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Daniela Molnar | Andreas Oehme |
Anna Renker | Albrecht Rohrmann

 

 

Kategorisierungsarbeit
in Hilfen für Kinder und
Jugendliche mit und
ohne Behinderung

Eine vergleichende Untersuchung

 

 

 

 

 

 

 

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Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-7799-6494-0 Print
ISBN 978-3-7799-5814-7 E-Book (PDF)
ISBN 978-3-7799-6677-7 E-Book (ePub)

1. Auflage 2021

© 2021 Beltz Juventa
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Ulrike Poppel
Satz: Helmut Rohde, Euskirchen
Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza
Printed in Germany

Weitere Informationen zu unseren Autor_innen und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

 

 

Inhalt

1.   Kategorisierungsarbeit in Hilfen für Kinder und Jugendliche.
Eine Einführung   

Albrecht Rohrmann und Andreas Oehme

1.1   Zum Hintergrund des Projektes

1.2   Grundlagen der Kategorisierungsarbeit

1.3   Zum Forschungsstand

1.4   Zur Anlage des Projektes

2.   Akten und ihre Analyse   

Anna Renker

2.1   Dokumentation und Akten in Sozialverwaltungen

2.2   Der ethnomethodologische Blick auf Verwaltungsdokumente

2.2.1   Ethnomethodologie als Forschungshaltung

2.2.2   Verwaltbare Fallrealitäten

2.2.3   Die Akte und Fallbearbeitung in organisationalen Bezügen

2.2.4   Die Kategorisierungsanalyse

2.3   Die Aktenanalyse im Forschungsprojekt
‚Kategorisierungsarbeit in Hilfen für Kinder und Jugendliche‘

2.3.1   Das Sample der Aktenanalyse

2.3.2   Analyseschritte der Aktenanalyse

2.3.3   Die Beschreibung des Datenmaterials

3.   Die Organisation der Kategorisierungsarbeit   

Daniela Molnar und Andreas Oehme

3.1   Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe nach dem
SGB XII – zwei unterschiedliche Handlungsfelder

3.2   Organisationsstrukturen der Ämter in den untersuchten Kreisen

3.2.1   Zwei Rechtskreise, zwei Verfahrensmuster

3.3   Verfahren zur Überprüfung von Ansprüchen nach SGB XII

3.4   Kategorisierungsarbeit als fachlicher Prozess im ASD

3.5   Zur Bedeutung der Organisation für die Kategorisierungsarbeit

4.   Kategorisierungen im Verlauf der Fallbearbeitung   

Anna Renker

4.1   Beginnende Fallbearbeitungsprozesse

4.1.1   Beginn in Jugendamtsakten

4.1.2   Beginn in Sozialamtsakten

4.2   Hilfepläne als Instrumente zur Anpassung der Hilfen an Bedarfe

4.2.1   Hilfepläne in Jugendamtsakten

4.2.2   Hilfepläne in der Fallbearbeitung nach SGB XII

4.3   Beendigungen

4.3.1   Beendigungen in Jugendamtsakten

4.3.2   Beendigungen in Sozialamtsakten

4.4   Zusammenfassung

5.   Klärung und Festlegung von Bedarfen   

Daniela Molnar

5.1   Zur Einordnung der Klärung und Benennung von Bedarfen

5.2   Zur Konstitution von Bedarfen

5.2.1   Hilfen zur Erziehung nach SGB VIII: Dazwischen und Wandelbarkeit

5.2.2   Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII: Hilfebedarf
als durch die Person bedingter Bedarf mit (beinahe) ausschließlichem Bezug auf Schule

5.2.3   Eingliederungshilfe nach SGB XII: Hilfebedarf als behinderungsbedingter Bedarf der Person

5.3   Bedarfsklärung als Verfahrenselement und die Relevanz
fachärztlicher Stellungnahmen

5.3.1   Hilfen zur Erziehung nach SGB VIII: Bedarfsfeststellung als multiperspektivisch und kommunikativ angelegter Prozess

5.3.2   Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII:
Geteiltes Entscheidungs- und Begründungsrecht – Bedarfsbestimmung mit starker Gewichtung fachärztlicher und
schulischer Expertise unter sozialpädagogischem Vorbehalt

5.3.3   Eingliederungshilfe nach SGB XII: Weitgehend exklusives Deutungs- und Kategorisierungsrecht externer Expert*innen

5.4   Bedarfsklärung als Kernelement eines inklusiven Verfahrens

6.   Die Thematisierung von Alter und Entwicklungsstand
und die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen in Akten
des Jugendamtes   

Anne Locke und Albrecht Rohrmann

6.1   Alter und Entwicklungsstand von Felix im Rahmen einer
Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII
in Form einer Schulbegleitung

6.2   Alter und Entwicklungsstand von Martin im Rahmen einer
Gewährung von Hilfe gemäß § 34 SGB VIII in Form einer
stationären Jugendwohngruppe

6.3   Zusammenfassung und Ausblick

7.   Kategorisierungsarbeit in den Hilfen für Kinder
und Jugendliche. Ein Resümee   

Albrecht Rohrmann und Andreas Oehme

7.1   Verständigung über Unterstützungsbedarfe

7.1.1   Die Situierung der individuellen Planung von Hilfen

7.1.2   Die Anfänge von Hilfen

7.1.3   Die Begleitung der Unterstützung

7.1.4   Die Beendigung von Hilfen

7.2   Die Einbeziehung der Adressat*innen

7.2.1   Die Norm der Einbeziehung

7.2.2   Mitwirkung

7.2.3   Einbeziehung als Bezugnahme auf die Adressat*innen

7.2.4   Mitgestaltung

7.3   Ämterstrukturen als Rahmenbedingungen
der Kategorisierungsarbeit

7.3.1   Örtliche und überörtliche Zuständigkeiten

7.3.2   Die Entwicklung der Hilfeformen

7.3.3   Das Verhältnis zwischen freien und öffentlichen Trägern

7.4   Anwendungsperspektiven

7.4.1   Ausgestaltung der Verfahren in den Ämtern

7.4.2   Rückbindung an strukturelle Planungen
sowie die Einbindungen der Ämter ins Feld

7.4.3   „Change-Management“ hin zu einer Gesamtzuständigkeit

 

Literatur   

Zu den Autorinnen und Autoren   

 

1.   Kategorisierungsarbeit in Hilfen für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung

Albrecht Rohrmann und Andreas Oehme

In diesem Band werden Ergebnisse des Forschungsprojektes „Kategorisierungsarbeit in Hilfen für Kinder und Jugendliche. Eine vergleichende Untersuchung der Verfahren der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe vor dem Hintergrund der Diskussionen um eine Gesamtzuständigkeit“ vorgestellt. Das Projekt wurde von 2016 bis 2020 von der DFG gefördert (Projektnummer 314276389). Es handelt sich um ein Kooperationsprojekt von Kolleg*innen aus dem Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim und dem Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste der Universität Siegen. Anlass des Projektes war die fachliche und sozialpolitische Diskussion um die Möglichkeit einer Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder- und Jugendlichen. Um diesen Prozess zu gestalten, sind vertiefte wissenschaftliche Kenntnisse darüber notwendig, welche Orientierungen im Rahmen der bisher getrennten Zuständigkeit die jeweilige Kategorisierungsarbeit leiten.

1.1   Zum Hintergrund des Projektes

Jedes Kind und jede*r Jugendliche hat „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung“ (§ 1 Abs. 1 SGB VIII). Die Art und Weise der Förderung, sofern sie der professionellen Unterstützung bedarf, ist jedoch stark abhängig von Verfahren der Kategorisierung und Zuschreibung von Hilfebedarfen. Werden aus professioneller Perspektive Schwierigkeiten im Erziehungsprozess verortet, so erfolgt die Unterstützung im Handlungsrahmen der ‚Hilfen zur Erziehung‘. Werden diese jedoch ursächlich mit einer Behinderung in Verbindung gebracht, so erfolgt die Hilfe im Rahmen der ‚Eingliederungshilfe‘. Diese ist gegenwärtig für ‚seelisch‘ behinderte Kinder im SGB VIII und für ‚geistig‘ oder ‚körperlich‘ behinderte Kinder im SGB IX (bis 31.12.2018 im SGB XII) geregelt. Damit verbinden sich die Felder der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe. Die organisationale Trennung dieser Handlungsfelder hat sich mit ihrer Entwicklung seit Ende des 19. Jahrhunderts institutionalisiert. Gegenwärtig unterscheiden sich die Felder erheblich hinsichtlich der gesetzlichen Vorgaben zu ihren Zielen und Aufgaben (z. B. Schutz des Kindeswohls vs. Teilhabe), durch die Organisation der Hilfe (z. B. Sozialpädagogische Familienhilfe vs. Frühförderung oder Assistenz) und durch die dominierende professionelle Perspektive (Sozialpädagogik vs. Heil- und Sonderpädagogik). Während in der Kinder- und Jugendhilfe sich Sozialpädagogik eher über einen Handlungsmodus (‚Hilfe‘) konstituierte, etablierte sich die Heil- und Sonderpädagogik vorrangig über eine Klient*innenzuschreibung (‚Behinderte‘) (vgl. Moser 2000, S. 176).

Entgegen Positionen, die diese unterschiedliche Entwicklung auf der Grundlage von Verfahren der diagnostischen Zuschreibung einer Behinderung tendenziell naturalisieren (vgl. z. B. Ahrbeck 2014), beruht der hier zur Diskussion gestellte Ansatz auf einer Sichtweise, nach der die Kategorie der ‚Behinderung‘ ebenso wie die Kategorie der ‚Unterstützungs- oder Hilfebedürftigkeit‘ als ein Resultat der Wechselwirkung zwischen Personen und ihrer Umwelt zu verstehen ist. Es wird davon ausgegangen, dass die Verfahren in den institutionellen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe entscheidende Auswirkungen darauf haben, was als individueller Hilfebedarf identifiziert, wie dieser begründet und wie dieser in sozialen Diensten umgesetzt wird. Die Kommunikation zwischen den Akteur*innen zur Entscheidung über die Gewährung einer Leistung in den jeweiligen Feldern ist für die dort geleistete Kategorisierungsarbeit konstitutiv.

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde bereits in den Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung des 1990 eingeführten Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) darüber diskutiert, ob die Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und Beeinträchtigungen organisational nicht auch durch die Kinder- und Jugendhilfe geregelt bzw. die historisch gewachsene Trennung der beiden Bereiche überwunden werden sollten. Dieser Vorschlag wurde als „große Lösung“ bezeichnet. Im Ergebnis ist aber als Kompromiss zwischen den Akteuren im Feld der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe nur eine „kleine Lösung“ zustande gekommen (vgl. Fegert 2012), die eine Erweiterung der Zuständigkeiten der Kinder- und Jugendhilfe um die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche vorsah. Entgegen dem ursprünglichen Anliegen, einen einheitlichen Tatbestand für die unterschiedlichen Hilfen in § 27 zu begründen, wurde mit einem Abschnitt ‚Eingliederungshilfe‘ mit dem Paragrafen § 35a seit 1995 eine Annäherung an die Begrifflichkeit und die Verfahren nach dem BSHG bzw. später dem SGB IX gesucht. Dennoch lässt sich feststellen, dass sich bereits die rechtlichen Vorgaben für die Unterstützung von Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen erheblich unterscheiden (vgl. Banafsche 2011). Die Kritik an dem Kompromiss der „kleinen Lösung“ lässt sich beispielsweise in den Kinder- und Jugendberichten nachverfolgen.

Einen neuen Impuls hat die Diskussion durch die Inklusionsdiskussion in Folge der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) erhalten. So wird z. B. im 13. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2009) eine organisationale Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe als notwendig erachtet und gefordert, dass „alle Maßnahmen an einer Inklusionsperspektive auszurichten [sind], die keine Aussonderung akzeptiert. Gender-, Sprach-, Status- und Segregationsbarrieren sind abzubauen und die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung sind in allen Planungs- und Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen (disability mainstreaming)“ (BMFSFJ 2009, S. 250). Die Bundesregierung formuliert entsprechend in ihrer Stellungnahme, dass die Einnahme einer inklusiven Perspektive „ein Leistungsangebot für Kinder und Jugendliche verlangt, das sich primär an der Lebenslage ‚Kindheit und Jugend‘ orientiert und erst sekundär nach der Behinderung oder anderen Benachteiligungen und Belastungen in dieser Lebensphase differenziert“ (ebd., S. 12). So hält es die Bundesregierung ebenfalls für notwendig, „die Möglichkeit einer Zuständigkeitskonzentration bei der Kinder- und Jugendhilfe intensiv zu prüfen“ (ebd., S. 15).

Im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien in der 18. Legislaturperiode (2013 bis 2017) wurde vereinbart, dass „die Kinder- und Jugendhilfe […] auf einer fundierten empirischen Grundlage in einem sorgfältig strukturierten Prozess zu einem inklusiven, effizienten und dauerhaft tragfähigen und belastbaren Hilfesystem weiterentwickelt“ werden sollte. Die Zusammenführung der Hilfen für alle Kinder und Jugendlichen stieß dabei auf einen breiten fachlichen Konsens. In einem Mitte des Jahres 2016 bekannt gewordenen Arbeitsentwurf des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Reform des SGB VIII sollte ein neuer Abschnitt ‚Leistungen zur Teilhabe und Entwicklung‘ an die Stelle der bisherigen Abschnitte ‚Hilfen zur Erziehung‘ und ‚Eingliederungshilfe‘ treten und so einen einheitlichen Tatbestand für die individuellen Hilfen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen schaffen. Nach dem Entwurf wäre der Leistungsanspruch bei allen Hilfen kindbezogen begründet. Gegen diese und andere Regelungen regte sich in den Verbänden und im Fachdiskurs erheblicher Widerstand, so dass in dem später vorgelegten Gesetzesentwurf die Reform der Hilfen zur Erziehung und die Einbeziehung aller Kinder nicht aufgenommen wurde. Durch die verweigerte Zustimmung des Bundesrates ist die Gesetzesreform in der 18. Legislaturperiode insgesamt gescheitert. In der 19. Legislaturperiode entschied sich die Bundesregierung im Jahre 2019 dem eigentlichen Gesetzgebungsprozess ein Beteiligungsverfahren vorzuschalten. Am Ende des Beteiligungsprozesses erfolgte seitens des Ministeriums eine klare Positionierung zu einer Wiederaufnahme der Diskussion um eine Regelung zur Gesamtzuständigkeit. Auch auf Seiten der Fachverbände und anderer Akteure wird das Vorhaben unterstützt.

Zum 01.01.2020 wurde die Eingliederungshilfe neu im zweiten Teil des SGB IX geregelt. Seitdem sind nicht mehr die örtlichen und überörtlichen Träger der Sozialhilfe für die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit ‚körperlichen‘ und ‚geistigen‘ Behinderungen zuständig. Die von ihnen benötigten Leistungen müssen zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe und den Leistungsberechtigten in einem Gesamtplanverfahren vereinbart werden. Im Mittelpunkt steht dabei ein an der Internationalen Klassifikationen der Funktionen (ICF) orientiertes standardisiertes Instrument der Bedarfsermittlung. Es zeichnet sich ab, dass die Frage zu einem Knackpunkt der Gesamtzuständigkeit wird, „wie ein gemeinsames Verfahren für die Verständigung über Leistungen, die gegenwärtig den Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfe zugeordnet werden, gestaltet werden kann“ (Hopmann u. a. 2019, S. 140). Hier wurden mit dem BTHG Regelungen für die Rehabilitationsträger und die Träger der Eingliederungshilfe getroffen, die nicht ohne Weiteres mit den Vorgaben nach § 36 SGB VIII zu vereinbaren sind (vgl. Merchel 2018).

Seit Oktober 2020 liegt ein Referentenentwurf für ein Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KSHG) vor, mit dem im SGB VIII weitreichende Änderungen vorgenommen werden. Sollte dieser Entwurf so oder ähnlich beschlossen werden, entscheidet der Gesetzgeber im Jahre 2027, wie eine Gesamtzuständigkeit ausgestaltet werden soll. Bis dahin werden durch die Novellierung des Gesetzes Vorbereitungen für die Verlagerung der Zuständigkeit getroffen. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes sollen die öffentlichen Jugendhilfeträger am Gesamtplanverfahren für Kinder und Jugendliche nach dem zweiten Teil des SGB IX beteiligt werden. Ab 2024 sollen Verfahrenslotsen in der Jugendhilfe tätig werden, die Ansprechpartner*innen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und ihre Personensorgeberechtigten sind.

Vor diesem fachpolitischen Hintergrund entstand bereits 2013 die Idee zu einer vergleichenden Untersuchung der Verfahren der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe, um die fachliche Diskussion zu einer möglichen Gesamtzuständigkeit stärker empirisch zu unterfüttern. Dieses Unterfangen verzögerte sich – wie ja auch das Vorhaben der Gesetzesreform – mehrfach. Ein erster Antrag bei der DFG im April 2014 wurde erst ein Jahr später von der DFG negativ beschieden – mit der impliziten Aufforderung versehen, den Antrag neu einzureichen. Ein völlig neu ausgearbeiteter Projektantrag vom Oktober 2015 wurde dann in gekürzter Form bewilligt, so dass wir 2016 bis Anfang 2020 die Untersuchung mit Unterstützung der DFG durchführen konnten. Damit bewegte sich das Projekt parallel zu den Reformprozessen des SGB IX und des SGB VIII.

Dieser Projektgeschichte ist der empirische Bezug auf die Gesetzeslage von 2017 geschuldet, als die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit geistigen und körperlichen Behinderungen noch im SGB XII geregelt war. Die mit der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes verbundenen Regeln werden dauerhaft zu Veränderungen der Strukturen, der Abläufe und der Sichtweisen der beteiligten Akteure beitragen. Es ist jedoch sowohl für die Forschung als auch für die Praxis bedeutsam die Strukturen zu verstehen, in der sich die getrennte Zuständigkeit entwickelt hat.

Die empirischen Untersuchungen wurden von 2016 bis 2019 in drei Kommunen in unterschiedlichen Bundesländern durchgeführt. Die beteiligten Kommunen bleiben jedoch aus Gründen der Anonymisierung unbenannt. Das gilt auch für die genutzten Akten, die bereits vor der Nutzung durch das Forschungsteam anonymisiert und zusätzlich in der Darstellung weiter verfremdet wurden. Die Einblicke in die organisationale Verflechtung von Kategorisierungsarbeit, die wir letztlich über die jeweiligen Akten aus Jugend- und Sozialämtern erforschten, bestärkten uns in dem grundsätzlichen Sinn des Vorhabens. Wie auch immer die Jugendhilfe und Eingliederungshilfen gesetzlich geregelt werden, die Verpflichtung, die mit der UN-BRK und den anschließenden Diskussionen um Inklusion einhergehen, bleiben ein kritisches Korrektiv für den Prozess der Umsetzung und praktischen Ausgestaltung.

Bereits die zur Zuständigkeitsabgrenzung verwendeten Kategorien der ‚seelischen‘, ‚geistigen‘ und ‚körperlichen‘ Behinderung sind ein Problem. Die Aufspaltung von Menschen in ‚Seele‘, ‚Geist‘ und ‚Körper‘ ist fachlich nicht nachvollziehbar. „Ihren Sinn entfaltet sie eher in der Zuordnung zu verschiedenen Systemen und Professionen der Medizin und Rehabilitation, die sich entlang dieser historisch gewachsenen Grenzen vollzieht“ (Welti 2005, S. 95). Die Bezeichnungen werden zunehmend als abwertend wahrgenommen und von den so Bezeichneten zurückgewiesen. Sie unterscheiden zudem nicht hinreichend zwischen ‚Beeinträchtigungen‘ und ‚Behinderungen‘. Dem Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention folgend können ‚Beeinträchtigungen‘ in Verbindung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren zu ‚Behinderungen‘ führen und in Situationen ungünstiger Wechselwirkung zur Behinderung der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe führen. Um in der Forschung und der Darstellung der Ergebnisse jedoch der Kategorisierungsarbeit folgen zu können, sind die Begriffe unverzichtbar.

Da bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht über eine Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe endgültig entschieden und sie noch längst nicht realisiert ist, folgen wir hier insgesamt soweit möglich den Begriffen, die in den jeweiligen Feldern üblich sind und entsprechend in den untersuchten Akten auftauchen. So wird in der Kinder- und Jugendhilfe üblicherweise von Hilfe gesprochen, in der sogenannten Behindertenhilfe, die als Eingliederungshilfe nun im SGB IX und vor 2019 im SGB XII geregelt wurde, ist aus einer stärkeren Dienstleistungsorientierung heraus der Begriff der Leistung bzw. Unterstützung üblich.

1.2   Grundlagen der Kategorisierungsarbeit

Bei den Eingliederungshilfen nach dem SGB VIII wird – dem Verständnis von Behinderungen und Beeinträchtigungen des SGB IX folgend – die Feststellung der Abweichung der seelischen Gesundheit vom alterstypischen Zustand institutionell der Medizin zugewiesen, während die Frage einer damit in Zusammenhang stehenden Beeinträchtigung der Teilhabe und eines daraus resultierenden Hilfebedarfes in den sozialpädagogisch orientierten Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe bearbeitet wird. Seither wird in einer Reihe von Studien das Verhältnis der Kinder- und Jugendhilfe zur Kinder- und Jugendpsychiatrie und seine Entwicklungsperspektiven intensiv beobachtet (z. B. Fegert/Schrapper 2004, Darius/Hellwig/Schrapper 2001; Darius/Hellwig 2004; Köttgen 2007; Schmidt 2007; Hoops/Permien 2006; Paetzold 2001; Lau 2008). In diesen Studien wird auch deutlich, dass weiterhin mit vielen Kindern und Jugendlichen, die als behindert kategorisiert werden, große Unsicherheiten hinsichtlich der Anwendung der in der Kinder- und Jugendhilfe üblichen Verfahren bestehen.

Eine vergleichbare organisationale Zuständigkeitsdifferenzierung und -unterscheidung wurde im Bereich der Eingliederungshilfe für Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen nach dem bis zum 31.12.2018 gültigen Rechtsrahmen des SGB XII nicht vorgenommen. Das in der Regel amtsärztliche Gutachten dominiert die Entscheidung über Hilfeleistungen. Verfahren der Hilfe- oder Teilhabeplanung wurden hier nicht in erster Linie aus Gründen einer fachlichen Abstimmung eingeführt, sondern um die Steuerungsfähigkeit der Rehabilitationsträger zu erhöhen (vgl. Rohrmann/Schädler 2010). Während § 35a SGB VIII zur Feststellung einer seelischen Behinderung auf die internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD) rekurriert, stützen sich Verfahren der Hilfe- oder Teilhabeplanung im Bereich der Behindertenhilfe vor allem auf die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; vgl. Deutscher Verein 2009) und im Bereich von Kindern und Jugendlichen auf die ICF-CY, die allerdings erst seit 2011 vorliegt. Auch hinsichtlich der Leistungsvoraussetzungen und der Leistungsinhalte unterscheiden sich die Regelungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen nach dem SGB VIII und XII erheblich (vgl. Banafsche 2011).

Mit der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes werden alle Träger der Rehabilitation, also auch die Träger der Eingliederungshilfe verpflichtet, „zur einheitlichen und überprüfbaren Ermittlung des individuellen Rehabilitationsbedarfs […] systematische Arbeitsprozesse und standardisierte Arbeitsmittel (Instrumente) nach den für sie geltenden Leistungsgesetzen“ (§ 13 SGB IX) zu nutzen.

Insgesamt ist die Diskussion um die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen gegenwärtig dadurch gekennzeichnet, dass die Zuschreibung einer Behinderung und die damit einhergehende ‚Besonderung‘ von Menschen mit Behinderungen kritisch in Frage gestellt wird (vgl. z. B. Oehme/Schröer 2018; neue Praxis 2 und 3/2014). Angeknüpft wird dabei an die Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Hier wurde bewusst auf eine enge Definition des Begriffes ‚Behinderung‘ verzichtet. Vielmehr findet sich in der Zielbestimmung der Konvention in Artikel 1 eine weitreichende Formulierung, nach der zu den Menschen mit Behinderungen Personen zählen, „who have long-term physical, mental, intellectual or sensory impairments which in interaction with various barriers may hinder their full and effective participation in society on an equal basis with others“ (Artikel 1 UNCRPD 2007). Die durch die Infragestellung der Kategorie ‚Behinderung‘ angestoßene Verunsicherung und die mit der UN-BRK verallgemeinerte Inklusionsperspektive (vgl. Bielefeldt 2012) wurde somit in den letzten Jahren im Diskurs um die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen und auch die Diskussionen zur Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe grundsätzlich aufgenommen (vgl. Oehme/Schröer 2014).

1.3   Zum Forschungsstand

Es liegen bislang kaum Untersuchungen vor, an die eine organisationale Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe in Bezug auf die Verfahren und Weiterentwicklung der unterschiedlichen organisationalen „Sortierungsprozesse“ anknüpfen könnte. Selbst die wissenssoziologisch ansetzende Untersuchung zur Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie im DFG-Projekt von Bütow und Maurer (2011, 2013) fokussiert nicht vergleichend auf die organisationalen Verfahren dieser Sozialen Dienste. Gefragt wird hier lediglich, wie sozialpädagogische Professionalität zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie im Rahmen der Wirkungen unterschiedlicher „Gesellschaftsgeschichten“ im Ost-West-Vergleich hergestellt wird (vgl. Bütow/Mauer 2011, S. 300). In Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe und die Behindertenhilfe erscheint eine vergleichende Analyse der unterschiedlichen Verfahren auch deshalb interessant, weil beide in den vergangenen vierzig Jahren reflexiv auf den Etikettierungsansatz, die Attributionsforschung sowie die Stigma-Theorie Bezug nahmen.

So wurden in der Kinder- und Jugendhilfe im Anschluss an Analysen zur institutionellen Kommunikation in Jugendämtern (vgl. Wolff 1983) und mit Bezug auf den Etikettierungsansatz (vgl. Thiersch 1986) Verfahren entwickelt, in denen von einer Zuschreibung individualisierter Defizite abgesehen wird; in den Kommunen sollen Erziehungs- sowie Bildungsbedarf zusammen mit den Adressat*innen sowie den Anbieter*innen sozialer Dienstleistungen kommunikativ und partizipativ ausgehandelt werden. Die im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankerte Hilfeplanung (§ 36 SGB VIII) ist in dieser Perspektive angelegt (vgl. z. B. Schefold u. a. 1998, Hildenbrand 2007, Bohler 2006, Bohler/Schierbaum 2010, Funcke 2007). Nicht von ungefähr wird bis heute in der Kinder- und Jugendhilfe über die Verfahren einer psychosozialen oder sozialpädagogischen Diagnose gestritten (vgl. z. B. Uhlendorff 1997, 2002; Bastian/Schrödter 2015). Göbbel, Kühn und Thiel (2000) stellten nach zehn Jahren Kinder- und Jugendhilfegesetz im Jahr 2000 fest: „Die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre hat keineswegs eine einheitliche Form der Hilfeplanung hervorgebracht. Diese variiert in der Zusammenarbeit mit verschiedenen Jugendämtern, aber auch in jedem einzelnen Fall“ (S. 18). Wiederum zehn Jahre später verweisen Messmer und Hitzler darauf, dass die Entscheidungsfindung in Hilfeplanverfahren weiterhin eng an die „Klientifizierung“ der Adressat*innen gekoppelt sei (vgl. Messmer/Hitzler 2007, 2008; Hitzler/Messmer 2010). Sie gehen davon aus, „dass der Klient keine objektive Bezugsgröße professionellen Handelns ist, sondern im Zuge sozialarbeiterischer Interaktionen zunächst herausgearbeitet und für die nachfolgenden Interaktionen bearbeitbar gemacht werden muss“ (Messmer/Hitzler 2007, S. 41). Datengrundlage waren hier Hilfeplangespräche, an denen auch die Kinder bzw. Jugendlichen und ihre Eltern teilnehmen. Die Autor*innen verstehen dies mit Verweis auf Bergmann (1988) als eine Analyse der institutionellen „Vollzugswirklichkeit“ (Messmer/Hitzler 2008, S. 244). In diesem Zusammenhang ist auch die Entwicklung der sogenannten integrierten oder flexiblen Erziehungshilfen zu sehen (vgl. Wolff 2000). Diese setzten gerade an einer Kritik der organisationalen Routinen an (vgl. Klatetzki 1994).

Im Bereich der Hilfen für Menschen mit Behinderungen hat die kritische Auseinandersetzung mit Zuschreibungsprozessen durch die Rezeption der Stigma-Theorie und dem Etikettierungsansatz ebenfalls eine lange Tradition. In der Sonderpädagogik wird dabei die Verwendung der Kategorie Behinderung kritisch als „Etikettierung-Ressourcen-Dilemma“ (Lindmeier 2005, S. 136) diskutiert. Zudem haben die Impulse aus der Soziologie der Behinderung (vgl. Bendel 1999; Cloerkes 2007; Thimm 2006) und den Disability Studies (vgl. z. B. Albrecht/Seelman/Bury 2001; Waldschmidt/Schneider 2007) zu kritischen Analysen der institutionellen Wirklichkeiten geführt. So wurde u. a. ausgehend von Theorien sozialer Rollen die Bedeutung von Rehabilitationseinrichtungen für das Erlernen der Behindertenrolle kritisch analysiert. In seiner klassischen Schrift ‚The Making of Blind Men‘ führt der Soziologe Robert A. Scott (1969) aus: „When those who have been screened into blindness agencies enter them, they may not be able to see at all or they may have serious difficulties with their vision. When they have been rehabilitated they are all blind men. They have learned the attitudes and behavior patterns that professional blindness workers believe blind people should have“ (ebd., S. 119; zur Blindenrolle vgl. auch Thimm 2006). Zudem wurden die Arbeiten von Goffman zur Analyse ‚totaler Institutionen‘ (2011; im Original 1961) und zur Stigmatisierung (2012, im Original 1963) im Kontext einer radikalen Psychiatriekritik aufgenommen und im Fachdiskurs der Heil- und Sonderpädagogik in den Ansatz der ‚Normalisierung‘ (vgl. die Beiträge in Thimm 2005) und der ‚social role valorization‘ (Wolfensberger 1998) übersetzt. Diese Ansätze haben allerdings bislang kaum differenzierte Analysen von organisationalen Verfahren der „Verwaltung“ von Behinderung hervorgebracht. Konstruktionen von Behinderungen durch die organisationale Verfahrenspraxis der Feststellung von Hilfebedarfen blieben weitgehend unhinterfragt.

Für den vorschulischen Bereich zeigt eine Untersuchung von den in Statistiken zum Ausdruck kommenden Konstruktionen von Behinderung in den ersten Lebensjahren (vgl. Marks 2011, S. 119 ff.), dass in dieser Lebensphase eine intensive Beobachtung und Festlegung einer normalen Entwicklung stattfindet. Mit Begriffen wie der gesetzlichen Formulierung ‚von Behinderung bedroht‘, ‚Auffälligkeit‘ und ‚Entwicklungsverzögerung‘ wird eine Zuschreibung von Behinderung noch vermieden. Kelle (2010) hat mit ihrer Untersuchung von Schuleingangs- und Kindervorsorgeuntersuchungen aufgezeigt, wie in der Interaktion der Anwesenden sowie durch die Materialität der Dinge Testergebnisse hergestellt werden, die dann als objektiv gelten.

Die Disability Studies sind in scharfer Abgrenzung gegen die medizinische Sichtweise von Behinderungen „angetreten, um die sozial- und kulturwissenschaftlichen Lücken im Behinderungsdiskurs zu füllen“ (Waldschmidt/Schneider 2007, S. 12). Dies hat zu einem neuen Forschungsinteresse geführt und begründet im Fachdiskurs der Heil- und Sonderpädagogik eine Differenzierung des Verständnisses von Behinderung. Zunächst wurde darauf durch eine Differenzierung des Behinderungsbegriffes nach Verwendungszusammenhängen (Bleidick 1999) oder durch eine Differenzierung der Begriffsbestandteile in ‚Impairment‘ (Schädigung), ‚Disability‘ (Beeinträchtigung) und ‚Handicap‘ (Behinderung) reagiert (WHO 1980). Mit der 2001 von der Weltgesundheitsorganisation vorgelegten internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; vgl. WHO 2005) verbindet sich der Anspruch, die medizinische und sozialwissenschaftliche Perspektive in einem bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung zusammenzuführen. Wenngleich in der ICF der medizinische Diskursstrang dominiert (vgl. Hirschberg 2009, S. 282 ff.), lassen sich mit dem Klassifikationssystem Situationen ungünstiger Wechselwirkungen zwischen Körperfunktionen und sozialen Strukturen, personellen Besonderheiten und Umweltfaktoren beschreiben. Es wird erwartet, dass sich damit Organisationen übergreifende Ansätze zum Verständnis von Behinderungen entwickeln lassen (vgl. Göttgens/Schröder 2014; Wartenpfuhl 2010). Dadurch, dass das Klassifikationssystem noch recht neu und in der Anwendung sehr voraussetzungsvoll ist, liegen aussagekräftige empirische Studien zu Auswirkungen auf die konkrete Ausgestaltung für Unterstützungsleistungen für Kinder und Jugendliche noch nicht vor. Das Verhältnis zwischen den auf der Basis der ICF durchgeführten Verfahren der Hilfeplanung und der Feststellung des Vorliegens einer wesentlichen Behinderung, die in der Regel durch die Gesundheitsämter vorgenommen wird, ist bislang nicht systematisch geklärt.

Ein zentraler Bestandteil dieses „people processing“ ist die Sortierungsarbeit organisationaler Verfahren mit und durch Kategorisierungen (vgl. Ashford/ Humphrey 1995, Baker 1984, Bowker/Star 1999, Thieme 2013). „Kategorisieren gehört zu den Notwendigkeiten menschlicher Praxis. […] Kategorisierungen strukturieren die prinzipielle Einmaligkeit alles menschlichen Erlebens; sie filtern Informationen auf ihre Relevanz hin; sie ermöglichen die Strukturierung einer je spezifischen Situation und sie machen so handlungsfähig“ (Zwengel 2015, S. 245). Kategorisierungen sind organisationale Verfahren, die soziale Probleme durch Organisationen und Professionen bearbeitbar machen (vgl. Groenemeyer 2010). So wird durch Kategorisierungsarbeit auf Problemlagen reagiert und zugleich ein Feld der (Nicht-)Zuständigkeit abgesteckt (z. B. wenn der offiziell festgestellte IQ die 70 Punktegrenze unter- oder überschreitet). Durch die Kategorisierungsarbeit werden individuelle Problemlagen in sozial anerkannte und rechtlich abgesicherte Unterstützungsbedarfe transformiert. Die weitgehend getrennte organisationale Entwicklung der Felder der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe lassen sich vor diesem Hintergrund als Ergebnis divergierender, historisch gewachsener Verfahren der Kategorisierungsarbeit deuten. Thieme (2011, S. 75) stellte fest: „Für die gesamte Forschungslandschaft Soziale Arbeit ist ein Desiderat hinsichtlich der Untersuchung dieses professionstheoretisch wie organisationspraktisch zentralen Phänomens zu konstatieren.“

1.4   Zur Anlage des Projektes

Die sozialstaatliche Bearbeitung von sozialen Problemlagen verlangt eine entsprechende Organisation von Verfahren, die insgesamt verhältnismäßig großen Gruppen von hilfebedürftigen Menschen Ressourcen für individuelle Hilfeleistungen zuteilen. Diese Verfahren sichern Ansprüche und machen diese transparent. Sie gehen gleichzeitig mit der Notwendigkeit einher, Kategorien zu entwickeln, mit denen der individuelle Hilfebedarf beschrieben werden kann, und eine auf Adressat*innen bezogene Kategorisierungsarbeit zu leisten, weil die Kategorisierungen bestimmter ‚Behinderungen‘ sowie von ‚Unterstützungs- bzw. Hilfebedürftigkeit‘ organisational hergestellt werden müssen. Entsprechend gehen wir davon aus, dass das sog. Etikettierung-Ressourcen-Dilemma diesen Verfahren sozialstaatlich organisierter Hilfe eigen und grundsätzlich zu bearbeiten ist.

Mit der Kinder- und Jugendhilfe sowie den Behindertenhilfen haben sich zwei verschiedene institutionelle Bereiche herausgebildet, die mit diesem Dilemma unterschiedlich umgehen, d. h. mit unterschiedlichen Kategorien und in verschiedenen Verfahren Hilfebedarfe bestimmen. So nimmt die Kinder- und Jugendhilfe in der Regel für sich in Anspruch, Etikettierungen durch interpretative Einschätzungsmodelle zu vermeiden, während die Behindertenhilfen aktuell dafür kritisiert werden, Etikettierungen über ein medizinisches Modell zu naturalisieren. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Inklusionsdebatte und der Diskussion über eine Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe steht die Organisierung dieser Verfahren zur Bestimmung und Gewährung von Hilfe aktuell zur Disposition.

Die Frage der fachlichen Einschätzung von Hilfebedarfen wird oft auf Professionsmodelle bezogen (vgl. z. B. Bastian/Schrödter 2015; Niemeyer 1999; Hildenbrand 2007; Bohler/Schierbaum 2010). Subsumtionskategorien ergeben sich demnach aus „theoretischen Erklärungsmodellen bzw. höhersymbolischen Sinnbezirken der Profession“ (Bastian/Schrödter 2015, S. 225 mit Verweis auf Oevermann und Schütze). Demgegenüber gingen wir in dieser Untersuchung davon aus, dass einen zentralen Einfluss auf die Bestimmung, Gewährung und Ausführung von Hilfeleistungen die organisationalen Verfahren haben, die bislang in der Forschung kaum thematisiert wurden. Die Verfahren strukturieren und begrenzen im konkreten Prozess der Gewährung von Hilfe die professionellen Handlungsmöglichkeiten entscheidend.

Eine Kernfrage des Forschungsprojektes zur Untersuchung der Kategorisierungsarbeit in Hilfen für Kinder und Jugendliche war daher, wie in den Verfahren der Sozialen Dienste der Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe administrative Verständigungsprozesse ablaufen und wie ‚Fälle‘ organisational konstruiert, unterschieden und ‚prozessiert‘ werden. Wie gestalten sich dabei organisationale Abstimmungs- und Aushandlungsprozesse zwischen den Beteiligten? Was wird in den Verfahren als ‚soziales Problem‘ in den Vordergrund gestellt? Wie kommt die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen in Verfahren der Planung und Bewilligung von Hilfen zur Sprache und welche Form der aktenmäßigen Beschreibung hat welches Gewicht? Welche Bedeutung spielt die Diagnose einer Behinderung und anderer zugeschriebener Merkmale in diesen Verfahren?

Damit liegen empirische Analysen vor, in denen die Verfahren der Ermittlung von Hilfebedarfen und zur Bewilligung von Hilfen für Kinder und Jugendliche nach dem SGB VIII und SGB XII in ihrer Kategorisierungsarbeit miteinander verglichen werden. Beide Verfahren führen zu ähnlichen Angeboten sozialer Dienstleistungen (Frühförderung, sozialpädagogische Familienhilfe; Schulhilfen und -assistenzen; stationäre Hilfen). Wir gehen dabei wie Hitzler und Messmer (2010) davon aus, dass der*die „Klient*in“ und sein*ihr „Problem“ erst in den Interaktionen hergestellt und als Fall für die Sozialen Dienste „bearbeitbar“ gemacht werden müssen. Im Unterschied zur Untersuchung der Hilfeplanung von Messmer und Hitzler rücken wir die verschiedenen Verfahren und ihre Dokumentation in den Mittelpunkt, da diese in der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe nicht über vergleichbare kommunikative Settings verfügen sowie die Aushandlung in beiden Verfahren einen unterschiedlichen Stellenwert hat. Da es bei der Planung und Bewilligung von Hilfen auch um behördliche Entscheidungen geht, kommt der schriftlichen Kommunikation in den beiden Verfahren eine besondere Bedeutung zu. Es handelt sich dabei um eine eigenständige institutionelle Kommunikationsform mit je eigenen Regeln und Methoden (zur institutionellen Kommunikation vgl. Puchta/Wolff 2010).

Auf diese Weise konnten Methoden und Regeln der Kategorisierungsarbeit in den Verfahrensabläufen und ihrer Dokumentation in den beiden Bereichen Kinder- und Jugendhilfe sowie Behindertenhilfen herausgearbeitet werden. Die vergleichende Analyse der Kategorisierungsarbeit in den beiden bislang getrennten Handlungsfeldern schafft eine Grundlage für die Weiterentwicklung der Verfahren im Rahmen einer potenziellen Gesamtzuständigkeit oder Zuständigkeitserweiterung der Kinder- und Jugendhilfe.

Der Forschungsprozess war durch zwei Hauptphasen strukturiert:

1.   Die Analyse von Abläufen in den beteiligten Jugend- und Sozialämtern: In einer explorativen Phase wurden auf der Grundlage einer Dokumentenanalyse (vgl. Wolff 2015) und Expert*inneninterviews (vgl. Meuser/Nagel 1991, 2009) die Verfahrensabläufe in den jeweiligen Leistungsbereichen eruiert. Das hier erworbene Vorwissen wurde genutzt, um in Gruppendiskussionen (vgl. Lamnek 2005; Wolff/Puchta 2007; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009; Schulz 2012) die Verfahrensschritte und die Bedeutung der Verfahrensdokumente zu klären. Dazu sollten aus den weiter unten beschriebenen Bereichen verschiedene Mitarbeiter*innen aus dem Sozial- und aus dem Jugendamt befragt werden. Die Methode der Gruppendiskussion ist besonders geeignet, um das von den jeweiligen Arbeitsgruppen geteilte Wissen über die Abläufe und die Bedeutung der Prozessdokumente zu analysieren. „Die erlebnismäßige und interaktive Herstellung von Wirklichkeit durch die Gruppenmitglieder, die Entwicklung von kollektiven Orientierungen in ihrer Prozesshaftigkeit“ (Liebig/ Nentwig-Gesemann 2009, S. 105) kann durch die Gruppendiskussion als ein „konjunktiver Erfahrungsraum“ (z. B. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009, S. 282) rekonstruiert werden.

2.   Aktenanalyse: Zur Untersuchung der in den Akten gesammelten Verfahrensdokumente verwendeten wir zum einen die ethnomethodologische Konversationsanalyse, die auch für die Textanalyse fruchtbar gemacht werden kann. Herausgearbeitet wurden dabei rhetorische Muster und Merkmale der schriftlichen Kommunikation, wie z. B. Referenzierungen, Autorisierungsstrategien, Geschichtenkonstruktion und Argumentationsweisen (vgl. Knauth/Wolff 1991; Wolff 1995, Wolff 2006; ähnlich auch Kelle 2010). Zum anderen setzten wir die ethnomethodologische Kategorienanalyse (membership categorization analysis (MCA), vgl. Lepper 2000) ein. Hier geht es u. a. um die Analyse von Kategorisierungen, kategoriengebundenen Aktivitäten und Erwartungen, die bei der Fallkonstruktion und der Begründung von Maßnahmen Verwendung finden. Die MCA, die wie die Konversationsanalyse auf Harvey Sacks zurückgeht, ergänzt die sequenzielle Analyse, indem untersucht wird, wie Kategorisierungsregeln sinnhafte Interaktion stützen oder irritieren und wie dadurch auf gesellschaftliche Strukturen verwiesen wird. Die Kategorisierungsanalyse lenkt dabei den Blick auf die Frage, wie organisational gearbeitet wird, ‚wer‘ die relevanten Mitglieder sind und was man von ihnen (nicht) zu erwarten hat. Ihr geht es darum zu verstehen, durch welchen Kategorisierungs-‚Apparat‘ die Beschreibungen der Klient*innen/Adressat*innen generiert werden (vgl. Silverman 1998, S. 77). Mit einer solchen kategorialen Identifizierung gehen bestimmte institutionalisierte Erwartungen hinsichtlich dafür passender Handlungsweisen und andere zur jeweiligen Mitgliedschaftskategorie passende Aktivitäten (category bound activities) einher. In institutionellen Kommunikationen kommt es typischerweise zu einer Asymmetrie zwischen den von den verschiedenen Beteiligten erwarteten Aktivitäten (vgl. Wolff/Müller 1997).

Durch die Erhebungen in drei verschiedenen Kommunen konnte untersucht werden, ob sich ortsspezifische Kulturen der Fallbearbeitung entwickeln. Da diese auch durch länderspezifische Besonderheiten geprägt sein können, wurden Standorte in drei Bundesländern ausgewählt. Dabei geht es jedoch nicht um einen systematischen Vergleich der Standorte bzw. der Länder, sondern um eine Erhöhung des Spektrums der Kategorisierungsarbeit. Die drei Standorte boten wegen ihrer Größe ein genügend großes und differenziertes Fallaufkommen und angesichts ihrer Unterschiedlichkeit eine genügende Varianz möglicher Fallkonstellationen.

Neben der regionalen Spreizung wurden die Abläufe sowie die Akten in drei Bereichen untersucht. Hierbei handelt es sich um Bereiche, in denen jeweils im Feld der Behindertenhilfe sowie im Feld der Kinder- und Jugendhilfe Verfahren durchgeführt werden, die zu sich überschneidenden, gleichen oder dem Setting nach vergleichbaren Unterstützungsangeboten führen. In einen ersten Bereich der ambulanten Hilfen für Kinder fallen die Sozialpädagogische Familienhilfe sowie die Frühförderung in Familien mit Kindern vor dem Schuleintritt. Die sozialpädagogische Familienhilfe zielt auf die Stärkung der Erziehungskompetenz der Familie, während die Frühförderung auf die Förderung des Kindes ausgerichtet ist. Es handelt sich um ein Feld überschneidender Hilfen, da beide Hilfen nebeneinander gewährt werden können. Im Bereich der Frühförderung kommt ein diagnostisches Verfahren zum Einsatz, das der Ausgestaltung als medizinische und pädagogische Komplexleistung geschuldet ist (vgl. Sohns 2010, S. 78 ff.). In der sozialpädagogischen Familienhilfe ist das an Beteiligung und Aushandlung orientierte Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII maßgeblich. Als zweiten Hilfebereich fokussierten wir die Schulbegleitung: Eine wachsende Anzahl von Schülerinnen und Schülern erhält Leistungen der Eingliederungshilfe zum Schulbesuch. Die Unterscheidung zwischen einer seelischen, körperlichen oder geistigen Behinderung ist hier maßgeblich für die Klärung der Zuständigkeit entweder des Jugendhilfeträgers oder des Sozialhilfeträgers, während die Maßnahme praktisch identisch ist. Durch das Verfahren der Leistungsbewilligung und durch die Ausgestaltung als individuelle Hilfe findet auch im Kontext einer Regelschule eine ‚Besonderung‘ der Kinder mit Schulbegleitung als behinderte Kinder statt. Drittens lag es nahe, stationäre Hilfen zu betrachten: Die Aufnahme eines Kindes in eine stationäre Einrichtung erfolgt aus unterschiedlichen Gründen. Es kann sich um eine Maßnahme der Erziehungshilfe oder eine Maßnahme der Eingliederungshilfe handeln. In der Praxis leben Kinder mit Behinderungen zumeist in spezialisierten Einrichtungen oder Gruppen, die häufig als heilpädagogisch bezeichnet werden. Es handelt sich in jedem Falle um eine Hilfe, die sehr weitreichende Folgen für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen hat.

Der vorliegende Band beansprucht nicht, alle Ergebnisse des Projektes zu präsentieren. Einige Arbeiten wurden und werden an anderer Stelle publiziert. Die beteiligten Forscher*innen werden mit den Daten weiterarbeiten und weitere Forschungsergebnisse generieren.

 

 

2.   Akten und ihre Analyse

Anna Renker

Der „Grundsatz der Aktenmäßigkeit der Verwaltung“ ist nach Max Weber (1976, S. 128) ein sinnvolles Element jeder Bürokratie. Für Verwaltungen gilt, „quod non est in actis, non est in mundo“ (was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt) (Müller 1980, S. 37). Dies verweist auf die zentrale Bedeutung von Akten im Kontext behördlicher Entscheidungs- und Bearbeitungsprozesse und betont, dass in Sozialverwaltungen ausschließlich „die der Behörde gesetzlich zustehenden und in der Akte niedergelegten Kenntnisse von personenbezogenen Daten […] Gegenstand der Datenverarbeitung“ sein können (Maas 1996, S. 129 f.). Akten sichern Verwaltungshandeln und fungieren als Medien zur inter- und intraorganisationellen Kommunikation, „in denen das administrative Handeln seine Spuren in verschlüsselter Form hinterlassen hat“ (Müller/ Müller 1984, S. 40).

Akten sind dabei als eine „unter chronologischen und/oder sachlichen Gesichtspunkten angelegte Sammlung von zumeist sehr unterschiedlichen Einzelschriftstücken“ (ebd., S. 30) zu verstehen. Diese Schriftstücke einer Akte sind Dokumente, die in bestimmten Formaten aufzufinden sind, wie z. B. Notizen, Berichte, Vermerke, Protokolle, Urteile, Briefe, E-Mails und Gutachten1. „Aktenführung meint das Erstellen, Bearbeiten und Ändern von Akten, also die verschiedenen Tätigkeiten rund um die ‚Datenverarbeitung‘. Als Dokumentation bezeichnen wir das Ergebnis der Aktenführung, die Sammlung und Ablage der auf Papier […] gespeicherten Daten in der Organisation“ (Geiser 2000, S. 23).2

Die Aktenanalyse des Forschungsprojektes ‚Kategorisierungsarbeit in Hilfen für Kinder und Jugendliche‘ fokussiert die Analyse von Akten als Verwaltungsdokumente in zwei verschiedenen Sozialleistungsbereichen und bezieht sich auf einzelfallbezogene Dokumente, die in einer Akte der jeweils leistungsverwaltenden Institution geführt werden. Da diese einzelfallbezogenen Dokumente im Prozess der Fallbearbeitung generiert werden, sind bei ihrer Analyse die Wechselwirkungen zwischen organisationalen Strukturen des spezifischen Sozialleistungsträgers und der Aktenführung zu beachten.