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Claudia Jacobs

Die populärsten Irrtümer
über das Lernen

Was Unsinn ist, was wirklich hilft

2. Auflage 2010



© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2009

Alle Rechte vorbehalten

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Umschlaggestaltung und -konzeption:

Agentur R·M·E / Roland Eschlbeck, Kornelia Bunkofer



Umschlagmotiv: © Corbis



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Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig



ISBN (E-Book) 978-3-451-33325-5

ISBN (Buch) 978-3-451-30197-1

Für Karen und Marlene.
Und alle anderen Kinder.

„Denk nur, Stig hat schon seinen ersten Zahn bekommen“, sagte Stigs Mutter stolz zu Albins Mutter, als die Jungen sechs Monate alt waren.

Daraufhin ging Albins Mutter nach Hause und steckte den Zeigefinger in Albins Mund. Aber da war nur ein kleiner weicher Gaumen zu fühlen.

„Denk dir, wenn er nur etwas hat, um sich daran zu halten, kann Stig jetzt stehen“, sagte Stigs Mutter einige Monate später zu Albins Mutter.

Albins Mutter ging nach Hause, riss Albin aus der Wiege und stellte ihn neben das Küchensofa. Aber Albins kleine krumme Beinchen bogen sich unter ihm, und er fiel schreiend zu Boden. „Denk dir! Stig! Er kann laufen! Sicher wird er mal ein Langstreckenläufer!“, sagte Stigs Mutter noch ein paar Monate später.

Da fuhr Albins Mutter mit ihrem Jungen zum Arzt, um zu hören, ob der kleine Albin irgendeinen Fehler hätte. Aber Albin war fehlerfrei.*

* Astrid Lindgren: Wer springt am höchsten. Erschienen in: Erzählungen © Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 1990.

Warum und für wen dieses Buch geschrieben wurde

Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr. Das war schon immer so. Es gab allerdings noch nie eine Elterngeneration, die derart in der Pflicht war. Familien haben immer mehr zu tun und immer weniger Muße. In Zeiten weltweiter ökonomischer Krisen und internationaler Leistungs-Vergleichstests (PISA) lastet ein besonderer Druck auf den Familien, vor allem auf den Kindern. Lernen, lernen, lernen heißt die Devise. Bildung gilt als wichtigste Ressource. Der Nachwuchs, so predigen Bildungsexperten und Politiker, muss am Ball bleiben. Die Konkurrenz agiert global. Sie kommt aus Indien, China oder Osteuropa, und es wird wahrlich oft genug wiederholt, dass dort die Kindheit nicht verbummelt wird. Wir haben verstanden: Der Schlüssel für eine möglichst aussichtsreiche Zukunft liegt mehr denn je im Schulerfolg.



Vor allem Mütter fühlen sich dafür verantwortlich und sie kümmern sich auch: Sie kontrollieren die Hausaufgaben, fragen Vokabeln ab und halten Kontakt zu den Lehrern. Sie motivieren, trösten, loben. Damit nicht genug: Nachmittags wird der Nachwuchs zu zahlreichen Aktivitäten chauffiert. Kein Talent soll unentdeckt bleiben, keine Chance ausgelassen werden. Sinnfreies Herumtoben mag für die motorische Entwicklung gut sein. Zu Angeboten aber, für die man zahlen muss, fahren nicht wenige in der stillen Hoffnung, es käme irgendwie auch den Schulnoten zugute.



Zunehmend interessieren sich Eltern für Lernspielzeug, Förderprogramme, Therapien gegen Lernblockaden, Bildungs-Software und Neurodidaktik. Nicht weil sie übertrieben ehrgeizig sind, sondern weil sie verständlicherweise für ihre Kinder das Beste wollen. Die Frage ist nur: Was ist das Beste? Vieles von dem, was Eltern ihren Kindern heute angedeihen lassen, im felsenfesten Glauben, ihre Chancen damit zu mehren, wird von einem ernstzunehmenden Teil der Wissenschaft jedenfalls als „nutzlos“, manches gar als „schädlich“ entzaubert. Diese Erkenntnisse aber verhallen nahezu ungehört. Aufmerksamkeit schenken wir eben am liebsten denen, die unsere Erwartungen bestätigen.



Mit dem Lernen ist es jedoch wie mit dem Abnehmen. Der Königsweg ist simpler und zugleich anstrengender, als viele uns glauben machen wollen. Diäten sind auf Dauer wenig hilfreich. Und doch klammert man sich gerne an Versprechungen, nach denen neue Programme das Schlankwerden erleichtern. Auch für das Lernen gilt: Je schriller und verheißungsvoller die Angebote, desto lauter sollten unsere Alarmglocken bimmeln. Bildung floriert auch als Geschäftsmodell. Meist sind die Versprechungen riesig und die Effekte gering. Gleichwohl können wir Kindern helfen. Die richtige Förderung ist das eine. Eine Haltung, die grundsätzlich von Optimismus geprägt wird, das andere. Vielleicht lohnt ein Blick zurück:



In „Eltern brauchen Grenzen“ schwärmt Uli Hauser von früher: „Als wir Kinder waren, waren wir viele. Kerskens gegenüber hatten neun. Oelingers die Straße hoch fünf, zu Hause waren wir sechs. Die Jungs spielten Fußball, die Mädchen Gummitwist. Am Kuhteich rauchten wir die ersten Zigaretten, mit elf oder zwölf. Uns wurde schlecht, aber niemand hat es bemerkt. Meine Eltern ließen uns laufen ...“. Waren früher wirklich alle so entspannt? Eltern waren jedenfalls weniger vorsichtig und in aller Regel sehr viel zuversichtlicher: „Das wächst sich aus.“ „Das wird schon wieder“ – solche Sätze hat man früher dauernd gehört. Eine bequeme Haltung – auch für die Kinder, um die man nicht viel „Gedöns“ machte.



Die Zeiten haben sich geändert. Und zwar grundlegend. Noch nie bekamen Männer und Frauen so spät Kinder, und noch nie hatten Eltern so viel Sorge, etwas falsch zu machen. Im statistischen Durchschnitt werden inzwischen in Deutschland nur noch 1,3 Kinder pro Familie geboren. Kinder sind etwas Seltenes geworden, etwas Besonderes und unglaublich Kostbares. Ein Drittel der heute 30-Jährigen wird vermutlich kinderlos bleiben. Je weniger Nachwuchs es gibt, desto höher steigt das einzelne Kind im „Wert“; es bekommt mehr Aufmerksamkeit und mehr Liebe, aber auch mehr Erwartungen zu spüren. Auch die Sorgen wachsen: Ist es gesund? Hat es alles? Wirkt es glücklich? Wie schneidet es im Vergleich zu anderen ab? Wird es Erfolg haben? Erfolg ist wichtig geworden, und er wird immer wichtiger in Zeiten, in denen es Niederlagen nur so hagelt. Die Mittelschicht dünnt aus, sie ist nervös, ihr schwant, dass sie ums Überleben kämpft. Die einzige Chance für ihre Kinder sieht sie in einer nie da gewesenen Bildungsoffensive. Erste Fremdsprachenangebote gibt es bereits für Babys. Schüler werden krank zum Unterricht geschickt, damit sie ja nichts verpassen. Geht es doch einmal nicht anders und ein Kind liegt mit Fieber im Bett, telefoniert die Mutter noch am selben Tag in der Nachbarschaft herum. Wer bringt die Hausaufgaben vorbei? Wer kann die Hefteinträge vom Vormittag kopieren? In der vierten Klasse tobt der Bär. Eltern treffen sich zum „Übertritts-Stammtisch“. Während die Kinder blass und ohne Freude lernen, planen die Großen: Welche Möglichkeiten haben wir, wenn die Noten nicht reichen? Notfalls, so sagte mir mal ein Vater, schmeiße er alles hin und ziehe in ein anderes Land. Er lasse sich die Zukunft seines Sohnes jedenfalls nicht von der Expertise einer Grundschullehrerin vermasseln.



Völlig aufgelöst rief mich kürzlich eine Bekannte an. Sie hatte ihren Freundinnen offenbart, dass ihre Tochter auf die Realschule kommen solle. Die Noten hätten zwar auch für das Gymnasium gelangt, aber die Mutter war sicher, dass ihre Tochter auf der Realschule besser aufgehoben sein würde. Dem Kind fällt das Lernen nicht wirklich leicht, und es war im letzten stressigen Jahr der Grundschule ganz resigniert und mutlos geworden. Die Freundinnen jedoch hatten meine Bekannte nicht für ihre Umsicht gelobt, sondern sie mit einem Sturm der Entrüstung bedacht. Realschule? „Unverantwortlich“, da war sich die Riege der Freundinnen einig gewesen. Das Schulsystem mag unbarmherzig sein; Eltern, Freunde, Verwandte, Nachbarn und Bekannte sind es häufig auch.



Immer früher fängt an, was Zyniker als „Rattenrennen“ bezeichnen. Von Promis aus New York hört man seit Langem, dass angeblich bereits die Wahl des richtigen Kindergartens über die spätere Karriere entscheide. Auch hierzulande vermehren sich die Stadtneurotiker. So begehrt wie einst nur Schuhe von In-Designer Manolo Blahnik sind plötzlich Plätze in einem der neu gegründeten Luxuskindergärten: In anderen Kitas mag gesungen, gespielt und gebastelt werden. Im Luxuskindergarten gibt’s für monatlich 1000,– € Vorträge über den Darm, von den Kindern selbst inszenierte Theaterstücke sowie naturwissenschaftliche Experimente satt. Wenn überhaupt, wird bilingual gespielt.



Die Ambitionen anderer Leute sollten einen kalt lassen. Sie tun es leider nicht. Fremder Eifer macht schlechte Laune, die nicht zuletzt die Kinder ausbaden müssen. Kommt man von einer unerfreulichen Begegnung mit Eltern zurück, die wortreich vom angeblich erfolgreichen Streben ihrer Kinder schwärmten, wird die eigene Brut mit Argwohn betrachtet. Sie gammelt Comics schmökernd auf dem Sofa herum, statt sich auf die Exzellenz-Offensive vorzubereiten? Na wartet, es wird höchste Zeit, dass man euch auch mal Dampf macht!



In den Vereinigten Staaten lässt man selbst Ungeborene nicht in Ruhe. Kein Witz. Um schon dem Fötus das Zählen beizubringen, werden in der „Prenatal University“ in Kalifornien Schwangere dazu angehalten, eine Halogenleuchte auf ihre Babybäuche zu richten. Sie knipsen sie an und aus – zwei-, drei-, viermal. Two lights (three, four), ertönt es durch Schalltüten, damit der Adressat der Mühen auch ja aufwacht. In den USA ist derlei Fötentraining durchaus populär – obwohl Psychologen eindringlich davor warnen.



Derartige Eltern-Paranoia gibt es zum Glück hierzulande nicht. Folgende Zahlen sollten dennoch zu denken geben: Jedes vierte Kind in Deutschland hat mit acht Jahren bereits irgendeine Therapie hinter sich. Eltern bringen ihre Kinder zum Ergotherapeuten, zur Logopädin, zum Psychologen. 15 Prozent aller Psychopharmaka, vor allem Antidepressiva, werden Kindern verschrieben. Schulkinder klagen über Nervosität, Schlafstörungen oder Kopfschmerzen. Das sind Erkrankungen, die auch gestresste Manager plagen. Ja, es ist wünschenswert, wenn Kinder möglichst gut in der Schule sind. Ohne Fleiß und Disziplin wird das auch nicht funktionieren. Vor überflüssigem Stress und Panik aber können wir sie bewahren.



Im Jahr 2005 stieß ich zum Team von Focus-Schule. Die Themen rund ums Lernen interessieren mich auch privat, schließlich habe ich zwei Kinder. Im Laufe der Jahre wurde ich zunehmend kritischer und respektloser gegenüber den zahlreichen „Experten“ auf dem Bildungssektor. Vieles von dem, was sie mir erzählten, konnte ich mit meinen persönlichen Erfahrungen mit Kindern nicht in Einklang bringen, oder es stand in krassem Gegensatz zu Überzeugungen anderer. Nach 20 Berufsjahren bekommt man ein immer besseres Gespür dafür, wer wirklich Ahnung hat und wer nur so tut. Die Stimme der Vernunft ist allerdings durchweg leiser als die der Populisten. Letztere aber bestimmen, was wir „wissen“. Das hat mich geärgert, auch weil ich erlebe, wie schwierig Diskussionen mit Menschen sind, die sich auf angebliche Erkenntnisse aus der Wissenschaft berufen. Ich wollte es deshalb genau wissen: Klappen Zeitfenster wirklich zu, und brauchen Kinder daher zu bestimmten Zeiten gezielte Lernangebote? Ist es wahr, dass Kinder leichter lernen als Erwachsene? Bringen Englisch und naturwissenschaftliche Experimente in der Kita Kinder tatsächlich nach vorn? Schult Latein, wie stets behauptet, das logische Denken? Wird, wer ein Instrument lernt, tatsächlich schlauer? Haben spät eingeschulte Kinder wirklich das Nachsehen? Ist Auswendiglernen zu Recht verpönt? Macht Fernsehen blöd? Ist die Ganztagsschule wirklich die Lösung aller Probleme? Aus dem Fragen-Katalog wurde eine Liste, die ich im vergangenen Jahr Elsbeth Stern schickte, einer Kapazität unter den Lehr- und Lernforschern. Früher hat die Kognitions-Psychologin am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gearbeitet, heute lehrt und forscht sie am Institut für Verhaltenswissenschaften der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Nach Erhalt meiner Nachricht rief mich Frau Professor Stern an und versprach ihre Hilfe.



Das vorliegende Buch handelt von den gängigsten Fehleinschätzungen in Sachen Lernen. Für Lehrer, Eltern (und nicht zuletzt die Kinder) müssen das keine schlechten Botschaften sein. Im Gegenteil: Wenn man weiß, was funktioniert und was nicht, kann man sich Sackgassen und Umwege ersparen. Wer die populärsten Irrtümer kennt, wird zudem lockerer – garantiert. Auch die nervenzehrenden Debatten über den richtigen Weg in Kindergarten oder Schule werden weniger verunsichern, wenn man weiß, wieviel Unsinn selbst unter angeblichen Fachleuten kursiert. Allenfalls Halbrichtiges ist lange genug wiederholt worden. Es wird Zeit, sich gegen die Schwarzseher und ihre nervös machenden Halbwahrheiten zu wehren: Wenn Kinder ausgiebig spielen, werden sie später nicht auf Straßenkreuzungen die Autos jener putzen müssen, die bereits im Kindergarten Unterricht hatten. Sie werden nicht weniger Erfolg haben als die, die ihre grauen Zellen mittels Gehirnjogging trainieren. Und niemand wird ihnen die Butter vom Brot nehmen, nur weil sie mit dem Erlernen der ersten Fremdsprache bis zur fünften Klasse gewartet haben.



Elsbeth Stern habe ich in vielfacher Hinsicht zu danken. Sie hat mich bereits bei einer Titelgeschichte für Focus-Schule zum selben Thema beraten und mir auch in vorliegendem Buch bei vielen Kapiteln geholfen – mit ihrem fundierten Wissen, geduldigen Erklärungen sowie zahlreichen Anregungen und Hinweisen. Auf die Frage, warum sie sich so einsetzt, verblüffte sie mich mit einem Bekenntnis: „Erst wenn es gelingt, die alten Mythen und populären Irrtümer aus den Köpfen zu verbannen, haben Erkenntnisse der modernen Lernforschung eine wirkliche Chance.“ Außerdem, so sagte sie, plagten sie und ihre Kollegen zuweilen Gewissensbisse. Stern: „Vor zehn, 15 Jahren haben wir gesagt: Hey, Kinder können doch viel, viel mehr. Heute müssen wir sehen, wie falsch das verstanden worden ist. So jedenfalls haben wir das nicht gemeint.“



Wenn das vorliegende Buch Erzieher, Lehrer, alle am Thema Schule Interessierten zum Nachdenken über Dinge bringt, die dank Dauerpräsenz zu den bildungspolitischen Säulenheiligen gehören, hat sich die Mühe gelohnt. Wie wir noch sehen werden, ist es zum (Um)lernen jedenfalls nie zu spät. In erster Linie aber habe ich das Buch für Eltern geschrieben. Für Mütter und Väter, denen das Wohl ihres Kindes immer noch wichtiger ist als seine Schulnoten. Für die, die ihr Kind optimal unterstützen wollen, ohne es kirre zu machen. Und für jene, die bereit sind, wieder mehr auf das zu hören, was man den gesunden Menschenverstand nennt. Doch selbst Eltern, die der Überzeugung sind, nur dem polyglotten Alleskönner gehöre die Zukunft, können von den hier gesammelten Erkenntnissen nur profitieren. Auch für die Bildung gilt: Nur weil etwas en vogue ist, muss es noch lange nicht sinnvoll sein.



Mögen die grundlegenden Einsichten übers Lernen uns allen zu mehr Gelassenheit verhelfen. Kinder brauchen die unerschütterliche Zuversicht ihrer Eltern, andernfalls werden sie sich selbst auch nichts zutrauen. „Unerschütterliche Zuversicht“ heißt gleichwohl nicht, noch die dritte Fünf gütig und wohlwollend abzunicken. Manch unangenehme Wahrheit darf man Kindern nicht ersparen. Wie wir noch sehen werden, lässt sich das Gehirn leider nicht unspezifisch trainieren. Wer also in Physik eine gute Note schreiben will, wird – ganz altmodisch – auf dem Hosenboden sitzend üben müssen – und zwar Physik!

Claudia Jacobs

Irrtum: Kinder kann man nicht früh genug fördern

Schon bevor das Kind auf der Welt ist, gilt es zahlreiche Fragen abzuarbeiten: Natürliche Geburt oder Periduralanästhesie? Wer soll das Kind tagsüber betreuen – Mutter, Tagesmutter, Kinderkrippe oder der Vater? Ist die Wohnung groß genug oder ziehen wir ins Haus im Grünen?



Ältere, gebildete Erst-Eltern sind außerordentlich interessiert und machen es sich oft besonders schwer. Sie wälzen zahlreiche Ratgeber, deren Inhalte sich jedoch dummerweise widersprechen. Pampers oder Stoffwindel? Milch oder Soja, Sesamstraße oder Teletubbies? Die einen sagen so, die anderen so. Nichts scheint wirklich sicher, bis auf eines: Nichts im Leben, so heißt es immer wieder, sei so wichtig wie die ersten drei Jahre. Viele Eltern hoffen also, sich später demütigende Sprechstunden beim Lehrer und teure Nachhilfestunden zu sparen, wenn sie ganz am Anfang auf dem Posten sind.



Mit Literatur zu frühkindlicher Förderung könnte man beinahe Bibliotheken füllen. Grundsätzlich aber berufen sich überzeugte Anhänger des Kleinkind-Trainings immer noch auf zwei angebliche Fakten, die jedoch längst als Irrtümer widerlegt wurden:





Irrtum 1: Mehr Synapsen = mehr Intelligenz



Aus der Hirnforschung wissen wir, dass sich das menschliche Gehirn während der ersten Monate und Jahre nach der Geburt in atemberaubendem Tempo verändert. Das Gehirn eines Kleinkindes produziert Billionen mehr Synapsen (Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen), als in den Gehirnen seiner Eltern vorhanden sind. Mehr Synapsen aber setzen viele gleich mit mehr Intelligenz. Demnach müssten Eltern, Erzieher, die Gesellschaft als Ganzes alles daran setzen, dass kleine Kinder möglichst viele Synapsen bilden.



Was daran falsch ist? Es gibt keine Formel: Mehr Synapsen = mehr Intelligenz. Der Verlust von Synapsen ist ein normaler, überaus nützlicher Prozess in der Gehirnentwicklung jedes gesunden Menschen. Bei der Geburt verfügt der Säugling noch über relativ wenige synaptische Verbindungen. In den ersten Lebensjahren gibt es tatsächlich zunächst einen enormen Zuwachs. Diese Entwicklung hält allerdings nicht an, sondern verkehrt sich ins Gegenteil: Synapsen werden wieder abgebaut, was auch dringend nötig ist. Mit dem Synapsenabbau wirft das überversorgte Gehirn gleichsam Ballast ab. Manche sprechen auch von einer Art „Reinigung“, die dazu dient, den Denkapparat auf Effizienz im Sinne eines geringeren Energieverbrauchs zu trimmen. Niemand weiß es genau, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Entwicklung genetisch beeinflusst wird und nicht durch die Umwelt. Wir müssen also die Synapsenbildung von kleinen Kindern nicht extra aktivieren, sondern dürfen entspannt der natürlichen Entwicklung ihren Lauf lassen!





Irrtum 2: Kleinkinder benötigen speziellen Input,
damit Zeitfenster nicht ungenutzt zuklappen



Zu bestimmten Zeiten benötigt das Gehirn bestimmte Stimulationen (Anreize), um sich optimal zu entwickeln. Zeitfenster sind kritische Phasen in der Entwicklung, durch die sich, wenn nur die richtigen Stimuli gegeben werden, eine optimale Vernetzung des Gehirns herausbildet. Bleiben diese Stimuli aus, so die verbreitete Meinung, schließen sich diese Fenster für immer. Eltern müssten demnach höllisch auf der Hut sein und darauf achten, dass ein Kind ja kein Zeitfenster verpasst. Was in den ersten drei Jahren verbummelt wird, lässt sich nie wieder aufholen.



Keine Angst: Jawohl, es gibt wohl kritische Phasen oder Zeitfenster, aber niemand muss sich davor fürchten, dass ein Kind eine solche Phase versäumt. Erstens sind Zeitfenster nicht auf die ersten drei Lebensjahre beschränkt. Zweitens betreffen kritische Phasen elementare Eigenschaften – Sehen, Hören, Bewegung und Muttersprache z. B. und womöglich einige emotionale und soziale Verhaltensweisen. Für die Herausbildung dieser Eigenschaften bedarf es im Normalfall keiner besonderen Anregung von Eltern und Fachleuten, die dafür viel Geld verlangen. Die Stimuli, die das kindliche Gehirn für seine gesunde Entwicklung braucht, sind überall anzutreffen. In der hippen Schwabinger Loftwohnung ebenso wie in der letzten „Jurte der Mongolei“, wie der Entwicklungsexperte John T. Bruer versichert. Das Erlernen kulturell vermittelter Fähigkeiten (Lesen, Rechnen, Schreiben, Musizieren, Häkeln, Bowlen, Auto fahren, Soufflée kochen) ist überdies keineswegs an eine bestimmte Zeit gebunden. Wie schlecht Ihr Kind auch immer in der Schule sein mag, es liegt nicht daran, dass Sie mit ihm als Baby womöglich zu wenig unternommen haben. Für verunsicherte Mütter und Väter müsste die Botschaft geradezu erlösend sein: Egal, ob der Nachwuchs der Nachbarin zum Baby-Schwimmen oder in die Pekip-Gruppe gefahren wird – ein Kleinkind muss später keine Nachteile ausbaden, weil seine Eltern es vorgezogen haben, zur gleichen Zeit mit ihm den Garten zu erobern. Selbstverständlich können Eltern und Kinder auch beim Baby-Schwimmen Spaß haben.

Normal entwickelte, gesunde Kinder benötigen keine speziellen Förderprogramme. Damit kleine Kinder gedeihen, brauchen sie vor allem emotionale Sicherheit sowie ausreichend Gelegenheit, ihre Umwelt zu erkunden. Kinder sind von Geburt an lernfreudig und neugierig. Babys brauchen keine Geschenke, die blinken, piepsen und sich auf Knopfdruck fortbewegen. Selbst noch so ausgeklügeltes Lernmaterial und pädagogisch wertvolles Spielzeug kann echte, mit allen Sinnen gemachte Erfahrung nicht ersetzen. Babys brauchen Zeit. Wenn ein Kind sich mit einer Rassel beschäftigt, müssen wir ihm nicht auch noch einen Schlüssel, einen Löffel oder einen Ball in die Hand drücken. Eine Rassel ist nicht zu wenig. Wenn das Kind Gelegenheit hat, sie in aller Ruhe zu erkunden, wird es eine Menge lernen. Erwachsene sollten auf ihre Intuition vertrauen: So handeln wir automatisch richtig, wenn wir Babys begegnen. Wir machen z. B. große Augen und reden in ruhigen, freundlichen, einfachen Worten. Viele Leute assoziieren mit Frühförderung eine Extraportion Aktivität. Zuviel Input bewirkt indes das Gegenteil von dem, was Eltern sich für ihr Kind wünschen. Mütter und Väter, die ihr Kind am Alltag teilhaben lassen und es unaufgeregt beobachten, werden spüren, was es gerade braucht. Eltern und Erziehern, die sich dem wachsenden Förder-Druck kaum entziehen können, sei das Buch „Der Mythos der ersten drei Jahre“ des ausgezeichneten Wissenschaftsjournalisten und Entwicklungsexperten John T. Bruer empfohlen. Wer es gelesen hat, dürfte selbst jenen Paroli bieten können, welche mit Verve Ergebnisse der Hirnforschung simplifizieren und verfälschen.



John T. Bruer verdanke ich neben vielen Einsichten die Bekanntschaft mit einem sehr beruhigenden Ausspruch des Neurowissenschaftlers Steve Petersen. Eltern, die die Hirnentwicklung ihrer Kinder positiv beeinflussen wollen, rät er: „Ziehen Sie Ihr Kind nicht in einem Schrank auf, lassen sie es nicht verhungern und schlagen Sie es nicht mit einer Bratpfanne auf den Kopf.“

Irrtum: Fremdsprachen lernt man am besten als Knirps

Kinder sind kein Sparbuch. Man weiß nie, ob sich das, was man für sie getan hat, eines fernen Tages wirklich „auszahlt“. Eltern, die jedoch in frühe Sprachkurse ihrer Kinder investieren, haben zumindest die vage Hoffnung, dass sie das Geld nicht gleich zum Fenster hinauswerfen. Genau das aber tun sie.