Sternstunden der Menschheit

Cover

Über dieses Buch

»Immer müssen Millionen müßige Weltstunden verrinnen, ehe eine wahrhaft historische, eine Sternstunde der Menschheit, in Erscheinung tritt.« Vierzehn solcher »schicksalsträchtiger Stunden« beschreibt Zweigs wohl bedeutendstes Werk. In unterschiedlichster Form, als dramatische Szene, Bericht oder Gedicht, versammeln sich hier in beeindruckenden Einzelporträts Abenteurer und Forscher wie Robert Scott, Dichter wie Goethe und Tolstoi, Komponisten wie Händel oder Personen der Zeitgeschichte wie Napoleon, Lenin oder Woodrow Wilson. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Die E-Books des Reclam Verlags verwenden entsprechend der jeweiligen Buchausgabe Sperrungen zur Hervorhebung von Textpassagen. Diese Textauszeichnung wird nicht von allen Readern unterstützt.

Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Fußnoten

  1. Stefan Zweig, Die schlaflose Welt, Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909–1941, Frankfurt a.M. 1983, S. 252 f.

  2. Romain Rolland – Stefan Zweig: Briefwechsel 1910–1940, Bd. 2: 1924–1940, Berlin 1987, S. 713.

  3. Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile, Nr. 8, in: F. N., Sämtliche Werke in Einzelbänden, Stuttgart 1990, S. 82.

  4. Vgl. Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881, in: Theodor Storm, Sämtliche Werke in acht Bänden, hrsg. von Albert Köster, Bd. 8, Leipzig 1920, S. 122.

Cicero

Das weiseste, was ein kluger und nicht sehr tapferer Mann tun kann, wenn er einem Stärkeren begegnet, ist: ihm auszuweichen und ohne Beschämung die Wende abzuwarten, bis die Bahn ihm selbst wieder frei wird. Marcus Tullius Cicero, der erste Humanist des römischen Weltreiches, der Meister der Rede, der Verteidiger des Rechts, hat drei Jahrzehnte lang um den Dienst vor dem ererbten Gesetz und die Erhaltung der Republik sich gemüht; seine Reden sind eingemeißelt in die Annalen der Geschichte, seine literarischen Werke in die Quadern der lateinischen Sprache. Er hat in Catilina die Anarchie, in Verres die Korruption, in den siegreichen Generälen die drohende Diktatur befeindet, und sein Buch ›De republica‹ gilt innerhalb seiner Zeit als der sittliche Kodex der idealen Staatsform. Aber nun ist ein Stärkerer gekommen. Julius Caesar, den er als der Ältere und Berühmtere anfänglich ohne Misstrauen gefördert, hat sich über Nacht mit seinen gallischen Legionen zum Herrn Italiens gemacht; als unumschränkter Gebieter der militärischen Macht brauchte er nur die Hand auszustrecken, um die Königskrone zu fassen, die Antonius ihm vor dem versammelten Volke angeboten. Vergebens hat Cicero Caesars Alleinherrschaft bekämpft, sobald dieser zugleich mit dem Rubikon das Gesetz überschritt. Vergebens hat er versucht, die letzten Verteidiger der Freiheit gegen den Vergewaltiger aufzurufen. Aber die Kohorten erwiesen sich wie immer stärker als die Worte. Caesar, Geistmensch und Tatmensch zugleich, hat restlos triumphiert, und wäre er wie die meisten der Diktatoren rachsüchtig, so könnte er nun nach seinem schmetternden Siege leichthin diesen starrsinnigen Verteidiger des Gesetzes beseitigen oder zumindest in die Acht tun. Jedoch mehr als alle seine militärischen Triumphe, ehrt Julius Caesar seine Großmut nach dem Siege. Er schenkt Cicero, dem erledigten Widersacher ohne jeden Versuch der Erniedrigung das Leben und legt ihm einzig nahe, von der politischen Bühne abzutreten, die ihm nun allein gehört und auf der jedem andern bloß die Rolle eines stummen und gehorsamen Statisten zugeteilt bliebe.

Nun kann einem geistigen Menschen nichts Glücklicheres geschehen als die Ausschaltung vom öffentlichen, vom politischen Leben; sie treibt den Denker, den Künstler aus einer seiner unwürdigen Sphäre, die nur mit Brutalität oder Verschlagenheit zu bemeistern ist, in seine innere unberührbare und unzerstörbare zurück. Jede Form des Exils wird für einen geistigen Menschen Antrieb zur inneren Sammlung, und Cicero begegnet dieses gesegnete Missgeschick in dem besten und glücklichsten Augenblick. Der große Dialektiker nähert sich mählich der Alterswende eines Lebens, das mit ständigen Stürmen und Spannungen ihm wenig Zeit zu schöpferischer Übersicht gelassen. Wie viel und wie viel Gegensätzliches hat der Sechzigjährige im engen Raum seiner Zeit durchlebt! Durch Zähigkeit, Wendigkeit und geistige Überlegenheit sich vorstoßend und durchdrückend hat er, der homo novus, der Reihe nach alle öffentlichen Stellen und Ehren errungen, die sonst einem kleinen Provinzmenschen verwehrt und eifersüchtig einzig der angestammten Adelsclique vorbehalten waren. Er hat das höchste Hoch und das tiefste Tief der öffentlichen Gunst erfahren, nach der Niederschlagung Catilinas im Triumph die Stufen des Kapitols emporgeführt, vom Volk bekränzt, vom Senat mit dem ruhmreichen Titel eines »pater patriae« geehrt. Und er hat anderseits über Nacht in die Verbannung fliehen müssen, von dem gleichen Senat verurteilt und von demselben Volk in Stiche gelassen. Kein Amt, in dem er nicht gewirkt, kein Rang, den er sich nicht kraft seiner Unermüdlichkeit errungen hatte. Er hat Prozesse geführt auf dem Forum, er hat als Soldat Legionen kommandiert im Felde, er hat als Konsul die Republik, als Prokonsul Provinzen verwaltet, Millionen Sesterzen sind durch seine Hände gegangen und unter seinen Händen zu Schulden zerflossen. Er hat das schönste Haus am Palatin besessen und hat es in Trümmern gesehen, verbrannt und verwüstet von seinen Feinden. Er hat denkwürdige Traktate geschrieben und klassische Reden gehalten. Er hat Kinder gezeugt und Kinder verloren, er ist mutig gewesen und schwach, eigenwillig und dann wieder lobdienerisch, viel bewundert und viel gehasst, ein wetterwendischer Charakter voll Brüchigkeit und Glanz, in summa die anziehendste und wiederum erregendste Persönlichkeit seiner Zeit, weil mit allen Geschehnissen dieser vierzig überfüllten Jahre von Marius bis Caesar unlösbar verknüpft. Zeitgeschichte, Weltgeschichte, sie hat Cicero wie kein anderer erlebt und durchlebt; nur für eines – für das Wichtigste – ist ihm nie Zeit geblieben: zum Blick in das eigene Leben. Nie hat der Rastlose in seinem Ehrgeiztaumel Zeit gefunden, sich still und gut zu besinnen und die Summe seines Wissens, seines Denkens zu ziehen.

Nun endlich ist ihm durch Caesars Staatsstreich, der ihn ausschaltet von der res publica, Gelegenheit gegeben, diese res privata, die wichtigste der Welt, fruchtbar zu pflegen; resignierend überlässt Cicero Forum, Senat und das Imperium der Diktatur Julius Caesars. Eine Unlust vor allem Öffentlichen beginnt den Zurückgestoßenen zu überwältigen. Er resigniert: Mögen andere die Rechte des Volkes verteidigen, dem Gladiatorenkämpfe und Spiele wichtiger sind als seine Freiheit, für ihn gilt es jetzt nur mehr, eigene, die innere Freiheit zu suchen, zu finden und zu gestalten. So blickt Marcus Tullius Cicero zum ersten Mal im sechzigsten Jahr still sinnend in sich, um der Welt zu erweisen, wofür er gewirkt und gelebt.

Als der geborene Künstler, der nur versehentlicherweise aus der Welt der Bücher in die brüchige der Politik geraten war, sucht Marcus Tullius Cicero sein Leben klarsichtig gemäß seinem Alter und seinen innersten Neigungen zu gestalten. Er zieht sich von Rom, der lärmenden Metropole, nach Tusculum, dem heutigen Frascati, zurück und stellt damit eine der schönsten Landschaften Italiens rings um sein Haus. In linden, dunkel bewaldeten Wellen fluten die Hügel hinab in die Campagna, mit silbernem Ton musizieren die Quellen in die abseitige Stille. Nach all den Jahren auf dem Markte, dem Forum, im Kriegszelt und Reisewagen ist dem schöpferischen Nachsinner endlich die Seele hier voll aufgetan. Die Stadt, die verführerische, die ermüdende, sie liegt fern wie ein bloßer Rauch am Horizont und liegt doch nah genug, dass oftmals Freunde kommen zu geistig anregendem Gespräch, Atticus, der innig vertraute, oder der junge Brutus, der junge Cassius, und einmal sogar – gefährlicher Gast! – der große Diktator selbst, Julius Caesar. Aber bleiben die römischen Freunde aus, so sind doch immer andere zur Stelle, herrliche, nie enttäuschende Gefährten, gleich willig zum Schweigen und zur Rede: die Bücher. Eine wundervolle Bibliothek, eine wahrhaft unerschöpfliche Wabe der Weisheit, baut sich Marcus Tullius Cicero in sein ländliches Haus ein, die Werke der griechischen Weisen anreihend den römischen Chroniken und den Kompendien der Gesetze; mit solchen Freunden aus allen Zeiten und allen Sprachen kann kein Abend mehr einsam sein. Der Morgen gehört der Arbeit. Immer wartet gehorsam der gelehrte Sklave zum Diktat, zu den Mahlzeiten kürzt ihm die Tochter Tullia, die innig geliebte, die Stunden, die Erziehung des Sohnes bringt täglich neue Anregung oder Abwechslung. Und dann, letzte Weisheit: Der Sechzigjährige begeht noch die süßeste Torheit des Alters, er nimmt eine junge Frau, jünger als seine Tochter, um als Künstler des Lebens Schönheit statt in Marmor oder Versen auch in ihrer sinnlichsten und bezauberndsten Form zu genießen.

So scheint in seinem sechzigsten Jahre Marcus Tullius Cicero endgiltig heimgekehrt zu sich selbst, Philosoph nur mehr und nicht mehr Demagog, Schriftsteller und nicht mehr Rhetor, Herr seiner Muße und nicht mehr geschäftiger Diener der Volksgunst. Statt vor bestechlichen Richtern auf dem Markte zu perorieren, legt er lieber das Wesen der Rednerkunst in seinem ›De oratore‹ vorbildlich für alle seine Nachahmer fest und sucht gleichzeitig in seinem Traktat ›De senectute‹ sich selbst zu belehren, dass ein wirklich Weiser als die wahre Würde des Alters und seiner Jahre Resignation zu erlernen hat. Die schönsten, die harmonischesten seiner Briefe stammen aus jener Zeit der inneren Sammlung, und selbst als niederschmetterndes Unglück ihn betrifft, der Tod seiner geliebten Tochter Tullia, hilft ihm seine Kunst zu philosophischer Würde: Er schreibt jene Consolationes, die noch heute durch Jahrhunderte Tausende in gleichem Schicksal getröstet haben. Nur dem Exil dankt die Nachwelt den großen Schriftsteller in dem einstigen geschäftigen Redner. Innerhalb dieser stillen drei Jahre schafft er mehr für sein Werk und seinen Nachruhm als vordem in den dreißig, die er verschwenderisch der res publica hingegeben.

Schon scheint sein Leben das eines Philosophen geworden. Die täglichen Nachrichten und Briefe aus Rom beachtet er kaum, Bürger schon mehr jener ewigen Republik des Geistes als der römischen, die Caesars Diktatorschaft entmannt hat. Der Lehrer des irdischen Rechts hat endlich das bittre Geheimnis erlernt, das jeder im öffentlichen Wirken schließlich erfahren muss: dass man auf die Dauer nie die Freiheit von Massen verteidigen kann, sondern immer nur die eigne, die innere.

 

So verbringt Weltbürger, Humanist, Philosoph Marcus Tullius Cicero einen gesegneten Sommer, einen schöpferischen Herbst, einen italienischen Winter, abseits – und wie er meint: für immer abseits – vom zeitlichen, vom politischen Getriebe. Die täglichen Nachrichten und Briefe aus Rom beachtet er kaum, gleichgiltig für ein Spiel, das ihn nicht mehr als Partner benötigt. Schon scheint er vom eitlen Öffentlichkeitsgelüst des Literaten gänzlich genesen, Bürger nur mehr der unsichtbaren Republik und nicht jener korrumpierten und vergewaltigten mehr, die sich dem Terror widerstandslos unterworfen. Da, an einem Mittag des März stürmt ein Bote ins Haus, staubbedeckt, mit pochenden Lungen. Gerade noch kann er die Nachricht melden: Julius Caesar, der Diktator, ist ermordet worden auf dem Forum von Rom, dann knickt er zu Boden.

Cicero erblasst. Vor Wochen ist mit dem großmütigen Sieger er noch an der gleichen Tafel gesessen, und so gehässig er auch in Gegnerschaft gegen diesen gefährlich Überlegenen gestanden, so misstrauisch er seine militärischen Triumphe betrachtet, immer doch war er genötigt, innerlich den souveränen Geist, das organisatorische Genie und die Humanität dieses einzig respektablen Feindes heimlich zu ehren. Aber bei aller Abscheu vor dem gemeinen Argument des Mordvolkes, hat dieser Mann Julius Caesar, mit allen seinen Vorzügen und Leistungen nicht selbst die fluchwürdigste Art des Mordes begangen, parricidium patriae, den Mord des Sohnes am Vaterland? War eben nicht gerade sein Genie die gefährlichste Gefahr der römischen Freiheit? Mag der Tod dieses Mannes menschlich bedauerlich sein, so fördert die Untat doch den Sieg der heiligsten Sache, denn, nun da Caesar tot ist, kann die Republik wieder auferstehn: Durch diesen Tod triumphiert die erhabenste Idee, die Idee der Freiheit.

So überwindet Cicero sein erstes Erschrecken. Er hat die heimtückische Tat nicht gewollt, vielleicht nicht einmal im innersten Traum zu wünschen gewagt. Brutus und Cassius, obwohl Brutus, während er den blutigen Dolch aus Caesars Brust reißt, seinen Namen, Ciceros Namen aufgerufen und damit den Lehrer der republikanischen Gesinnung als Zeugen seiner Tat gefordert, haben ihn nicht in die Verschwörung eingeweiht. Aber nun, da die Tat unwiderruflich geschehen ist, muss sie wenigstens zugunsten der Republik ausgewertet werden. Cicero erkennt: Der Weg zur alten römischen Freiheit geht über diese königliche Leiche, und es ist Pflicht, den andern diesen Weg zu weisen. Ein solcher einmaliger Augenblick darf nicht vergeudet werden. Noch am selben Tag lässt Marcus Tullius Cicero seine Bücher, seine Schriften und das heilige Otium des Künstlers. In pochender Eile des Herzens eilt er nach Rom, um die Republik als das wahre Erbe Caesars gleicherweise vor seinen Mördern wie vor seinen Rächern zu retten.

 

In Rom trifft Cicero auf eine verwirrte, bestürzte und ratlose Stadt. Schon in der Stunde ihres Geschehens hat sich die Tat der Ermordung Julius Caesars größer erwiesen als ihre Täter. Nur zu ermorden, nur zu beseitigen wusste der zusammengewürfelte Klüngel der Verschwörer den ihnen allen überlegenen Mann. Aber nun, da es gilt, die Tat auszunützen, stehen sie hilflos und wissen nicht, was beginnen. Die Senatoren schwanken, ob sie dem Morde beipflichten oder ihn verurteilen sollen, das Volk, längst gewöhnt von einer rücksichtslosen Hand gegängelt zu werden, wagt keine Meinung. Antonius und die andern Freunde Caesars fürchten sich vor den Verschworenen und zittern um ihr Leben. Die Verschworenen wiederum fürchten sich vor den Freunden Caesars und deren Rache.

In dieser allgemeinen Bestürzung erweist sich Cicero als der Einzige, der Entschlossenheit zeigt. Sonst zögernd und ängstlich, wie immer der Nerven- und Geistmensch, stellt er sich, ohne zu zögern, hinter die Tat, an der er selbst keinen Anteil gehabt. Aufrecht tritt er auf die Fliesen, die noch feucht sind vom Blute des Ermordeten, und rühmt vor dem versammelten Senat die Beseitigung des Diktators als einen Sieg der republikanischen Idee. »O mein Volk, noch einmal bist du zur Freiheit zurückgekehrt!«, ruft er aus. »Ihr, Brutus und Cassius, ihr habt die größte Tat nicht nur Roms, sondern der ganzen Welt vollbracht.« Aber gleichzeitig verlangt er, dass dieser an sich mörderischen Tat nun ihr höherer Sinn gegeben werde. Die Verschworenen sollen energisch die Macht ergreifen, die nach Caesars Tode brachliegt, und sie schleunig zur Rettung der Republik, zur Wiederherstellung der alten römischen Verfassung nützen. Antonius solle das Konsulat genommen, Brutus und Cassius die Exekutive übertragen werden. Zum ersten Mal hat der Mann des Gesetzes für eine kurze Weltstunde das starre Gesetz zu brechen, um die Diktatur der Freiheit für immer zu erzwingen.

Aber nun zeigt sich die Schwäche der Verschwörer. Nur eine Verschwörung konnten sie anzetteln, nur einen Mord vollbringen. Sie hatten nur Kraft, fünf Zoll tief ihre Dolche in den Leib eines Wehrlosen zu stoßen; damit war ihre Entschlossenheit zu Ende. Statt die Macht zu ergreifen und für die Wiederherstellung der Republik zu nutzen, mühen sie sich um eine billige Amnestie und verhandeln mit Antonius; sie lassen den Freunden Caesars Zeit, sich zu sammeln, und versäumen damit die kostbarste Zeit. Cicero erkennt hellsichtig die Gefahr. Er merkt, dass Antonius einen Gegenschlag vorbereitet, der nicht nur die Verschwörer, sondern auch den republikanischen Gedanken erledigen soll. Er warnt und eifert und agitiert und spricht, um die Verschworenen, um das Volk zu entschlossenem Handeln zu zwingen. Aber – welthistorischer Fehler! – er selbst handelt nicht. Alle Möglichkeiten liegen jetzt offen in seiner Hand. Der Senat ist bereit, ihm beizupflichten, das Volk wartet eigentlich nur auf einen, der entschlossen und kühn die Zügel anreißt, die Caesars starken Händen entfallen. Niemand würde widerstreben, alle erleichtert aufatmen, ergriffe er jetzt die Regierung und schaffte Ordnung im Chaos.

Marcus Tullius Ciceros welthistorische Stunde, die er seit seinen catilinarischen Reden so glühend ersehnt, nun ist sie endlich gekommen mit diesen Iden des März, und wüsste er sie zu nützen, wir alle hätten anders Geschichte in unseren Schulen gelernt; nicht bloß als der eines ansehnlichen Schriftstellers, sondern als des Retters der Republik, als des wahren Genius der römischen Freiheit wäre der Name Cicero in den Annalen des Livius und Plutarch überliefert. Sein wäre der unsterbliche Ruhm: die Macht eines Diktators besessen und sie freiwillig dem Volke wieder zurückgegeben zu haben.

Doch unablässig wiederholt sich in der Geschichte die Tragödie, dass gerade der geistige Mensch, weil innerlich von der Verantwortung beschwert, in entscheidender Stunde selten zum Tatmenschen wird. Immer wieder erneut sich derselbe Zwiespalt im geistigen, im schöpferischen Menschen: Weil er besser die Torheiten der Zeit sieht, drängt es ihn, einzugreifen, und für eine Stunde des Enthusiasmus wirft er sich leidenschaftlich in den politischen Kampf. Aber gleichzeitig zögert er auch, Gewalt mit Gewalt zu erwidern. Seine innere Verantwortung schrickt zurück, Terror zu üben und Blut zu vergießen, und dieses Zögern und Rücksichtnehmen gerade in jenem einzigen Augenblick, der Rücksichtslosigkeit nicht nur verstattet, sondern sogar fordert, lähmt seine Kraft. Nach dem ersten Impuls der Begeisterung blickt Cicero mit gefährlicher Klarsichtigkeit auf die Situation. Er blickt auf die Verschwörer, die er gestern noch als Helden gerühmt, und sieht, dass es nur schwachmütige Menschen sind, flüchtend vor dem Schatten der eigenen Tat. Er blickt auf das Volk und sieht, dass es längst nicht mehr das alte römische populus romanus ist, jenes heldische Volk, von dem er geträumt, sondern ein entarteter Plebs, einzig nur auf Vorteil und Vergnügen bedacht, auf Futter und Spiel, panem et circenses, einen Tag Brutus und Cassius, den Mördern, zujubelnd und am nächsten Antonius, der zur Rache gegen sie ruft, und am dritten wieder Donabella, der die Bildnisse Caesars niederschlagen lässt. Niemand, erkennt er, in dieser entarteten Stadt dient noch ehrlich der Idee der Freiheit. Alle wollen sie nur Macht oder ihr Behagen: Vergebens ist Caesar beseitigt worden, denn nur um sein Erbe, um sein Geld, seine Legionen, um seine Macht buhlen und schachern und streiten sie alle; nur für sich selbst und nicht für die einzig heilige, die römische Sache suchen sie Vorteil und Gewinn.

Immer müder, immer skeptischer wird Cicero in diesen zwei Wochen nach der voreiligen Begeisterung. Niemand außer ihm selbst bekümmert sich um die Wiederaufrichtung der Republik, das nationale Gefühl ist erloschen, der Sinn für die Freiheit völlig dahin. Schließlich überkommt ihn Ekel vor diesem trüben Tumult. Er kann sich nicht länger einer Täuschung über die Ohnmacht seines Worts hingeben, er muss sich angesichts seines Misserfolgs eingestehen, dass seine conciliatorische Rolle ausgespielt ist, dass er entweder zu schwach oder zu mutlos gewesen, um seine Heimat vor dem drohenden Bürgerkrieg zu retten; so überlässt er sie ihrem Schicksal. Anfang April verlässt er Rom und kehrt – abermals enttäuscht, abermals besiegt – zu seinen Büchern, in seine einsame Villa in Puteoli am Golf von Neapel zurück.

 

Zum zweiten Mal ist Marcus Tullius Cicero aus der Welt in seine Einsamkeit geflüchtet. Nun ist er endgiltig gewahr, dass er als Gelehrter, als Humanist, als Wahrer des Rechts von Anfang an fehl in einer Sphäre gewesen, wo Macht als Recht gilt und Skrupellosigkeit mehr fördert als Weisheit und Versöhnlichkeit. Erschüttert hat er erkennen müssen, dass jene ideale Republik, wie er sie für seine Heimat erträumt, dass eine Auferstehung der alten römischen Sittlichkeit nicht mehr zu verwirklichen ist in dieser verweichlichten Zeit. Aber da er die rettende Tat in der widerspenstigen Materie der Wirklichkeit selbst nicht vollbringen konnte, will er wenigstens seinen Traum für eine weisere Nachwelt retten; nicht völlig ohne Wirkung sollen die Mühen und Erkenntnisse eines sechzigjährigen Lebens verloren sein. So besinnt sich der Gedemütigte seiner eigentlichen Kraft, und als Vermächtnis für andere Generationen verfasst er in diesen einsamen Tagen sein letztes und zugleich sein größtes Werk ›De officiis‹, die Lehre von den Pflichten, die der unabhängige, der moralische Mensch gegen sich selbst und gegen den Staat zu erfüllen hat. Es ist sein politisches, sein moralisches Testament, das Marcus Tullius Cicero im Herbst des Jahres 44 und zugleich im Herbst seines Lebens in Puteoli aufzeichnet.

Dass dieses Traktat über das Verhältnis des Individuums zum Staate ein Testament ist, das endgiltige Wort eines abgedankten und aller öffentlichen Leidenschaften entsagenden Menschen, beweist schon die Ansprache dieser Schrift. ›De officiis‹ ist an seinen Sohn gerichtet; Cicero gesteht freimütig seinem Kinde, dass er nicht aus Gleichgiltigkeit aus dem öffentlichen Leben sich zurückgezogen habe, sondern weil er als freier Geist, als römischer Republikaner es unter seiner Würde und Ehre halte, einer Diktatur zu dienen. »Solange der Staat noch von Männern verwaltet war, die er selbst sich erwählte, habe ich meine Kraft und Gedanken der res publica gewidmet. Aber seit alles unter die dominatio unius geriet, war länger kein Raum mehr für öffentlichen Dienst oder Autorität.« Seit der Senat abgeschafft sei und die Gerichtshöfe geschlossen, was habe er da mit einigem Selbstrespekt noch im Senat oder auf dem Forum zu suchen? Bis jetzt habe ihm die öffentliche, die politische Tätigkeit zu sehr seine eigene Zeit entwendet. »Scribendi otium non erat«, und er konnte niemals in geschlossener Form seine Weltanschauung niederlegen. Nun aber, da er zur Untätigkeit gezwungen sei, wolle er sie wenigstens nützen, im Sinne des großartigen Worts des Scipio, der von sich gesagt hatte, er sei »nie tätiger gewesen, als wenn er nichts zu tun hatte, und nie weniger einsam, als wenn er allein mit sich selbst war«.

Diese Gedanken über das Verhältnis des Einzelnen zum Staate, die Marcus Tullius Cicero nun seinem Sohne entwickelt, sind vielfach nicht neu und original. Sie verbinden Angelesenes mit sonst Übernommenem: Auch im sechzigsten Jahr wird ein Dialektiker nicht plötzlich zum Dichter und ein Kompilator zum ursprünglichen Schöpfer. Aber Ciceros Ansichten gewinnen diesmal ein neues Pathos durch den mitschwingenden Ton der Trauer und Erbitterung. Inmitten von blutigen Bürgerkriegen und einer Zeit, wo Prätorianerhorden und Parteibanditen um die Macht kämpfen, träumt ein wahrhaft humaner Geist wieder einmal – wie immer die Einzelnen in solchen Zeiten – den ewigen Traum einer Weltbefriedigung durch sittliche Erkenntnis und Konzilianz. Gerechtigkeit und Gesetz, sie allein sollen die ehernen Grundpfeiler des Staates sein. Die innerlich Redlichen, nicht die Demagogen müssten die Gewalt und damit das Recht im Staate erhalten. Niemand dürfe versuchen seinen persönlichen Willen und damit seine Willkür dem Volke aufzuprägen, und es sei Pflicht, jeden dieser Ehrgeizigen, die dem Volk die Führung entreißen, »hoc omne genus pestiferum acque impium« den Gehorsam zu verweigern. Erbittert weist er als unbeugsam Unabhängiger jede Gemeinschaft mit einem Diktator und jeden Dienst unter ihm zurück. »Nulla est enim societas nobis cum tyrannis et potius summa distractio est.«

Gewaltherrschaft vergewaltigt jedes Recht, argumentiert er. Wahre Harmonie kann in einem Gemeinwesen nur entstehen, wenn der Einzelne, statt zu versuchen aus seiner öffentlichen Stellung persönlichen Vorteil zu ziehen, seine privaten Interessen hinter jenen der Gemeinschaft zurückstellt. Nur wenn der Reichtum sich nicht in Luxus und Verschwendung vergeudet, sondern verwaltet wird und verwandelt in geistige, in künstlerische Kultur, wenn die Aristokratie auf ihren Hochmut verzichtet und der Plebs, statt sich bestechen zu lassen von Demagogen und den Staat an eine Partei zu verkaufen, seine natürlichen Rechte fordert, kann das Gemeinwesen gesunden. Wie alle Humanisten ein Lobredner der Mitte, fordert Cicero den Ausgleich der Gegensätze. Rom braucht keine Sullas und keine Caesars und anderseits keine Gracchen; die Diktatur ist gefährlich, und ebenso die Revolution.

Vieles von dem, was Cicero sagt, war vordem schon im Staatstraum Platos zu finden und wird wieder bei Jean-Jacques Rousseau und allen idealistischen Utopisten zu lesen sein. Aber was dies sein Testament so erstaunlich über seine Zeit hebt, ist jenes neue Gefühl, das hier ein halbes Jahrhundert vor dem Christentum zum ersten Mal zu Worte kommt: das Gefühl der Humanität. In einer Epoche der brutalsten Grausamkeit, wo selbst ein Caesar bei der Eroberung einer Stadt noch zweitausend Gefangenen die Hände abhacken lässt, wo Martern und Gladiatorenkämpfe, Kreuzigungen und Niederschlachten tägliche und selbstverständliche Geschehnisse sind, erhebt als Erster und Einziger Cicero Protest gegen jeden Missbrauch der Gewalt. Er verurteilt den Krieg als die Methode der beluarum, der Bestien, er verurteilt den Militarismus und Imperialismus seines eigenen Volkes, die Ausbeutung der Provinzen, und fordert, dass einzig durch Kultur und Sitte und niemals durch das Schwert Länder dem römischen Reiche einverleibt werden sollten. Er eifert gegen das Plündern von Städten und verlangt – eine im damaligen Rom absurde Forderung – Milde selbst gegenüber den Rechtlosesten der Rechtlosen, gegenüber den Sklaven (adversus infimus justitia esse servandum). Mit prophetischem Blick sieht er Roms Niedergang durch die allzu rasche Folge seiner Siege und seiner ungesunden, weil nur militärischen Welteroberungen voraus. Seit mit Sulla die Nation Kriege begonnen habe, nur um Beute zu gewinnen, sei die Gerechtigkeit im Reiche selbst verlorengegangen. Und immer wenn ein Volk andern Völkern seine Freiheit gewaltsam nehme, verliere es dabei in geheimnisvoller Rache seine eigene, wunderbare Kraft der Einsamkeit.

Während die Legionen unter den ehrgeizigen Führern nach Parthien und Persien, nach Germanien und Britannien, nach Spanien und Mazedonien marschieren, um dem vergänglichen Wahn eines Imperiums zu dienen, erhebt hier eine einsame Stimme Protest gegen diesen gefährlichen Triumph: Denn er hat gesehen, wie aus der blutigen Saat der Eroberungskriege die noch blutigere Ernte der Bürgerkriege erwächst, und feierlich beschwört dieser eine machtlose Sachwalter der Menschlichkeit seinen Sohn, die adiumenta hominum, das Zusammenwirken der Menschen als das höchste und wichtigste Ideal zu ehren. Endlich ist, der allzu lange Rhetor gewesen, Advokat und Politiker, der für Geld und Ruhm jede gute und schlechte Sache mit gleicher Bravour verteidigt, der selbst sich um jedes Amt gedrängt, der um Reichtum, um öffentliche Ehre und Volksbeifall gebuhlt, im Herbst seines Lebens zu dieser klaren Erkenntnis gelangt. Knapp vor seinem Ende wird Marcus Tullius Cicero, bisher nur Humanist, der erste Anwalt der Humanität.

 

Während Cicero dieserart in seinem Abseits ruhig und gelassen Sinn und Form einer moralischen Staatsverfassung durchdenkt, wächst die Unruhe im römischen Reiche. Noch immer hat sich der Senat, hat sich das Volk nicht entschieden, ob es die Mörder Caesars lobpreisen oder verbannen solle. Antonius rüstet zum Kriege gegen Brutus und Cassius, und unvermutet schon ist ein neuer Prätendent zur Stelle, Octavian, den Caesar zu seinem Erben ernannt und der dies Erbe nun wirklich antreten möchte. Kaum dass er in Italien gelandet ist, schreibt er an Cicero, um seinen Beistand zu gewinnen, aber gleichzeitig bittet ihn Antonius, er solle nach Rom kommen, und ebenso rufen ihn von ihren Kriegsplätzen Brutus und Cassius. Alle buhlen sie um den großen Verteidiger, dass er ihre Sache verteidige, alle werben sie um den berühmten Rechtslehrer, dass er ihr Unrecht zum Recht machen solle; aus einem richtigen Instinkt suchen sie, wie immer Politiker, die an die Macht wollen, solange sie diese Macht noch nicht haben, den geistigen Menschen (den sie dann verächtlich zur Seite stoßen werden) als Stütze. Und wäre Cicero noch der eitle, ambitiöse Politiker von vordem, er ließe sich verleiten.

Aber Cicero ist halb müde halb weise geworden, zwei Gefühle, die oftmals einander gefährlich gleichen. Er weiß, dass ihm nur eines jetzt wahrhaft nottut: sein Werk zu vollenden, Ordnung zu machen in seinem Leben, Ordnung in seinen Gedanken. Wie Odysseus vor dem Gesang der Sirenen verschließt er sein inneres Ohr vor den lockenden Rufen der Machthaber, er folgt nicht dem Ruf des Antonius, nicht jenem des Octavian, nicht jenem des Brutus und des Cassius und selbst nicht dem des Senats und seiner Freunde, sondern schreibt in dem Gefühl, stärker zu sein im Wort als in der Tat und klüger allein als inmitten eines Klüngels, weiter und weiter an seinem Buche, ahnend, dass es sein Abschiedswort an diese Welt sein wird.

Erst wie er dies sein Testament vollendet hat, blickt er auf. Es ist ein schlimmes Erwachen. Das Land, seine Heimat steht vor dem Bürgerkrieg. Antonius, der die Kassen Caesars und des Tempels geplündert hat, ist es gelungen, mit gestohlenem Gelde Söldner zu sammeln. Aber gegen ihn stehen drei Armeen, und jede in Waffen, die des Octavian, des Lepidus und jene des Brutus und Cassius. Es ist zu spät geworden für Versöhnung und Vermittlung: Jetzt muss entschieden werden, ob ein neues Caesarentum unter Antonius über Rom herrschen soll oder die Republik weiter bestehen. Jeder muss sich in solcher Stunde entscheiden. Und auch dieser Vorsichtigste und Behutsamste, der, immer den Ausgleich suchend, über den Parteien gestanden oder zwischen ihnen zaghaft gependelt hatte, auch Marcus Tullius Cicero muss sich endgiltig entscheiden.

Und nun geschieht das Sonderbare. Seit Cicero ›De officiis‹, sein Testament seinem Sohne übermittelt hat, ist – aus Verachtung des Lebens – gleichsam ein neuer Mut über ihn gekommen. Er weiß, dass seine politische, seine literarische Karriere abgeschlossen ist. Was er zu sagen hatte, hat er gesagt, was ihm zu erleben bleibt, ist nicht mehr viel. Er ist alt, er hat sein Werk getan, was da noch diesen kläglichen Rest verteidigen? Wie ein müdgehetztes Tier, wenn es die kläffenden Rüden schon knapp hinter sich weiß, plötzlich sich umwendet und, um das Ende zu beschleunigen, sich den Hetzhunden entgegenstößt, so wirft sich Cicero mit wahrhaftem Todesmut noch einmal mitten in den Kampf und an seine gefährlichste Stelle. Der Monate und Jahre nur mehr den stummen Griffel geführt, nimmt wieder den Donnerkeil der Rede und schleudert ihn gegen die Feinde der Republik.

Erschütterndes Schauspiel: Im Dezember steht der grauhaarige Mann wieder auf dem Forum Roms, um noch einmal das römische Volk aufzurufen, sich der Ehre ihrer Ahnen, ille mos virtusque maiorum, würdig zu zeigen. Vierzehn »Philippikas« donnert er gegen den Usurpator Antonius, der Senat und Volk den Gehorsam versagt hat, vollkommen der Gefahr bewusst, die es bedeutet, waffenlos gegen einen Diktator aufzutreten, der seine marschbereiten und mordbereiten Legionen bereits um sich versammelt hat. Aber wer andere zum Mute aufrufen will, hat nur dann überzeugende Kraft, wenn er selbst diesen Mut vorbildlich erweist; Cicero weiß, dass er nicht wie einst auf diesem selben Forum müßig mit Worten ficht, sondern diesmal sein Leben für seine Überzeugung einzusetzen hat. Entschlossen bekennt er von der Rostra: »Schon als junger Mann habe ich die Republik verteidigt. Ich werde sie nicht im Stich lassen, nun da ich alt geworden bin. Gern bin ich bereit, mein Leben hinzugeben, wenn die Freiheit dieser Stadt durch meinen Tod wiederhergestellt werden kann. Mein einziger Wunsch ist, dass ich sterbend das römische Volk frei zurücklassen möge. Keine größere Gunst als diese könnten die unsterblichen Götter mir gewähren.« Jetzt sei keine Zeit mehr, verlangt er nachdrücklich, mit Antonius zu verhandeln. Man müsse Octavian stützen, der, obwohl Blutsverwandter und Erbe Caesars, die Sache der Republik vertrete. Es gehe nicht mehr um Menschen, es gehe um eine Sache, um die heiligste Sache – res in extremum est adducta discrimen: de libertate decernitur – die Sache sei zur letzten und äußersten Entscheidung gekommen: Es gehe um die Freiheit. Wo aber dieser heiligste Besitz bedroht sei, sei jedes Zögern verderbnisvoll. So verlangt der Pazifist Cicero Armeen der Republik gegen die Armeen der Diktatur und er, der wie sein später Schüler Erasmus den »tumultus«, den Bürgerkrieg über alles hasst –, beantragt den Ausnahmezustand für das Land und die Acht gegen den Usurpator.

In diesen vierzehn Reden findet, seit er nicht mehr Advokat zweifelhafter Prozesse ist, sondern Anwalt einer erhabenen Sache, Cicero wirklich großartige und lodernde Worte. »Mögen andere Völker in Sklaverei leben«, ruft er seine Mitbürger an. »Wir Römer wollen es nicht. Können wir nicht die Freiheit erobern, so lasst uns sterben.« Sei der Staat wirklich zu seiner letzten Erniedrigung gekommen, dann gezieme es einem Volk, das die ganze Welt beherrsche – nos principes orbium terrarum gentius que omnium –, so zu handeln, wie es selbst die versklavten Gladiatoren in der Arena täten: lieber mit dem Antlitz gegen den Feind zu sterben als sich hinschlachten zu lassen. »Ut cum dignitate potius cadamus quam cum ignominia serviamus«, um lieber in Ehren zu sterben, als in Schande zu dienen.

Staunend lauscht der Senat, lauscht das versammelte Volk diesen Philippikas. Manche ahnen vielleicht, es werde für Jahrhunderte zum letzten Mal sein, dass solche Worte am Markte ausgesprochen werden dürfen. Bald wird man sich dort nur mehr vor den marmornen Statuen der Imperatoren sklavisch verbeugen müssen, bloß Schmeichlern und Angebern wird ein hinterhältiges Flüstern statt der einstmaligen freien Rede im Reiche der Caesaren erlaubt sein. Ein Schauer überkommt die Hörer: halb Schauer der Angst und halb der Bewunderung für diesen alten Mann, der einsam, mit dem Mute eines Desperados, eines innerlich Verzweifelten, die Unabhängigkeit des geistigen Menschen und das Recht der Republik verteidigt. Zögernd stimmen sie ihm zu. Aber auch der Feuerbrand der Worte kann den vermorschten Stamm des römischen Stolzes nicht mehr entflammen. Und während dieser einsame Idealist am Markte Aufopferung predigt, schließen hinter seinem Rücken die skrupellosen Machthaber der Legionen bereits den schmählichsten Pakt der römischen Geschichte.

Derselbe Octavian, den Cicero als den Verteidiger der Republik gerühmt, derselbe Lepidus, für den er eine Statue für seine Verdienste um das römische Volk gefordert, weil sie beide ausgezogen waren, um den Usurpator Antonius zu vernichten, ziehen beide vor, ein privates Geschäft zu machen. Da keiner von den drei Rottenführern, nicht Octavian und nicht Antonius und nicht Lepidus stark genug ist, um allein sich des römischen Reiches als einer persönlichen Beute zu bemächtigen, kommen die drei Todfeinde überein, lieber das Erbe Caesars privat unter sich zu verteilen; anstelle des großen Caesar hat Rom über Nacht drei kleine Caesaren.

 

Es ist eine welthistorische Stunde, da die drei Generäle, statt dem Senat zu gehorchen und die Gesetze des römischen Volkes zu achten, sich einigen, ihr Triumvirat zu bilden und ein riesiges Reich, das drei Erdteile umspannt, als billige Kriegsbeute zu teilen. Auf einer kleinen Insel nahe von Bologna, wo der Rheno und der Lavino zusammenfließen, wird ein Zelt errichtet, in dem sich die drei Banditen treffen sollen. Selbstverständlich traut keiner der großen Kriegshelden dem andern. Zu oft haben sie sich in ihren Proklamationen Lügner, Schurken, Usurpatoren, Staatsfeinde, Räuber und Diebe genannt, um nicht einer über den Zynismus des andern genau Bescheid zu wissen. Aber Machthungrigen ist nur ihre Macht wichtig und nicht Gesinnung, nur die Beute und nicht Ehre. Mit allen Vorsichtsmaßregeln nähern die drei Partner sich einer nach dem andern dem verabredeten Platz; erst nachdem sich die zukünftigen Herrscher der Welt gegenseitig überzeugt haben, dass keiner von ihnen Waffen mit sich führt, um den allzu neuen Verbündeten zu ermorden, lächeln sie sich freundlich zu und betreten gemeinsam das Zelt, in dem das zukünftige Triumvirat beschlossen und errichtet werden soll.

Drei Tage verbleiben Antonius, Octavian und Lepidus ohne Zeugen in diesem Zelt. Sie haben dreierlei zu tun. Über den ersten Punkt – wie sie die Welt teilen sollen – einigen sie sich rasch. Octavian soll Afrika und Numidien, Antonius Gallien und Lepidus Spanien erhalten. Auch die zweite Frage macht ihnen wenig Sorge: wie das Geld aufzubringen für den Sold, den sie ihren Legionen und Parteilumpen seit Monaten schuldig sind. Dieses Problem löst sich flink nach einem seitdem oftmals nachgeahmten System. Man wird einfach den reichsten Männern im Lande das Vermögen rauben und, damit sie nicht allzu laut darüber klagen können, sie gleichzeitig beseitigen. Gemächlich setzen an ihrem Tisch die drei Männer eine Proskriptionsliste auf mit den zweitausend Namen der reichsten Leute Italiens, darunter hundert Senatoren. Jeder nennt diejenigen, die er kennt, und dazu noch seine persönlichen Feinde und Gegner. Mit ein paar hastigen Griffelstrichen hat das neue Triumvirat nach der territorialen auch die ökonomische Frage vollkommen erledigt.

Nun kommt der dritte Punkt zur Sprache. Wer eine Diktatur begründen will, muss, um der Herrschaft sicher zu bleiben, vor allem die ewigen Gegner jeder Tyrannei zum Schweigen bringen – die unabhängigen Menschen, die Verteidiger jener unausrottbaren Utopie: der geistigen Freiheit. Als ersten Namen für diese letzte Liste fordert Antonius den Marcus Tullius Ciceros. Dieser Mann hat ihn in seinem wahren Wesen erkannt und bei seinem wahren Namen genannt. Er ist gefährlicher als alle, weil er geistige Kraft hat und den Willen zur Unabhängigkeit. Er muss aus dem Wege.

Octavian erschrickt und weigert sich. Als junger Mensch noch nicht ganz verhärtet und vergiftet von der Perfidie der Politik, scheut er sich, seine Herrschaft mit der Beseitigung des berühmtesten Schriftstellers Italiens zu beginnen. Cicero ist sein getreuester Sachwalter gewesen, er hat ihn gerühmt vor dem Volke und Senat; vor wenigen Monaten noch hat Octavian seine Hilfe, seinen Rat demütig angesprochen und den alten Mann ehrfürchtig seinen »wahren Vater« genannt. Octavian schämt sich und beharrt in seinem Widerstand. Aus einem richtigen Instinkt, der ihm Ehre macht, will er diesen erlauchtesten Meister der lateinischen Sprache nicht dem schmählichen Dolch bezahlter Mörder hingeben. Aber Antonius beharrt, er weiß, dass zwischen Geist und Gewalt eine ewige Feindschaft ist und niemand der Diktatur gefährlicher werden kann als der Meister des Worts. Drei Tage währt der Kampf um Ciceros Haupt. Schließlich gibt Octavian nach, und so beschließt Ciceros Name das vielleicht schmählichste Dokument der römischen Geschichte. Mit dieser einen Proskription ist das Todesurteil der Republik erst richtig besiegelt.

 

In der Stunde, da Cicero von der Einigung der früheren drei Erzfeinde erfährt, weiß er, dass er verloren ist. Er weiß genau, dass er in dem Freibeuter Antonius, den Shakespeare zu Unrecht ins Geistige emporgeadelt hat, zu schmerzhaft die niederen Instinkte der Hassgier, der Eitelkeit, der Grausamkeit, der Skrupellosigkeit mit der Weißglut des Wortes gebrandmarkt hat, als dass er von diesem brutalen Gewaltmenschen Caesars Großmut erhoffen könnte. Das einzig Logische, falls er sein Leben retten wollte, wäre rasche Flucht. Cicero müsste hinüber nach Griechenland zu Brutus, zu Cassius, zu Cato in das letzte Heerlager der republikanischen Freiheit; dort wäre er zumindest vor den bereits ausgesandten Meuchelmördern gesichert. Und tatsächlich, zweimal, dreimal scheint der Geächtete schon zur Flucht entschlossen. Er bereitet alles vor, er verständigt seine Freunde, er schifft sich ein, er macht sich auf den Weg. Aber immer wieder hält Cicero im letzten Augenblick inne; wer einmal die Trostlosigkeit des Exils gekannt, spürt selbst in der Gefahr die Wollust der heimischen Erde und die Unwürdigkeit eines Lebens in ewiger Flucht. Ein geheimnisvoller Wille jenseits der Vernunft und sogar wider die Vernunft, zwingt ihn, sich dem Schicksal zu stellen, das ihn erwartet. Nur noch ein paar Tage Rast begehrt der müde Gewordene von seinem schon erledigten Dasein. Nur noch ein wenig still nachsinnen, noch ein paar Briefe schreiben, ein paar Bücher lesen – möge dann kommen, was ihm bestimmt ist. In diesen letzten Monaten verbirgt sich Cicero bald in dem einen, bald in dem anderen seiner Landgüter, immer wieder aufbrechend, sobald eine Gefahr droht, aber niemals ihr vollkommen entflüchtend. Wie ein Fieberkranker die Kissen, so wechselt er diese halben Verstecke, nicht ganz entschlossen, seinem Schicksal entgegenzutreten und nicht auch entschlossen, ihm auszuweichen, als wollte er mit dieser Todesbereitschaft unbewusst die Maxime erfüllen, die er in seinem ›De senectute‹ niedergelegt, dass ein alter Mann den Tod weder suchen dürfe noch ihn verzögern; wann immer er komme, müsse man ihn gelassen empfangen. Neque turpis mors forti viro potest accedere: Für den Seelenstarken gibt es keinen schmählichen Tod.

In diesem Sinne befiehlt Cicero, der schon nach Sizilien unterwegs gewesen, plötzlich seinen Leuten, noch einmal den Kiel zum feindlichen Italien zurückzuwenden und in Cajeta, dem heutigen Gaeta, zu landen, wo er ein kleines Gütchen besitzt. Eine Müdigkeit, die nicht bloß eine der Glieder, der Nerven ist, sondern eine Müdigkeit des Lebens und geheimnisvolles Heimweh nach dem Ende, nach der Erde hat ihn übermannt. Nur rasten noch einmal. Noch einmal die süße Luft der Heimat atmen und Abschied nehmen, Abschied von der Welt, aber ruhen und rasten, sei es ein Tag oder eine Stunde nur!

Ehrfürchtig begrüßt er, kaum gelandet, die heiligen Laren des Hauses. Er ist müde, der vierundsechzigjährige Mann, und die Seefahrt hat ihn erschöpft, so streckt er sich hin auf das cubiculum, die Augen geschlossen, um in lindem Schlafe die Vorlust des ewigen Ausruhens zu genießen.

Aber kaum hat Cicero sich hingestreckt, so stürzt schon ein getreuer Sklave herein. Es seien verdächtige bewaffnete Männer in der Nähe; ein Angestellter seines Haushalts, dem er viele Freundlichkeiten zeitlebens erwiesen, habe um der Belohnung willen seinen Aufenthalt den Mördern verraten. Cicero möge flüchten, rasch flüchten, eine Sänfte sei bereit, und sie selbst, die Sklaven des Hauses, wollten sich bewaffnen, und ihn verteidigen während des kurzen Weges hin zum Schiff, wo er dann gesichert sei. Der alte erschöpfte Mann wehrt ab. »Was soll es«, sagt er, »ich bin müde zu fliehen und müde zu leben. Lass mich hier in diesem Lande sterben, das ich gerettet habe.« Schließlich überredet ihn doch der alte getreue Diener; bewaffnete Sklaven tragen die Sänfte auf Umwegen durch das kleine Wäldchen zu der rettenden Barke.

Aber der Verräter in seinem Hause will sich um sein Schandgeld nicht betrügen lassen, hastig ruft er einen Centurio und ein paar Bewaffnete zusammen. Sie jagen dem Zuge nach durch den Wald und erreichen noch rechtzeitig ihre Beute.

Sofort scharen sich die bewaffneten Diener um die Sänfte und machen sich zum Widerstand bereit. Jedoch Cicero befiehlt ihnen abzulassen. Sein eigenes Leben ist abgelebt, wozu noch fremde und jüngere opfern? In dieser letzten Stunde fällt von diesem ewig schwankenden, unsicheren und nur selten mutigen Mann alle Angst. Er fühlt, dass er als Römer sich nur in der letzten Probe noch bewähren kann, wenn er – sapientissimus quisque aequissimo animo moritur – aufrecht dem Tode entgegengeht. Auf sein Geheiß weichen die Diener zurück, unbewaffnet und ohne Widerstand bietet er sein greises Haupt den Mördern mit dem großartig überlegenen Wort dar: »Non ignoravi me mortalem genuisse«, ich habe immer gewusst, dass ich sterblich bin. Die Mörder aber wollen nicht Philosophie, sondern ihren Sold. Sie zögern nicht lange. Mit einem mächtigen Hieb schlägt der Centurio den Wehrlosen nieder.

So stirbt Marcus Tullius Cicero, der letzte Anwalt der römischen Freiheit, heroischer, mannhafter und entschlossener in dieser seiner letzten Stunde als in den Tausenden und Tausenden seines abgelebten Lebens.

 

Auf die Tragödie folgt das blutige Satyrspiel. Aus der Dringlichkeit, mit der von Antonius gerade dieser eine Mord anbefohlen war, mutmaßen die Mörder, dass dieser Kopf einen besonderen Wert haben müsse – nicht natürlich seinen Wert im geistigen Gefüge der Welt und der Nachwelt ahnen sie – sondern wohl aber den besonderen Wert für den Auftraggeber der blutigen Tat. Um sich die Prämie nicht streitig machen zu lassen, beschließen sie als sprechenden Beweis des vollzogenen Befehls, den Kopf Antonius persönlich zu überbringen. So hackt der Banditenführer der Leiche Haupt und Hände ab, stopft sie in einen Sack und eilt, diesen Sack, aus dem noch das Blut des Gemordeten tropft, auf den Rücken geschultert, eiligst nach Rom, um den Diktator mit der Nachricht zu erfreuen, dass der beste Verteidiger der römischen Republik auf übliche Weise erledigt worden sei.

Und der kleine Bandit, der Banditenführer, hat richtig gerechnet. Der große Bandit, der diesen Mord anbefohlen, münzt seine Freude über die begangene Untat in fürstliche Belohnung um. Nun, da er die zweitausend reichsten Leute Italiens ausplündern und morden ließ, kann Antonius endlich freigiebig sein. Eine blanke Million Sesterzen zahlt er dem Centurio für den blutigen Sack mit Ciceros abgeschlagenen Händen und geschändetem Haupt. Aber noch immer ist damit seine Rache nicht gekühlt, so ersinnt der stupide Hass dieses Blutmenschen für diesen Toten noch eine besondere Schmach, ahnungslos, dass sie ihn selbst erniedrigen wird für alle Zeiten. Antonius befiehlt, dass das Haupt und die Hände Ciceros an die Rostra, an dieselbe Rednerbühne genagelt werden sollen, von der herab er das Volk gegen ihn zur Verteidigung der römischen Freiheit aufgerufen.

Ein schmähliches Schauspiel erwartet am nächsten Tage das römische Volk. An der Rednerkanzel, der gleichen, von der Cicero seine unsterblichen Reden gehalten, hängt fahl das abgeschlagene Haupt des letzten Anwalts der Freiheit. Ein wuchtiger rostiger Nagel geht quer durch die Stirn, die tausend Gedanken gedacht; fahl und bitter verklammen sich die Lippen, die schöner als alle das metallische Wort der lateinischen Sprache geformt, verschlossen decken die bläulichen Lider das Auge, das durch sechzig Jahre über die Republik gewacht, machtlos spreizen sich die Hände, die die prachtvollsten Briefe der Zeit geschrieben.

Aber dennoch, keine Anklage, die der großartige Redner gegen Brutalität, gegen Machtkoller, gegen Gesetzlosigkeit von dieser Tribüne gesprochen, spricht so beredt gegen das ewige Unrecht der Gewalt als nun sein stummes, gemordetes Haupt: Scheu drängt das Volk um die geschändete Rostra, bedrückt, beschämt weicht es wieder zur Seite. Keiner wagt – es ist Diktatur! – eine Widerrede, aber ein Krampf presst ihre Herzen, und betroffen schlagen sie die Augen nieder vor diesem tragischen Sinnbild ihrer gekreuzigten Republik.