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Martin Rupps



Ich will nicht mehr 20 sein

Das Weltwissen der Babyboomer

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de





Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig



ISBN (E-Book) 978-3-451-33429-0

ISBN (Buch) 978-3-451-30214-5

Für J. Rodloff, noch einmal







„Verstehen kann man das Leben nur rückwärts.

Leben muss man es vorwärts.“



Søren Kierkegaard (dänischer Philosoph, 1813 bis 1855)

Vorrede: Kunterbunte Lebensmitte



Die Lebensmitte ist auch nicht mehr, was sie einmal war.

Sie ist jetzt bunt, ja kunterbunt. Sie ist wechselvoll. Sie ist spannend. Und sie ist anstrengend geworden. Wer heute Anfang vierzig bis Mitte fünfzig ist, kann ein Lied davon singen.

Die Lebensmitte galt noch für unsere Eltern als eine Zeit der Ernte – der Mann hat im Beruf etwas erreicht, er bleibt in „seiner“ Firma bis zur Rente. Die Frau hat wieder mehr Zeit für sich selbst, denn die Kinder sind aus dem Gröbsten heraus. Sie geht stundenweise arbeiten. Das Häuschen ist in einigen überschaubaren Jahren abbezahlt. Die Kinder werden langsam flügge, fahren aber noch mit den Eltern in Urlaub. Der Mann geht einmal die Woche Kegeln und die Frau trifft sich einmal die Woche mit Freundinnen zum Plausch. Die christlichen Feste und der Sommerurlaub regeln die Unternehmungen im Jahreslauf. Der Alltag geht seinen Gang, unterbrochen von kleinen und größeren Freuden.

Die Ehe ist intakt, die Kinder gedeihen, der Wohlstand steigt von Jahr zu Jahr – irgendwo in diesem Dreieck lag das private Glück.

Pustekuchen. Die Zeit ist über ein solches Szenario hinweggegangen. Zum Glück haben wir heute die Gleichstellung von Frau und Mann und moderne Rollenbilder von Mutter und Vater. Aber ich sehne mich auch nach meiner Kinder- und Jugendzeit zurück, als die Welt nicht nur für uns, sondern auch für unsere Eltern geordnet erschien. Jede und jeder wusste, wo der eigene Platz war. Heute müssen wir ohne Vorbilder und aus eigenen Vorstellungen heraus klarkommen. Das macht uns die Sache leichter und schwerer, schöner und kräftezehrender zugleich. Unser „Nachmittag des Lebens“, wie die Lebensmitte gern genannt wird, verläuft so individuell wie nie zuvor.

Vom neuen, kurvenreichen, schönen, schwierigen Lebenslauf der Babyboomer, heute und in der Zukunft, handelt dieses Buch. Es schaut auf unser halbes Leben zurück, in dem viele Gewissheiten fortgespült wurden wie Muscheln im Sand. Es liefert eine Wasserstandsmeldung über unsere persönliche und gesellschaftliche Lage und eine Prognose über unsere persönliche und gesellschaftliche Zukunft. Auf was kommt es heute an? Und auf was morgen? Mit welchem Handwerkszeug meistern wir unsere Gegenwart und unsere Zukunft? Wer sind wir und was wird aus uns?

Zu erzählen ist über das „Weltwissen“ derjenigen, die heute in der Lebensmitte stehen, über ihre bisherige Lebenserfahrung, über den Witz und den Ernst in ihrem Leben und darüber, wie und woran sie sich orientieren. Worin ihre Lebensschläue und Lebensklugheit besteht. Wo sie für ihre Zukunft schwach und wo sie stark aufgestellt sind.

Donata Elschenbroich hat vor bald zehn Jahren das „Weltwissen der Siebenjährigen“ beschrieben, hat diskutiert, was ein Kind in seinen ersten sieben Lebensjahren erfahren haben, können und wissen muss. Ich beschreibe, was die Anfang Vierzigbis Mitte Fünfzigjährigen auf der Basis der bisherigen Erfahrungen beschäftigt und was sie in Zukunft erwarten können. Wo sie stehen. Wohin alles führt.

Was geht uns durch den Kopf? Was sind unsere Aufgaben von heute und morgen? Wo stehen wir in der ewigen Abfolge der Generationen?

Donata Elschenbroich hat ihr Thema „umwandert“, und selbst wenn wir nicht vom selben schreiben, gefällt mir diese Methode gut. Ich möchte das Weltwissen von uns Babyboomern ebenfalls umwandern, umkreisen, zu seiner Erschließung verschiedene Blickwinkel wählen.

Zu erzählen ist über Persönliches, ja Intimes, und über Öffentliches, ja Politisches. Im wahren Leben gehen diese Bereiche bunt durcheinander, im Leben von uns Babyboomern ist das nicht anders.

Ich bin – ein Mann darf sein Alter preisgeben – Jahrgang 1964. Damit gehöre ich zum massenhaftesten aller deutschen Jahrgänge und zugleich zu einem, der in der Lebensmitte steht. Ich schreibe durch die Brille eigener Erinnerungen, Erlebnisse und Erfahrungen, aber so, dass auch Allgemeingültiges und Typisches über meine Generation zum Ausdruck kommt. Ich habe mich vor der Niederschrift heftig an meine erste Lebenshälfte erinnert, aber noch häufiger unzählige Babyboomer (gemeint sind natürlich immer Boomerinnen und Boomer) über ihre Erinnerungen und ihre Mittellage im Leben befragt.

Die Fülle der allesamt wahren Anekdoten und Geschichten, erinnerten Bilder, begründeten Behauptungen, schrecklichen Vorurteile und weisen Einsichten mag aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich viele Statistiken und viele Fakten über unsere Generation ausgewertet habe. Weil ich aber selbst nicht gern statistik-getränkte Bücher lese, möchte ich das auch niemand anderem zumuten.

Ein irgendwie objektives Buch über eine Generation ist entweder unmöglich oder dröge zu lesen. Ein Autor schaut stets durch eine persönliche Brille auf diese Generation, so sehr er sich auch bemüht, andere Sichtweisen einzublenden. Doch letztlich gibt es bei diesen Themen keine Wahrheit und keine Unwahrheit außer der eigenen. Die Leserin oder der Leser möge sich eine individuelle Vorstellung machen und mir darüber schreiben (siehe die Adresse am Schluss des Buches).

Die Lebensmitte ist so spannend geworden wie nie vorher in der Geschichte. Die Babyboomer, die jetzt in der Lebensmitte stehen, sind eine spannende, weil einmalige Generation. Sie sind die Kinder aus einer Zeit, als das Kinderkriegen noch geboomt hat. Es gab, als wir gezeugt wurden, noch keine Pille, nur die „Zeitwahlmethode“ (das Wort habe ich aus dem „Linder“, meinem Biologiebuch). In diesem Buch stand weiter, diese Methode sei „unsicher“, und bei der Menge von uns Kindern muss es wohl so sein, damals wie heute.

Die ungeregelte, weil von keiner Pille gestoppte Fruchtbarkeit setzte Millionen von Deutschen in die Welt, in der Bundesrepublik genauso wie in der DDR. Nie zuvor und nie mehr danach waren es so viele an der Zahl. Schon wegen ihrer Masse haben die Babyboomer ihren Platz im Geschichtsbuch sicher.

Die Babyboomer sind eine glückliche Generation. Die Masse von ihnen ist erwachsen, zumindest befindet sie sich in einem Alter, in dem ihre Eltern bereits erwachsen waren. Sie sind zwar nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. In der goldenen Mitte ihres Lebens sind sie die jüngsten, gesündesten, am besten gebildeten Nachvierziger und Vorsechziger in der deutschen Geschichte. Außerdem verfügen sie über mehr Geld als alle Generationen zuvor.

Die Babyboomer stehen auf dem Hochplateau ihres Lebens, und wie jede Generation vor ihr haben sie Grund zu der Annahme, dass kulturell nichts Besseres nachkommen wird – jedenfalls nicht mit den beiden Nachfolger-Generationen, der wehleidigen Generation Golf und der rastlosen Generation Praktikum.

Natürlich stehen auch wir vor den Herausforderungen des Alltags, ziehen Kinder groß, sorgen uns um den Arbeitsplatz, fühlen uns einsam, weil wir keinen Partner/ keine Partnerin finden – aber leider manchmal genauso einsam, wenn wir ihn/ sie gefunden haben. Keine Frage, es gibt auch in dieser Generation viele Frauen und Männer, die dem „Hochplateau des Lebens“ nichts abgewinnen können. Aber es ist ein Unterschied, vom Schicksal einer Generation zu sprechen, einem kollektiven Schicksal sozusagen, oder vom Schicksal einer oder eines Einzelnen. Ein Einzelschicksal kann von Krankheit oder materieller Knappheit betroffen sein. Ein Babyboomer kann wegen einer Krankheit nicht in seinem Beruf arbeiten. Eine Babyboomerin muss ihre Kinder allein großziehen, weil sich der Vater aus dem Staub gemacht hat und überdies keinen Unterhalt zahlt. Jemand verliert seinen Arbeitsplatz und findet, weil er in seinem Alter „schwer vermittelbar“ ist, keinen neuen mehr.

Trotzdem teilen auch diese Einzelschicksale ein kollektives Schicksal mit den weiteren Angehörigen ihres Jahrgangs. Individuelle Lebensumstände mögen schwierig sein. Doch es bleibt dabei, dass die Babyboomer eine besondere, einzigartige Generation sind!

Ich widme mich also weniger den individuellen Lebensläufen, sondern dem, was die Angehörigen dieser Generation miteinander verbindet – die Lust und den Frust in einer spannenden, offenen Lebensphase.

Die Babyboomer haben nach einem halben Lebensweg viel erreicht und auch wieder viel verloren, eine Ehe, die Familie, den Arbeitsplatz oder einfach nur viel Geld, aber sie haben auch noch Zeit für eine Kehrtwende oder einen Neuanfang. Wir stehen nicht am Anfang eines Weges, sondern wir gehen mitten auf diesem Weg. Dabei werden wir älter, und das Älterwerden ist ja schon Herausforderung genug.

Ich möchte etwas vom persönlichen Lebensgefühl der Babyboomer einfangen. Privat sind sie Frau und Mann, Mutter und Vater, Single oder Lebensabschnittsgefährtin oder -gefährte. Das tue ich manchmal nüchtern und manchmal trunken von Erinnerungen, leichtfüßig und schwermütig, so objektiv wie nötig und so subjektiv wie möglich. Wer sich falsch „eingefangen“ fühlt, möge auf der Homepage protestieren – und schon wird das Bild von der kunterbunten Lebensmitte noch bunter.

Und dann ist da noch die öffentliche, die politische Rolle der Babyboomer als Bürgerinnen und Bürger, Nachbarin und Nachbar oder Elternbeirätin und Elternbeirat. In Wirtschaft und Gesellschaft sind wir ebenfalls nicht nur eine wichtige, sondern die wichtigste Generation. Auch hier zeichnet uns vor allem unsere Masse aus.

Weiter rührt unsere Bedeutung von unserem materiellen Wohlstand her. Wir sind die Generation, die im Erwerbsleben angekommen ist, die regelmäßig Geld verdient, und das ist bei unserer Zahl an „Berufsjahren“ kein Einstiegsgehalt mehr. Mit unserem Geld kaufen wir immer neue Möbel oder Festplatten-Rekorder (die wir allerdings kaum bedienen können). Im Vergleich zu anderen Altersgruppen erzielen wir das höchste Einkommen. Dafür bezahlen wir aber auch das Leben von bis zu vier Generationen: das unserer Eltern, das von uns selbst und das unserer Kinder – und manchmal das unserer Enkel.

Überwiegend tun wir das gern. Menschen in der Mitte des Lebens kennen ein gemeinsames Grundgefühl, wie Bischöfin Margot Käßmann schreibt, „diese Sorge für die Jüngeren und für die Älteren zugleich“. Wir kümmern uns gern, aber wir haben auch keine andere Wahl. Wir sind, was das Geld angeht, die Melkkühe dieser Gesellschaft.

Trotz unseres Wohlstandes haben auch wir Grund zur Sorge. Wer nimmt unser politisches Schicksal in die Hand? Wenn es um unsere Zukunft geht, zum Beispiel die Zukunft unserer Rente, rückt die Politik nur scheibchenweise mit der Wahrheit heraus. Wie lange lassen wir uns das gefallen? Und wie verhindern wir, dass Jüngere, die im politischen Berlin bereits nachdrängen, die Themen unserer Generation übergehen?

Zum Glück für dieses Land melden sich die Babyboomer nicht geschlossen zu Wort, etwa mit einer Demonstration – sogar die Lüneburger Heide wäre als Versammlungsort zu klein.

Trotzdem ist die Masse, auch wenn sie kein geschlossenes Bild abgibt, sehr gegenwärtig, weniger auf den Straßen in Deutschland und auf Mallorca, aber mehr in den Köpfen derer, die unser Land politisch steuern. Die Babyboomer-Generation gilt Volkswirtschaftlern und Politikern als teurer, alle sozialen Systeme verwüstender Koloss, der bis weit in das angebrochene Jahrtausend durchgeschleppt werden muss, der mit Arbeitsplätzen, Arbeitslosengeld, Krankenhausbetten, Krankengeld, Rentenansprüchen, Mindestrente, Hüftgelenken, Schnabeltassen, Pflegeheimplätzen und last but not least Grabstellen zu versorgen ist. Wer soll das in dieser Masse zur Verfügung stellen und vor allem: Wer soll diese Versorgung bezahlen?

Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst, wie eine Redensart lautet. Der englische Komiker Marty Feldman hat einmal einen Kurzfilm mit zwei Beerdigungszügen gedreht, die voneinander – jedenfalls zunächst – nichts wissen, aber beide die letzte freie Grabstelle auf dem Friedhof belegen wollen. Erst als in beiden Zügen schwermütige Blasmusik erklingt, bemerken sie einander – und erkennen die Gefahr, zu spät am Grab anzukommen. Langsam aber stetig erhöht jeder Zug das Tempo, man will ja schließlich die Form wahren. Man hofft auch darauf, der jeweils andere Zug habe die Gefahr noch nicht gewittert. Aber plötzlich siegt die nackte Angst und alle Tabus fallen – die Teilnehmer beider Züge rennen samt Särgen auf das schmale Loch mit dem Erdhaufen zu. Die Entscheidung wird in einer offenen Feldschlacht am offenen Grab gesucht! Die Züge stellen hierzu ihre Särge auf einer Wiese ab und geraten in eine große Prügelei.

So weit muss es nicht kommen, wenn die deutschen Babyboomer einmal ihre letzte Ruhe finden. Zum geordneten Abgang tragen schon die Volkshochschulen bei, die uns bereits heute einen Besuch im Krematorium anbieten. „Das Rhein-Taunus-Krematorium ist die neue Generation der Feuerbestattungsanlagen. Ganz in der Nähe – eingebettet im idyllischen Tal der Loreley … Auf dem Weg durch den benachbarten Ruhewald erhalten Sie einen Eindruck von dieser neuen Bestattungsform. Im Anschluss an unseren Besuch ist noch Zeit für eine Mittagsrast in Boppard.“

Wer heute keine Zeit für eine solche Inspektion hat, kann dort auch noch in zehn, zwanzig oder vielleicht auch dreißig Jahren vorbeigehen. Das Problem unserer Masse besteht aktuell und wird es auch noch für lange Zeit tun.

Aber wer sind eigentlich die Babyboomer? Von wann bis wann reicht der Nachmittag des Lebens? Die Autoren einer Verbraucheranalyse, die kürzlich der Springer-Verlag in Auftrag gegeben hat, zählten die Jahrgänge 1954 bis 1968 zu den deutschen Babyboomern. Ich selbst habe diese Generation in meinem Buch „Wir Babyboomer. Die wahre Geschichte unseres Lebens“ auf die Jahrgänge 1959 bis 1964 eingegrenzt.

Beide Vorschläge haben ihre Berechtigung, aber einen unterschiedlichen Zweck. Wenn es darum geht, die „großen Linien“ der Spezies Babyboomer im Hinblick auf ihr Konsumverhalten zu beschreiben – wie im Fall der Springer-Studie – drängt sich ein Vergleich über einige Jahrgänge hin auf. Das Konsumverhalten von Angehörigen der Jahrgänge 1958 und 1968 ist offenkundig ähnlich – weshalb sollen die Jahrgänge dann nicht in einen gemeinsamen Topf wandern?

Ich selbst hatte bei meiner Eingrenzung auf die Jahrgänge 1959 bis 1964 die Alltagskultur der Babyboomer im Blick, die gemeinsamen prägenden Erlebnisse, die Themen in der Familie oder auf dem Schulhof. In dieser Hinsicht haben sich ein Babyboomer-Exemplar des Jahrgangs 1959 und eines von 1964 viel mehr zu erzählen als, sagen wir, jeweils eines von 1958 und 1968. Letztere wurden nicht mehr mit denselben Zeichentrickserien und Pop-Idolen groß.

Beide Festlegungen der deutschen Babyboomer-Jahrgänge, die weitere wie die engere, sind durch die Geburtenstatistik für Deutschland (West) und Deutschland (Ost) gedeckt. Die Fruchtbarkeit blieb in Deutschland nach 1945 zwar nicht aus, aber niedrig – die Männer waren im Krieg „gefallen“, wie es emotionslos hieß, oder sie waren in Gefangenschaft, und selbst Paare mochten angesichts von Krankheit, Hunger und Wohnungsnot nicht gleich Kinder zeugen. Das änderte sich in den fünfziger Jahren, als das Wirtschaftswachstum eine steigende Geburtenrate mit sich brachte. 1959 machten die Zahlen einen ersten kräftigen Sprung, erreichten 1964 den Höchststand und fielen erst auf die siebziger Jahre hin rapide ab – Stichwort „Pillenknick“.

Mein Entschluss, die Babyboomer-Generation erst 1959 beginnen zu lassen, brachte mich fast um Kopf und Kragen, denn sowohl viele Angehörige der vorherigen Generation Z – die „Zaungäste“ der 68-Generation, also ihre jüngeren Geschwister –, als auch frühe Angehörige der Generation Golf pochten in leidenschaftlichen Mails auf ihre Babyboomer-Zugehörigkeit.

Aus dem Mengenlehre-Unterricht, den viele Babyboomer zu Beginn ihrer glücklosen Mathematik-Karriere absolvierten, blieb mir das Wort von der „Schnittmenge“ haften. Sie bezeichnet das Gemeinsame zweier verschiedener Mengen. Es gibt, um im Bild zu bleiben, eine Schnittmenge zwischen der Generation Z und den Babyboomern einerseits und den Babyboomern und der Generation Golf andererseits.

Der Begriff „Mitte“ hat nur in der Mathematik eine exakte Bedeutung. Die Mathematik klärt uns über die Mitte ungefähr so auf: Wenn ein Boot fünf Meter vom linken und fünf Meter vom rechten Ufer entfernt fährt, befindet es sich in der Mitte des Flusses. Doch so genau geht es im Leben, leider oder zu unserem Glück, nicht zu.

Wo also liegt im Fluss des Lebens die Mittellinie, auf der wir Babyboomer jetzt für einige Jahre Boot fahren, am Morgen aufstehen, zur Arbeit gehen, hinterher chillen (ich weiß, kein Wort aus unserer Generation) und am späten Abend zu Bett gehen? Und wie lange dürfen wir von uns behaupten, die Mitte zu besetzen? Eine Lebensmitte zu definieren, heißt, manche von dieser Mitte auszuschließen.

In den neunziger Jahren schrieb Tom Peuckert einen Artikel über die „Hälfte des Lebens“ und meinte damit die 35. Doch mittlerweile – und eigentlich sogar schon damals – ist die Lebenserwartung der Deutschen gestiegen, die Mitte ist zur 40 oder 45 hingerückt. Frauen werden älter als Männer, viele Frauen und Männer erreichen das 80., manche sogar das 90. Lebensjahr.

Anders als zu der Zeit, als Tom Peuckert diesen Artikel schrieb, liegt auch die „gefühlte“ Mitte nicht mehr bei 35. Eine 35-Jährige von heute fühlt und denkt anders als eine 35-Jährige aus den neunziger Jahren. Sie fühlt sich jünger und noch nicht in der Mitte des Lebens.

Das „gefühlte“ Alter wird immer wichtiger, schon weil es immer mehr vom zahlendefinierten Alter abweicht. Eine 50-Jährige oder ein 50-Jähriger hat häufig noch 30 und mehr Lebensjahre vor sich. Das aktive Leben weitet sich in das „frühere“ Alter hin aus.

Fünfzigjährige haben „gefühlte“ Gründe, sich in der Mitte des Lebens zu sehen. Die Bischöfin Margot Käßmann zum Beispiel legte mit 51 ein Buch über die Mitte des Lebens vor. Sie räumte ein, das sei rechnerisch nicht mehr die Mitte (nur wenige Menschen erreichen den 102. Geburtstag), aber wer will abstreiten, dass sie noch viele Jahre ein erfülltes Leben führen kann?

Wenn wir uns an einer Beschreibung der Lebensmitte versuchen, brauchen wir eine Kombination aus einer rechnerischen und einer gefühlten Mitte. Die Redensart „Man ist so alt wie man sich fühlt“ trifft nur begrenzt zu, denn niemand kann sich zum Beispiel 20 Jahre jünger fühlen (und wenn er es tut, sitzt er einer Illusion auf ). Doch wir haben heute allen Grund, uns jünger zu fühlen, als wir tatsächlich sind. Bleiben wir also dabei, dass die Lebensmitte mit Anfang 40 beginnt. Die Autoren der Springer-Konsumstudie lassen die Babyboomer-Generation mit dem Jahrgang 1968 beginnen. Das ist sehr früh, aber nicht völlig falsch. Die 40 ist ein wichtiger Einschnitt im Kopf und im Leben eines Menschen, darauf komme ich noch zu sprechen. Bleiben wir weiter dabei, dass die Lebensmitte in den Mittfünfzigern endet. Laut Springer-Studie sind die letzten Babyboomer Mitte 50, bis zum 60. Geburtstag ist es noch etwas hin. Auch die 60 gilt, wenigstens bis jetzt, als symbolisch wichtige Zahl. Mit ungefähr 60 beginnt derzeit noch der Eintritt in den Ruhestand, das „dritte Leben“.

I. Die Babyboomer im Erinnerungsbad

Das war doch die schönste Zeit

Zu den wenigen Fragen, bei denen ein Babyboomer trotz phänomenaler Intelligenz und reicher Lebenserfahrung ins Grübeln kommt, gehört die Frage: „Will ich noch einmal 20 sein?“

Wir haben uns diese Frage, wenn wir ehrlich sind, schon mindestens einmal oder gar mehrfach im Leben gestellt oder sie an unsere Freundinnen und Freunde gerichtet. Vielleicht haben wir sie sogar nur an die anderen gerichtet, weil wir sie uns nicht selbst stellen wollten?

Während die Wahrscheinlichkeit dieser Frage mit zunehmendem Alter exponentiell ansteigt, nimmt die Sinnfreiheit der Antwort mit zunehmendem Alter ab. Die Evolution hat den Menschen noch nicht mit der notwendigen Reife ausgestattet, als dass er mit 20 Jahren und einem Tag eine brauchbare Antwort auf diese Frage geben könnte. Auch Marion macht hier keine Ausnahme.

Marion gehörte zu einer meiner Probanden in der Versuchsanordnung „Will ich noch einmal 20 sein?“, die ich zur Bestimmung der geistigen Situation der Babyboomer eingerichtet habe. Auf besagte Frage antwortete sie: „Ja, weil meine beste Freundin gerade 23 geworden ist.“ Eine wenig hilfreiche Aussage. Entsorgen wir diesen Satz in der Ablage P (Papierkorb).

Klaus, der mit seinen 48 von der 20 weit entfernt ist, sagte spontan: „Ja, ich will wieder 20 sein.“ Ich musste mit dieser Antwort rechnen (ihre Wahrscheinlichkeit lag bei 50 Prozent), war aber von der Heftigkeit, mit der diese Antwort gegeben wurde, überrascht.

Am Nachmittag – ich befand mich verdauungsbedingt im Büro-Halbschlaf – rief Klaus noch einmal an. Jetzt sagte er, er habe es sich überlegt, er wolle doch nicht mehr 20 sein. Ich fuhr geradezu auf. „Warum?“, fragte ich ihn und er antwortete: „Ich will doch nicht mehr 20 sein. Es ist so ein Gefühl.“

Damit war der Beweis erbracht, dass eine wie aus der Pistole geschossene Antwort voreilig ist und dass die Frage eine nicht vorhersehbare Wirkung auf den Fragenden hat.

Diese Wirkung kommt der von bunten Badekugeln gleich, die, wenn man sie ins Wasser wirft, zunächst noch ihre Form bewahren, dann aber ganz wörtlich die Fassung verlieren und als Feinstoff den gesamten Raum in der Wanne durchdringen.

Bei Klaus führte die Frage daher zunächst zu einer vordergründigen Antwort, zu einem billigen Abtun ihres tiefen philosophischen Gehalts. Doch jetzt war die Badekugel im Wasser und die Gedanken über meine Frage breiteten sich in Klaus’ Schädelraum – seiner „Badewanne“ – immer weiter aus. Babyboomer Klaus ging verändert aus der Versuchsanordnung hervor, in seinem Fall bereichert um die Gewissheit, nicht mehr 20 sein zu wollen. Mehrfach nach seinem heftigen Sinneswandel befragt, suchte er geradezu aggressiv das Thema zu beenden. „Ich habe jetzt einfach beschlossen, dass ich nicht mehr 20 sein will.“ Punkt.

Ein solcher Sinneswandel ist häufig, wie meine Versuchsreihe gezeigt hat. Der von der Frage angestoßene Gedankenfluss erreicht binnen Stunden und Tagen verdrängte, verschüttete, tief liegende Erinnerungen und spült sie nach oben und damit in das Gedächtnis. Wie war das eigentlich mit 20? War ich mit Heidi zusammen oder mit Silke? Besaß ich da schon meinen gelben Opel Ascona oder musste ich mir noch den orangefarbenen Peugeot meiner Mutter leihen? Hatte meine Schwester damals ihre frühe Schwangerschaft?

Nehmen wir ein weiteres Beispiel. Edwina, Mitte 40, das genaue Alter weiß ich nicht (als Babyboomer frage ich eine Frau nicht nach ihrem exakten Alter), hat in ihre Antwort gleich eine Forderung gepackt: „Ja, wenn ich wieder wie 20 aussehen darf !“

Die meisten Probanden haben allerdings, anders als Klaus und Edwina, mit einer Gegenfrage reagiert, etwa so: „Meinst du, mit der Erfahrung von heute?“ Und nach kurzem Luftholen: „Oder noch einmal richtig 20 sein, neu anfangen können?“ Spaßhaft pflegten viele den Hinweis nachzuschieben, mit der Erfahrung von heute wären sie gern noch einmal 20.

Mit ihren Rückfragen oder ausweichenden Antworten reagieren die Probanden intuitiv auf das Dilemma, das in der harmlosen Frage steckt. Sie spüren darin den Zwang zu wählen, erkennen mit Schrecken die Alternative, entweder jung und unwissend oder alt und wissend zu sein.

Erfüllt von widerstreitenden Gefühlen, eigentlich das eine und das andere zu wollen, jung zu sein und weise, von zarter Haut und seelischer Reife, weichen sie auf ein Nebengleis aus, auf eine Fahrt ins Nirwana. Ihre Antwort auf diesem Weg lautet: „Mit der Erfahrung von heute wäre ich gern noch einmal 20.“

Es ist legitim, das Rad der Zeit nochmals zurückdrehen zu wollen – aber das geht ja nur unter Verzicht auf die Erfahrung, über die wir heute verfügen! Es ist dagegen ein Taschenspielertrick, mit der Erfahrung von heute noch einmal anfangen zu wollen, sprich wieder 20 zu sein. Anfang und Erfahrung schließen einander gedanklich aus. Anfang und Reife ergeben Frühreife, die der Reife nicht das Wasser reicht.

Trotzdem kennen wir die Sehnsucht nach einem Umschnitt unseres bisherigen Lebensfilms. Die Spannung, die von der Frage „Will ich noch einmal 20 sein?“ ausgeht, ist die Sehnsucht, einige Bilder dieses Lebensfilms – ja ganze Szenen! – gegen heitere, brilliantere auszutauschen. Oder einfach gegen andere. Selten wollen wir diesen Film mithilfe einer Zeitmaschine, wie sie H. G. Wells in seinem gleichnamigen Roman beschrieben hat, komplett in eine andere Zeit (oder noch früher) zurück- oder vorversetzen. Gern würden wir aber Personen, Augenblicke, Erlebnisse tilgen oder ein paar Kredit- und Heiratsanträge ungeschehen machen. „Wäre ich ihm bloß nie begegnet!“, denken wir beim Blick auf ein bestimmtes Bild im Lebensfilm, im Wissen, dass der Wunsch, nicht der Verstand, Mutter oder Vater dieses Gedankens ist. Wer kennt von sich nicht den Spruch: „Damit hat das Unheil seinen Lauf genommen!“?

Vielleicht würden wir aber auch gern Augenblicke, Erlebnisse, Menschen in unseren Lebensfilm hinzufügen oder zumindest ihre Dauer und ihr Verweilen im Drehbuch verlängern. Besonders haben es uns die ersehnten, versuchten, aber nicht gelebten Partnerschaften angetan. Was wäre gewesen, wenn er oder sie damals Ja gesagt hätte, geblieben, wiedergekommen wäre? „Nicht auszudenken“, stöhnen wir, aber eigentlich wollen wir es schon gern zu Ende denken. So schaffen wir uns eine Telenovela für das eigene Leben.

Gelungene Partnerschaften, das selten erlebte Gefühl des Einsseins mit einem oder einer anderen, sind der Treibstoff unseres Lebensmotors. Diese wunderbare Empfindung wünschen wir uns und würden viel dafür tun. Aber auch die verpassten Gelegenheiten, etwa die nicht gelebten Partnerschaften, können Benzin für unser Handeln sein. Mit den nicht gelebten Partnerschaften verbinden wir eine Vorstellung vom wahren, eigentlich verdienten, doch leider entgangenen Leben. Die gelebten sind das Zugeständnis an den vorgefundenen Alltag, in dem man nicht nur träumen darf, sondern auch handeln muss.

Millionenfach haben wir uns den Film „Ein unmoralisches Angebot“ im Kino angesehen, in dem ein reicher Geschäftsmann gegen Ende die Schlüsselszene seines Lebens offenbart: Als junger Mann verliebt er sich in der Straßenbahn in eine Frau wie niemals zuvor und niemals danach. Von Amors Pfeil getroffen, bleibt er starr sitzen und spricht die Frau nicht an. In den folgenden zwei Wochen fährt er stets zur selben Zeit mit dieser Bahn, in der Hoffnung, der Frau noch einmal zu begegnen. Jetzt würde er sie ansprechen, würde die Chance seines Lebens nutzen. Dieses eine Mal würde er allen Mut zusammennehmen. Doch die Chance kommt nicht. Die Frau fährt nicht mehr mit. Sie lässt den Mann mit seiner Sehnsucht zurück.

Mit ihrem Fernbleiben löst diese Unbekannte wahrscheinlich mehr in ihm aus, als wenn sie noch einmal in der Bahn gesessen und sich mit ihm verabredet hätte. Vielleicht hätte es nicht „gefunkt“. Aber so hat sie der Sehnsucht nach einer vollkommenen, lebenslangen Liebe ein Gesicht gegeben. Der Geschäftsmann kennt jetzt einen Sehnsuchtsort, von dem er weiß, dass er nie dorthin kommen wird, der aber zum Fluchtort vor der drögen Wirklichkeit wird – wenigstens im Kopf.

Der Mann lernt mit den Jahren, sich mit dieser Wirklichkeit zu arrangieren, erfährt etwa, dass man sich mit Geld ziemlich viel kaufen kann, für eine Million Dollar sogar eine Frau, die mit einem anderen Mann glücklich zusammen ist. Doch im Moment des Triumphs ruft ihm jene ferne, nie erlebte, nur einmal gesehene Frau zu, dass dieser Triumph schal ist, dass er eine Lappalie bedeutet angesichts der unerfüllten Sehnsucht nach einer Partnerschaft, die „unbezahlbar“ ist.

Kenne ich auch einen solchen Sehnsuchtsort, den ich in jungen Jahren, sagen wir mit Anfang 20, gestreift habe, und wäre ich gern noch einmal 20 für eine neue Chance, diesen Ort zu erreichen? Würde ich den eigenen Lebensfilm gern zurückspulen, um ihn neu zu drehen? Oder den bisherigen umschneiden?

Frank Goosen erzählt in einem seiner Romane von einem Mann, natürlich einem Babyboomer, der in einer Krise binnen weniger Tage mehrere Exfreundinnen besucht. Der Trip geht völlig schief, schon weil er sich während der Reise nicht wäscht und nicht rasiert. Wer will schon mit einem stinkenden Mann ein Dacapo feiern? Aber auch frisch gewaschen würde die Fahrt mit der Zeitmaschine scheitern – die Frauen stehen an einem anderen Punkt ihres Lebens – einem Leben, in dem sie schon lange Zeit ohne diesen Mann klarkommen. Und die meisten von ihnen sogar sehr gut.

War der Mann dumm, als er zu dieser Reise aufgebrochen ist? Nein. Ihm gehört das Mitgefühl aller Babyboomer. Er hat die Frage „Will ich noch einmal 20 sein?“ einfach nur ehrlicher beantwortet als die meisten von uns – und darüber sogar die Morgentoilette vergessen.

In einer ähnlichen Versuchsanordnung wie in Goosens Roman habe ich Petra besucht, mit der, als sie und ich 20 waren, nichts gelaufen ist – leider nicht. Wir absolvierten zusammen mehrere Tanzkurse, was ich ihr heute noch hoch anrechne, bei meiner fehlenden Eignung für Bewegungssport. Aber da ist mit ihren Verdiensten auch schon Schluss. Ich durfte im Restaurant unter dem Tisch ihre Hand halten und bei der Verabschiedung Küsschen geben (natürlich nur auf die Wange), mehr nicht. Wenn ich vorgab, mich ausruhen zu müssen, und sie bat, neben mir zu liegen, gefror sie zum Eiszapfen – mitten im August.

Anders als bei Babyboomer Klaus, mit dem ich mich immer beim Thailänder verabrede, war die Versuchsanordnung mit Babyboomerin Petra keine bewusste, sie hat sich spontan ergeben. An einem kalten Herbsttag erzählte mir Jörg, wie es Petra so geht, und vor allem, welche Telefonnummer sie im Augenblick hat, und ich entwickelte den unschuldigsten und zugleich gefährlichsten aller Gedanken: Warum nicht?

Petra und ich hatten sich meiner Erinnerung nach letztmals im Sommer des Jahres 1997 gesehen. Als ich seinerzeit im Krankenhaus lag, stand sie plötzlich an meinem Bett als eine jener unerwarteten Besucherinnen, über die man sich besonders freut.

Petra behauptet, wir seien uns auch nach ihrem Besuch in der Klinik noch einmal begegnet, an einem Bahnsteig auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof, sie habe ihren Sohn dabeigehabt. Wir hätten einander erkannt und uns freudig begrüßt, aber dann habe der Sohn zum Aufbruch gemahnt, weil die S-Bahn kurz darauf abgefahren sei. Ich erinnere mich nicht daran. Vielleicht wird mir in einem besonders klaren Moment einmal bewusst, ob diese Begegnung erfunden oder von mir nur erfolgreich verdrängt worden ist.

Als ich Petra und ihren Sohn in ihrer Eigentumswohnung besuchte, lagen zwischen der Zeit, als Petra und ich zusammen Tanzkurse machten, und diesem Abend 23 Jahre. Das ist wenig und viel zugleich. Ein alter Mann, der sich an die Nachkriegszeit erinnert, schaut auf eine viel längere Zeitspanne zurück. Aber für einen Mittvierziger sind 23 Jahre immerhin das halbe Leben. Wir saßen auf ihrer blauen Couch, tranken Ramazotti und staunten gemeinsam über die Jahrzehnte, die sie bereits ohne mich und die ich ohne sie zurückgelegt hatte. Wir schäkerten und lachten und ließen der schönsten aller Phantasien, der Was-wäre-wenn-Phantasie, freien Lauf.

In dieses Gespräch integrierte ich spontan meine Versuchsanordnung zur Klärung der geistigen Situation von uns Babyboomern. Wollen wir noch einmal 20 sein, um uns mehrfach in der Woche auf einem bestimmten Parkplatz zu treffen und anschließend Tanzen zu gehen? Und vielleicht dieses Mal, quasi nach dem Drücken der „Reset“-Taste, mehr probieren, als wir mit 20 den Mut hatten? Der Parkplatz ist inzwischen – natürlich – mit Wohnungen überbaut, Petra und ich fahren bessere Autos als damals und sie muss nicht mehr ihren Eltern Bescheid sagen, wenn sie später als angekündigt nach Hause kommt. Sie tat das immer in einer dieser gelben Telefonzellen mit den schwarz-weißen Aufklebern „Ruf doch mal an“.

Petra sah die Welt 23 Jahre nach unserer Tanzschulen-Partnerschaft noch immer nicht so grüblerisch wie ich, zu ihrem Glück. „Also ich möchte gern noch einmal 20 sein“, stand sie dem Probanden Klaus an Klarheit in nichts nach, und begründete die Auffassung mit: „Das war doch die schönste Zeit!“

Da spürte ich sie wieder, die knisternde Spannung, die in der Frage, die uns hier beschäftigt, steckt. Diese Spannung entsteht durch den Zwang, sich zwischen einer Unschuld und einer Schuld zu entscheiden – zwischen einer Kiste voller Taler, für die wir uns noch nichts gekauft haben, und einer halb leeren Kiste, mit deren abgeschöpftem Inhalt wir dafür, dass wir leben, zahlen mussten.

Ich kann mich mit der Erfahrung eines halben Lebens zurück in meine Zwanziger träumen. Mit dieser Erfahrung gelänge es vielleicht, meine damalige Traumfrau zu halten. Doch ich weiß erst heute, was ich als junger Mann falsch gemacht habe. Dieses Wissen nützt mir heute überhaupt nichts, denn damals wie heute muss ich in der Gegenwart bestehen.

Die Flirttechnik, die ich mit 20 gebraucht hätte und die ich heute mehr recht als schlecht beherrsche, nutzt allerdings nichts bei Frauen, die heute im selben Alter sind wie ich. Denn anders als ich sind diese Frauen, wenigstens die meisten von ihnen, erwachsen geworden.

Das Alter kommt auf mich zugekrochen

Häufig ist Neugier der Motor dafür, eine Frage zu stellen, oder feiner ausgedrückt: ein Erkenntnisinteresse. Wissenschaftler haben ein Erkenntnis-Interesse. Das Kind im Fragealter will wissen, warum etwas so ist, wie es ist; im Fragen erschließt es sich die Welt. Es gibt noch viele andere Motive fürs Fragen-Wollen – beim Theologen kann es eine Gotteserfahrung sein, beim Philosophen ein Staunen über die Welt.

Bei mir, einem Nicht-Theologen und Nicht-Philosophen, dafür aber Babyboomer, stand am Anfang – ein Erschrecken. Das banalste, trivialste, häufigste überhaupt denkbare Erschrecken.

Das Erschrecken darüber, älter zu werden.