an, Sie wissen, was der Mann behauptet«, sagte der Kommissar, nachdem er sich vorgestellt hatte. »Dass er hier ist, weil Sie ihn eingeladen hätten, Heiligabend mit Ihnen zu verbringen.«

»Ja, eine Unverschämtheit«, brach es aus Julius Astenberg heraus. »Bricht bei uns ein, verwüstet alles … bringt meine Schwiegermutter um! Und dann … Mir fehlen die Worte.«

»Sie haben ihn also nicht eingeladen? Auch nicht aus, sagen wir, christlicher Nächstenliebe?«

»Nein! Natürlich nicht!« Der Mann lief rötlich an. »Wie kämen wir dazu? Wir zahlen wahrhaftig genug Steuern, damit sich der Staat um solche Probleme kümmert.«

»Und man sieht ja, wie gefährlich so was ist«, fügte die Frau hinzu, am ganzen Leib bebend.

Der Kommissar räusperte sich. »Gut. Dann erzählen Sie mir doch bitte auch noch einmal, was passiert ist.«

Sie erzählten. Seit dem Tod des Schwiegervaters war es Tradition, dass die Schwiegermutter sie an Heiligabend besuchte. Normalerweise ging sie mit in die Kirche, nur an diesem Abend war ihr nicht wohl gewesen; sie hatte nicht einmal etwas essen wollen, sondern sich früh hingelegt.

»Wir haben alleine gegessen und sind dann in die Messe gegangen«, berichtete der Mann mit tonloser Stimme. »Und als wir zurückkommen, sehen wir noch von der Straße aus, dass ein Mann in unserem Wohnzimmer ist! Ein fremder Mann! Also habe ich die Polizei gerufen.«

»Wir dachten, es ist ein Einbrecher«, hauchte die Frau. »Was ja schlimm genug gewesen wäre. Aber dass er meine Mutter erschlägt … mein Gott. Und das, wo sie bald wieder heiraten wollte!« Ein Schluchzen erschütterte sie. »Ich weiß noch gar nicht, wie ich Frederick das sagen soll …«

»Frederick ist …?«

»Der Freund meiner Mutter«, erklärte sie. »Frederick Ozust. Die beiden kannten sich seit einem halben Jahr … o mein Gott!« Sie brach in Tränen aus, sichtlich nicht zum ersten Mal an diesem Abend.

»War Ihnen«, fragte der Kommissar behutsam, »nicht der Gedanke gekommen, dass es sich bei dem Mann in Ihrem Wohnzimmer um den Freund Ihrer Mutter handeln könnte? Um einen Überraschungsbesuch?«

Astenberg schüttelte den Kopf. »Der ist gerade in Dubai. Hat heute gegen Mittag angerufen.«

Der Kommissar betrachtete die beiden. Sie befanden sich gerade in einem seelischen Ausnahmezustand, er kannte das. Nach dieser Nacht würde ihr Leben nie mehr so sein wie vorher, und das spürten die Leute.

»Eine Frage noch«, bat er. »Die Weinflasche, die der Mann vor dem Kamin geleert hat – woher kam die?«

»Die habe ich aus dem Weinkühlschrank im Keller geholt, bevor wir in die Kirche sind. Damit sie Raumtemperatur annimmt. Wir wollten sie später am Abend trinken.« Astenberg legte die Hände an die Schläfen. »Bringen Sie den Mann bitte endlich weg, Herr Kommissar! Und wir … ich glaube, wir können hier auch nicht bleiben. Ich muss sehen, dass ich ein Hotel für uns finde.«

***

»Also?«, fragte Bäumle. »Einpacken, mitnehmen?«

»Moment noch«, sagte der Kommissar.

Er spürte, wie ungeduldig sie alle auf seine Anweisung warteten, die Tote in die Gerichtsmedizin zu bringen und den Mann in Gewahrsam zu nehmen. Endlich Schluss zu machen für heute, damit sie nach Hause kamen, wo Familien, Geschenke und Weihnachtsbraten ihrer harrten.

Aber irgendetwas ließ ihn zögern. Irgendetwas war noch nicht stimmig.

Oder lag es daran, dass er selber es nicht eilig hatte? Bei ihm zu Hause herrschte dicke Luft, wie immer an Heiligabend, wenn alle seine Kinder zu Besuch waren. Mit ihren Ansichten repräsentierten sie das gesamte im Landtag vertretene politische Spektrum, und wahrscheinlich waren sie einander inzwischen schon an die Gurgel gegangen.

Bäumles Telefon summte. Er ging ran, lauschte, bedankte sich. »Hab doch ein paar Infos zu unserem Tatverdächtigen aufgetrieben«, erklärte er dann, und der Kommissar konnte sich nur wieder wundern, wie er das immer hinbekam. Man denke, an Heiligabend! »Eberhard Bode hatte in jungen Jahren ’ne Firma, hat Betrügereien im großen Stil betrieben. Verurteilung wegen Hochstapelei und, man höre und staune, Heiratsschwindel! Mehrere Jahre Gefängnis. Später etliche Verfahren wegen Körperverletzung. Seither ging’s nur noch bergab.«

»Mit anderen Worten, er ist ein begabter Lügner.«

»Und gewaltbereit«, ergänzte Bäumle.

»Verstehe«, sagte der Kommissar. Dann ließ er sie alle stehen und begann einen weiteren Rundgang durchs Erdgeschoss. Die einzige Person, die ihn nicht erwartungsvoll anstarrte, war Alexandra: Die hatte, hinter dem Vorhang ihrer dunklen Haare verborgen, nur Augen für ihr Smartphone.

Irgendetwas nagte an ihm, ließ ihm keine Ruhe. Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt, einen Gedanken angestoßen, der noch nicht zu Ende gedacht war.

Er betrachtete noch einmal die vielen Gesamtausgaben in den Regalen. Fuhr mit der Hand über den edlen Esstisch, der Platz für zehn Personen bot. Studierte einmal mehr den Geschirrschrank, in dem insgesamt drei Services standen: eines in Blautönen, eines in Gelb-Rot, beide komplett, jeweils nicht sechs, sondern zwölf Teile. Und ein ganz weißes mit Goldrand, von dem nur noch neun Teller und so weiter dastanden. Das Geschirr, das sie heute Abend benutzt hatten.

Er musterte den goldenen Kronleuchter. Regula Walz – der Name sagte ihm etwas. Das Ehepaar Walz hatte zur Stuttgarter Prominenz gehört, zu denen, die man auf den Empfängen des Oberbürgermeisters antraf. Reiche Leute. Geld, ja, das war die Assoziation.

Was wohl hieß, dass sich der opulente Lebensstil der Astenbergs doch nicht nur aus den Bezügen zweier Gymnasiallehrer speiste. Irgendwie beruhigend, fand er.

Trotzdem. Der Kommissar kratzte sich am Kinn. Irgendwas stimmte hier nicht … aber was?

Plötzlich stand Alexandra neben ihm, räusperte sich. »Herr Friedrich …?«

»Ja?«

»Ich hab da was gefunden, ich weiß nicht, ob es was zu bedeuten hat …« Sie hielt ihm ihr Handy hin und zeigte ihm, was sie gefunden hatte.

Und auf einen Schlag fügten sich die Teile des Puzzles zu einem Bild.

***

»Wir sind für heute fertig mit den Ermittlungen«, erklärte er dem Ehepaar Astenberg, das immer noch in der Küche saß. »Wir müssen ein paar Gegenstände mitnehmen, die wir als Beweismaterial brauchen – den Teppich mit dem Blut darauf, den Schürhaken und so weiter. Der Kollege erstellt gerade eine Liste, die Sie dann als Quittung bekommen.«

»Gut«, sagte Julius Astenberg. Er klang erleichtert. »Ja, selbstverständlich. Kein Problem.«

Der Kommissar holte tief Luft. »Aber wissen Sie, was mich wundert? In Ihrem Haus spürt man überall einen, wie soll ich sagen? Einen Willen zu vollständigen Sammlungen. Sie haben den kompletten Hegel im Regal stehen. Sie haben nicht nur einen Gedichtband von Mörike, sondern alle. Sie haben eine ganze Serie von Bildern mit Stuttgarter Motiven … aber Sie haben nur noch neun Teller Ihres besten Geschirrs im Schrank.«

Die beiden sahen ihn verständnislos an. »Wie bitte?«, fragte Julius Astenberg.

»Ihre beiden anderen Services sind komplett, von jedem Teil sind zwölf Stück da«, erklärte der Kommissar. »Doch von Ihrem weißen Service stehen zwei Teller schmutzig in der Spülmaschine und neun sauber im Schrank – macht zusammen elf. Dasselbe gilt für die Suppenteller, für die Dessertschalen … und sogar von Ihren guten Weingläsern und den Wassergläsern fehlt je eines.«

»Ab und zu geht halt was kaputt«, erwiderte der Mann grimmig. »Deswegen kauft man ja auf Vorrat. Was soll die Bemerkung?«

»Ach, wissen Sie, so sind wir Kriminalbeamten nun mal. Wir versuchen immer, alles von allen Seiten zu betrachten. Also überlege ich, angenommen, seine Version stimmt doch und Sie haben ihn tatsächlich eingeladen …«

»So ein Unsinn! Warum hätten wir das tun sollen?«

»Ihre Schwiegermutter«, erklärte der Kommissar, »war reich. Und Ihre Frau ist die einzige Erbin. Beziehungsweise, sie war es bislang. Das hätte sich alles geändert, wenn Ihre Schwiegermutter erneut geheiratet hätte. Was sie, wie Sie selber gesagt haben, vorhatte.« Er sah in der Küche umher. Die Kaffeemaschine, die Kupfertöpfe – alles vom Feinsten. »Ich werde mir einen richterlichen Beschluss besorgen und Ihre Unterlagen durchsuchen lassen. Ich bin überzeugt, wir werden feststellen, dass Sie auf viel zu großem Fuß gelebt haben – in Erwartung eines Erbes, das Sie plötzlich gefährdet sahen.«

»Das ist unverschämt«, brauste der Mann auf. »Ich sage nichts mehr. Hilde«, wandte er sich an seine Frau, »wir sagen nichts mehr, ehe Dr. Riedenberg da ist. Unser Anwalt«, fügte er hinzu.

»Ich stelle mir vor, dass Ihre Schwiegermutter Ihnen erst vor Kurzem von ihren Heiratsplänen erzählt hat, vielleicht sogar erst heute«, fuhr der Kommissar fort. »Es kam zum Streit, und da haben Sie sie erschlagen, mit dem Schürhaken. Sie sind Golfer, das heißt, Sie können mit länglichen Schlaggeräten gut umgehen. Doch was nun? Da lag die tote Frau, und selbst einem halb blinden Arzt wäre klar gewesen, dass sie nicht an einem Herzinfarkt gestorben ist. Also haben Sie sich einen perfiden Plan ausgedacht. Lass uns irgendeinen Obdachlosen auflesen, haben Sie sich gesagt, unter dem Vorwand, an Weihnachten eine gute Tat an ihm vollbringen zu wollen. Wir geben ihm zu essen und zu trinken, vor allem zu trinken, lullen ihn ein, lassen ihn vertrauensselig und nichts ahnend alleine, gehen in die Kirche – und wenn wir zurückkommen, wissen wir von nichts. Wir rufen die Polizei, behaupten, er sei eingebrochen – natürlich haben Sie die Tür zum hinteren Garten selber aufgebrochen, ehe Sie zum Hauptbahnhof gefahren sind –, und dann entdecken Sie, dass er Ihre geliebte Schwiegermutter erschlagen hat!«

Die beiden saßen wie erstarrt. »So muss ich nicht mit mir reden lassen«, zischte Julius Astenberg.

»Sie hatten nur ein kleines Problem«, setzte der Kommissar seine Erklärungen fort. »Damit Ihre Geschichte glaubwürdig aussieht, mussten Sie das Geschirr, von dem Ihr ahnungsloser Gast gegessen hat, verschwinden lassen. In der Spülmaschine durften nur zwei Sets stehen. Aber die Zeit, sie noch zu spülen und zurückzustellen, hatten Sie nicht; außerdem hätte ihm das seltsam vorkommen können. Also haben Sie sein Geschirr in den Müll getan und den Müllbeutel mitgenommen, um ihn irgendwo unterwegs zu entsorgen.«

»Absurd!«, platzte Julius Astenberg heraus. »Vollkommen absurd. Nur weil ein paar Teller fehlen …? Purer Zufall, dass die fehlenden Stücke gerade ein Set ergeben. Im Übrigen hat das Geschirr zehn Jahre Nachkaufgarantie; wir sind nur noch nicht dazu gekommen, es wieder zu ergänzen.« Er schüttelte die Hand seiner Frau ab, die ihn daran hindern wollte, weiterzureden. »Und selbstverständlich haben wir diesen Mann nicht eingeladen. Wir haben ihn im Gegenteil noch nie im Leben gesehen. Sie haben nichts, nichts, um Ihre hanebüchenen Unterstellungen zu beweisen!«

»Oh, die Beweise werden wir uns schon beschaffen«, erklärte der Kommissar. »Wir werden noch heute Nacht jede Mülltonne auf dem Weg bis zur Kirche durchsuchen. Wir werden die Teller und Gläser finden und DNA-Spuren daran, die beweisen werden, dass der Mann in Ihrem Wohnzimmer davon gegessen und getrunken hat.«

Julius Astenberg schnaubte nur verächtlich.

»Außerdem wird den Richter ein Posting interessieren, das meine junge Kollegin, Frau Hofer, vorhin im Internet entdeckt hat.« Der Kommissar holte Alexandras Smartphone aus der Tasche, weckte es auf, startete das Video und hielt es den Astenbergs hin.

Das Video, das an diesem Abend gerade durch sämtliche soziale Medien ging, zeigte eine Frau in einem Pelzmantel und mit einer hellen Pelzmütze auf dem Kopf, die am Rand des Baustellenbereichs auf einen Penner einredete. Selbst mit den schwachen Lautsprechern des kleinen Geräts hörte man Satzfetzen wie »weil doch Heiligabend ist« und »Ihnen etwas Gutes tun«, und schließlich sah man, wie der Mann sich erhob, seine Sachen zusammenkramte und mit ihr ging. Man sah einen wartenden Mercedes, in den er einstieg, sah sogar, dass der Rücksitz mit Plastikfolie abgedeckt war …

»Die Folie haben Sie ihm sicher irgendwie erklärt«, meinte der Kommissar. »Falls er sie überhaupt bemerkt hat. Ich schätze, die finden wir auch im Müll.«

Zum Schluss zoomte das Video auf das Nummernschild des Wagens, dann war es zu Ende.

Überschrieben war das Posting mit »Die Engel vom Stuttgarter Hauptbahnhof«, und die Kommentare priesen die Frau im Pelzmantel als ein leuchtendes Beispiel für wahrhafte Nächstenliebe.

»Sie können stolz sein«, sagte der Kommissar und reichte das Handy an Alexandra zurück, »das Video hat schon mehr als vierhunderttausend Likes.« Er lächelte dünn. »Und Ihre Sorge, wo Sie diese Nacht bleiben sollen, hat sich damit auch erledigt.«

Florian Schwiecker

Ein fast perfektes Verbrechen

Berlin

Über den Autor

Florian Schwiecker ist 1972 in Kiel geboren und hat viele Jahre in Berlin als Strafverteidiger gearbeitet. Während seiner Tätigkeit für ein internationales Wirtschaftsunternehmen in den USA entstand die Idee zu seinem ersten Thriller Verraten. 2021 hat er dann gemeinsam mit Deutschlands bekanntestem Rechtsmediziner Michael Tsokos den Justizkrimi Die 7. Zeugin als Start der Reihe um das Ermittler-Duo Rocco Eberhardt und Doktor Justus Jarmer veröffentlicht. Außerdem empfiehlt Florian Schwiecker regelmäßig Krimis in seiner Thriller-Kolumne auf freundin.de.

Eine Rocco-Eberhardt-Kurzgeschichte

1.

Berlin-Charlottenburg, Fasanenstraße 72,
Kanzlei Eberhardt: Mittwoch, 23. Dezember, 19.13 Uhr

»Ein Löffel? Die ganze Sache ist wegen eines Löffels aufgeflogen?«

Ungläubig sah Klara Schubert mich an.

»Ja, wegen eines Löffels«, erwiderte ich und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Zu verrückt war die Auflösung des wohl spektakulärsten Juwelendiebstahls, den die Hauptstadt in den vergangenen Jahren gesehen hatte. »Und der Löffel war noch nicht einmal besonders schön!«, fügte ich trocken hinzu und trank mit einem großen Schluck den schon lauwarmen Rest des Glühweins leer.

Demonstrativ und um das Ende des Abends einzuläuten, stellte ich meinen Becher auf dem gläsernen Besprechungstisch ab und griff nach dem großen, braunen Umschlag. Schluss für heute, es war spät und Weihnachten stand vor der Tür. Zeit, für dieses Jahr die Türen der Kanzlei zu schließen. Doch gerade als ich aufstehen wollte, hob Klara Schubert ihren Zeigefinger und sah mich streng an. Ganz offensichtlich hatte sie andere Pläne.

»Das kann doch jetzt nicht wahr sein, Chef!«, protestierte sie aufgebracht. »Sie können mir doch nicht ein paar Brocken hinwerfen und allen Ernstes erwarten, dass ich nicht die ganze Geschichte hören will!«

Ich musste lachen. Eigentlich hätte mir von vornherein klar sein müssen, dass ich mich nicht so leicht aus der Affäre ziehen konnte. Wenn Klara sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie es durch. Das war auch der Grund, warum ich sie vor nunmehr fünfzehn Jahren gebeten hatte, als Bürochefin in meine Kanzlei zu kommen. Ohne zu zögern hatte sie seinerzeit sofort zugesagt und seitdem Ordnung und Struktur in unser Büro gebracht. Und um ehrlich zu sein, mindestens genauso oft obendrein in mein Leben. Klara Schubert war jetzt Ende fünfzig, knapp zwanzig Jahre älter als ich und hielt den Betrieb vor Ort am Laufen, während ich den Großteil meiner Zeit bei Mandanten im Gefängnis oder in Verhandlungen vor Gericht verbrachte. Und da sie die meisten Fälle ebenso gut kannte wie ich und unsere Mandanten manchmal sogar besser, wollte sie natürlich wissen, wie diese Geschichte zu Ende ging.

Tatsächlich war ihr das nicht zu verdenken, denn der aktuelle Fall gehörte ohne Frage zu den ungewöhnlichsten meiner Karriere. Das lag allerdings nicht nur daran, dass der Einbruch bei dem Juwelier Hefterer so raffiniert und ausgeklügelt durchgeführt worden war, dass er einem Hollywoodfilm alle Ehre gemacht hätte, sondern vor allem daran, dass ich dieses Mal auf der anderen Seite stand.

Mit einem breiten Lächeln blickte ich erst Klara direkt in die Augen und dann auf meinen leeren Becher. Sie hatte verstanden. Der Preis für die Geschichte war ein weiterer Glühwein.

2.

Zwei Tage zuvor: Berlin-Charlottenburg, Fasanenstraße 72,
Kanzlei Eberhardt: Montag, 21. Dezember, 08.02 Uhr

Erleichtert schlug ich die dicke blaue Akte vor mir zu und schob sie auf die rechte Seite meines Schreibtisches. Noch drei Tage bis Heiligabend und ich hatte alle wichtigen Mandate bearbeitet.

Mit einem zufriedenen Seufzer ließ ich mich in meinen schweren Schreibtischsessel fallen und griff zu der aktuellen Ausgabe des Berliner Tagesspiegels. Ich war gerade in ein sehr spannendes Interview mit dem Gründer des Berliner Unternehmens »effektiv-spenden.jetzt« vertieft, als mein Telefon klingelte.

»Eberhardt«, meldete ich mich und lauschte.

»Rocco Eberhardt, der Strafverteidiger?«, fragte eine aufgeregt klingende Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Kommt darauf an, mit wem ich spreche.«

»Oh, bitte entschuldigen Sie. Natürlich. Also, ähm, mein Name ist Hefterer, Karl-Georg Hefterer.«

Irgendwie kam mir der Name bekannt vor, aber ich brauchte einen Moment, ehe ich ihn einordnen konnte. Der Juwelier. Natürlich. Hefterer gehörte zu dem kleinen Kreis Berliner Prominenter, die regelmäßig die Schlagzeilen der Boulevardpresse beherrschten. Der renommierte Geschäftsmann war allerdings weniger durch aufsehenerregende Skandale als vielmehr durch die zahlreichen Wohltätigkeitsveranstaltungen, die er immer wieder zugunsten der Armen und Bedürftigen organisierte, bekannt geworden. Entsprechend positiv stand ich ihm gegenüber, ohne ihn allerdings wirklich zu kennen. Doch meine Neugier war geweckt.

»Herr Hefterer, kein Problem. Und ja, ich bin’s persönlich. Wie kann ich Ihnen denn helfen?«

»Bei mir ist eingebrochen worden. Die meisten Stücke aus meinem Tresorraum haben sie entwendet. Und dann auch noch den Safe mit dem wertvollsten Schmuck.« Ich hörte, wie er am anderen Ende der Leitung tief durchatmete, ganz so, als müsse er sich zusammenreißen, überhaupt weitersprechen zu können.

»Das Ganze ist ein absoluter Albtraum. Drei Tage vor Weihnachten. Da mache ich doch den Großteil meines Umsatzes.«

»Waren die Stücke denn nicht versichert?«, fragte ich ihn.

»Natürlich waren sie das, aber einige davon sind unbezahlbar und gar nicht bewertbar. Absolute Einzelstücke, deren Wert man nicht mit Geld aufwiegen kann.« Ich hörte, wie er am anderen Ende der Leitung schluchzte.

Unbezahlbare Einzelstücke, hatte er gesagt. Vermutlich unterversichert, dachte ich und mein Mitleid hielt sich in Grenzen. Wahrscheinlich an der falschen Stelle gespart. Und gerade als ich ihn dazu befragen wollte, schoss mir eine andere Frage durch den Kopf. Warum um alles in der Welt rief Hefterer mich an? Gut, ich hatte in den letzten Jahren eine gewisse Bekanntheit in Berlin erlangt und aufgrund einiger größerer Verfahren in den letzten Monaten auch jede Menge Presse bekommen. Aber mein ganzer Ruf beruhte ja gerade darauf, die bösen Jungs zu verteidigen, die bei Juwelieren einbrachen, nicht aber die Juweliere selbst. Ich war Strafverteidiger und kein Polizist. Was also wollte Hefterer von mir?

»Vermutlich fragen Sie sich jetzt, warum ich gerade Sie anrufe«, kam er mir zuvor, und ich brummte zustimmend. Der Mann gefiel mir immer besser.

»Nun, die Sache ist ganz einfach. Die Polizei ist seit einer guten Stunde in meinen Geschäftsräumen, und die Spurensicherung nimmt alles genau auf. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich einen eigenen Beistand brauche. Also kurzum: Vertreten Sie auch Geschädigte in Strafsachen?«

Selten, dachte ich. Äußerst selten. Und eigentlich immer nur diejenigen, die sich selbst nicht zu helfen wussten und trotz ihrer Rolle als Opfer oder Zeugen zwischen die Mühlen einer übereifrigen Justiz zu geraten drohen. Tatsächlich hatte ich erst vor einem Monat in einem großen Drogenfall die minderjährige Tochter eines der mutmaßlichen Täter betreut, die der übereifrige Staatsanwalt zu seiner Hauptzeugin machen wollte. Lächerlich. Die Kleine war gerade mal dreizehn Jahre alt und vollkommen traumatisiert. Ihr Vater saß in Untersuchungshaft, und es war nicht abzusehen, ob und wann er da jemals wieder rauskam. Eine Mutter und andere Verwandte gab es nicht, oder sie wollten sich nicht um die Kleine kümmern. Am Ende konnte ich sie gemeinsam mit dem Jugendamt bei einer Pflegefamilie unterbringen, wo sie das erste Mal in ihrem Leben in geordneten Verhältnissen wohnte. Aber das war eine andere Geschichte.

Einen Juwelier hatte ich tatsächlich noch nie vertreten. Juwelendiebe schon. Wäre ja mal was Neues, dachte ich. Und am Geld sollte es bei Hefterer auch nicht mangeln. Warum also ein lukratives Mandat, das mir so unverhofft in den Schoß fiel, ablehnen? Noch dazu, wenn die Polizei für mich arbeiten würde.

Einzig ein Blick auf den Tagesspiegel ließ mich kurz zweifeln. Ich hatte mich so auf einen entspannten Tag gefreut, an dem ich endlich einmal in aller Ruhe die Zeitung lesen konnte. Für einen kurzen Moment rang ich mit mir, doch eigentlich war mir längst klar, wie ich mich entscheiden würde. Ich war von Natur aus viel zu neugierig, um die Sache auf sich beruhen zu lassen. Was soll’s, dachte ich, mal gucken, wo das hinführt.

Um mir ein klares Bild zu verschaffen, versuchte ich in den nächsten fünf Minuten, so viele Informationen wie möglich aus Hefterer herauszubringen. Allerdings vergeblich. Der Gute war so aufgeregt, dass er keinen klaren Satz zustande brachte, sondern sich ständig in Gedanken verhaspelte. Kurzerhand beschloss ich, mich selbst direkt zum Tatort zu begeben. Das war auch nicht weiter aufwendig, denn der Juwelier war keinen Kilometer von meiner Kanzlei entfernt: den Ku’damm in Richtung Halensee, bis kurz vor der Bleibtreustraße. Allerdings wollte ich da nicht alleine hin. Dieser Fall verlangte nach einem Partner, der wie kein anderer geeignet war, mir in dieser Angelegenheit zur Seite zu stehen. Außerdem hatte ich keine Lust, heute etwas alleine zu machen. Irgendwie war mir nach Gesellschaft. Schließlich stand Weihnachten vor der Tür. Während ich mit der linken Hand meinen Mantel griff, entsperrte ich mit dem Daumen der rechten mein iPhone und scrollte durch meine Anrufliste bis zu einer Nummer, die ich nahezu jeden Tag wenigstens einmal wählte. Tobias Baumann.

Tobi war nicht nur mein bester und ältester Freund, sondern nach einer kurzen Karriere bei der Polizei auch der beste Privatdetektiv, den ich kannte. Tatsächlich war er auch der Einzige, mit dem ich regelmäßig zu tun hatte. Bevor ich seine Nummer wählte, sah ich kurz auf meine Uhr. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Um diese Zeit würde Tobi noch tief und fest schlafen. Und warum auch immer, ich hatte große Lust, ihn aufzuwecken. Wozu waren Freunde da?

3.

Berlin-Charlottenburg, Kurfürstendamm 45,
Juwelier Hefterer: Montag, 21. Dezember, 08.47 Uhr

Wie jedes Jahr um diese Zeit war der Ku’Damm festlich geschmückt. Strahlend helle Lichterketten zierten die Bäume, die Berlins wohl bekanntesten Boulevard auf beiden Seiten des vierspurigen Fahrdamms säumten. Auf dem Mittelstreifen waren, nur durch Parkhäfen unterbrochen, weihnachtliche Skulpturen aufgestellt. Beseelt blickte ich mich um und war für einen kurzen Moment ganz von dem Zauber des nahenden Festes gefangen. Bis eine aufgeregte Stimme mich mit einem Ruck in die Realität zurückholte.

 

»Ein Glück, dass Sie so schnell kommen konnten!«, begrüßte mich Karl-Georg Hefterer, und tiefe Erleichterung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Mit großen Schritten kam er auf mich zu und streckte mir seine Hand zur Begrüßung entgegen. Seine sonst so akkurat zurückgekämmten silbergrauen Haare waren völlig durcheinander, und die bordeauxrote Krawatte, die er unter seinem braunen Tweedsakko trug, hing ihm schief um den Hals. Anstelle des souveränen Geschäftsmanns, der auf den Bildern der Illustrierten an einen vornehmen britischen Lord erinnerte, kam er mir jetzt eher wie der verrückte Professor aus einer englischen Primetime-Serie vor.

»Ein Desaster, ein absolutes Desaster«, überschlug er sich, und ich legte ihm beruhigend meine Hand auf die Schulter. Zuversichtlich sah ich ihn an. »Das ist es, lieber Herr Hefterer, das ist es, aber das kriegen wir schon in den Griff«, erwiderte ich, ohne allerdings zu wissen, ob und wie ich dieses Versprechen jemals einhalten sollte.

Meine Worte machten dennoch einen gewissen Eindruck auf den Juwelier, und er atmete erst einmal tief durch. Das gab mir die Zeit, mich in Ruhe vor dem Geschäft umzusehen. Nicht weniger als vier Streifenwagen säumten die Szene. Ihr Blaulicht hatte zahlreiche Schaulustige angezogen, die hinter den provisorischen Absperrungen aus »Flatterband« Stellung bezogen hatten. Unter ihnen tummelten sich, wie nicht anders zu erwarten, auch die Kriminalreporter der einschlägigen Hauptstadtblätter. Einige davon erkannte ich sofort, wir hatten uns öfter im Gerichtssaal gesehen. Ich widerstand nur schwer dem spontanen Drang, zu diesem Zeitpunkt eine Stellungnahme abzugeben. Ich hatte ja gar keine Ahnung, worum es hier eigentlich ging. Mit einem jovialen Lächeln in Richtung der Reporter wandte ich mich wieder dem Juweliergeschäft zu.

Von außen waren keine offensichtlichen Einbruchspuren zu sehen. Auffällig war allerdings die Baustelle, die unmittelbar vor dem Juwelier von Beamten der Spurensicherung unter die Lupe genommen wurde.

»Dort sind sie reingekommen«, sagte Hefterer, der meinem Blick gefolgt war. »Unterirdisch, durch einen Tunnel.«

Nicht schlecht, dachte ich und musste den Einbrechern einen gewissen Tribut zollen. Das gab es schon lange nicht mehr. Die meisten Überfälle der letzten Jahre waren sogenannte »Hit-and-Run-Taten«, bei denen die Täter meistens tagsüber in wenigen Minuten unter einer Vielzahl von Passanten und Kunden Geschäfte überfielen, blitzschnell ihre Beute zusammenrafften, nur um dann kurze Zeit später in das wartende Fluchtfahrzeug zu springen und sich aus dem Staub zu machen. Das ging schnell und erforderte weder große Vorbereitung noch Intelligenz. »Ganze fünf Tage ist die Baustelle schon da. Rohrarbeiten. Dachte ich zumindest«, fuhr Hefterer fort. »Tag und Nacht haben die gearbeitet. Trotz der Kälte. Sogar Kaffee haben die von mir gekriegt, und dann so was …«

Der Juwelier schüttelte den Kopf, ganz offensichtlich persönlich enttäuscht von der Unverschämtheit der Einbrecher. Erst seinen Kaffee nehmen, dann seine Edelsteine. Ich musste allerdings gestehen, dass mein Respekt vor den Jungs von Minute zu Minute wuchs. Wirklich schlau ausgedacht. Ich riss mich aber zusammen und erinnerte mich daran, dass ich dieses Mal ja auf der anderen Seite stand. Hefterer war mein Mandant, nicht die Einbrecher. Ein kurzes Bedauern darüber wischte ich beiseite, als ich hörte, wie jemand meinen Namen rief.

»Eberhardt! Na, auf Sie habe ich gerade noch gewartet. Was machen Sie denn hier?«

Ich drehte mich um und blickte direkt in das von zu viel Arbeit und zu wenig Schlaf gezeichnete Gesicht von Kriminalhauptkommissar Lüning, der mich abschätzig von oben bis unten musterte, so als hätte er mich gerade in flagranti mit der Beute erwischt.

»Meinem Mandanten zur Seite stehen«, erwiderte ich nur knapp und zeigte auf Hefterer, der nervös von einem Bein auf das andere trippelte.

»Soso«, sagte Lüning und sah den Juwelier fragend an. »Wozu brauchen Sie denn einen Verteidiger? Haben Sie sich am Ende gar selbst beraubt?« Schallend lachte er als Einziger über seinen schlechten Witz und kriegte sich nur schwer wieder ein. Als er sich beruhigt hatte, sah er mich misstrauisch an, denn so ganz konnte er sich meine Anwesenheit nicht erklären. Damit waren wir schon zu zweit. Weil aber in seiner Welt nicht sein konnte, was nicht sein durfte, schien er kurz nachzudenken. Und das in der ihm eigenen Geschwindigkeit. Man konnte förmlich sehen, wie sich die Räder in seinem Gehirn langsam zu drehen begannen. Abwechselnd blickte er dabei von Hefterer zu mir und wieder zurück. Dann erhellte sich sein Gesicht. »Ach so, es geht um den Schaden gegenüber der Versicherung. Dafür brauchen Sie den feinen Herrn Anwalt. Na dann. Wir sind hier eh gerade fertig, und Ihr Laden gehört Ihnen jetzt wieder ganz alleine.« Er griff in seine Manteltasche und zog eine leicht zerknitterte Visitenkarte hervor. »Wenn Ihnen irgendetwas einfällt, was für den Fall wichtig sein könnte, melden Sie sich bitte.«