Cover-Bild von Der nackte Berg

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© Piper Verlag GmbH, München 2002

Erschienen im Verlagsprogramm Malik

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Covermotiv: Peter von Felbert (Portrait) und Reinhold Messner

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

 

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Dieses Buch widme ich …

Günther, meinem Bergkameraden und Bruder

Günther Messner, 1970

 

Prolog in Bildern

Im Sérac-Gürtel der Nanga-Parbat-Nordflanke (Erstbegehung 2000)

 

Wo heute die Namen Nanga Parbat, Batura oder K2 stehen, da gab es in der frühen Han-Zeit »den Berg des großen Kopfwehs«, der »schlimmen Körperfieber«, der »Gliederschmerzen« und der »Umnachtung«.

Die Ursachen suchte der chinesische Forscher in der Welt der Dämonologie. Hermann Schäfer

 

Bergsteiger- und Trägerkolonne im Himalaja, Anmarsch

 

Lawine in der Diamirwand am Nanga Parbat

 

Der Nanga Parbat von Westen mit der Diamirflanke und dem oberen Diamirtal

 

Der » Nanga « von Osten mit dem Aufstiegsweg von Hermann Buhl (1953); links die Rupalwand

 

1856 stand Adolf Schlagintweit am Fuß der Südabstürze des Berges. An Höhe und Steilheit dürften diese Abstürze vielleicht nicht ihresgleichen auf dir Erde haben. Ich wage dies hier zu sagen, da auch Marcel Kurz, einer der besten Kenner der Hochgebirge der Erde, dieser Ansicht ist. Von der Talsohle bei Tarsching bis zum Gipfel sind es 5200 Meter Höhenunterschied. Der durchschnittliche Neigungswinkel der Südostwand beträgt 47,5 Grad, und im obersten Teil sind es sogar 68 Grad, wie Finsterwalder auf Grund der Beobachtungen, die er bei der Expedition des Jahres 1934 gemacht hat, berechnete – das sind über 100 Prozent bzw. über 175 Prozent Steigung!

Paul Bauer

 

Diese dunkle Bergwelt mit all ihren Drohungen ist am Ende der Quell allen Lebens.

A. F. Mummery

Der Film im Kopf

Das Schlüsselerlebnis meines Lebens liegt lang zurück. Und alles geschah weit weg: Im Himalaja, am Nanga Parbat. Dabei erfuhr ich jenes erweiterte Dasein, das auf zwei Ebenen des Bewusstseins abläuft. Als wäre im Gehirn etwas verrückt. Ich erlebte bewusst, wie Tod und Leben zuerst geschahen, um dann – fast gleichzeitig – Teil meiner Biografie zu werden. Und dieses versetzte Geschehen ist mir als Erleben meines Sterbens in Erinnerung geblieben und gleichzeitig wie die unmögliche Geschichte meines Überlebens.

Die Überschreitung des Nanga Parbat 1970, von Süden nach Nordwesten, war also mehr für mich als ein Übergang im geografischen Sinn. Es war wie eine Grenzüberschreitung vom Diesseits zum Jenseits, vom Leben zum Tod, vom Tod zum Leben.

Ich erzähle das alles noch einmal weit ausholend nach, um auch all die anderen einzubringen, die zum Geschehen gehören, sowie die Vorgeschichte, die im Unbewussten von Anfang an Teil des Erfahrens war.

 

Eine Woche lang war ich damals allein gewesen. Ohne Trost, ohne Hoffnung, ohne Geschichte ging ich talwärts.

Mazeno-Kamm und Nanga Parbat von Süden. Rechts der Aufstiegsweg der Brüder Messner

 

Ich hatte gelitten, gefroren, war gestorben – ausgehungert bis zur nackten Seele, kam ich zurück zu den Menschen. Als ich endlich all die anderen wiedersah, diejenigen, die ich als Retter erwartet hatte, war der Nanga Parbat weit weg, ein unberührter Gipfel über den Wolken: der Nackte Berg. Auch mein Bruder war weit weg. Wo aber war ich? Ich sah mich im Industal um, fühlte Sehnsucht, Angst und Schmerzen. Also war ich noch da.

Auch heute noch, im Rückblick, sehe ich mich gleichzeitig als Betroffener und Beobachter dieser Tragödie. Als wäre ich durch mehrere Stufen meines Bewusstseins gegangen, bleibt das Überleben am Nanga Parbat in mir lebendig wie ein intimes Wechselspiel von Dabei-Sein und Weit-weg-Sein. Und genauso wie ich diese Nanga- Parbat-Expedition erlebt habe, als Wechselspiel von reiner Wahrnehmung und erlebter Geschichte, will ich sie weitererzählen: eine Tragödie, die am Anfang meiner Identität als Grenzgänger steht. Und als Schock.

Die 4000 m hohe Diamirflanke des Nanga Parbat. In der Mitte der Abstiegsweg

 

Im Gipfelbereich, nur noch vom Überlebenstrieb gesteuert, sah ich mich häufig von außen! Als wäre mein Geist von meinem Körper getrennt. Dann wieder erlebte ich, wie der Verstand, der die Emotionen geradezu körperlich aufarbeitete, sie mit meinem Sein verknüpfte – zu einer letztendlich unumstößlichen Gewissheit. So wurde aus Gefühlen der Ausweglosigkeit Schicksal und Teil meiner Biografie.

Ich frage mich nicht, was zur Fähigkeit dieses bewussten Erlebens führte. Mir geht es um ein Selbst, das erst durch diesen Prozess geboren wird. Ich erzähle also eine Geschichte, die weit über mein Leben hinausgeht, und ich schreibe sie so nieder, wie ich sie erlebt habe, gleichsam als beobachtender Beteiligter.

Wie aus äußeren Sinnesreizen und der Sorge ums Überleben Angst wird, wie der Mensch zwischen Durchkommen und Umkommen reagiert, ist mein Thema.

Ohne bewusst interpretieren zu wollen, wie was geschah, berichte ich von meinem Zerrissensein. Erlebte ich doch das Überleben damals als Trennung zwischen Dabei-Sein und Daneben-Stehen. Mein Gehirn registrierte alle Vorgänge sehr genau – die äußeren ebenso wie die emotionalen, die körperlichen und die mentalen – es war, als gäbe es Zwischenräume zwischen Fühlen, Erkennen und Speichern.

Obwohl am Ende nur noch auf die pure Lebenserhaltung des Organismus ausgerichtet, wirkten sich diese Sprünge im Gehirn, verlangsamt vielleicht durch die Todesnähe und gebremst durch den Sauerstoffmangel, auf mein Bewusstsein aus wie eine Schizophrenie. Wahrnehmungen und Emotionen standen sich gegenüber wie Bilder von Sonne und Mond.

Genauso wie aus äußeren Sinnesreizen Gefühle entstehen und das Erlebnis hinterher wie ein »Film im Kopf« übrig bleibt, springt mein Erzählen in der kritischen Phase von der ersten zur dritten Person.

Indem ich meinen »Film im Kopf« unterschneide mit den Emotionen des Zuschauers, versuche ich, anschaulich zu machen, wie in Todesnähe das bewusste Selbst entsteht.

Einleitung

Nanga Parbat

Der »Nanga« im ersten Morgenlicht, von Osten her gesehen

 

Nanga Parbat. Dieses Massiv zwingt den Indus, seinen Lauf vom Berg Kailas aufzugeben und sich im rechten Winkel nach Süden auf seine 2000 Kilometer lange Reise in den Indischen Ozean zu begeben.

Hermann Schäfer

 

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Nanga Parbat, der 8125 m hohe westliche Eckpfeiler des Himalaja, für Europa entdeckt. Der Asienforscher Schlagintweit, ein Münchner, war als Reisender bis an den Fuß des Himalaja vorgedrungen und sah den Nanga Parbat von Süden.

 

Wenig später wurde er in Kaschgar ermordet. Das Verhängnis am Nanga Parbat beginnt …

Reinhold Messner

Die Südflanke des Nanga Parbat vom Dusai-Plateau gesehen

 

Der schwierigste Weg meines Lebens

Als Adolf Schlagintweit die Einheimischen nach dem Namen des großen Berges fragt, sagen sie: »Diámar« und »Nánga Parbat«. Aus der Urdu-Sprache übersetzt, bedeuten diese Namen »König der Berge« und »Nackter Berg«.

Als der Geograf und Bergsteiger Richard Finsterwalder den Achttausender 1934, 78 Jahre später, genau vermessen und von allen Seiten studieren kann, nennt er ihn wie die meisten Alpinisten nur noch »Nanga«.

Finsterwalder, damals Professor in München, ist beeindruckt: »7000 m Höhenunterschied liegen zwischen dem eisstarrenden Nanga-Gipfel und dem Indus, der am Fuße des Nanga seine trüben Fluten tosend dahinwälzt. – Wohl wenige Stellen der Erde gibt es, wo sich die Natur dem Menschen so großartig und vielseitig zeigt und ihm so viel von ihren Geheimnissen und Wundern aufschließt.« Und weiter: »Der Nanga Parbat ist stockwerkartig aufgebaut. Tiefe Täler und finstere Schluchten zersägen seinen gewaltigen Leib.«

Wie Alexander von Humboldt den Chimborazo beschrieben hat, prägen Schlagintweit, Finsterwalder und später Dyhrenfurth durch ihre Arbeiten das Bild vom Nanga Parbat. Mit ihren botanischen, geologischen und bergsteigerischen Informationen befriedigen und wecken sie die Neugierde gleichermaßen.

Günther Oskar Dyhrenfurth glaubt, dass die Nanga-Parbat-Gruppe ein geschlossenes Gneis-Massiv ist, und macht sich ebenso Gedanken über mögliche Aufstiegswege wie Finsterwalder. Dieser schwärmt geradezu vom Berg als Anblick und Ziel. »Sein Gipfel ist bedeckt von glitzerndem Firn, eisüberströmt sind seine Grate und Flanken. Darunter kommt ein Gürtel von Almen und gewaltigen Wäldern, in die von oben her die Gletscher vorstoßen. Nach unten zu hören die Wälder plötzlich auf, die Vegetation wird ärmer. Es ist dort heiß und trocken, einzelne Ortschaften mit künstlicher Bewässerung finden wir da. Noch tiefer erstirbt alles Leben in der Hitze, und ganz unten, die letzten 1500 m zum Indus hin, ist furchtbare Wüste.«

Ser im Diamirtal, wo Mummery 1895 vorbeikam und Reinhold Messner 1970 gehunfähig liegenblieb

 

Mazenokamm und Nanga Parbat (links): Schauplatz der Tragödien 1895 und 1970

 

Forschern wie Bergsteigern erscheint der Berg als ein geheimnisvolles Ziel. Abweisend und anziehend zugleich. Ein halbes Jahrhundert lang ist er für die Elite der deutschsprachigen Bergsteiger die größtmögliche Herausforderung. Er wird ihr Gral.

»Wenn deutsche Bergsteiger ins ferne Asien ziehen, um diesen Gipfel zu erobern, wären es keine deutschen Bergsteiger, wenn es ihnen genügte, auf diesem Gipfel gestanden zu haben«, suggeriert Finsterwalder. »Wenn sie nichts von den Wundern und Geheimnissen des Himalaja mit nach Hause brächten, wären alle Mühen und Gefahren auf dem Weg zum Bergsteiger-Gral also umsonst.«

 

1934. Himalaja. Nanga Parbat. Erstmals stoßen fünf Bergsteiger und elf Sherpas bis auf das Silberplateau vor. Über eine 1932 erkundete Route steigen sie fast bis zum Gipfel. Die Leitung dieses gefährlichen Unternehmens hat Willy Merkl. Die Stimmung ist getragen von Erwartung und Sorge. Alfred Drexel ist kurz vorher an einem Höhenlungenödem gestorben. Die Mannschaft steht unter Druck. Plötzlich kommt Nebel auf, dann Wind. Der Schneesturm dauert zwei Wochen. Der Abstieg wird zur Katastrophe. Uli Wieland, Willo Welzenbach, der Expeditionsleiter Merkl und sechs Sherpas kommen ums Leben.

Als Karl Maria Herrligkoffer, ein jüngerer Halbbruder von Merkl, von dieser Tragödie erfährt, gelobt er, »den Kampf um den Nanga Parbat« fortzuführen, als Erblast und Vermächtnis seines Bruders. Willy Merkl ist sein Vorbild, und der Heldentod der »Deutschen am Nanga Parbat« ist sein Ansporn, um ihren Idealen nachzueifern. Der ferne Gipfel im Himalaja wird zur Besessenheit.

Die Einheimischen kennen zwei Namen für ihren Berg: Nanga Parbat, »Nackter Berg«, und Diamir, »König der Berge«. Herrligkoffer sieht ihn als sein höchstpersönliches Heiligtum. Dieser unbestiegene Gipfel wird das Ziel, dem er sein ganzes Leben widmet. Nanga Parbat: Schicksalsberg.

Die Rakhiot-Flanke des Nanga Parbat mit Silbersattel und Silberplateau. Ganz rechts der Gipfel

 

Herrligkoffer veröffentlicht die Tagebücher von Willy Merkl und identifiziert sich mehr und mehr mit dem Lebensziel seines Bruders. Um sein stilles Gelöbnis einzulösen, will er selbst zum »Nackten Berg« aufbrechen. Er findet finanzielle Mittel und erstklassige Bergsteiger, beschafft sich eine Besteigungsgenehmigung, organisiert wie ein Besessener Ausrüstung und Reise. 1953 unternimmt er seine erste Fahrt in den Himalaja. Er führt eine Gruppe von Bergsteigern zum Nanga Parbat, dem Gral des deutschen Alpinismus. Das Unternehmen heißt Willy-Merkl-Gedächtnis-Expedition.

Hermann Buhl gelingt schließlich gegen den Willen Herrligkoffers die erste Besteigung des Berges. Er bewältigt, aufgeputscht mit der Droge Pervitin, 1300 Höhenmeter im Aufstieg. Im Alleingang erreicht Buhl am Abend des 3.7.1953 den Gipfel, überlebt eine Nacht im Freien und schafft auch den Abstieg. Mit letzter Kraft kommt er zurück ins Lager unterm Silbersattel, wo jene zwei Kameraden warten, die ihn bei seinem Gipfelsturm unterstützt haben. Herrligkoffer aber, der als Leiter der Expedition vorher vom Basislager aus den Rückzug angeordnet hatte, ist emotional gespalten. Seine Gefühle schwanken zwischen Freude am Erfolg und Enttäuschung. Er fühlt sich von den drei Ungehorsamen verraten, die entgegen seinen Anweisungen agiert haben, überflügelt von Buhl, der in Eigenregie gehandelt hat, übergangen von der Weltöffentlichkeit. Auch betrogen um das »Unbedingte«, das die Stimme seines toten Bruders von ihm fordert?

Blick vom Silberplateau zurück zum Silbersattel. Weit im Osten der Karakorum

 

Zurück in Europa kommen Zweifel an Buhls Gipfelgang auf. Später wird der »Gipfelsieger« sogar von Herrligkoffer verklagt. In den Augen Herrligkoffers bleibt Buhl bis zu seinem Tod der »Schänder des reinen Ideals«.

Der Mythos Nanga Parbat behält für Herrligkoffer seine magische Kraft. Zu schaffen, was eigentlich seinem Bruder zugestanden hatte, ihm aber unmöglich gewesen war, bleibt seine Bestimmung. Und immer mehr Bergsteiger pilgern mit diesem Besessenen zum »König der Berge«. Nicht der Berg braucht sie, sie brauchen ihn: für ihren Ehrgeiz, ihre Träume, ihre Hybris. Karl Maria Herrligkoffer hat den »Nackten Berg« zu einem übergeordneten Ziel stilisiert.

Trägergruppe am Abruzzen-Gletscher im Karakorum; links im Bild der Broad Peak, Buhls zweiter Achttausender

 

Der Gipfelgrat des Siebentausenders Chogolisa im Karakorum, Buhls letztes Ziel

 

In diesem Wahn bricht 1970 eine Mannschaft zur Südwand des Nanga Parbat auf, zur höchsten Steilflanke der Erde, dem Gral auch für eine junge Bergsteigergeneration, die nur mit Herrligkoffer eine Chance zur Besteigung hat.

 

Die Rupalflanke

 

Anreise (Alice von Hobe, Karl Herrligkoffer und Reinhold Messner, stehend Max von Kienlin)

 

Expeditionstruck in Persien

 

Träger in Tarsching; Basislager

 

Felix Kuen und Reinhold Messner verlassen Lager I in der Rupalwand. Rechts: Trägerkolonne im Abstieg von Lager II bei Neuschnee

 

Max von Kienlin und Hermann Kühn beim Schachspiel. Zuschauer Reinhold Messner

 

Am Lagerfeuer im Basislager: rechts Karl Herrligkoffer

 

Trägerkolonne im Abstieg von Lager II bei Neuschnee

 

Der obere Teil der Rupalwand: Links unter dem Gipfel die Merkl-Rinne, darunter das Merkl-Eisfeld (mit Lager IV)

 

Blick vom Lager IV ins Rupaltal

 

Günther Messner beim Schneeschaufeln in Lager III (Eisdom)

 

Lager II in der Rupalwand

 

Am Fuß der Diamirseite des Nanga Parbat (gefährliches Wandkonkav) suchte Reinhold Messner tagelang nach seinem Bruder Günther, bevor er, dem Wahnsinn nahe, talwärts ging.

 

Im Gletscherkessel am Fuß der Diamirwand …

 

… suchte Reinhold Messner nach seinem Bruder, über den toten Diamirgletscher kroch er talwärts …

 

… und kam im oberen Diamirtal (Blick zurück zum Nanga Parbat) zu den ersten Blumen und Menschen.

 

Der Nanga Parbat von Süden: Gipfelwand

 

Wieder kommt es zu Spannungen zwischen Expeditionsleitung und Gipfelteam, zuletzt zu einem Aufstieg im Alleingang. Reinhold Messners Bruder Günther folgt aus freien Stücken. Gemeinsam erreichen sie am 27. Juni 1970 den Gipfel. Doch Günther wird höhenkrank. Die beiden sind zum Abstieg über die Diamir-Flanke gezwungen, an deren Fuß Günther stirbt.

 

Einer, viele Meilen von jeder Behausung entfernt, allein geblieben und allein gelassen, schleppt sich völlig erschöpft durch das Diamir-Tal abwärts. Schizophren geworden nach Tagen ohne Nahrung und Schlaf, redet er mit sich, mit Bäumen und Steinen. Er verlässt die Rolle des Beobachters und schreit seine Einsamkeit, seine Angst und seine Verzweiflung aus sich heraus. Zuletzt beobachtet er sein eigenes Sterben. Irre geworden an seinem Verlorensein, kehrt er wie durch ein Wunder und als ein anderer in die Zivilisation zurück.

Karl Maria Herrligkoffer aber, dem es immer noch um Merkls Vermächtnis geht, erscheint Reinhold Messners Abstieg wie einst Buhls Aufstieg als Verrat.

 

Kapitel I

Bruder, Tod und Wahn

Die Südwand des Nanga Parbat, Rupalwand genannt

 

Gab es auf der Erde eine Steilwand, die höher als jene sein konnte, die Schlagintweit mit der Feder festgehalten hat? Der Berg sei »nackt«, weil die Fallinie der großen Flanke fast senkrecht ist, so daß der Schnee in den Höhen kaum liegenbleiben kann.

Hermann Schäfer

 

Der erste Blick gilt immer der furchtbaren Südwand. 5000 Meter hoch, in mächtigen granitenen Pfeilern und überhängenden Eisdomen stößt sie aus den Mittagsnebeln des Rupaltals herauf und krönt sich mit dem Gipfel.

Fritz Bechtold

 

Wo in den Alpen und im Kaukasus die Berge aufhören, da fangen sie hier erst an.

Hermann Schäfer

 

Günther Messner, 1970

 

Günther ist unvergessen

Die Rupalwand am Nanga Parbat war 1970 genau nach unserem Geschmack: steil, hoch und weit weg.

Als ein Journalist meinen jüngeren Bruder nach unserer Wand fragt, bekommt er zuerst keine Antwort. Günther schaut ihn nur an. Als ob er sich die Riesenwand nicht vorstellen könne. Diese Stille im Raum! Günthers Schweigen ist Teil seiner Antwort. Dann zeigt er ein Foto. »Sie ist sehr hoch.«

Nach der langen Pause und in die Stille hinein wirkt dieser eine Satz wie eine Explosion. Ja, es ist spürbar, der Berg auf dem Bild wächst ins Unendliche. Ein Berg wie im Vergrößerungsglas! Was wir dort wollen, fragt der Journalist. Günther schweigt wieder. Lange. Mein Bruder schaut den Fremden nun an. Erst im Weggehen, nach noch längerem Schweigen, sagt er ein paar Belanglosigkeiten. »Nur weg hier, auf und davon, weit weg.«

Günther, mein jüngerer Bruder, ist tot, und doch ist er lebendig, wenn ich heute von ihm träume.

 

Günther und ich klettern in der Nordwand der Kleinen Fermeda. In den Dolomiten. In der Geislergruppe. Wir haben gerade ein Schneefeld gequert. Ich steige in die senkrechte Gipfelwand ein. Das Hanfseil, das ich um den Bauch gebunden nachziehe, wird von Günther nachgegeben, der es über seine Schulter laufen lässt und mich so sichert.

Die Nordwand der Kleinen Fermeda war die erste Wand, die wir selbstständig kletterten. Und wir waren stolz auf unsere Selbstständigkeit.

Kleine Geislerspitzen von Norden. Rechts die Kleine Fermeda

 

Ich quere an brüchigem Fels nach rechts und gewinne einen Riss, der am Gipfelgrat endet. Hunderte Meter fällt die Wand steil unter mir ab. Ich treffe mit meinen groben Schuhen an einen vorstehenden Stein. Er bricht ab und stürzt krachend in die Tiefe. »Noch zehn Meter Seil«, ruft Günther.

Über dem schattigen Abgrund scheint die Sonne. Wir können Kälte und Gefahr spüren, wenn wir uns vorbeugen und in den Abgrund sehen. Ich winde mich mit ein paar katzenhaften Bewegungen nach oben und stehe am Grat in der Sonne. Rasch lege ich das Seil um einen Felskopf und lehne mich über die Wand. »Stand«, rufe ich. Günther kann nachkommen!

Als ich unsere letzte gemeinsame Tour zu schildern versuchte, waren die Eindrücke noch so frisch und das Fehlen des Bruders so schmerzvoll, dass ich mich abwechselnd in die Rolle von Akteur und Beobachter versetzen musste, um nicht wieder verrückt zu werden. Diese Schizophrenie war wie Medizin. Trotzdem: Ich wollte kein Selbstmitleid aufkommen lassen und zählte die Zeit rückwärts. Bis zum Tod von Günther. Womit alles endete und alles beginnt.

Damals wie heute, ich spüre den Stillstand der Zeit, wenn Günther neben mir ist. Wir reden dann miteinander, und alles liegt noch vor uns. Als hätte ich die späteren Jahre vergessen.

Beim Abstieg nach Günthers Verschwinden war ich so unendlich allein, dass ich dauernd Selbstgespräche führte. Es waren Tage voller Verzweiflung, und ich redete um mein Leben. Als wäre allein das Sprechen genug, um mir noch Hoffnung zu geben. Reden war überlebensnotwendig geworden. Galt es doch zu bleiben, nur diesen einen Tag noch am Leben zu bleiben.

Am Tod war nichts zu deuten, weil es dann kein Selbst mehr gibt. Aber auch als Zurückgebliebener erlebte ich das Immer-ferner-Werden als Verlassen-Werden, als eine Art Auflösung. Vielleicht weil so viel Einsamkeit ohne bleibende Schäden weder zu ertragen noch zu überleben ist.

Günther war tot. Ich musste es allein nach Hause schaffen.

Inzwischen habe ich das alles hundertmal erzählt, Einzelheiten wieder und wieder geträumt und damit auch versucht, Günther festzuhalten, und ihn gleichzeitig Stück für Stück losgelassen. Den Tod aber zu oft auf ein paar Sätze reduzieren zu müssen, tut weh. Was nicht fassbar ist, braucht Zeit. Nun aber, 30 Jahre später, werden Zusammenhänge deutlich und Hintergründe hell. Mithilfe von Tagebuchaufzeichnungen, Zitaten aus offiziellen Expeditionsberichten[1] und Briefen erzähle ich von meinem Schicksalsberg. Bruchstückhaft, Mosaiksteinchen gleich, fügt sich aus Traum und Erinnerung unsere Überschreitung des Nanga Parbat zu jenem Bild, das zeitlos ist.

Bereit, mein eigenes Selbst als Summe von Draußen und Drinnen, von Körper und Geist zu begreifen, kann ich die schwierigsten Tage meines Lebens endlich niederschreiben: als Geschichte vom Nackten Berg.

Kapitel II

Die Krönung: Himalaja

Der Firngrat zum Silbersattel

Quelle: Archiv des Deutschen Alpenvereins, München (Nachlass Deutsche Himalaja-Stiftung)

 

»Krönung und letztes Ziel bergsteigerischer Sehnsucht!« nennt Willy Merkl die hohen Gipfel des Himalaja. Sein Leben war diesem Ziel entgegengereift, und ein unbegreifliches Schicksal hat ihm kurz vor dem Sieg die Krone aus der Hand genommen.

Karl Maria Herrligkoffer

 

Willo Welzenbach

 

Willy Merkl greift den Plan seines Freundes Welzenbach auf, der schon 1930 eine Nanga-Parbat-Expedition geplant hat, aber daran gehindert worden ist.

Johann Ammer

 

Wir sehen ihn zum ersten Mal, ihn, den Nanga, den Berg unserer Träume! Atemberaubend ist der Anblick der Südwand; mit ihrer Höhe von 5000 Metern ist sie wohl die gewaltigste Steilwand der Erde. Wir müssen den Kopf weit zurücklegen, um über die schaurige Flucht der Flanken auf den firnverbrämten Gipfel blicken zu können. Eines wissen wir: das ist das Größte, was wir je im Leben geschaut haben. Oder umgekehrt: nie noch sind wir uns so klein vorgekommen wie vor der einmaligen Größe dieses Berges.

Willy Merkl