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Dr. Sarah Schwitalla:

Das Mikrobiom-Komplott

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 edition a, Wien

www.edition-a.at

Lektorat: Saskia Blatakes

Cover: Bastian Welzer

Satz: Bastian Welzer

Gesetzt in der Premiera

Gedruckt in Deutschland

1  2  3  4  5  —  25  24  23  22

ISBN 978-3-99001-294-9
eISBN 978-3-99001-586-5

Dr. Sarah Schwitalla

DAS
MIKROBIOM
KOMPLOTT

Wie Lebensmittelindustrien
unsere Gesundheit zerstören und
wie wir uns schützen

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INHALT

Vorwort

Ein Blick in mein Postfach

Unsere chronisch kranke Welt

Wenn Lebensmittel krank machen

Manipulation, Täuschung, Propaganda

Die globale Herrschaft über unser Essen

Zeit zu handeln

Zurück zu richtigen Lebensmitteln

Vorwort

Essen Sie jeden Tag Obst? Lesen Sie immer das Kleingedruckte auf der Packungsrückseite? Kaufen Sie Produkte mit Etiketten, auf denen »klimaneutral« oder »vegan« steht? Denken Sie, Sie ernähren sich gesund?

Sie werden manipuliert. Sie wissen es nur nicht. Sie merken es nicht. Jeder wird manipuliert. Ob er will oder nicht. Alles, was wir in unsere Köpfe, Bäuche und schließlich in unseren Körper lassen, hat eine Wirkung auf uns, manipuliert uns. Psychologisch und biochemisch. Kurzfristig und dauerhaft.

Wir entscheiden, ob wir gesund bleiben. Theoretisch.

Die Welt ist krank. Es hat noch nie einen so hohen Prozentsatz an chronisch kranken Menschen gegeben. Und es werden immer mehr. Wir haben weltweit den höchsten chronischen Krankenstand in der Geschichte der Menschheit erreicht. Wie konnte es so weit kommen?

Es ist unser Essen. Unsere heutige Ernährung tötet mehr Menschen als Zigarettenrauch, Bewegungsmangel, Infektionskrankheiten oder Verkehrsunfälle.

Wir essen heute Dinge, die es vor siebzig Jahren noch nicht gab. Wir essen molekular veränderte Produkte voller Chemikalien und Zusatzstoffe, die besorgniserregende Effekte auf unsere Organe, auf die biochemischen Prozesse in unserem Körper und vor allem auf ein bisher stark vernachlässigtes Organ haben: das Mikrobiom im Darm.

Unser Körper ist ein System. Mit allem, was wir täglich essen, entscheiden wir, ob dieses System reibungslos funktioniert. Ob wir als Mensch gesund sind und bleiben oder krank werden.

Ernährung ist unsere mächtigste Waffe im Kampf gegen alle chronischen Erkrankungen.

Aber unsere Ernährungsentscheidungen werden täglich manipuliert. Die chronisch kranken Körper in unseren Gesellschaften sind die Beweismittel der jahrelangen sukzessiven Machterweiterung der Lebensmittelindustrien. Diese Industrien haben in den vergangenen sechzig Jahren das Steuer unseres gesamten Lebensmittelsystems an sich gerissen und definieren heute wie in Zukunft, was wir täglich auf dem Teller haben.

Sie kontrollieren alles. Unsere Kaufentscheidungen im Supermarkt. Das Angebot. Die Medien. Politik und Gesetze. Ernährungsrichtlinien. Wissenschaftliche Studien. Ackerland. Art und Anbau von Lebensmitteln. Logistik. Produktion. Behörden. Und die WHO.

Die Kontrolle der Lebensmittelindustrien reicht bis in jeden Winkel der Welt.

Ich möchte Sie daher auf eine Reise mitnehmen hinter die Kulissen der Mikrobiom-Forschung und der wissenschaftlichen Studien, in die Labore der Lebensmittelindustrien, auf die Sofas der deutschen, europäischen und internationalen Politiker, an die Konferenztische der EU-Behörden und Fachgesellschaften, in die Meetings der europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde und der Weltgesundheitsorganisation WHO, zu den geheimen Planspielen der »Thinktanks« mit Politikern, Investoren und Lebensmittelkonzernen, auf die Höfe der Bauern, auf die Straße zu Demonstranten und in die Psyche der Menschen.

Die Fragen, die mein Buch zu beantworten versucht, lauten unter anderem: Wie ist es so weit gekommen? Wie genau können Lebensmittel krank machen und wie können sie uns gesund halten? Wie können wir die steigende Anzahl an chronischen Krankheiten aufhalten? Was können wir in Zukunft dafür tun, jeder für sich und seine Familie, aber auch wir als Gesellschaft?

Mein Buch ist ein Aufruf zu mehr Achtsamkeit im Alltag. Achtsamkeit für die Umwelt. Achtsamkeit für seine Gesundheit. Alles, was man isst, hat einen Effekt auf den Körper und auf den Planeten. Jeder Einkauf trägt zum aktuellen System bei. Jeder Verbraucher kann selbst wählen, was und wie der Effekt ausfallen soll: gut oder schlecht. Wir müssen nur Bescheid wissen. Wenn wir bewusste Entscheidungen treffen, verändern wir jeder im Kleinen die Welt und beeinflussen damit kollektiv als »Revolution von unten« das Angebot im Supermarkt. Das ist die Macht der Konsumenten, jedes einzelnen Bürgers, jedes Menschen, der isst.

Ein Blick in mein Postfach

Liebe Frau Dr. Schwitalla,

ich bin total verzweifelt, ich vertrage kaum noch was. Mein Darm ist ständig aufgebläht und meine Verdauung läuft nicht mehr. Mein Darm ist total kaputt, ich habe wahrscheinlich Leaky Gut, eine Histamin-Intoleranz, und meine Heilpraktikerin hat in einer Stuhlanalyse zu wenig Bifidos und Laktobazillen festgestellt.

Außerdem habe ich einen Eisen- und B12-Mangel und mein Arzt hat gesagt, ich soll deshalb mehr Fleisch und Eier essen. Im Internet habe ich auch gelesen, dass eine Low-Carb-Ernährung mit viel Protein gut für den Darmaufbau ist. Stimmt das? Ich bin total verunsichert, weil Fleisch ja eigentlich nicht so gut sein soll, oder?

Ich ernähre mich momentan fast nur noch von Eiweiß-Shakes, manchmal Omelett mit etwas Tomate, aber ich habe gehört, Nachtschattengewächse enthalten giftige Lektine, deswegen lasse ich die wegen meinem »Leaky Gut« jetzt auch aus.

Ich weiß echt nicht mehr weiter. Können Sie mir einen Rat geben?

Diese Frau ist nicht allein. Täglich bekomme ich Nachrichten wie diese. Sie erreichen mich per E-Mail, Instagram oder Facebook. Erschreckend viele stammen von sehr jungen Menschen. Doch dies sind keine Einzelfälle. Sie sind nur die Symptome eines gravierenden, weltweiten Problems.

In den Suchmaschinen gibt es Hunderttausende Ergebnisse zu verzweifelten Anfragen wie »Verdauungsstörungen behandeln«. Die EU gibt jährlich satte vierzig Milliarden Euro aus für die Behandlung von Darmbeschwerden. Leider sind die Maßnahmen wirkungsarm, dafür aber nebenwirkungsreich. Gleichzeitig haben wir in Europa pro Jahr 600.000 neue Fälle von Krebs im Verdauungstrakt.

Es schockiert mich und macht mich betroffen, denn in Wahrheit müsste fast keiner von ihnen leiden. Wir könnten nahezu alle Verdauungserkrankungen, chronischen Erkrankungen und die Hälfte aller Krebsfälle vermeiden. Wir könnten in einer Welt ohne Darmerkrankungen und ohne chronische Krankheiten leben. Das zeigt uns die Wissenschaft.

Doch wie ist es überhaupt so weit gekommen? Und wieso können wir diese Entwicklung nicht einfach aufhalten?

Unsere heutige Art der Ernährung macht mehr Menschen krank als Alkohol oder Zigaretten. Doch viele Menschen wissen gar nicht, dass ein Großteil der Lebensmittel, die sie im Supermarkt kaufen, ein Gesundheitsrisiko sein können. Ihre Ernährungsgewohnheiten sind für sie derart selbstverständlich, dass sie diesen Zusammenhang gar nicht mehr sehen.

Der deutsche Ernährungsreport von 2019 zeigt, dass über neunzig Prozent glauben, sich gesund zu ernähren, tatsächlich sind jedoch über sechzig Prozent von ihnen übergewichtig, viele sind bereits chronisch krank. All diese tragischen Fälle sind Opfer unserer modernen Ernährungsumgebung und des heutigen Nahrungsmittelsystems, das es den Menschen leichter macht, krank zu werden, als sich gesund zu halten.

Dieses Buch widme ich ihnen. Es soll ein Handbuch sein, um zu erkennen, welche unerwarteten Risiken heutige Lebensmittel und unsere heutige Art der Ernährung bergen. Es soll zeigen, was diese mit unserem Körper, vor allem dem Darm-Mikrobiom, machen und wie daraus chronische Krankheiten entstehen können.

Wer dieses Buch liest, wird am Ende hoffentlich feststellen, dass die richtige Ernährung, eine die gesund hält und macht, eigentlich ganz einfach ist. Denn der Zugang zu gesunden Nahrungsmitteln und das Wissen darüber, was gesund und was krank macht, muss für jeden von uns in Zukunft selbstverständlich sein.

In meiner Arbeit erlebe ich oft, wie heilsam dieser Ansatz ist. Vor Kurzem erreichte mich diese E-Mail:

Liebe Sarah,

ich möchte mich bei Dir bedanken. Vielen herzlichen Dank für … einfach ALLES! Du sprichst Dinge an, die kein Arzt einem je erzählen wird! Du kannst Dir nicht vorstellen, wie wertvoll Deine Arbeit ist. Mit der Diagnose Colitis und einer Unverträglichkeit gegenüber Mesalazin fühle ich mich von den Ärzten alleine gelassen. Sie zeigen mir immer wieder nur den Weg der Immunsuppressiva auf und verstehen nicht, warum ich das nicht nehmen will. Deine Arbeit liefert mir endlich neue Möglichkeiten und nimmt mir die Angst.

Ich fühle mich schon so viel besser!!

Und dafür bin ich Dir so dankbar.

Vielen, vielen Dank.

Bitte höre nicht auf damit!

Unsere chronisch kranke Welt

Heute werden in der Europäischen Union

84 Menschen bei einem Autounfall zu Tode kommen,

90 Menschen an einer Infektionskrankheit sterben,

151 Menschen Selbstmord begehen und

3.594 Menschen an ernährungsbedingten Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben.1,2,3

Heute ist ein guter Tag, um Leben zu retten. Mit diesem Satz ist Dr. Shepherd aus Grey’s Anatomy berühmt geworden. Er gilt aber nicht erst im OP-Saal. Nicht erst dann, wenn es fast zu spät ist. Jeder Mensch auf dieser Welt kann sich selbst retten, und zwar dreimal täglich, ganz einfach mit Messer und Gabel.

Jedes Jahr sterben 41 Millionen Menschen an den Folgen chronischer Krankheiten, das sind über siebzig Prozent aller Todesfälle weltweit.2,4 Und die allermeisten dieser Todesfälle gehen auf das Konto falscher Ernährung.5 Es ist fast, als würde jährlich ein ganzes Land in der Größenordnung von Österreich an Herz-Kreislauf-Versagen, Schlaganfällen oder Krebs aussterben.

In einem Bericht warnte die Weltgesundheitsorganisation WHO bereits 2004 vor einer globalen Katastrophe: »Aufgrund veränderter Ernährungs- und Lebensgewohnheiten sind ernährungsbedingte Krankheiten – einschließlich Adipositas, Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und Schlaganfall sowie verschiedene Formen von Krebs – sowohl in Entwicklungsals auch in Schwellenländern zunehmend bedeutende Ursachen für gesundheitliche Einschränkung im Alltag, Krankschreibungen und vorzeitigen Tod. (…) Wenn keine geeigneten gesundheitspolitischen Maßnahmen ergriffen werden, wird sich die Problematik wahrscheinlich auch auf zukünftige Generationen übertragen.«6

Die Welt ist chronisch krank. Es ist die größte internationale Epidemie seit dem Zweiten Weltkrieg. Die meisten Lebensjahre verlieren wir durch Krebs, Schlaganfälle, Herz-Kreislauf- und Verdauungserkrankungen.7 »Ohne konsequente Maßnahmen werden die Krebsfälle bis 2035 schätzungsweise um fast 25 Prozent ansteigen und damit zur häufigsten Todesursache in der EU werden«, warnte die Europäische Kommission in einer Pressemitteilung Anfang 2021.

Die meisten Darmkrebserkrankungen sind nicht genetisch bedingt. neunzig Prozent entstehen durch den individuellen Lebensstil und durch Risikofaktoren, die wir im Laufe unseres Lebens anhäufen. »Das sind die Gene«, heißt es oft, aber das trifft nur auf höchstens zehn bis dreißig Prozent aller Krebsfälle zu. Zu dem Schluss kam eine 2016 im führenden Wissenschaftsjournal Nature veröffentlichte Studie. Sie bestätigt die Beobachtungen aus zahlreichen Bevölkerungsstudien der letzten Jahre.8 »Darmkrebs gilt als einer der deutlichsten Marker für den epidemiologischen und ernährungsbedingten Wandel, wobei die Inzidenzraten – zusammen mit anderen Krebsarten, die mit dem westlichen Lebensstil in Verbindung stehen – zunehmen«, so auch der World Cancer Research Fund (WCRF).9

Im Westen freuen wir uns, dass sich Darmkrebs bei den über Fünfzigjährigen trotz weltweiten Höchststandes stabil eingependelt hat und zumindest nicht ansteigt. Aber es zeichnet sich seit

kurzer Zeit leider ein anderer bedenklicher Aufwärtstrend ab, den keiner hat kommen sehen: Die Diagnose Darmkrebs bekommen heutzutage deutlich mehr junge, unter fünfzigjährige Menschen.

Die Prognosen sind bedenklich. Wissenschaftler gehen von einer Verdopplung der Darmkrebsfälle bei 20- bis 34-Jährigen bis zum Jahr 2030 aus.10 Das ist ungewöhnlich. Eine völlig neue Entwicklung.

Studien versuchen seit Kurzem, diesem Trend auf die Spur zu kommen, und haben bisher bereits einige Kandidaten identifiziert, die das Risiko für Darmkrebs schon in jungen Jahren nahezu verdoppeln können. Dazu zählen eine tägliche Ration zuckersüßer Getränke, Übergewicht und die ernährungsbedingte Stoffwechselerkrankung Typ-2-Diabetes.11,12

Schon 2017 hatte die Vereinigte Europäische Gastroenterologie (UEG) daher in einer Pressemitteilung die europäische Gesundheitspolitik dazu aufgerufen, die Darmkrebs-Früherkennung bereits ab 45 Jahren zum Standard zu machen.13 Die neue Entwicklung scheinen die Krankenkassen nicht mitbekommen zu haben: Noch immer bezahlen sie erst für Menschen ab fünfzig alle zehn Jahre eine Darmspiegelung. Die jüngeren Patienten fallen durch das Raster und laufen Gefahr, dass der Krebs bei ihnen zu spät entdeckt wird. Was ihre Überlebenschance leider deutlich verschlechtert.

Vorbeugen ist die beste Medizin

Der wissenschaftliche Konsens ist, dass wir achtzig Prozent aller Herzinfarkte und Schlaganfälle, die Nummer-1-Killer der heutigen Menschheit, mit einfachen Tricks im Alltag ganz natürlich vermeiden könnten.14 Auch über sechzig Prozent aller Darmkrebsdiagnosen würde es nicht geben, wie die internationale wissenschaftliche Organisation World Cancer Research Fund (WCRF) im Jahr 2021 belegen konnte.15 Die Tipps des WCRF lauten: mehr Bewegung und eine ballaststoffreiche, fleischarme Ernährung.9

Zu gut. Zu unspektakulär. Zu einfach.

Vorbeugen ist die beste Medizin. Vorbeugen heißt, man ist selbst jeden Tag aufs Neue gefordert, sich um seine Gesundheit zu kümmern, damit man auch in Zukunft gesund bleibt. Ein alter Hut, der jetzt wieder in wird. Werden sollte.

Gesundheit ist ein Menschenrecht. Warum wird es den meisten immer noch verwehrt? Heute macht uns die Weltgesundheitsorganisation eine düstere Prognose: Sie geht davon aus, dass sich weltweit bis 2030 die Anzahl chronisch kranker Menschen und Krebsdiagnosen im Vergleich zu 2008 weltweit drastisch erhöhen werden.

Schon jetzt erkranken laut Schätzungen des Zentrums für Krebsregisterdaten mehr als zwei von fünf Frauen und jeder zweite Mann in Deutschland an Krebs.16 Obwohl westliche Regionen wie Europa und Länder wie die USA bereits einen sehr hohen Krankenstand haben, gehen Wissenschaftler trotzdem in den nächsten Jahren von bis zu sechzig Prozent mehr betroffenen Menschen aus. Entwicklungs- und Schwellenländer haben noch nicht das bedenkliche Krankheitsniveau des Westens erreicht, ziehen aber seit einigen Jahren gewaltig nach. Hier rechnet die WHO mit bis zu 82 Prozent mehr chronisch Kranken als noch vor zehn Jahren. »Ein großer Teil dieser chronischen Erkrankungen ist vermeidbar, wenn die vier stärksten Lebensstil-Risikofaktoren vermindert werden: Rauchen, Bewegungsmangel, schädlicher Alkoholkonsum und ungesunde Ernährung«, mahnt die WHO.4,17

Auch beim Deutschen Krebskongress 2020 stand das Thema Prävention zum ersten Mal deutlicher im Fokus. »Besser als eine Krebserkrankung zu behandeln, ist es, sie zu vermeiden«, so Gerd Nettekoven, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krebshilfe, in einer Pressemitteilung, und er bedauert gleichzeitig: »Die Krebsprävention fristet in unserer Gesellschaft jedoch leider noch ein ›Nischen-Dasein‹: Es fehlt an Geld, Lobby und an Umsetzungswillen.«18

Die Lage ist ernster als jemals zuvor. »Europa versagt im Kampf gegen chronische Verdauungserkrankungen«, klagte schon 2018 die United European Gastroenterology (UEG), eine Vereinigung von 22.000 Spezialisten für Verdauungsgesundheit.

Der Klagenfurter Gastroenterologe Markus Peck sagt: »Die Auswirkungen von Verdauungserkrankungen nehmen in ganz Europa weiter zu. Wir sehen einen bemerkenswerten Anstieg der Inzidenz der meisten Magen-Darm-Erkrankungen, von Verdauungskrebs bis hin zu Lebererkrankungen. Die aktuellen Aussichten für die Gesundheit junger Menschen zum Beispiel sind äußerst alarmierend, da sich die Fettleibigkeitsraten bei Kindern bis 2025 fast verdoppeln werden.«19

Im ersten Quartal 2021 tagte das Executive Board der WHO zum Gesundheitszustand der Welt. Anschließend wandten sich teilnehmende Organisationen, unter anderem der WCRF, kollektiv mit großer Besorgnis in einer Pressmitteilung an die Öffentlichkeit: »Wir sind vom richtigen Weg abgekommen, um die von der WHO festgelegten Ziele für Ernährung im Kampf gegen chronische Krankheiten bis 2025 zu erreichen. Alle Beteiligten müssen dringend handeln!«20

Chronische Krankheiten sind in nahezu allen Fällen vermeidbar, würden wir nur die richtigen Lebensmittel essen. Doch warum tun wir das nicht?

Sind wir selbst schuld? Oder gibt es noch einen anderen, unsichtbaren Faktor? Einen, der bisher schwer zu durchschauen ist? Einen, der uns dazu bringt, Dinge zu essen, die wir für gesund halten, oder sogar ungesunde Dinge zu essen, obwohl wir genau wissen, dass sie ungesund sind?

Die Antwort lässt sich nicht in einem Satz geben, aus diesem Grund ist dieses Buch entstanden. Die Drahtzieher, die mächtigen Puppenspieler im Hintergrund dieser Tragödie, sind der Wissenschaft, der Politik, den europäischen Behörden und auch der Weltgesundheitsorganisation längst bekannt. Denn sie sitzen auf ihren Sofas, geben ihre Stimmen an ihren Konferenztischen ab, schreiben mit demselben Stift Gesetze um und setzen Richtlinien durch.

Es sind die Lebensmittelindustrien und ihre Freunde.

Konzerne auf der Anklagebank

Dr. Margaret Chan, die damalige Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation, hielt 2013 auf der globalen Gesundheitskonferenz eine radikale Rede. Zum ersten Mal in der Geschichte kritisierte eine Vertreterin dieser unabhängigen – oder mittlerweile nur noch pseudounabhängigen – Organisation ganz offen die Macht der Konzerne. Sie sagte Folgendes:

»Menschen zu einem gesunden Lebensstil und gesunden Verhaltensweisen zu bewegen stößt heute auf den Widerstand von Kräften, die nicht so freundlich sind. Ganz und gar nicht. Bemühungen, chronische Krankheiten zu verhindern, laufen den Geschäftsinteressen mächtiger Wirtschaftsakteure zuwider. Meiner Meinung nach ist dies eine der größten Herausforderungen für die Gesundheitsförderung.

Hier geht es nicht mehr nur um die Tabakindustrie. Die öffentliche Gesundheit muss sich auch mit der Lebensmittel-, der Soft Drink- und der Alkoholindustrie auseinandersetzen. Alle diese Industrien fürchten gesetzliche Regulierung und schützen sich mit den gleichen Taktiken.

Marktmacht lässt sich leicht in politische Macht verwandeln. Nur wenige Regierungen räumen der Gesundheit Vorrang vor dem Großkapital ein. Wie wir aus den Erfahrungen mit der Tabakindustrie gelernt haben, kann ein mächtiger Konzern der Öffentlichkeit so ziemlich alles verkaufen …

Lassen Sie mich Sie daran erinnern: Nicht ein einziges Land hat es geschafft, seine Epidemie übergewichtiger Menschen in allen Altersgruppen zu bekämpfen. Das ist kein Versagen der individuellen Willenskraft. Es ist ein Versagen des politischen Willens, es mit dem Kapitalismus aufzunehmen.

Ich bin zutiefst besorgt über zwei aktuelle Trends.

Der erste bezieht sich auf Handelsabkommen. Regierungen, die Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit ihrer Bürger einführen, werden vor Gericht gezogen und in Rechtsstreitigkeiten angefochten. Das ist gefährlich.

Der zweite ist das Bestreben der Industrie, die öffentliche Gesundheitspolitik und die Strategien, die ihre Produkte betreffen, zu beeinflussen. Wenn die Industrie an der Politikgestaltung beteiligt ist, können Sie sicher sein, dass die effektivsten Kontrollmaßnahmen heruntergespielt oder ganz weggelassen werden. Auch das ist gut dokumentiert und gefährlich.

Nach Ansicht der WHO muss die Formulierung von Gesundheitspolitiken vor Verzerrungen durch kommerzielle oder persönliche Interessen unbedingt geschützt werden.«21

Margaret Chan ist später zurückgetreten. Ob ihre mutige und kritische Haltung eine Rolle gespielt hat? Fest steht: Der überwiegende Teil der Lebensmittel, die wir im Supermarkt kaufen und täglich zu uns nehmen, macht uns krank. Es ist offensichtlich, dass unser heutiges Lebensmittelsystem nicht die Gesundheit der Menschen zum obersten Ziel hat. Die Prioritäten sind schon lange anders gesetzt: Profit sticht Gesundheit. »Die Welt ist längst kein wettbewerbsfähiger Markt von kleinen Produzenten mehr, sondern ein Oligopol. Was die Menschen essen, wird zunehmend von einigen wenigen multinationalen Lebensmittelkonzernen bestimmt«, erklärt David Stuckler, Professor für Policy Analysis und Public Management in England, der die Ursachen von Epidemien erforscht.22

Wissenschaftler und die WHO haben angesichts des dramatischen Gesundheitszustands der Welt chronische Krankheiten längst zur globalen Epidemie erklärt. Auch einen der Auslöser haben sie längst identifiziert: »Ungesunde Ernährung ist eine der Hauptursachen für chronische Krankheiten, und die flächendeckende Verbreitung von industriell stark verarbeiteten Lebensmitteln und Getränken spielt die Schlüsselrolle bei dieser Epidemie«, so Dr. Swinburne, Professor für Globale Gesundheit in Neuseeland und Co-Direktor der World Obesity Federation.23

Es geht also um industriegesteuerte Epidemien.

Die Schuldigen an diesen Epidemien sind unter Wissenschaftlern auch als Krankheitsüberträger berüchtigt: die Lebensmittelindustrien. Sie »infizieren« mehr Menschen auf der Welt als die von vielen so sehr gefürchteten krank machenden Mikroben.

Der ehemalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon klagte die Machenschaften der Lebensmittelindustrien bereits auf einem Gesundheitsgipfel der UN im Jahr 2011 an: »Es gibt eine gut dokumentierte und beschämende Geschichte von bestimmten Akteuren in der Industrie, die die Wissenschaft – manchmal sogar ihre eigene Forschung – ignorieren und die öffentliche Gesundheit aufs Spiel setzen, um ihre eigenen Gewinne zu sichern.« Er appelliert an die Industrien, endlich mehr Verantwortung zu übernehmen: »Ich rufe insbesondere Unternehmen auf, die vom Verkauf verarbeiteter Lebensmittel an Kinder profitieren, mit größtmöglicher Integrität zu handeln. Ich beziehe mich dabei nicht nur auf die Lebensmittelhersteller, sondern auch auf die Medien, Marketing- und Werbefirmen.«24,25

Auch der World Cancer Research Fund forderte 2021 beim Vorstandsmeeting der Weltgesundheitsorganisation alle Mitgliedstaaten mit Nachdruck auf, akut in Aktion zu treten, da die Welt »vom richtigen Weg abgekommen« sei, um die global um sich greifende Epidemie ernährungsbedingter chronischer Krankheiten noch in den Griff zu bekommen: »Wir fordern die Mitgliedstaaten dringlichst dazu auf, Handlungen der Lebensmittel- und Getränkeindustrie, die die Gesundheit untergraben, zu erkennen und dagegen vorzugehen. Die WHO muss die Führung zum Schutz gesundheitsfördernder Maßnahmen übernehmen, insbesondere solcher, die Kindern zugutekommen. Wir fordern alle Beteiligten auf, smart zu sein und sicherzustellen, dass niemand mit irgendeiner Form von Fehlernährung zurückbleibt.«20

Die Welt ist ein chronisch fehlernährter Patient. Vor allem Kinder sind betroffen. Doch wie konnte es so weit kommen?

Zu viel und zu schnell

In diesem Moment hungern eine Milliarde Menschen, weil sie zu wenig zu essen haben. Gleichzeitig sind mehr als doppelt so viele übergewichtig, weil sie zu viel vom Falschen essen.26 Millionen verbringen viele Jahre ihres Lebens chronisch krank, weil sie zu wenig Gesundes zu essen haben.

In unserem aktuellen Lebensmittelsystem läuft also etwas gewaltig schief. Um zu verstehen, wer für diese Schieflage maßgeblich verantwortlich ist, ist die Frage zu klären: Wer regiert eigentlich das Lebensmittelsystem und wie kam er an die Macht?

Unser heutiges globales Lebensmittelsystem hatte seine Geburtsstunde zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Die Wohlstandsmentalität in der wachsenden Bevölkerung der Nachkriegszeit und die Urbanisierung gaben den Anstoß für eine aggressive globale Agenda zur Überproduktion von Lebensmitteln.

Alle wollten und sollten endlich Essen im Überfluss haben. Schnell, jederzeit und an jeder Ecke der Welt zugänglich. Es war die größte Ernährungsumstellung der Menschheit, eine Umstellung auf Lebensmittel, wie sie die Welt vorher nicht gekannt hatte. Dabei ging es nichtso sehr um Gesundheit, als vielmehr darum, alles schnell, günstig, reichhaltig und profitabel in rauen Mengen herzustellen.

Einer der Schirmherren und Urheber dieser in den USA gestarteten Massenproduktion war die einflussreiche Industriellen-Familie Rockefeller mit ihrer gleichnamigen Stiftung. Die Rockefellers erkannten Jahre später selbst den gesundheitlichen Kollateralschaden, den die Industrialisierung von Lebensmitteln verursacht hat. Sie gaben 2021 schriftlich zu, dass es ihnen damals maßgeblich um Profit ging: »Schlechte Ernährung – getrieben von vielen Faktoren, einschließlich der gezielten Vermarktung von ungesunden Lebensmitteln – ist heute die Hauptursache für die schlechte Gesundheit. Der Überfluss an billigen und leeren Kalorien in der amerikanischen Ernährung wurzelt in vielen, lange zurückliegenden Kampagnen, welche einst die Unterernährung in den USA und im Ausland bekämpfen sollten. Die daraus resultierende Etablierung des Nahrungsmittelsystems ermöglichte die Produktion großer Mengen bestimmter Nahrungsmittel mit enormer wirtschaftlicher Effizienz. Diese Konsolidierung war verbunden mit einer Betonung auf Kostensenkungen und kurzfristiger Gewinnmaximierung.«27

Wie schnell sich die Welt an den neuen Standard »schnell, viel, günstig, reichhaltig« gewöhnt hat, zeigt eine dänische Studie beispielhaft anhand eines beliebten dänischen Kochbuchs. Im Laufe der Jahre haben sich die Portionsgrößen und die Kalorienangaben der Gerichte um bis zu 77 Prozent erhöht.28

Eine Metaanalyse diverser Studien bestätigt diesen Supersize-Effekt der Portionen auch in anderen Ländern, wie beispielsweise in den USA, in den Niederlanden oder in England.29 Aber wer einmal in den USA war und bei Starbucks einen »Chocolate Coffee Crunch Caramel Frappuccino« in der Größe »trenta« (916 ml) bestellt oder eine Gallone Eistee (3,8 l) im Vorbeigehen für einen Dollar erworben hat, braucht für diese Erkenntnis keine Studie zu lesen. »Mit 916 ml ist die Trenta sogar größer als das durchschnittliche Fassungsvermögen des menschlichen Magens bei Erwachsenen (900 ml)«, schrieb die Huffington Post nach der Neueinführung der stolzen Getränkegröße, mit der Starbucks sich sogar selbst noch übertraf.30

Zu diesem Mehr auf dem Teller und im Magen gesellten sich zwei neue Trends hinzu: Essen sollte plötzlich schnell und überall verfügbar sein. Fast Food, To Go, Take Away und Tiefkühlkost begannen zu boomen.

Ein Bericht der Unternehmensberatung McKinsey von Ende 2018 bestätigt den sich immer weiter verstärkenden Trend zum bequemen Essen: »Die Menschen sind weniger geneigt zu kochen. Fast die Hälfte der Millennials, der Generation ab Jahrgang 1980, in den USA gibt an, dass sie selten Mahlzeiten zu Hause zubereiten. Sowohl in Europa als auch in den USA wächst der Food-Service schneller als der Verzehr von Lebensmitteln zu Hause; auf dem US-Markt übersteigt der Food-Service-Umsatz bereits den Food-at-Home-Umsatz.«31

Diese Situation gilt längst nicht mehr nur in den USA, sondern hat auch in Europa Einzug gehalten. Doch so angenehm und bequem ein Stück Pizza hier, ein Döner dort, eine Box mit asiatischen Nudeln oder ein süßer Plunder für unterwegs sind, umso höher ist die Quittung danach. Die erste Anzahlung wird unmittelbar an der Kasse fällig, aber der Löwenanteil kommt erst einige Jahre später – mit der Arztrechnung.

Das Risiko, früher an chronischen Krankheiten wie Herz-Kreislauf- oder Krebserkrankungen zu sterben, ist bei Menschen, die täglich außer Haus essen, bis zu siebzig Prozent höher als bei jenen, die sich das höchstens einmal pro Woche gönnen. Das zeigt eine Studie, die Ernährungswissenschaftler Mitte 2021 veröffentlichten.32

Die Experten führen dies darauf zurück, dass Mahlzeiten außer Haus tendenziell mehr Kalorien, Fett und Salz enthalten, aber weniger Obst, Gemüse und Vollkornprodukte mit schützenden Nährstoffen wie Ballaststoffen und Antioxidantien. Deshalb plädieren sie dafür, dass Ernährungsrichtlinien dringend empfehlen sollten, den Konsum von außer Haus zubereiteten Mahlzeiten zu reduzieren.

»Die Botschaft lautet, dass der häufige Verzehr von außer Haus zubereiteten Mahlzeiten möglicherweise keine gesunde Gewohnheit ist. Stattdessen sollten die Menschen ermutigt werden, mehr Mahlzeiten zu Hause zuzubereiten«, so Dr. Bao, einer der Autoren der Studie.33

Höhere Einkommen und Wohlstand prägen einen neuen Lebensstil, ein neues Wertesystem und damit auch eine neue gesellschaftliche Definition dessen, was überhaupt als hochwertiges Lebensmittel gilt. Auf unseren Tellern haben schon lange Fleisch und Eier mehr Platz anstelle von Gemüse, Bohnen und Nüssen. Wir essen häufiger weißen Reis und Pommes anstatt Vollkorn-Naturreis oder Hirse. Es gibt mehr Croissants und Kaiserbrötchen als Brot aus vollem Korn. In den Gläsern sprudeln eher Eistee und Fruchtsaftkonzentrat als Wasser. Gesüßte Smoothies sind bequemer als frisches Obst. Und bei vielen gibt es lieber »was vom Chinesen« als selbst gekochtes Essen.

Vermeintlich minderwertigere Nahrungsmittel wie Wurzelgemüse, Kartoffeln, Kohl, Hülsenfrüchte oder volles Getreide wurden auf unserem Esstisch seit den 1960er-Jahren stark verdrängt von den vermeintlich »höherwertigen« Produkten wie Fleisch, Eier, Milchprodukte und Öl.34

Wir ersetzen vitamin- und ballaststoffreiche sowie kalorienärmere Lebensmittel auf unseren Tellern gegen Fett, industrielle Produkte und tierisches Eiweiß – frei von Ballaststoffen, Antioxidantien und pflanzlichen Strukturen. Ein Mehr an Kalorien, mit dem nicht einmal das Bevölkerungswachstum mithalten kann. Der Lebensmittelkonsum ist stärker gewachsen als die Weltbevölkerung, das zeigt ein Bericht der Europäischen Kommission von 2019.

Auch in den Schwellenländern essen die Menschen mehr Fleisch- und Milchprodukte. In der EU essen die Menschen zwar mittlerweile weniger rotes Fleisch, doch stattdessen haben sich die Europäer zu den größten Schweinefleischliebhabern gemausert und thronen gemeinsam mit den Amerikanern auf den ersten Plätzen im Hühnchen-Wettessen.35

Auch wenn viele Menschen gerade in Zeiten der Pandemie und der Klimaunsicherheit bewusster essen wollen, lieben die meisten nach wie vor ihr Fleisch. Man hat sich lediglich von einer Fleischsorte auf die nächste verlagert.

In Deutschland werden pro Kopf durchschnittlich siebzig Kilogramm Fleisch im Jahr gegessen, täglich durchschnittlich fast 200 Gramm.36 Die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) liegt bei 300 Gramm für einen Erwachsenen. Pro Woche.

Die Deutschen scheinen »wöchentlich« und »täglich« jedoch nicht nur beim Fleisch zu verwechseln. Sie essen auch lieber täglich Eier als Obst und Gemüse.37

Die offizielle Empfehlung der DGE, sowie auch der wissenschaftliche Konsens weltweit, lautet: umgekehrt. Damit liegen die deutschen Bundesbürger im Trend. In der gesamten EU erreichen nur 14 Prozent aller Menschen die empfohlenen »fünf am Tag« Portionen Obst und Gemüse. Mehr als jeder dritte von uns schafft nicht einmal eine Portion täglich.38

Es ist eine verkehrte Welt. Das nährstofftechnisch Höherwertige ist heutzutage minderwertig und umgekehrt. Wissenschaftler und die UN sehen diesen Mentalitätswandel mit Besorgnis: »Wenn Menschen von der einfachen Ernährung ländlicher Kulturen zur komplexen Ernährung städtischer Kulturen übergehen, also von einer fett- und eiweißarmen zu einer fett- und eiweißreichen Ernährung, steigen die Raten von Herzerkrankungen, Diabetes, Fettleibigkeit und Krebs.«39,40