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Aaron Sahr

DIE MONETÄRE
MASCHINE

Eine Kritik der finanziellen Vernunft

C.H.Beck

Zum Buch

Seit Jahrzehnten wachsen die Geldvorräte viel schneller als die Wirtschaft. Trotz dieser eigendynamischen Expansion mangelt es an Mitteln für produktive Investitionen und öffentliche Güter, für den Ausbau digitaler und analoger Infrastrukturen, für die Vorbereitung auf den Klimawandel und die Überwindung ökonomischer und pandemischer Krisen. Könnte es sein, dass diese Zahlungsschwierigkeiten kein Schicksal sind, sondern auf einem eklatanten Missverständnis beruhen? Der Wirtschaftssoziologe Aaron Sahr unterwirft unsere finanzielle Vernunft einer Kritik. Er zeigt, dass Geld keine unschuldige Technologie für den Betrieb von Märkten ist – eine Ideologie, die in der Unabhängigkeit der Zentralbank oder der Schuldenbremse zementiert wurde –, sondern eine politische Institution. Indem er Wirtschaft als legitimen Verschuldungszusammenhang begreift, kann er die Betriebsprobleme der monetären Maschine pointiert benennen: Vollständig privatisiert, produziert unser Geld Reichtum für wenige statt Wohlstand für alle, destabilisiert sich selbst und die ökologischen und sozialen Gefüge. Eine Vergesellschaftung der modernen Geldmaschine ist laut Sahr der einzige Ausweg aus den vielfältigen Krisen der Gegenwart.

Über den Autor

Aaron Sahr ist Wirtschaftssoziologe. Er leitet am Hamburger Institut für Sozialforschung die Forschungsgruppe «Monetäre Souveränität». Als Gastprofessor der Leuphana Universität Lüneburg forscht und lehrt er am Zentrum für Theorie und Geschichte der Moderne zu Geldgeschichte, kapitalistischer Dynamik und politischer Ökonomie.

Inhalt

Einleitung

Mangel und Überfluss

Beardsley Rumls zweiter Frühling

Ein anderes Betriebssystem

Teil I: Die Ideologie unpolitischen Geldes

1. Das Tauschparadigma

Was ist eine Zahlung?

Geld als Werkzeug des indirekten Tauschens

Wie eine Ware, nicht als Ware

2. Der Nexus von Geld und Politik

Die Unschuldsforderung

Der Preiskampf

Lose Enden

3. Gebende und nehmende Hände

Wo entsteht Zahlungsfähigkeit?

Geld wird «erwirtschaftet»!

Das Tabu monetärer Staatsfinanzierung

Teil II: Weichenstellungen

4. Soll und Haben

Geldwirtschaft als Praxis der Positionierung

Geld als generalisierte Gläubigerschaft

Moderne Ordnungen

5. Über Infrastrukturen

Holzwege

Vorleistungsmaschinen

Gesellschaftliche Reproduktion

Teil III: Die Architektur modernen Geldes

6. Die monetäre Maschine

Bauteile: Woraus Geld besteht

Gestalt:
Modernes Geld als Beziehungsgeflecht

Dynamische Verschaltung:
Wie Geld entsteht und vernichtet wird

Leistung: Der Vorteil modernen Geldes

Zusammenfassung und Ausblick

7. Zahlungsfähigkeit als kollektives Angebot

Über den Geldwert

Herrschaftliche Forderungen

Wozu Steuern?

Teil IV: Hoheitsansprüche in Krisenzeiten

8. Zur Privatisierung monetärer Souveränität

Wer regiert das Geld?

Die Bindung der öffentlichen Hand in Europa

9. Betriebsprobleme der Maschine

Reichtum statt Wohlstand

Destabilisierungsdynamiken

Jenseits des Ökonomischen

10. Geldpolitik als Infrastrukturpolitik

Ein besseres Betriebssystem

Geldschöpfungspolitik

Die Maschine vergesellschaften

Für einen neuen Pragmatismus

Anhang

Anmerkungen

Einleitung

1. Das Tauschparadigma

2. Der Nexus von Geld und Politik

3. Gebende und nehmende Hände

4. Soll und Haben

5. Über Infrastrukturen

6. Die monetäre Maschine

7. Zahlungsfähigkeit als kollektives Angebot

8. Zur Privatisierung monetärer Souveränität

9. Betriebsprobleme der Maschine

10. Geldpolitik als Infrastrukturpolitik

Literatur

Dank

Register

Einleitung

Im Angesicht gesellschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Verwerfungen der Gegenwart können wir es uns nicht länger leisten, Geld wie ein unpolitisches Hilfsmittel für den Betrieb von Märkten zu behandeln. Stattdessen müssen wir es als öffentliche Infrastruktur erkennen und einsetzen. Kurz: Wir müssen unser Geld politisieren. Gewohnheitsgemäß greifen wir in akademischen wie politischen Debatten auf ein traditionelles ökonomisches Geldverständnis zurück, in dem Geld als ein Werkzeug erscheint, von dem einige mehr und andere weniger haben, ein Hilfsmittel, das den Austausch von Gütern auf Märkten erleichtert. Jeder Geldbetrag in der Kasse eines Ladengeschäfts, im Portemonnaie eines Kunden oder auf dem Konto einer Sparerin erscheint so als eine – je individuelle – Ausprägung dieses Werkzeugs, das wir zum Tauschen verwenden. Diese grundlegende geldtheoretische Ausrichtung unseres Denkens verhindert nicht nur ein tiefenscharfes Studium geldwirtschaftlicher Zusammenhänge, sondern auch öffentliche Willensbildungsprozesse über geldpolitische Fragen, die demokratischen Standards angemessen wären. Das Theoriedreieck aus Geld, Geldwirtschaft und Geldpolitik ist der Gegenstand des vorliegenden Buches.

«Geld» wird in der akademischen und der öffentlichen Debatte, die von der traditionellen Volkswirtschaftslehre geprägt sind, zumeist mit einem Set von vier Funktionen gleichgesetzt. Zunächst fungiert Geld als allgemein akzeptiertes Tauschmittel (1. Funktion). Demzufolge wird Geld als ein Vermögenswert verstanden, den man im Austausch gegen die eigene Arbeitskraft als Lohn oder Gehalt oder beim Verkauf von Wertgegenständen aus dem eigenen Besitz entgegennimmt, nicht, um ihn zu konsumieren oder damit etwas herzustellen, sondern um ihn in einem nächsten Kaufakt wieder abzugeben. Geld ist also offenbar eine Art Ware (etwa einem Auto oder einem Haus ähnlich), die wir für den Weiterverkauf erwerben. Anders als andere Waren können wir den Geldbetrag aber ausschließlich wieder eintauschen; die spezielle «Ware» Geld ist in diesem Sinne eben ein individuell verwendbares Werkzeug, um all die Sachen in Besitz zu nehmen, die begehrt werden und die man sich leisten kann.

Das funktioniert, weil wir den Wert der zum Verkauf stehenden Dinge auch in Geldbeträgen berechnen, ihnen also einen Preis geben. Geld ist also nicht nur universelles Tauschmittel, sondern auch Recheneinheit für Preise (2. Funktion). Zudem hilft Geld dabei, Wert durch die Zeit zu transferieren. Durch den Verkauf meiner Arbeitskraft gegen den Wertspeicher Geld (3. Funktion) kann indirekt die Arbeitskraft des einen Tages mit Verzögerung gegen den Wert eines Einkaufs an einem anderen Tag getauscht werden; die Arbeitsleistung wird dementsprechend gespeichert. Schließlich kann man Geldbeträge dazu verwenden, Schulden zu tilgen. Geld ist also auch ein Zahlungsmittel für monetäre Verpflichtungen (4. Funktion).

Die funktionalistische Betrachtung von Geld als Werkzeug vermittelt den Eindruck einer genuin unpolitischen gesellschaftlichen Technologie: Geld erleichtert uns das Wirtschaften, indem es Güter mit Preisen versieht, ihren Austausch vermittelt und zur individuellen Vermögensbildung bereitsteht. Diese Ordnungs- und Ermöglichungsleistungen erbringt das Geld für alle wirtschaftenden Akteure gleichermaßen, es ist als Werkzeug der Marktwirtschaft – so jedenfalls ein mit der Werkzeugperspektive häufig einhergehender Eindruck – selbst unparteiisch. Nicht sein Funktionieren, sondern lediglich seine Verteilung kann sinnvoll politisch thematisiert und problematisiert werden, kann als Quelle und Ausdruck von Machtungleichheit und Parteilichkeit moniert und adressiert werden. Ob Werkzeuge wie eine Schlagbohrmaschine oder ein Schraubenschlüssel zuverlässig das tun, was sie tun sollen, ist eine technische Frage, deren Klärung an Ingenieure delegiert werden muss. Zu einer politisch auszuhandelnden Angelegenheit werden die Werkzeuge Schlagbohrmaschine oder Schraubenschlüssel nur im Hinblick auf ihre Verfügbarkeit, d.h. ihre Verteilung: Haben alle Menschen, die Hängeschränke anbringen wollen, auch hinreichenden Zugriff auf Schlagbohrmaschinen? Besitzen wenige Haushalte fast alle Schraubenschlüssel, so dass die traurige Mehrheit ihre Möbel nicht zusammenbauen kann?

Was am Beispiel solcher Werkzeuge albern wirkt, beschreibt unseren gesellschaftlichen Streit über Geld aber recht treffend. Die Auseinandersetzung über die stets ungleiche Verteilung verfügbarer Geldmittel gehört sogar zum Grundinventar unseres politischen Diskurses. Routiniert wird in Parlamenten, in der Kneipe, in Plenarveranstaltungen oder in Fernsehtalkshows darüber disputiert, wer wie viel Geld hat, wer wie viel Geld verdient, wer mehr oder wer weniger Geld bekommen sollte. Welche Lohnforderungen sind angemessen, welche überzogen, wer sollte wie viel von dem Geld haben, das es zu verteilen gibt? Wir ringen um eine Vermittlung zwischen denjenigen, die zahlungsfähig sind, und jenen, die es nicht oder nur unzureichend sind, schlicht deswegen, weil in Geldgesellschaften wie der unsrigen erst der Besitz von Geld lebens- und überlebensfähig macht – weil Geld, kurz gesagt, Handlungsfähigkeit, also: Macht bedeutet.

Wünschen sich die einen bei seiner Verteilung vor allem freie Märkte am Werk, die das Geld dorthin leiten, wo die größten Renditen zu erwarten sind (oder die effizienteste Nutzung, wenn man Märkten so etwas zutraut), fordern andere staatliche Umverteilung, die sich an sozialen und politischen Maßstäben orientiert. Der Konflikt zwischen einer Distribution von Zahlungsfähigkeit nach Gesichtspunkten der Marktlogik und ihrer Redistribution nach Kriterien der Moral definiert, wie einige meinen, sogar ganz grundlegend die politisch-ökonomische Gesellschaftsverfassung kapitalistischer Ökonomien im 20. und 21. Jahrhundert, die dank sich durchsetzender Volkssouveränität, Rechts- und Wohlfahrtsstaatlichkeit zu demokratischen Kapitalismen werden.[1]

Doch so entscheidend solche Fragen von Haben oder Nichthaben auch sein mögen, soll in diesem Buch ein noch grundlegenderes Anliegen verfolgt werden. Denn aus dem in der vorliegenden Arbeit eingenommenen wirtschaftssoziologischen Blickwinkel ist das Geld selbst nicht nur ein Tauschmittel, eine spezielle Art von Vermögen, das man hat oder nicht hat, sondern es ist selbst eine, wie Wolfgang Streeck es treffend formuliert, «machtdurchschossene soziale Institution».[2] Damit meint Streeck eben nicht die Verteilung und Verwendung von Geldvermögen, sondern die «Verfassung»[3] des Geldes, seine, wie ich im Folgenden sagen werde, genuin politische Architektur.

Wer sich für diese politische Architektur interessiert, nimmt die Funktionslogiken des Geldes stets zusammen mit dessen Konstruktionsprinzipien und Reproduktionsmechanismen in den Blick. Wir werden uns also sehr wohl dafür interessieren, was Geld tut, was es für eine Gesellschaft leistet oder leisten kann, auch wenn ich es nicht, wie es so häufig geschieht, mit seinen Funktionen für den Markttausch gleichsetzen werde. Geld ist eben nicht nur ein Set von Funktionen, sondern es ist auch eine Konstruktion, ein soziales Gebilde, dessen Aufbau selbst soziologisch analysiert und gesellschaftlich wahrgenommen und debattiert werden muss. Konstruktionsprinzipien und Funktionslogiken bedingen sich wechselseitig. Geld wird schließlich nicht nur verwendet, sondern muss auch hergestellt und bewahrt werden; und diese Herstellungs- und Erhaltungsverfahren verändern sich und können verändert werden – und damit auch ihr Zusammenwirken mit den Leistungen, die Geld erbringt. Dabei geht es nicht um Prozesse des physischen Bedruckens von Papier zu Banknoten oder des Prägens von Münzen, sondern um die Schöpfung neuer Geldbeträge, um den Eintritt von neuer Zahlungsfähigkeit in das ökonomische System, ihre Stabilisierung und auch um ihre Zerstörung.

Im scharfen Kontrast zur Allgegenwärtigkeit verteilungspolitischer Auseinandersetzungen waren und sind Kontroversen über die Herstellung von Zahlungsfähigkeit, also: die Geldschöpfung, öffentlichen Debatten fremd. Die Frage, ob die gesellschaftliche Produktion des Geldes gut oder schlecht geregelt ist, wer in unserer Gesellschaft die Geldschöpfung übernehmen sollte; wer entscheiden darf, wie viel Geld es gibt und für wen, das heißt: zu welchem Zweck, für welche Zahlung es ursprünglich geschaffen wird und nach welchen (konkurrierenden) Maßstäben eine solche Entscheidung zu bewerten und zu beurteilen wäre, beschäftigt kaum ein Kneipengespräch, keine Sondersendungen nach den Abendnachrichten und keine Talkshow zur Prime Time, jedenfalls nicht explizit. Aber gerade weil von der Verfügbarkeit von Geld in unserer Geldgesellschaft so viel abhängt, nicht alles zwar, aber doch mehr, als uns manchmal lieb ist, muss man die Geldschöpfung als eine der wichtigsten Machtressourcen im Herzen des modernen Kapitalismus bezeichnen. Sie fristet gleichsam ein Schattendasein, abseits der großen Konflikte, Proteste und Parteiprogramme.

Das ist kein Zufall. Geldschöpfung ist der öffentlichen Diskussion entzogen worden. Ich werde in diesem Buch argumentieren, dass die Ausblendung der Geldschöpfung aus unseren politischen Diskursen auf dem Siegeszug einer Ideologie beruht, die das Geld selbst zu depolitisieren versucht hat – und damit erfolgreich war. Diese Ideologie eines an sich unpolitischen Geldes hat die ideelle und institutionelle Trennung der Geldschöpfung von parlamentarisch-demokratischen Willensbildungsprozessen gefordert und legitimiert, eine Vorstellung des Geldes als einer bloß funktionell zu verstehenden und zu betreuenden Technologie des Markttausches (das Werkzeug) begründet und propagiert und damit eine Architektur des Geldes souffliert und stabilisiert, in der Geld als Privatangelegenheit erscheint, an der die öffentliche Hand nur noch als räuberische Nehmerin partizipieren kann. Das war ein Fehler mit gewaltigen Konsequenzen. Diese Ideologie eines unpolitischen Geldes gilt es deswegen zu überwinden, wenn man unser Geld verstehen und die finanziellen Missstände unserer Zeit bezwingen will. Wie Roy Kreitner schreibt, «gibt es kein politischeres Manöver als die Isolierung eines bestimmten Handlungsfeldes von der Politik»[4] – und damit auch kein politischeres Begehren, als diese Isolierung zu demontieren. Ziel dieses Buches ist also nicht weniger als die Überwindung eines herrschenden Denkens, das unser Verständnis der monetären Welt verzerrt und damit unsere Wahrnehmung finanzieller Möglichkeiten und Abhängigkeiten verschleiert – eine Kritik der finanziellen Vernunft.

Mangel und Überfluss

Von welchen finanziellen Missständen spreche ich? Erkundigt man sich etwa nach der Verfügbarkeit des Artefakts Geld, stößt man auf eine seltsame Gleichzeitigkeit von Mangel und Überfluss. Auf der einen Seite – und dies ist diejenige, die den meisten bekannt sein dürfte und über die am heftigsten öffentlich diskutiert wird – fehlt es stets und überall an Geld. Der langsame, aber stetige Rückgang des Wirtschaftswachstums geistert als Gespenst einer «säkularen Stagnation» durch die Presse, händeringend wird allerorts nach Geld gesucht, um Investitionen anzukurbeln. Darunter haben vor allem die Arbeiterinnen und Arbeiter zu leiden: Wie wir spätestens seit den Arbeiten von Thomas Piketty wissen, sind die dürftigen Wohlstandszuwächse seit den 1970er Jahren vor allem in den Taschen der Großverdiener und Großvermögensbesitzer gelandet. Für alle reicht das Geld jedenfalls offensichtlich nicht, weder für Lohnsteigerungen noch, um überhaupt alle in Lohn und Brot zu bringen.[5]

Neben diesen langfristigen Mangelerscheinungen fehlt es immer wieder auch ganz akut an Geld – in Finanzkrisen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) verzeichnet zwischen 1970 und 2017 weltweit 151 systembedrohende Zahlungskrisen nationaler Finanzbranchen. Diese Zahlungskrisen machten teilweise umfangreiche Rettungsprogramme der betroffenen Staaten notwendig und trugen somit ihren Teil zu den in dieser Datenbank und für diesen Zeitraum ebenfalls verzeichneten 79 schweren Krisen öffentlicher Zahlungsfähigkeit bei.[6]

Um die Geldversorgung der öffentlichen Hand scheint es besonders prekär bestellt. Staaten geben in der Regel mehr aus, als sie durch Steuern und Abgaben einnehmen. Die Tatsache, dass der deutschen Regierung für einige Jahre das Gegenteil gelungen ist, war so außergewöhnlich, dass die berühmt-berüchtigte «schwarze Null» zum geflügelten Wort und fetischisierten Symbol wurde. Überall mangelt es an Mitteln für die Bereitstellung öffentlicher Güter. Weltweit fehlen 15 Billionen US-Dollar für notwendige Infrastrukturausgaben (bis 2040). Selbst das vergleichsweise robust finanzierte Deutschland lebt «von der Substanz»: Zwischen 2012 und 2017 überstieg der Wertverlust die für Infrastrukturen vorgesehenen Ausgaben. Der Zustand unserer Infrastruktur wurde nicht nur nicht verbessert, sondern er verschlechterte sich.[7] Und der augenscheinliche Geldmangel der öffentlichen Hand beeinträchtigt nicht nur die Versorgung mit materiellen Fundamentalgütern wie Strom, Wasser oder Transport und Kommunikation: Darüber hinaus fehlen allein hierzulande zehntausende Lehrkräfte, Schulgebäude verfallen, der «Pflegenotstand» ist zu einem geflügelten (Un-)Wort geworden (bekanntermaßen hat ja nicht erst die Pandemie des Sars-CoV-2-Erregers die Unterfinanzierung der Krankenhäuser offenbart), die Digitalisierung hinkt ein Jahrzehnt hinterher und die Kommunen betteln regelmäßig um Finanzhilfen. Diese Liste ließe sich problemlos verlängern. Die Budgets der öffentlichen Hand reichen offenbar kaum mehr für die Aufrechterhaltung basaler Staatsaufgaben.

Langfristige Investitionen der öffentlichen Hand mussten vor allem im letzten Jahrzehnt auch aufgrund von krisenhaften Mangelerscheinungen in der Privatwirtschaft zurückstecken, die auf Kosten staatlicher Budgets bekämpft wurden. Die globale Finanzkrise von 2008 provozierte bis 2010 weltweit staatliche Zahlungen von etwa 2,4 Billionen Dollar,[8] freilich nicht einmal annähernd genug, um die realwirtschaftlichen Folgen der «großen Rezession» signifikant abzumildern. Die Wachstums- und Jobverluste sind bis heute in vielen Ländern kaum kompensiert, und der öffentliche Sektor ist zu einem dauerhaften Sorgenkind geworden. In der Folge begannen teilweise rigorose Haushaltskonsolidierungen, Ausgaben wurden zusammengestrichen und Einnahmen zusammengehalten. Die Austeritätspolitik vertiefte den ökonomischen Abschwung mit teilweise dramatischen Folgen für die Versorgung vieler Menschen. Adam Tooze hat deswegen nicht übertrieben, als er die Finanzkrise von 2008 als «erste Krise eines globalen Zeitalters»[9] bezeichnet hat.

Es besteht allerdings wohl kaum Hoffnung, dass die offenen Rechnungen der öffentlichen Hand in absehbarer Zeit kleiner werden. Schließlich entstand 2020 ein mit 2008 vergleichbarer, ja ihn teilweise sogar übertreffender weltweiter Bedarf an staatlicher Zahlungsfähigkeit und Zahlungsbereitschaft – eine zweite (Zahlungs-)Krise eines globalen Zeitalters. Als im Frühjahr 2020 die von Sars-CoV-2 verursachte Pandemie ausgerufen wurde, verordneten viele Länder Einschränkungen des öffentlichen Lebens und beruflichen Alltags. Die ökonomischen Folgen virusbedingter Veränderungen des Konsumverhaltens, verstärkt durch die teilweise strikten «Lockdowns» auf der ganzen Welt, waren dramatisch. Die Arbeitslosenzahlen explodierten, die globalen Warenströme wurden unterbrochen oder eingeschränkt, der innerstädtische Einzelhandel und internationale Transportdienstleister standen gleichermaßen vor dem Abgrund. Der IWF sprach in seinem Wirtschaftsausblick im Juni 2020 von einer «Krise wie keine andere» und malte einen fast fünfprozentigen Rückgang der globalen Wirtschaftsleistung in nur einem Jahr an die Wand; eine Kontraktion, die an die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre erinnerte und 2008 in den Schatten stellen sollte. Die Kontraktion gefährdet nach Ansicht des IWF nicht nur Wohlstands- und Wohlfahrtszuwächse, sondern auch die seit den 1990er Jahren erzielten Fortschritte bei der globalen Armutsbekämpfung.

Auch diese zweite Zahlungskrise des 21. Jahrhunderts zwang wieder einmal alle Länder, die es sich leisten konnten, dazu, ihre Geldbörsen zu öffnen. Globale Staatsausgaben zur Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen summieren sich bereits im Spätsommer 2020 auf zwölf Billionen Dollar, Tendenz steigend.[10] In der Eurozone mussten die strengen Regeln für öffentliche Verschuldung gelockert werden, und auch in Deutschland diskutiert man im Frühjahr 2021 über eine Korrektur der 2009 in das Grundgesetz aufgenommenen Schuldenbremse. Die langfristigen Folgen für die Zahlungsfähigkeit vieler Staaten dürfte derzeit kaum abschätzbar sein. Allerdings wurde die Situation der wohlhabenden und privilegierten Länder durch das frühzeitige und energische Reagieren ihrer Zentralbanken entschärft, die aus der Krise 2008 gelernt hatten. Der Geldbedarf der öffentlichen Hand ist vielerorts somit sowohl strukturell (in Bezug auf Infrastrukturinvestitionen und sozialstaatliche Leistungen) als auch situativ (durch die zwei großen globalen Zahlungskrisen des 21. Jahrhunderts) gigantisch – es mangelt an Geld.

Die fiskalischen Mangelerscheinungen sind allerdings noch viel größer, berücksichtigt man, dass wir uns bereits in einer dritten Zahlungskrise der öffentlichen Hand befinden. Schließlich konnte die Coronakrise nur einen kurzen Moment davon ablenken, dass mit der Klimakrise bereits seit zu vielen Jahren weiterer Geldbedarf aufgehäuft wird, der offensichtlich ohne kollektive Anstrengungen und Ausgaben, also ohne die Geldbörse der öffentlichen Hand, nicht zu decken sein wird. Die klimabedingten Risiken seien nur kategorisch angedeutet: drastische Einbrüche bei landwirtschaftlichen Einnahmen, erschwerter und damit kostenintensiverer Zugang zu Trinkwasser, die Folgen unbewohnbarer Küstenstreifen, steigende Versicherungskosten gegen zunehmend wahrscheinlicher werdende Extremwetterepisoden, explodierende Gesundheitsausgaben zur Bekämpfung von Krankheiten, die durch Hitze, Unwetter, Staub und Smog ausgelöst werden etc. Die Klimakrise erfordert zwar sicherlich einen kulturellen Wandel, das heißt ein Umdenken in Bezug auf gesellschaftliche Werte und individuelles (Konsum-)Verhalten; aber sie erfordert eben ferner und vor allem auch eines: Geld! So komplettiert sich ein im Ganzen fatales Bild: Geld ist angesichts der Höhe der bereits ausgestellten und zu erwartenden Rechnungen zweifellos Mangelware. An dieser Einsicht dürfte also nicht zu rütteln sein. Aber ist das wirklich so?

Tatsächlich gibt diese Perspektive nur die eine Seite der monetären Verfassung der Welt wieder. So vertraut uns öffentliche Debatten über Geldmangel nämlich sein mögen, so seltsam erscheinen sie doch vor dem Hintergrund der Verfügbarkeit von Geld in Langzeitperspektive. Und damit wären wir beim Thema Überfluss. Während die Wirtschaftswachstumsraten langfristig abzunehmen begannen, dehnten sich die Geldbestände nämlich weiter beharrlich aus. Die in der OECD organisierten Länder brachten es im Jahr 1980 auf etwa 40 Prozent der heutigen Leistungsfähigkeit (Stand 2018), wobei damals nur etwa ein Prozent der heute verfügbaren Menge an Geld zirkulierte. In den Ländern der Eurozone wurden noch 1995 etwa drei Viertel der ökonomischen Leistung von 2018 erbracht, mit weniger als 20 Prozent der Geldmenge von 2018. Die Menge an verfügbarem Geld ist also um ein Vielfaches stärker gewachsen als die Leistung der Wirtschaft. Es gab immer mehr Geld, aber nicht in gleichem Ausmaß mehr Dinge, die man damit kaufen kann. Geht man in den Statistiken auf der globalen Ebene noch einmal zwanzig Jahre zurück, zeigt sich der Trend ebenso deutlich: Im Jahr 1960 gab es weltweit Geld in einem Umfang von etwa der Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung, 2015 waren es 124 Prozent. Produktion und Geld klaffen auseinander.[11]

Wer nun vermutet, die zunehmenden Geldmengen seien ein rechnerisches Artefakt, weil das viele Geld durch Inflation an Wert verloren hätte, also de facto gar nicht wirklich mehr Geld sei – weil es nur den reinen Zahlen nach vervielfältigt wurde, aber man nicht mehr damit kaufen kann –, irrt. Der Anstieg der Verbraucherpreise hält mit der annähernd exponentiellen Geldmengenausdehnung über Jahrzehnte nicht Schritt. Im Gegenteil: Seit den 1980er Jahren ist die Inflation in den westlichen kapitalistischen Ökonomien weithin unter Kontrolle, weil auf lange Sicht moderate Steigerungsraten zur Norm wurden. Ganz anders das Geld, dessen rasante Vermehrung gerade seit den 1980er Jahren zu beobachten war, als sich die Inflationsraten beruhigten. Obwohl sich die Konsumentenpreise in Europa seit 1980 auch fast versiebenfacht haben, stehen sie doch im Schatten einer verhundertfachten Geldmenge.

Dieser Nicht-Zusammenhang von Geldvermehrung und Geldwertentwicklung wird besonders in den vergangenen gut zehn Jahren spürbar, weil die großen Notenbanken der USA, Englands, Japans und der Eurozone zur Bewältigung der Finanzkrise Unmengen frischer Geldmittel produziert haben. In der Eurozone gab es (in einer engen Definition der Geldmenge) 2007 nur etwa zwei Drittel der 2015 verfügbaren Mittel; bis 2019 ist die Menge nochmal um 37 Prozentpunkte angestiegen. Im gleichen Zeitraum stiegen die sogenannten harmonisierten Verbraucherpreise nur um etwa 15 (2007–2015) respektive 4,8 (2015–2019) Prozentpunkte. Und paradoxerweise befürchtet man parallel zu dem extremen Geldwachstum der letzten 40 Jahre keine Inflation, sondern gerade Deflation, also eine Stagnation oder gar ein Absinken des Preisniveaus, was eigentlich als ein Indikator für Geldmangel gilt. Wenn nämlich die Preise insgesamt fallen, so die üblicherweise angebrachte Überlegung, ist schlicht nicht genug Geld da, um alle Waren zu kaufen – und das, obwohl es immer weiter vermehrt wird.[12]

Die Europäische Zentralbank (EZB) peilt mit ihrer Politik bekanntlich einen moderaten Preisniveauanstieg von zwei Prozent pro Jahr an, der ihr als stabile Grundlage ökonomischer Prosperität gilt. Um es klar zu machen: Die EZB kämpft also dafür, dass eine leichte Inflation Bestand hat – und dies, obwohl sie aufgrund der genannten Geldvermehrung mehr als einfach zu haben sein müsste. Das heißt aber auch: Selbst nach Jahrzehnten bestechender Geldmengenausweitung erschien in den zehn Jahren nach der globalen Finanzkrise der EZB die Gefahr einer Deflation größer als jene einer Inflation. Und in der Tat war die Abschwächung des deflationären Drucks eine der Hauptbegründungen außergewöhnlicher nationaler wie europäischer Zentralbankpolitiken nach 2008, durch die (noch) mehr Geld in die Wirtschaft gebracht wurde. Nicht einmal die unglaubliche Summe von 2,6 Billionen Euro, die allein durch die EZB zwischen 2015 und 2018 zusätzlich in die Wirtschaft gepumpt wurde, führte zu einem merklichen Anstieg des allgemeinen Preisniveaus, also zu Inflation. Geld ist offenbar allerorts knapp, obwohl es mit enormer Geschwindigkeit vermehrt wird.

Und der Trend hält an: Die EZB wollte ihr «Quantitative Easing» gerade zurückfahren, als im Frühjahr 2020 die Coronakrise ausbrach. Wieder standen die großen Zentralbanken bereit und fluteten die Wirtschaft mit frisch erzeugtem Geld. Die Federal Reserve Bank vergrößerte ihre zwischen 2008 und 2019 bereits etwa verfünffachte Bilanzsumme von Februar bis Mai 2020 noch einmal um 60 Prozent. Das heißt: Die US-amerikanische Zentralbank hat Wertpapiere – Staatsschulden, aber auch mehr oder weniger riskante private Schuldpapiere – mit kolossalen Mengen frisch hergestelltem Geld vom Markt aufgekauft. Die EZB erweiterte ihr Aufkaufprogramm für Wertpapiere Anfang März 2020 um 120 Milliarden Euro und reduzierte ihre Ansprüche an die Qualität jener Anlagen, die Banken als Pfand hinterlegen müssen, um sich neues Geld zu leihen (bis mindestens September 2021 können Privatbanken sogar eher unsichere Wertpapiere mit der niedrigsten Bewertung BBB- als Pfand hinterlegen, wenn sie sich neues Geld bei der EZB leihen). Danach erweiterte die EZB noch einmal ihre Ankäufe für Wertpapiere um das Pandemic Emergency Purchase Program (PEPP), das zunächst mit einem Umfang von 750 Milliarden Euro angesetzt war, aber bereits Anfang Juni 2020 auf 1,3 Billionen Euro erhöht wurde – eine Summe, die bis Sommer 2021 in die Märkte fließen soll. EZB-Präsidentin Christine Lagarde machte klar, die Bereitschaft zur Finanzierung des Euro durch neu geschaffene Geldmittel sei unbegrenzt.

Während die EZB also private Investorinnen und Investoren mit kognitiv kaum mehr greifbaren Mengen an Geld zahlungsfähig macht, werden im Bundestag und den Wirtschaftsteilen der Tageszeitungen düstere Bilder von künftigen Staatshaushalten gezeichnet. Man müsse sich schon jetzt, in der Krise, so der Tenor, auf einen harten Sparkurs in der Zukunft einstellen. Zahlungsfähigkeit scheint also – siehe die Maßnahmen der Zentralbanken – gleichzeitig beliebig verfügbar und – siehe die Debatten in den Parlamenten – fürchterlich knapp zu sein.[13] Die Zahlungskrisen der öffentlichen Hand – Finanzkrise, Coronakrise und Klimakrise – bedrohen den Zusammenhalt und Fortbestand ganzer Gesellschaften. Es ist deswegen wenig verwunderlich, wenn denen zugehört wird, die einen Ausweg versprechen. Einer davon ist Beardsley Ruml.

Beardsley Rumls zweiter Frühling

Der Ökonom, Statistiker, Psychologe und Soziologe Beardsley Ruml wurde 1894 als Nachfahre böhmischer Einwanderer im US-Bundesstaat Iowa geboren. Ruml promovierte in Psychologie und half danach der US-Armee bei der Entwicklung statistischer Persönlichkeitstests, arbeitete als Manager für die Rockefeller Stiftung, beriet seinen Freund Präsident Hoover in agrarpolitischen Belangen und half mit, die soziologische Abteilung der University of Chicago aufzubauen. Ein späterer Präsident dieser Universität, Robert Maynard Hutchins, nannte Ruml sogar einen der Gründer US-amerikanischer Sozialforschung. Danach wechselte der vielseitig begabte Ruml in die freie Wirtschaft und landete schließlich bei der Notenbank der USA in New York City, der Federal Reserve Bank (Fed), wo er zwischen 1937 und 1946 verschiedene leitende Funktionen innehatte.

Im Jahr 1945, als Chairman der Fed, hielt Ruml einen Vortrag vor Juristen der American Bar Association. Der Vortrag, einer von unzähligen in Rumls facettenreicher Karriere, wäre wohl in den Annalen verloren gegangen, hätte ihn nicht das Magazin American Affairs für die Nachwelt abgedruckt. Dessen damaliger Herausgeber Garet Garrett erklärte im Editorial, was ihn zu diesem Abdruck bewogen hatte. Dem Vortrag gebühre die Aufmerksamkeit eines größeren Publikums, so erläutert Garrett, weil dessen These – immerhin nicht von irgendwem, sondern von einem Hochoffiziellen innerhalb des Geldsystems aufgestellt –, so sie denn wahr wäre, den politischen Betrieb auf den Kopf stellen könnte. Der Chairman der amerikanischen Notenbank behauptete in seinem Vortrag schließlich, die Vereinigten Staaten von Amerika könnten künftig darauf verzichten, ihre Staatsausgaben durch Steuern zu finanzieren. Die These war bereits im Titel des Vortrags unmissverständlich formuliert. Ins Deutsche übersetzt lautete er: «Steuern sind als Einnahmequelle überholt», im Original: Taxes for Revenue are Obsolete.[14]

Der Zentralbanker Ruml wollte damit allerdings nicht sagen, dass Steuern unnötig seien, weil er Staatsausgaben für überflüssig oder gar gefährlich hielt. Er war also weder Anarchist noch hyperliberaler Verfechter eines auf seine Grundmauern reduzierten Nachtwächterstaates, der schlicht keine Steuern erheben brauchte, weil sein Ausgabenplan nur das Allernötigste umfasste. Ruml hielt nicht die Staatsausgaben für obsolet, sondern die Staatseinnahmen – über Steuern. Ebenso wenig schlug er vor, dass sich die USA ausschließlich durch freiwillige Darlehen ihrer Bürgerinnen und Bürger und auch nicht, wie es in Deutschland vor einigen Jahren der Philosoph Peter Sloterdijk anregte, nur noch durch Spenden finanzieren sollte. In einer im Angesicht der Finanzturbulenzen von 2008 über die Zukunft des Kapitalismus sinnierenden Reihe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung rief Sloterdijk zur «Revolution der gebenden Hand» auf (so zumindest der redaktionelle Titel des Texts). Er warnte davor, ein immer gieriger werdender Steuerstaat würde als eine Art Kleptokratie, die ihre reichen und deswegen ja augenscheinlich produktiven Bürgerinnen und Bürger bestiehlt, nach und nach an Legitimität verlieren. Die «gebende Hand», also die in der Wirtschaft schuftenden Bürgerinnen und Bürger, stünden deswegen angesichts wachsender Steuerbelastungen durch den gierigen Fiskus vor einer «Revolution». Deswegen schlug der Philosoph vor, von einer Staatsfinanzierung durch Zwangsabgaben abzurücken und das Gemeinwesen fortan durch freiwillige Spenden zu bezahlen.[15] Auch Ruml proklamierte lange vor Sloterdijk eine Art «Revolution der gebenden Hand», nur sah er eben gerade nicht die wirtschaftenden Bürgerinnen und Bürger als jene an, die geben konnten.

Ruml hatte vielmehr neben Einnahmen und Leihgaben von Geld eine dritte Möglichkeit im Sinn, wie die USA zahlungsfähig werden und bleiben konnten: die Geldschöpfung. Schließlich wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwas erprobt, das gemeinhin «Fiat-Geld» genannt wird, eine Form von Geld, in der die einzelnen Geldbeträge nicht mehr aus einem wertvollen Material bestehen oder bei einer Bank wie der Federal Reserve in ein solches wertvolles Material umgetauscht werden können. Durch die lange und turbulente Phase des Ersten und Zweiten Weltkriegs war dieser Rechtsanspruch auf Eintauschbarkeit stoffwertloser Banknoten und Bankguthaben in Silber oder Gold, der sogenannte Edelmetallstandard, zusammengebrochen. Zwar sollte er später, im System von Bretton-Woods, mit stark reduzierter Wirksamkeit zurückkehren (und Anfang der 1970er Jahre bis auf weiteres verschwinden), aber schon zum Zeitpunkt von Rumls Vortrag hatte die Welt eine soziale Technologie zur Verfügung, die bis heute gewissermaßen erstaunlich ist: Fiat-Geld, eigentlich stoffwertlose Geldbeträge, die dennoch als wertvoll erachtet, begehrt und akzeptiert werden. Die Herstellung neuer Banknoten, Münzen und vor allem die Herstellung der immer wichtiger werdenden Kontostände – simple Ziffern im Hauptbuch einer Bank oder im Speicher einer ihrer Computerserver – wurden also nicht länger durch die Verfügbarkeit natürlich vorkommender und deswegen endlicher Ressourcen aus Edelmetall begrenzt.

Dadurch ergaben sich für den Produzenten dieser Geldbeträge ungeheure Handlungsoptionen, so Ruml. Geld ist außerordentlich nützlich, weil man damit unzählige am Markt angebotene Güter und Dienste erwerben kann, und es ist dennoch, materiell betrachtet, wahnsinnig einfach herzustellen. Selbst wenn man kein Papier zur Verfügung hätte, um Banknoten mit beliebigen Beträgen zu bedrucken, könnte man Fiat-Geld einfach dadurch herstellen, dass man eine Zahl – die gewünschte Summe – in das Hauptbuch der Zentralbank einträgt und damit den Kontostand der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika aufbucht. Warum sich also um Einnahmen sorgen, wenn man die Notenpressen und Kontobücher der Federal Reserve Bank zur Verfügung hat, die einem einfach frische Geldbeträge ausspucken können? Die US-Regierung, so bringt es der Herausgeber Garrett mit Blick auf Rumls Vortrag in seinem Vorwort auf den Punkt, sei deswegen genau genommen ein für alle Mal «von allen Geldsorgen befreit».

Beardsley Rumls Vorschlag dürfte in den meisten Ohren irrwitzig klingen. So sah das wohl auch sein Zeitgenosse, der in Lemberg geborene, Anfang der 1940er Jahre in die USA emigrierte berühmte Ökonom Ludwig von Mises, als er Anfang der 1950er Jahre in eine Neuauflage der englischen Übersetzung seines Standardwerks Theorie des Geldes und der Umlaufmittel von 1924 einen Kommentar zu Rumls Vorschlag einfügte. Aus dem Kommentar lässt sich mit etwas hermeneutischem Geschick zwischen den Zeilen ein leichter Anflug von sarkastischer Geringschätzung für Rumls Argument herauslesen. Mises schreibt:

«Für den naiven Geist hat die Ausgabe von Fiat-Geld etwas Wunderbares an sich. Ein von der Regierung gesprochenes Zauberwort schafft aus dem Nichts eine Sache, die gegen jede Ware eingetauscht werden kann, die man gerne haben möchte. Wie blass ist die Kunst der Zauberer, Hexen und Beschwörer im Vergleich zum Finanzministerium! Die Regierung, so sagen uns Professoren, ‹kann all das Geld aufbringen, das sie benötigt, indem sie es druckt.› Steuern für Einnahmen, verkündete ein Vorsitzender der Federal Reserve Bank von New York, sind ‹überholt›. Wie wunderbar! Und wie bösartig und menschenfeindlich sind jene hartnäckigen Verfechter einer veralteten wirtschaftlichen Orthodoxie, die die Regierungen auffordern, ihre Haushalte auszugleichen, indem sie alle Ausgaben aus den Steuereinnahmen bestreiten.»[16]

Mit dieser verächtlichen Bemerkung könnte man Ruml nun zurück zu den Akten legen und fortfahren. Schließlich dürften die meisten Leserinnen und Leser Mises’ Kritik intuitiv nachvollziehbar finden. Ganz offensichtlich verstößt Ruml gegen eine Art ökonomisches Naturgesetz, das fast schon zu trivial ist, um es auszusprechen: Ausgaben können die Einnahmen nicht (jedenfalls nicht ständig und auf lange Sicht) übersteigen, kurz: Geld muss erwirtschaftet werden. Man kann es nicht einfach drucken, jedenfalls nicht, wenn man zum Kreis der Vernunftbegabten gezählt werden möchte. Geld wird verdient, indem man arbeitet oder die Früchte seiner Arbeit verkauft, manchmal wird es auch gewonnen, man bekommt es vererbt oder geschenkt, aber selbst dann muss es zuvor von irgendwem erwirtschaftet werden, bevor wir es ausgeben können, alles andere, so scheint es doch, wäre absurder Kinderglaube, eine Welt der Alchemie, in der Zauberinnen und Hexer regieren.

Rumls irritierender Vorschlag ist trotz Mises’ Intervention in den wirtschaftspolitischen Diskurs zurückgekehrt, in Gestalt der sogenannten Modern Monetary Theory, kurz: MMT. Eine ihrer führenden Vertreterinnen, die amerikanische Ökonomin Stephanie Kelton, trug nicht zuletzt deshalb zur Popularisierung der MMT bei, weil sie als Beraterin dem bekannten US-Senator Bernie Sanders zur Seite stand, der sich zweimal (erfolglos) um die Präsidentschaftskandidatur bewarb. Ihr Buch The Deficit Myth wurde 2020 zu einem internationalen Bestseller. Darin behauptet sie, ganz im Sinne Rumls, die allgemeine Überzeugung, man bräuchte Steuern, um Staatsausgaben zu finanzieren, sei «reine Fantasie».[17]

Die MMT wird seit gut 20 Jahren auf abseitigen Nebenstraßen der Volkswirtschaftslehre aus Versatzstücken des Keynesianismus montiert und propagiert. Auf diesen Nebenstraßen sind Autoren wie Warren B. Mosler, L. Randall Wray, William Mitchell oder Pavlina Tcherneva unterwegs. Sie sehen sich in der direkten Tradition nicht nur von John Maynard Keynes, sondern speziell des Schumpeter-Schülers Hyman Minsky oder auch von Abba P. Lerners functional finance approach. (Ludwig von Mises bezieht sich in seiner zuvor zitierten Geringschätzung übrigens auch auf Lerner.) Die MMT wird seit der globalen Finanzkrise von 2008 zaghaft und seit gut zwei Jahren mit zunehmender Intensität in sozialen, traditionellen öffentlichen und akademischen Medien diskutiert. Das britische Wochenblatt The Economist betrachtete diese Entwicklung mit Argwohn, gönnte der aufkeimenden politischen Bewegung 2019 aber immerhin eine Titelseite und einen Namen: millennial socialism.[18] Auch andere wirtschaftswissenschaftliche Schwergewichte wie Kenneth Rogoff melden sich warnend zu Wort.[19] Allein der Umstand aber, dass der ökonomische Mainstream nun vor der ehemaligen Randerscheinung MMT warnen muss, zeigt den Wandel des öffentlichen Debattenspektrums: «Jetzt haben ihre Ideen den Mainstream erreicht», schreibt der Wirtschaftsnachrichtendienst Bloomberg dazu im März 2019, «jahrelang ignoriert, steht die MMT plötzlich im Mittelpunkt der amerikanischen Wirtschaftsdebatte».[20] Einige US-Senatoren beantragten sogar, der Kongress möge diese Geldtheorie offiziell missbilligen – ein womöglich einzigartiger Vorstoß, äußern sich doch Parlamente in der Regel selten zu akademischen Theoriestreitigkeiten.[21] Auch in Deutschland sind Wirtschaftsjournalismus, Politik und Wissenschaft hellhörig geworden; im Januar 2019 fand die (nach eigenen Angaben) erste europäische MMT-Konferenz in Berlin statt, Stephanie Kelton wurde großformatig von Süddeutscher Zeitung und Die Zeit interviewt,[22] harschen Kritiken wurden auch hierzulande umfangreiche Kommentarspalten zur Verfügung gestellt, und polit-ökonomische und soziologische Beiträge warfen vorsichtig Sonden in die hitzige Debatte um die neue Geldtheorie.[23]

Ihre Popularität verdankt die Theorie wohl auch ihrer engen Verzahnung mit ambitionierten politischen Programmen. Erstens brachte Kelton als Beraterin des beliebten Senators Bernie Sanders den Green New Deal (GND) in die amerikanischen Medien. Er wurde von der Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez («AOC») und dem Senator Ed Markey 2019 vorgestellt und von den meisten der (inzwischen gescheiterten) Bewerberinnen und Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen Partei (zumindest im Grundsatz) befürwortet. Der (oder besser: dieser) GND ist ein gewaltiges, nicht nur dem Namen nach mit den US-Aufbauprogrammen in den 1930er Jahren vergleichbares Investitionsprogramm in eine klimaverträgliche und ökologisch nachhaltige Wirtschaft. Es geht um nichts weniger als eine radikale Dekarbonisierung und Ökologisierung aller ökonomischen Sektoren der USA. Innerhalb von nur zehn Jahren sollen Infrastruktur, Industrie, Verkehr und Energie vollständig umgebaut werden, um das Klima und die unter seinem Wandel leidenden US-Bürgerinnen und US-Bürger zu retten. Angesichts der eindrucksvollen Ambitionen dieses Programms und der im Verlauf der letzten Jahre drastisch erhöhten Sensibilisierung für klimapolitische Fragen (sichtbar beispielsweise in der weltweiten Bewegung Fridays for Future) überrascht das Interesse am Green New Deal nicht (der nicht mit dem im Vergleich deutlich weniger ambitionierten «Green Deal» der Europäischen Kommission verwechselt werden darf, den die frisch gewählte Präsidentin Ursula von der Leyen im Dezember 2019 vorgestellt hat). Der konsequente Hochgeschwindigkeitsumbau der gesamten US-Wirtschaft braucht allerdings neben demokratischen Mehrheiten und Unmengen ingenieurstechnischer Expertise vor allem eines: viel Geld. Sanders veranschlagte in seinem Plan mehr als 16 Billionen Dollar für zehn (oder 15) Jahre, der Thinktank American Action Foundation befürchtete Kosten von 93 Billionen Dollar, der konservative US-Fernsehsender Fox News malte einen Betrag von bis zu 44,6 Billionen Dollar an die Wand.[24]

Das Interesse am GND dürfte aber nicht nur durch seine transformativen Ambitionen zu erklären sein, sondern auch durch seinen Brückenschlag zwischen Klima- und Sozialpolitik. Der Umbau der Wirtschaft soll nach den Vorstellungen von AOC und Kelton nämlich nicht nur mit einer umfassenden öffentlichen Krankenversorgung («medicare for all»), sondern auch mit einer universellen Job Guarantee verbunden werden, dem gesetzlich verbrieften Anrecht auf eine Beschäftigung durch den Staat. Damit verbindet der Green New Deal den radikalen ökologischen und klimatisch nachhaltigen Umbau der Wirtschaft mit einer kaum weniger radikalen Neuorganisation der Arbeitswelt. Schließlich geht es hier um nichts weniger als den Vorschlag, Arbeitslosigkeit abzuschaffen – und die Behauptung, das auch bezahlen zu können.[25]

Das finanzielle Selbstbewusstsein der MMT-inspirierten Politikerinnen und Politiker speist sich aus Beardsley Rumls Argument: Sie bringen die US-Regierung als Geldschöpfer ins Spiel. Nachhaltigkeit und Beschäftigung dürften nicht am Geld scheitern, so offenbar die Behauptung, solange Staatsausgaben durch die Zentralbank finanziert werden könnten, indem diese das neu benötigte Geld auf das Konto der Regierung aufbucht, also mittels simpler Buchhaltungsverfahren «druckt».[26] Wirklich?

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