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Elham Manea



Ich will nicht
länger schweigen

Der Islam, der Westen
und die Menschenrechte

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2009

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Umschlagkonzeption und -gestaltung:

Agentur R·M·E: Eschlbeck / Hanel / Gober

Umschlagfoto: © Hartmut W. Schmidt

Foto der Autorin: © Hartmut W. Schmidt – Fotografie



Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig



ISBN (E-Book) 978-3-451-33433-7

ISBN (Buch) 978-3-451-06248-3

Erster Teil
Wie sprechen wir über den Islam?

„Vater im Himmel, der du Ruhelosigkeit in unsere Herzen gelegt hast und uns alle zu Suchenden gemacht hast, die nach etwas streben, das sie nie ganz finden können, verbiete uns, mit dem zufrieden zu sein, was wir aus unserem Leben machen. Lenke unseren Geist vom bloß Notwendigen weg, und gib uns den Blick frei für weitreichende Ziele. Lass uns Aufgaben übernehmen, die zu schwer für uns sind, damit wir um deine Kraft bitten müssen. Befreie uns von Gereiztheit und Selbstmitleid. Zeige uns das Gute, das wir nicht sehen können, und das Gute, das in der Welt verborgen ist. Öffne unsere Augen für einfache schöne Dinge um uns herum und unsere Herzen für das Liebenswerte, das wir an den Menschen nicht erkennen, weil wir uns keine Mühe geben, sie zu verstehen. Rette uns vor uns selbst, und zeige uns die Vision von einer neuen, besseren Welt.“



Eleanor Roosevelts Abendgebet, zitiert in „A World Made New“ von Mary Ann Glendon.

Einleitung
Nennt mich nicht Muslimin!

Ich bin kein Mensch, der unbedingt auf Konfrontation aus ist. Im Grunde fürchte ich mich davor, im Rampenlicht zu stehen, und wenn es tatsächlich einmal vorkommt, dann fällt mir das Atmen schwer, und ich spüre zuweilen meinen Herzschlag so stark, dass er wie eine Trommel in meinen Ohren hallt.

Mich machen einfache Dinge glücklich: eine Tasse Kaffee trinken und dazu ein gutes Buch lesen; mit meiner Tochter UNO oder Bassraa spielen; mit meinem Mann einen interessanten Film anschauen; eine gute Freundin treffen oder mir an einem Wochenende die Zeit nehmen, ein leckeres Essen für meine Familie zu kochen – lauter Dinge, die wenig mit Konfrontation oder Disput zu tun haben.

Wie die meisten Menschen, die in Europa leben und für die der Islam einfach zu ihrem Erbe gehört, führte ich ein ruhiges, aber erfolgreiches Leben – gut integriert, mit einem guten Job und im Wesentlichen auf meine Familie und meine Berufslaufbahn konzentriert.

Ich gehörte zu dieser schweigenden Mehrheit.

Wenn ich sage „ich gehörte“, so bedeutet das, dass es nicht mehr so ist. Es ist schwer geworden, dieses Schweigen weiterhin aufrechtzuhalten. Schweigen ist zu einer Last, ja unmöglich geworden.

Warum? Zwei Gründe zwangen mich, diese bequeme Haltung abzulegen: Der erste hat damit zu tun, dass sich nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die Einstellungen gegenüber „den Muslimen“ in Europa verändert haben, und der zweite mit dem Reislamisierungsprozess, der zurzeit in den arabischen Gesellschaften stattfindet. Zusammengenommen waren sie für mich zwingende Gründe, eine zweifache Aufgabe in Angriff zu nehmen: an die Öffentlichkeit zu gehen und zu Fragen Stellung zu nehmen, die „die Muslime“ und „den Islam“ betreffen; und die Mauer des Schweigens gegenüber jenem Islam zu durchbrechen, der heute im Nahen Osten propagiert, praktiziert und nach Europa getragen wird.

In den folgenden Kapiteln möchte ich die beiden genannten Gründe genauer erläutern und damit deutlich machen, warum Europa darauf achten sollte, seine islamischen Minderheiten nicht einzig und allein als „muslimisch“ zu bezeichnen – denn wenn man einen Menschen immer wieder so nennt, könnte er möglicherweise beginnen, sich auch so zu verhalten. Zudem wird anhand dieser beiden Gründe klar werden, warum die Idee eines humanistischen Islam für die zweite und dritte Generation der Europäer mit islamischen Wurzeln dringend notwendig ist.

Erstes Kapitel
Was ist ein Muslim? Veränderte Einstellungen nach dem 11. September 2001

Ich kam 1995 in die Schweiz – eine junge Frau, die ihren Schweizer Ehemann in Washington D. C. kennengelernt, ihn dort geheiratet hatte und nach der Beendigung ihres Studiums mit ihm nach Bern gezogen war.

Die übliche Frage, die ich damals immer wieder hörte, war: „Woher kommen Sie?“ Es war die Frage, die Schweizer mir stellten, wenn ich ihnen zum ersten Mal begegnete. Ich antwortete dann stets kurz „aus dem Jemen“ – einem arabischen Land, das an der südlichen Spitze der arabischen Halbinsel liegt. Die Reaktion fiel, je nach Fragesteller, unterschiedlich aus. Manche sagten, von diesem Land hätten sie noch nie gehört, andere schwärmten von der Schönheit seiner einzigartigen Architektur, und wieder andere bezeichneten es als Märchenland. Die meisten hatten keine Ahnung von seinem politischen System.

Doch alle sahen mich als Mitglied einer anderen „Nationalität“ und einer „Kultur“, die sich von ihrer unterschied. Alle nannten mich Jemenitin.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hat sich das geändert. Ich bin nicht mehr diese Frau. Von einem Tag auf den anderen wurde ich zu einer Muslimin! Dass der Jemen immerhin ein fest umrissenes Territorium hat, ist plötzlich irrelevant. Was zählt, ist eine sehr schwammige Vorstellung von dem, was ein „Muslim“ bzw. eine „Muslimin“ ist.

Mit dieser Bezeichnung wurde mir eine neue Frage aufgedrängt: „Könnten Sie uns als Muslimin Ihre Meinung kundtun?“

Worüber?

Nun, über alles. Das reicht vom „Islam“ und der Frage, wie Frauen im Islam behandelt werden, bis hin zu dem Problem, wie man mit den bei uns lebenden Muslimen umgehen soll.

Angesichts des Schocks, den die Terrorangriffe ausgelöst hatten, waren diese Fragen durchaus verständlich. Die Menschen hier hatten Angst, und ihre Versuche zu begreifen, was in diesen „anderen“ vorging, waren aufrichtig; daher konnte ich ihnen nicht verübeln, dass sie an mich herantraten. Sie waren mit einer neuen Bedrohung konfrontiert, einer Art von Gefahr, die ihnen bis dahin völlig unbekannt gewesen war: Terroristen, die entschlossen waren, das Sicherheitsgefühl der Menschen um jeden Preis zu zerstören. Diese Bedrohung ist eng mit Extremisten verknüpft, die behaupten, im Namen des Islam zu sprechen; und die Tatsache, dass diese Religion auch schon vor den Terrorangriffen mit Misstrauen und Argwohn betrachtet wurde, machte das Problem noch heikler.

Hier war ich also: eine Jemenitin, die in der Schweiz lebte und von der verlangt wurde, dass sie als Muslimin bestimmte Fragen beantwortete. Durchaus berechtigt. Nur, offen gestanden, hatte ich mich selbst nie als Muslimin empfunden! Dass ich als solche etikettiert werde, entspricht der Wahrnehmung der Menschen, die diese Frage stellen, ganz sicher nicht meiner eigenen.

Wie nehme ich mich selbst wahr? Nun, ich betrachte mich selbst als ein Individuum mit mehreren Identitäten.

Die erste dieser Identitäten ist einfach und unkompliziert: Ich bin Humanistin. Und ich sage das nicht etwa, weil es gut klingt. Ich glaube daran. Das heißt, ich glaube, dass das Wohl des Menschen das letztendliche Ziel sein muss. Und ich glaube, dass es universelle Werte gibt, die für jede Rasse, Hautfarbe, Kultur und Religion Gültigkeit besitzen. Ich glaube weiter, dass diese Werte es mir erlauben, dem Menschen, der mit mir spricht, in die Augen zu sehen – ungeachtet seiner Identität – und etwas sehr Wertvolles zu erkennen, ist etwas, das ich hoch schätze.

Die zweite dieser Identitäten ist mehr kulturell bedingt: Ich bin Araberin. Vielleicht haben Sie erwartet, dass ich sage: Ich bin Jemenitin. Das ist ebenfalls eine korrekte Behauptung. Ich bin mit der jemenitischen Nationalität geboren. Aber dies beschreibt wiederum nicht ganz zutreffend, wer ich bin.

Als Tochter eines jemenitischen Diplomaten bin ich mit meiner Familie viel in der Welt herumgereist. Ich habe in zahlreichen arabischen, islamischen und auch westlichen Ländern gelebt. Dank dieser Erfahrungen habe ich erkannt, dass Menschen in vielerlei Hinsicht ähnlich sind. Ihre Lebensstile, Gebräuche und Wertvorstellungen mögen unterschiedlich sein, doch letztlich lieben sie alle, hassen, haben ihre Sorgen und ganz sicherlich auch ihre Vorurteile.

Meine Erfahrungen ermöglichen mir darüber hinaus, herauszufinden, inwiefern sich die arabischen Länder voneinander unterscheiden. Der Jemen ist nicht Ägypten, und Ägypten ist nicht Marokko, und Marokko wiederum ist nicht Kuwait oder Syrien oder Oman usw. Aber so sehr sie sich auch voneinander unterscheiden – etwas verbindet sie alle: eine äußerst facettenreiche Sprache, eine hoch stehende Kultur und Zivilisation. Diese arabische Identität stellt die zweite „Schicht“ dessen dar, was ich bin. Ich genieße sie in der Literatur, die ich lese, in der Musik, die ich höre, und sicherlich in dem Essen, das ich genüsslich zubereite.

Nun kommt die dritte Schicht meiner Identität: Ich bin Muslimin. Von den bereits genannten ist dies die persönlichste Schicht. Hier erlebe ich meine Spiritualität, und hier fühle ich, dass ich eine Seele habe; es ist der Gegensatz zum Materiellen, zum Körperlichen. Aber sie umfasst nicht mein ganzes Wesen; sie ist nicht „die eine Identität“.

Und schlussendlich – vielleicht haben Sie gedacht, ich erwähne es nicht, aber doch, ja, ich bin eine Frau! Und möglicherweise ist das die wirklich entscheidende Identität unter allen oben genannten. Es ist die Linse, durch die ich die Welt sehe. Als Frau, die in vielen Ländern des Nahen Ostens gelebt hat und in einigen umfangreiche Forschungsarbeiten durchgeführt hat, beschäftigte ich mich mit dem Thema Menschenrechte, Frauenrechte und damit, wie meine Religion aus unterschiedlichen Perspektiven heraus interpretiert wird. Wäre ich ein Mann, hätte ich vielleicht eine andere Herangehensweise an die arabische Gesetzgebung oder an die Religion. Vielleicht würde ich dann gar nicht die Ansicht vertreten, dass Reformen nottun. Die Gesetze bevorzugen den Mann, insbesondere in familiären Angelegenheiten, und die landläufige religiöse Interpretation von heute vermittelt die Botschaft, dass der Islam eine männliche Domäne ist. Daher ist die Tatsache, dass ich eine Frau bin, die eine Schicht meiner Identität, die meine Wahrnehmung aller bereits erwähnten Elemente meiner Person prägt.

Ich bin ein komplexes Wesen. Ich hoffe, dass Sie das mittlerweile erkannt haben. Wenn Sie mich auf meine religiösen Überzeugungen reduzieren, so entgeht Ihnen die Gesamtheit meiner Persönlichkeit. Wenn Sie mich Muslimin nennen, sehen Sie nicht wirklich mich.

Ich nehme an, Sie verstehen jetzt, warum ich jedes Mal irritiert bin, wenn ich gebeten werde, „als Muslimin“ Stellung zu beziehen, oder mit der die Religion praktizierenden und nicht mit der komplexen Person, die ich bin, identifiziert werde. Versetzen Sie sich bitte einmal in meine Lage. Es ist so, als wenn Sie zu vier Frauen – einer Deutschen, einer Schweizerin, einer Französin und einer Engländerin – sagen würden: „Ihr seid Christinnen. Äußert doch bitte einmal eure Meinung über die Stellung des Papstes zur Abtreibung.“

Wahrscheinlich würden diese Frauen die Art der Fragestellung etwas merkwürdig finden. Die eine würde vielleicht sagen, sie kümmere sich keinen Deut darum, was der Papst sagt; eine andere würde antworten, sie sei Protestantin, keine Katholikin; die dritte möglicherweise erklären, dass sie mit der Einstellung des Papstes nicht übereinstimmt; eine vierte würde seinen Einwand gegen die Abtreibung vielleicht gerechtfertigt finden. Alle vier würden Sie vermutlich etwas befremdet ansehen und sich fragen, warum Sie sie unbedingt auf einen Nenner bringen wollen, indem Sie sie als Christinnen bezeichnen. Das Wort „Europäerinnen“ wäre sicherlich zutreffender.

„Aber du bist anders!“, flüstert mittlerweile eine Stimme in Ihnen. „Du bist keine Europäerin. Du bist nicht wie wir. Du bist Muslimin. Du bist anders.“

Sind Muslime wirklich anders? Betrachten Sie einmal folgende Tatsachen: Es gibt etwa 1,2 Milliarden Menschen auf der Erde, deren Religion der Islam ist; damit stellt er weltweit die zweitgrößte Religion nach dem Christentum dar. Seine Anhänger sind auf alle fünf Kontinente verteilt; sie leben insbesondere in Asien (845341000), in Afrika (323556000) und in Europa (31724000).1 Und dann stellen Sie sich die Gesichter eines Indonesiers, eines Ägypters, eines Nigerianers, eines Bosniers, eines Saudi-Arabiers und eines Chinesen vor, und sagen Sie mir, warum Sie alle diese Menschen unbedingt in einen Topf werfen wollen, indem Sie sie „Muslime“ nennen und damit ihre nationalen und kulturellen Unterschiede für bedeutungslos erklären.

Dies ist eine Ebene, die zeigt, wie sich die Situation nach dem 11. September für mich veränderte – es ist die Art und Weise, wie ich nun wahrgenommen werde. Als Muslimin. Die Religion wurde zum Fokus der Identität, die mir von den Menschen verliehen wurde, die mich ansprachen. Und die Religion scheint die anderen Dimensionen meines Wesens zu verdrängen.

Aber das ist noch nicht alles.

Zweites Kapitel
Angst und Toleranz: Veränderte Einstellungen nach dem 11. September 2001

Die Terrorangriffe vom 11. September 2001 und der anschließende Krieg gegen den Terror brachten einen neuen Diskurs nach Europa – den Diskurs der Angst. Und mit der Angst kam noch ein anderer Diskurs auf: der des „Wir-gegen-sie“. „Wir“, das sind die Europäer, und „sie“, das sind natürlich die Muslime. Beide Diskurse wurden von den Extremisten beider Seiten instrumentalisiert.

Die Angst ist verständlich, angesichts der Art der Bedrohung durch den Terrorismus; er ist ein Gespenst, das im Halbdunkel lebt. Und dieses Gespenst agiert heimtückisch. Wenn es zuschlägt, dann mit der Absicht, willkürlich Schaden zuzufügen. Alles und jeder ist dann sein Ziel. Es glaubt nicht an Regeln, es akzeptiert unsere Normen oder Werte nicht. Seine Absicht ist einfach: Es will Angst säen. Der 11. September stellte daher in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt dar. Er veränderte unser Leben, indem er das Gefühl zerstörte, dass wir in unserem Land sicher sind. Wir sind es nicht mehr. Und wir sind es nirgendwo mehr.

Dieses Gefühl verlorener Sicherheit und die Angst vor dem Terrorismus wurden durch die Tatsache verstärkt, dass der Feind kein erkennbares Gesicht hat. „Terroristen“ – das ist der Name des Feindes. Dass man den „Terroristen“ das Adjektiv „islamisch“ anhängte, machte die Dinge nur schlimmer. Sicherlich war es durchaus legitim, dieses Wort zu verwenden, denn die Menschen, die diese Gräueltaten begingen, benutzen den Islam als Rechtfertigung für ihr Handeln. Aber die Verwendung des Adjektivs trug nicht dazu bei, den Feind greifbarer zu machen. Sie förderte lediglich seine Obskurität, was das Angstgefühl noch verstärkte.

Diese Angst war in den Vereinigten Staaten besonders stark zu spüren. Sie griff nach den Terrorangriffen von Madrid, die am 11. März 2003 stattfanden, nach dem Mord an dem niederländischen Regisseur van Gogh am 2. November 2004 und dem Bombenanschlag in London vom 7. Juli 2005 auf Europa über. Plötzlich erkannten die Menschen, dass der Feind mitten unter ihnen lebte. Wo? Darüber schien niemand Gewissheit zu haben. Experten sprachen von Moscheen, in denen Imame Hass predigten, von muslimischen Extremisten, die möglicherweise Mitglieder von Geheimzellen waren und geduldig auf den richtigen Augenblick warteten, um loszuschlagen, und von der Gesellschaft entfremdeten jungen Männern, die durch die politischen Entwicklungen der internationalen Szene radikalisiert wurden.

Und mit dieser Erkenntnis kam noch eine weitere: Was manche europäische Länder als Achtung der „freien Meinungsäußerung“ oder als Gesten der „Toleranz“ betrachteten, wurde nun bestenfalls als „Gleichgültigkeit“ und schlimmstenfalls als „schwer wiegende Nachlässigkeit“ bloßgelegt.

Meinungsfreiheit ist ein grundlegendes menschliches Recht. Glauben Sie mir, ich bin die Letzte, die gegen dieses fundamentale Recht etwas einzuwenden hätte. Sie werden verstehen, warum, wenn ich im zweiten Teil dieses Buches über die Konzeption eines freien und rationalen Islam spreche. Aber die freie Meinungsäußerung beinhaltet nicht das Recht, die Meinungen anderer zu diffamieren oder Ansichten zu äußern, die andere dazu anstacheln sollen, Gewaltakte zu begehen. Ruft man junge Männer dazu auf, andere zu töten, so kann man sich dabei nicht auf das Recht auf Meinungsäußerung berufen, denn hier handelt es sich darum, die Überzeugungen und Bräuche anderer Menschen herabzuwürdigen.

Nehmen Sie das Beispiel des Ägypters mit dem Namen Abu Hamza al-Masri, dem früheren Imam der Frisburg Park-Moschee im Norden Londons, der heute in England eine siebenjährige Haftstrafe verbüßt und auf den in den Vereinigten Staaten ein Auslieferungsbefehl wartet. Dass er Extremist war, Hass predigte und Terror unterstützte, war den englischen Behörden wohlbekannt, und zwar lange vor den Angriffen des 11. September.

Und doch tolerierte man ihn.

Al-Masri, der in Afghanistan seine Hände und ein Auge verlor, war der Kopf einer Organisation namens „Supporters of Sharia, S.O.S.“, die ganz offen junge Männer dazu aufrief, das zu verteidigen, was als „islamische Prinzipien“ betrachtet wurde und wovon eines der „Dschihad“2 ist. Er war das Sprachrohr der Jemenitischen Islamischen Armee, die im Dezember 1998 im Jemen 16 Touristen entführte und diese Aktion tatsächlich in einem Kommuniqué rechtfertigte, das am 30. Dezember 1998 auf Arabisch veröffentlicht wurde. Darin wurden die Touristen als „ausländische Ungläubige“ bezeichnet, die dafür verantwortlich seien, „dekadente Verhaltensweisen im Land zu verbreiten“ und die „nicht der Warnung der islamischen Armee Folge geleistet“ hätten, wonach „sie den Jemen zu meiden“ hätten.3 Die Entführung endete mit einem Schusswechsel zwischen den Entführern und den jemenitischen Sicherheitskräften, bei der vier Touristen ums Leben kamen.4

Die Reaktion der britischen Behörden auf dieses Kommuniqué bestand darin, dass sie Abu Hamza verhörten und ihn dann freiließen und die wiederholten Ansuchen der jemenitischen Behörden ignorierten, ihn entweder abzuschieben oder festzunehmen. Nach dem 11. September änderte sich diese laxe Haltung nach und nach. Die Tatsache, dass Abu Hamza am ersten Jahrestag der Angriffe in seiner Moschee eine Konferenz mitorganisierte und dabei die Luftpiraten ausdrücklich lobte, machte klar, dass seine Unterstützung der Gewalt sich nicht nur gegen die „korrupten Regime des Nahen Ostens“ richtete, auch den Westen hatte er im Visier. Im Januar 2003 führte die englische Polizei eine Razzia in der Frisburg Park-Moschee durch und versiegelte sie unter der Anklage der Produktion des Giftstoffes Rizin; Abu Hamza selbst hingegen wurde nicht festgenommen. Erst im Jahr 2004, als Washington ihn als „Einschleuser von Terroristen im globalen Stil“ bezeichnete, wurde er verhaftet. Fünf Monate später wurden ihm nach dem englischen Recht fünfzehn Straftaten zur Last gelegt.5

Der Fall al-Masri ist ein Beispiel dafür, wie fanatische Islamisten, die sich der Gewalt verschrieben haben, die offenen Systeme der europäischen Länder willkürlich und gezielt zu ihrem Vorteil nutzten. Zudem ist es ein Beispiel dafür, dass westliche Regierungen die Gefahr von Menschen wie al-Masri vor dem 11. September 2001 unterschätzten. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass viele Islamisten, die in ihren Herkunftsländern als Unterstützer von Gewalt aktenkundig waren, in europäischen Ländern Zuflucht fanden.

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Der 11. September und die nachfolgenden terroristischen Angriffe in Europa führten zu der unangenehmen Erkenntnis, dass europäische Behörden gegen fundamentalistische Islamisten zu nachlässig vorgegangen waren. Doch gleichzeitig stellte sich eine andere Erkenntnis ein. Sie wurde mir sehr überzeugend von einem weiblichen Mitglied der niederländischen Delegation erklärt, die an einer Konferenz über Intoleranz gegenüber Muslimen und ihre Diskriminierung teilnahm, die von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Oktober 2007 in Córdoba abgehalten wurde. Diese Frau sagte: „Vor dem Mord an van Gogh hielten wir uns für ein tolerantes Volk. Doch jetzt müssen wir erkennen, dass das, was wir für Toleranz hielten, in Wirklichkeit Gleichgültigkeit war.“

Sie hatte Recht.

Toleranz kann unterschiedliche Formen annehmen. Und ehrlich gesagt mochte ich das Wort Toleranz nie. Jedes Mal, wenn ich es höre, sehe ich das Bild eines Menschen vor mir, der mir auf die Zehen tritt und den ich trotzdem höflich anlächle. In diesem Sinne beinhaltet „Toleranz“ ein widerwilliges Gefühl der Geduld für jemanden – was nicht gerade eine gute Basis für das Zusammenleben ist, zumindest nicht langfristig. Ich erwarte von Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund, die an einem Ort zusammenleben, Akzeptanz. Akzeptieren Sie mich so, wie ich bin. Tolerieren Sie mich nicht. Denn wenn Sie das tun, dann tolerieren Sie Dinge, die Sie gewöhnlich weder mögen noch billigen. Und in diesem Fall sollten Sie innehalten und einmal genauer unter die Lupe nehmen, was Sie da tolerieren!

Sich gegenseitig zu akzeptieren bedeutet, dass Unterschiede der Hautfarbe, der Rasse, des Geschlechts, der Religion und der Ansichten in unserem Verhalten gegenüber anderen keine Rolle spielen. Anders zu sein bedeutet nicht, als Mensch weniger wert zu sein. Schon allein die Tatsache, dass wir als Menschen geboren sind, verleiht uns den Status der Gleichheit. Das ist der Kern der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Wir sind gleich. Und als Gleiche sollten wir einander mit Respekt begegnen – mit aufrichtigem Respekt, nicht mit widerwilligem.

Doch es geht nicht allein um diesen Gleichheitsstatus. Bedingungen sind daran geknüpft. Die wichtigste ist, dass Sie so, wie der Staat Sie akzeptiert und Sie alle gleichberechtigt behandelt, akzeptieren sollten, dass es allgemeingültige Normen und Werte gibt, die für jeden Menschen gelten, ungeachtet seiner Hautfarbe, seiner Rasse, seines Geschlechts, seiner Religion oder seiner Überzeugungen. Rechte gehen mit Verpflichtungen einher.

Das ist der Teil, den viele europäische Länder vergessen zu haben scheinen, wenn sie es mit manchen Minderheiten zu tun haben. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Toleranz und Gleichgültigkeit allmählich – um die Worte jener Frau der niederländischen Delegation zu verwenden.

Dass die Grenzen zwischen Toleranz und Gleichgültigkeit unklar sind, sieht man beispielsweise daran, dass es heutzutage mehr Mädchen als noch vor einigen Jahren untersagt wird, an Klassenreisen, am Aufklärungs- und am Sport- und Schwimmunterricht teilzunehmen. Die Grenzen sind auch dann nicht mehr klar erkennbar, wenn man Kinder, die nicht älter als sechs oder sieben Jahre alt sind, drängt, ein Kopftuch zu tragen – und ihnen damit ihre Kindheit verwehrt. Diese Grenzen sind überhaupt nicht vorhanden, wenn 17 Prozent der türkischen Frauen, die in einer vom Deutschen Familienministerium in Auftrag gegebenen Studie von 2004 befragt wurden, angaben, ihre Ehe sei erzwungen worden!6 Und diese Grenzen stellen sicherlich schon fast unverhohlenen Rassismus dar, wenn eine deutsche Richterin ihre Ablehnung der beschleunigten Scheidung einer deutschen Frau marokkanischen Ursprungs von ihrem gewalttätigen marokkanischen Ehemann rechtfertigte, indem sie Koranverse zitierte, die ihrer Meinung nach „sowohl das Recht des Ehemannes, körperliche Bestrafung bei seiner ungehorsamen Frau anzuwenden, als auch die Überlegenheit des Ehemannes über seine Frau“ demonstrieren.7 Die Richterin vertrat die Meinung, dass die Frau „erwartet haben sollte, dass ihr Ehemann, der in einem von der islamischen Tradition beeinflussten Land aufwuchs, das ,Recht‘ ausüben würde, ,körperliche Bestrafung anzuwenden‘, die seine Religion ihm zugesteht“.8 Mit anderen Worten, wenn Ihre Religion der Islam ist, dann ist es ganz in Ordnung, wenn Ihr Ehemann Sie schlägt. Das gehört nun mal dazu! Hier werden diese Grenzen tatsächlich zu einer vom Staat gebilligten Verletzung der Frauenrechte.

Vielleicht habe ich Sie mit dieser Flut von Information überwältigt. Vielleicht fällt es Ihnen schwer zu sehen, worauf ich mit diesen beunruhigenden Fakten hinauswill. Einmal habe ich über Akzeptanz und Respekt gesprochen, und dann wieder führte ich Beispiele für das an, was ich als Verletzungen der Frauenrechte bezeichne, die von den europäischen Staaten ignoriert werden. Und nein, ich versuche nicht, Sie auf einen polemischen Weg zu führen, der es oft nur erschwert, Lösungen für Probleme zu finden, mit denen die europäischen Gesellschaften bei der Integration ihrer Minderheiten konfrontiert sind, und sich stattdessen damit begnügt, den Islam als „rückständig“ und „böse“ oder „Frauen diskriminierend“ zu bezeichnen. Ich bin nicht an einer solchen Ausdrucksweise oder an einer solchen Art der Auseinandersetzung interessiert, weil ich glaube, dass Religion – jede Religion – das ist, was man aus ihr macht. Mit anderen Worten, es ist der Mensch mit seinem Hintergrund, mit seinen Bräuchen, seiner Erziehung und seinen intellektuellen Fähigkeiten, der aus jeder Religion ein Banner für den Schutz der Menschenrechte oder aber auch einen Grund, sie zu verletzen, machen kann.

Die Beispiele, die ich angeführt habe, haben sehr wenig mit der Religion selbst zu tun und sehr viel mit der Vorstellung davon, welche Regeln in den europäischen Gesellschaften angewendet werden sollten und welche nicht. Mit „europäischen Gesellschaften“ meine ich jene, die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau als gesetzliche Basis akzeptieren.

Die Beispiele haben sehr viel zu tun mit der Überzeugung, dass es tatsächlich universelle Werte gibt, die für jeden Menschen in einer Gesellschaft gelten, ungeachtet seiner Religion. Ist dies nicht der Fall, so kommt es zur Herausbildung von Parallelgesellschaften, von denen jede ihre eigenen Normen und Werte hat und die sich zudem gegenseitig widersprechen. Wo universelle Werte nicht gelten, bereitet man Extremisten den Boden – Rechtsextremisten und Islamisten gleichermaßen – und fördert den „Wir-gegen-sie“-Diskurs.

Deshalb werde ich noch mehr solcher Beispiele anführen und manche detailliert untersuchen, sodass Sie meine Argumentation verstehen. Danach möchte ich erörtern, wie unsinnig dieser „Wir-gegen-sie“-Diskurs ist, der nach den Terrorangriffen vom 11. September aufkam. Beginnen möchte ich mit einem Thema, das viele für etwas Belangloses halten, das nicht viel Aufmerksamkeit verdient: die Befreiung der Mädchen vom Schwimmunterricht.

Befreiung vom Schwimmunterricht

Es gibt Politiker, die mich immer wieder überraschen. Zumindest durch manche ihrer Äußerungen. Eine solche überraschende Äußerung erfolgte aus heiterem Himmel am 27. Dezember 2007. Der Schweizer Bundesrat Pascal Couchepin, der im Begriff war, den Repräsentationsposten des Bundespräsidenten zu übernehmen, antwortete in einem Interview auf die Frage: „Gibt es auch Grenzen der Toleranz – etwa, wenn ein muslimisches Mädchen nicht zum Schwimmunterricht darf?“ mit dem Satz: „Als ich in Martigny mit einem solchen Fall konfrontiert war, sagte ich: Das arme Mädchen hat sicher einen Schnupfen. Damit war sie vom Schwimmen dispensiert.“9

Der Journalist, der sich offenbar mit der „Schnupfen“-Antwort nicht zufrieden geben wollte, entgegnete: „Ist das nicht falsch verstandene Toleranz?“ Herrn Couchepins Erwiderung lautete: „Ist diese Frage wirklich so entscheidend, dass man ein Mädchen zum Schwimmen zwingen soll? Man muss eine pragmatische Lösung finden.“10

Am nächsten Tag sprachen sich alle vier großen politischen Parteien gegen Couchepins Stellungnahme aus. Alle – auch seine Partei, die FDP – kamen zu einer anderen Schlussfolgerung, wobei sich jede einer anderen Argumentation bediente. Die Sozialdemokratische Partei, SP, auf der linken Seite des politischen Spektrums folgte einem feministischen Gedankengang, indem sie erklärte: „Dies würde das Schulobligatorium aushöhlen und damit den Grundsatz der Gleichberechtigung gefährden.“11 Auf der anderen, der rechten Seite des Spektrums reagierte die Schweizerische Volkspartei, SVP, mit der Aussage: „Wer Sonderwünsche für den Unterricht seines Kindes hat, soll dieses auf eigene Kosten in eine Privatschule schicken.“12 Alle einigten sich auf die einfache Feststellung, die von der schweizerdeutschen Tageszeitung Der Tages-Anzeiger treffend zusammengefasst wurde: „Niemand soll wegen seiner Religion dem Schulunterricht fernbleiben dürfen.“13

Als Bildungsminister hätte Couchepin wissen müssen, dass er es mit einem sehr heiklen Thema zu tun hatte. Doch seine selbstsichere Antwort basierte möglicherweise auf der Tatsache, dass der Oberste Gerichtshof des Landes in einem ähnlichen Fall im Jahr 1993 bereits Stellung bezogen hatte.

Ein Vater in Zürich wollte seine Tochter, die in die zweite Grundschulklasse ging, vom obligatorischen Schwimmunterricht befreien. Sein Argument lautete, dass „der islamische Glaube das gemeinsame Schwimmen beider Geschlechter verbiete.“14 Da die Schulbehörden sich weigerten, seinem Wunsch nachzukommen, wurde der Fall am Obersten Gerichtshof verhandelt. Dieser fällte am 18. Juni 1993 seine Entscheidung. Er kam zu folgendem Schluss:

„Angehörige anderer Länder und anderer Kulturen, die sich in der Schweiz aufhalten, haben sich zwar zweifellos genauso an die hiesige Rechtsordnung zu halten wie Schweizer. Es besteht aber keine Rechtspflicht, dass sie darüber hinaus ihre Gebräuche und Lebensweisen anpassen. Es lässt sich daher aus dem Integrationsprinzip nicht eine Rechtsregel ableiten, wonach sie sich in ihren religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen Einschränkungen auferlegen müssten, die als unverhältnismäßig zu gelten haben.“15

Der Gerichtshof stand also vor derselben heiklen Frage, der sich auch Couchepin bewusst gewesen sein wird: Wie bringt man zwei unterschiedliche Arten von Recht miteinander in Einklang – das Recht einer Familie, ihr Kind unabhängig vom Staat zu erziehen, und zwar entsprechend ihrer religiösen und kulturellen Traditionen, und das Recht des Kindes auf Ausbildung? Er kam zu dem Schluss, dass das Recht der Familie Vorrang vor dem des Kindes hat, und er wird seine Entscheidung in dem Glauben gefällt haben, dass er sein Bestes tat, um das Interesse dieses Kindes zu schützen.

Noch jetzt bin ich nicht sicher, ob seine Entscheidung die richtige war. Ja, im Grunde bin ich der Meinung, dass der Gerichtshof mit seinem damaligen Urteil einen Fehler gemacht hat.

Es ist wahr, dass die Geschichte gezeigt hat, dass die Familie der beste Schutz ihrer Nachkommen ist. Lässt man dem Staat freie Hand, sich in die Angelegenheiten der Familie einzumischen, so endet dies möglicherweise in einer „schönen neuen Welt“, wie sie Aldous Huxley beschrieben hat. Es kann dann zu den so empörenden und wohlbekannten Fällen kommen, wo Kinder ihren Familien weggenommen wurden – wie es der „gestohlenen“ Generation der Aborigines in Australien erging oder den Sinti und Roma in einigen europäischen Ländern.

Ja, all dessen bin ich mir wohl bewusst.

Nichtsdestotrotz hat der Gerichtshof in diesem speziellen Fall ein wichtiges Element missachtet, das er ernsthaft hätte erwägen müssen: das Recht auf Schutz einer schwachen Gruppe, die innerhalb einer Minderheit lebt – der Minderheit innerhalb der Minderheit. Nur Mädchen sind von solchen Ansuchen ihrer Familien betroffen. Nur bei Mädchen wird eine Befreiung vom Schwimmunterricht verlangt. Und nur bei Mädchen zieht man religiöse Überzeugungen heran, um ihre Befreiung vom Unterricht zu rechtfertigen. Mädchen werden diskriminiert.

Machen Sie sich klar, dass in dem Augenblick, wo Sie solche Ausnahmen bewilligen, auch eine ganze Reihe anderer folgen werden: Erst ist es der Schwimmunterricht, dann der Aufklärungs- und Biologieunterricht, und danach sogar die Klassenfahrten. Und nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich die ganze Zeit, wo ich lediglich von einer Familie und einem Mädchen sprach, ihre religiöse Identität bewusst außer Acht gelassen habe. Dafür gibt es einen Grund. Solche Anfragen kommen häufig von orthodoxen Muslimen, Juden und sehr konservativen Christen. Es ist ohne Belang, von welcher Religion wir hier sprechen, denn alle Menschen, die eine fundamentalistische Auffassung von ihrer Religion haben, scheinen der Überzeugung zu sein, dass Mädchen vor Versuchungen geschützt werden sollten und dass sie sich von Jungen fernhalten sollten, und zwar, indem sie ihren Körper verhüllen.

Zum Glück stehe ich mit meiner Meinung nicht allein da. In Deutschland lehnte das Verwaltungsgericht Düsseldorf am 7. Mai 2008 das Ansuchen der Eltern eines zwölfjährigen Mädchens ab, die ihr Kind vom gemeinsamen Schwimmunterricht mit Jungen befreien lassen wollten. Das Gericht erläuterte seine Entscheidung in folgender Presseerklärung (18 K 301/08): „Es bestehen vielfältige Bekleidungsmöglichkeiten, um den schützenswerten religiösen Belangen der Schülerin Rechnung zu tragen. Wird von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht, ist ein Eingriff in die Religionsfreiheit, falls er überhaupt noch festzustellen ist, jedenfalls auf ein Minimum reduziert, sodass in der Abwägung die Befolgung des staatlichen Bildungsauftrags Vorrang genießt.“16

Das Thema ist nicht so banal, wie Couchepin uns glauben machen möchte. Es führt uns direkt zum Kern der Frage, welchen Typus Frau wir in unseren Gesellschaften fördern: eine, die imstande ist, ihr Leben unabhängig zu führen, oder eine, die den Eindruck vermittelt, sie benötige andauernd Schutz. Unsere Schulsysteme basieren auf dem Konzept, dass Kinder dazu erzogen werden sollen, starke, unabhängige, selbstbewusste und kritische Bürger zu werden. Hindert man Mädchen daran, das zu lernen, was Jungen lernen, erschüttert man die Grundlage dieses Konzepts. Trennt man Mädchen von Jungen, so ebnet man der Geschlechtertrennung, die in manchen anderen Gesellschaften praktiziert wird, den Weg.

Die prompte und lebhafte Reaktion, die auf Couchepins Äußerungen folgte, machte deutlich, dass das politische Establishment der Schweiz die Tragweite dieses Themas allmählich erkannte. Und aus dieser Erkenntnis entsprang die Bereitschaft einiger Schweizer Kantone, diese Frage anders anzugehen, als der Oberste Gerichtshof es empfahl. Beispielsweise sprach sich der Kanton Basel im Sommer 2007 nachdrücklich für folgendes Prinzip aus: „Aus religiösen Gründen darf niemand dem Sportunterricht fernbleiben.“17 Und er tat dies mit großem Verständnis für kulturelle Vielfalt, wie es Hans George Signer vom Basler Erziehungsdepartment demonstrierte: „So können die Mädchen beim Schwimmen einen Ganzkörperanzug tragen und danach in einer Einzelkabine duschen.“18

Überraschenderweise haben die Erfahrungen des Kantons Basel nach Aussage Signers Folgendes gezeigt: „Die neuen Regeln sind sowohl für die Lehrer als auch für die muslimischen Eltern eine Entlastung, weil die Sache nun klar geregelt ist.“19 Daher sehen sich von den Familien mehrerer hundert muslimischer Mädchen jetzt nur noch fünf Familien genötigt, dieses Problem in weiteren Diskussionen zu lösen.20

Inzwischen hat auch das Bundesgericht in einem Grundsatzurteil seine bisherige Rechtssprechung aufgegeben und die Beschwerde zweier muslimischer Schüler abgewiesen, denen die Behörden der Stadt Schaffhausen mit Blick auf Ausländerintegration und Gleichstellung der Geschlechter einen Dispens verweigert hatten.21 Die Kantone sind demnach nicht mehr verpflichtet, Primarschüler aus religiösen Gründen vom gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht zu dispensieren. Nach Meinung der Neuen Zürcher Zeitung „ scheint das höchste Gericht Integration der Ausländer und Emanzipation der Frau im Rahmen einer starken Schule tendenziell stärker zu gewichten als eine allzu sensible Rücksicht auf patriarchalische Anschauungen religiöser Minderheiten. Das gilt indes für alle religiösen Gemeinschaften und richtet sich (…) keineswegs einseitig gegen Muslime“.22

Zwangsheiraten

Gewalt gegen Frauen war das Thema eines Symposiums, das Ende 2006 in Zürich stattfand. Die eintägige Veranstaltung stand unter dem Motto „Strukturelle Gewalt und ihre Auswirkungen auf Migrantinnen“. Um die verschiedenen Aspekte dieses komplexen Themas abzudecken, wurden die Teilnehmer in vier Workshops aufgeteilt; ich nahm an einem teil, der sich mit Zwangsheiraten befasste. Zwei Hauptredner – ein bekannter Mann des öffentlichen Lebens, der aus der Türkei stammt, und eine Frauenrechtlerin der zweiten Generation aus Sri Lanka – waren geladen. Der türkische Redner machte den Anfang.

Er hielt einen interessanten Vortrag, der auf seinen eigenen Erfahrungen mit einer arrangierten Ehe beruhte, die, wie er klarstellte, nicht bedeutungsgleich mit einer Zwangsheirat war. Danach erläuterte er seine Auffassung, im Falle von Zwangsheiraten habe „der Islam nichts damit zu tun.“

Wie gesagt, es war ein interessanter Vortrag. In seinem ersten Teil stimmte er mit den Ergebnissen einiger Soziologen überein, die eine Grenze ziehen zwischen dem Begriff „arrangierte Ehe“ – die einen dritten Beteiligten mit einschließt, der die Ehe organisiert, die jedoch mit dem freien Einverständnis der Teilnehmer, die Ehe einzugehen, erfolgt, und ihnen die Möglichkeit zugesteht, sie ohne äußeren Druck abzulehnen – und einer Zwangsverheiratung, bei der die Teilnehmer keine Wahl haben und emotionalem Druck oder/und körperlichen Drohungen seitens ihrer Familie ausgesetzt sind, die sie drängt, eine ganz bestimmte Person ihres Herkunftslandes oder ihres Clans zu heiraten. Diese Auffassung wurde vom Schweizer Bundesrat, vom deutschen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und vom österreichischen Bundesministerium für Frauenangelegenheiten in ihren Berichten über Zwangsehen vom 14. November 2007, vom April 2007 beziehungsweise vom Dezember 2006 wiederholt vertreten.23

Doch der eher etwas merkwürdig anmutende Teil des Vortrags war die letzte Äußerung des Redners, der insistierte, der Islam habe nichts mit den Zwangsehen zu tun. Das war sonderbar, weil bis dahin niemand die Religion ins Spiel gebracht hatte. Und aus gutem Grund hatte man die Religion aus dieser Diskussion ausgeklammert!

Eine Zwangsverheiratung ist eine Menschenrechtsverletzung, die bei zahlreichen in der Schweiz lebenden Einwanderern unterschiedlicher Herkunft zu beobachten ist. Das war der Grund, warum man als zweiten Redner des Workshops eine Schweizerin tamilischer Abstammung eingeladen hatte. Es gibt Fälle, in denen junge tamilische Frauen dazu gedrängt werden, einen von ihren Familien ausgewählten Mann zu heiraten, wie es auch in türkischen Familien vorkommt.24

Die jeweilige Kultur hat sehr viel damit zu tun. Ich fürchte, es gibt keine politisch korrekte Art und Weise, es zu sagen, aber es ist nun einmal die Kultur der patriarchalischen Strukturen, die in den ländlichen Gebieten der Dritten Welt üblich sind. Das Patriarchat wird hier als „ein System der gesellschaftlichen Beziehungen“ definiert, „die ältere Männer gegenüber jüngeren Männern und Frauen bevorzugen“.25

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