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Brennpunkt Schule

Hrsg. von Fred Berger, Wilfried Schubarth, Sebastian Wachs und Alexander Wettstein

Schule ist nicht nur Unterricht. Das Miteinander von Schülerinnen und Schülern, Eltern sowie Lehrerinnen und Lehrern ist entscheidend für gelingendes Lernen und ein gutes Schulklima. Was in der Schule auch außerhalb des Klassenzimmers allen Beteiligten auf den Nägeln brennt, wird in dieser Reihe zum Thema.

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

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Alexander Wettstein Marion Scherzinger

Unterrichtsstörungen verstehen und wirksam vorbeugen

2. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-042134-9

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-042135-6

epub:        ISBN 978-3-17-042136-3

Vorwort zur zweiten Auflage

 

 

Unterrichtsstörungen fordern uns heraus. Wie können wir einen Unterricht schaffen, der von gegenseitigem Vertrauen, Respekt und Anerkennung geprägt ist? Unterricht, der inspiriert und herausfordert? Unterricht, in dem die Lehrpersonen und die Lernenden engagiert und gesund bleiben? Diese Fragen treiben uns an.

Ziel dieses Bandes war es, zentrale Erkenntnisse aus zwei Jahrzehnten Forschung in klarer Sprache auf den Punkt zu bringen und so der pädagogischen Praxis ein hilfreiches Werkzeug im Umgang mit Unterrichtsstörungen in die Hand zu geben.

Unser Buch wurde sehr wohlwollend aufgenommen. Die positive Resonanz freut uns außerordentlich und motiviert uns, mit unserer Forschung auch weiterhin einen Beitrag zu gelingenden sozialen Interaktionen im Unterricht zu leisten.

Bern im März 2022

Alexander Wettstein, Marion Scherzinger

Inhalt

 

 

  1. Vorwort zur zweiten Auflage
  2. 1      Einleitung
  3. I       Unterrichtsstörungen verstehen
  4. 2      Unterrichtsstörungen
  5. 2.1   Wie wir über Störungen sprechen beeinflusst unser Handeln
  6. 2.2   Unterrichtsstörungen als Störungen des Lehr-Lern-Prozesses
  7. 2.3   Zusammenfassung
  8. 3      Unterrichtsstörungen aus Lehrer- und Schülersicht – eine Frage der Perspektive
  9. 3.1   Inwiefern stimmen die Schülerinnen und Schüler mit den Lehrpersonen überein?
  10. 3.2   Was stört Lehrpersonen und Lernende?
  11. 3.3   Was sind Ursachen von Unterrichtsstörungen aus Lehrer- und Schülersicht?
  12. 3.4   Zusammenfassung
  13. 4      Sozialpsychologie des Unterrichts
  14. 4.1   Der erste Eindruck
  15. 4.2   Soziale Kategorisierung
  16. 4.3   Erwartungen
  17. 4.4   Lehrerselbstwirksamkeitserwartung
  18. 4.5   Ursachenzuschreibungen
  19. 4.6   Zusammenfassung
  20. 5      Handeln im Unterricht
  21. 5.1   Wie bewusst entscheiden Lehrpersonen?
  22. 5.2   Wie handeln Lehrpersonen bei Störungen im Unterricht?
  23. 5.3   Unterrichtshandeln von berufseinsteigenden Lehrpersonen
  24. 5.4   Zusammenfassung
  25. 6      Unterrichtsstörungen als Belastung
  26. 6.1   Belastung von Lehrpersonen
  27. 6.2   Auswirkung von Unterrichtsstörungen auf die Lehrergesundheit
  28. 6.3   Folgen für den Unterricht und die Lernenden
  29. 6.4   Zusammenfassung
  30. 7      Psychische Bewältigung bei Unterrichtsstörungen
  31. 7.1   Funktionale Strategien
  32. 7.2   Dysfunktionale Strategien
  33. 7.3   Zusammenfassung
  34. II     Unterrichtsstörungen vorbeugen
  35. 8      Diagnostische Kompetenz
  36. 8.1   Störungen differenziert wahrnehmen
  37. 8.2   Störungen als Hinweise verstehen
  38. 8.3   Das eigene Verhalten in Interaktionen kritisch überdenken
  39. 8.4   Die Schülerperspektive einnehmen
  40. 8.5   Zusammenfassung
  41. 9      Beziehungen im Unterricht
  42. 9.1   Lehrer-Schüler-Beziehung
  43. 9.2   Authentizität und Humor
  44. 9.3   Schüler-Schüler-Beziehungen
  45. 9.4   Die ersten Wochen sind entscheidend
  46. 9.5   Zusammenfassung
  47. 10    Klassenführung
  48. 10.1 Die Klasse führen
  49. 10.2 Erwartungen klar machen
  50. 10.3 Früh und niederschwellig intervenieren
  51. 10.4 Unerwünschtes Verhalten unterbrechen, erwünschtes Verhalten fördern
  52. 10.5 Zusammenfassung
  53. 11    Unterricht gestalten
  54. 11.1 Wenn Unterricht demotiviert
  55. 11.2 Vorbereitung, Neugier und Wissen
  56. 11.3 Lernprozesse auslösen und unterschiedliche Lernvoraussetzungen berücksichtigen
  57. 11.4 Klarheit, Zeitnutzung und Rhythmisierung
  58. 11.5 Zusammenfassung und Fazit
  59. Literatur
  60. Die AutorInnen

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Einleitung

Unterrichtsstörungen gehören zum schulischen Alltag. Die im Unterricht ablaufenden Interaktionsprozesse sind durch ihre hohe soziale Dichte, Gleichzeitigkeit, Unmittelbarkeit, Unvorhersehbarkeit, Informalität und Öffentlichkeit hoch komplex (Doyle, 1986; Herzog, 2006, S. 433 ff.). Die Idee, mit ausreichendem pädagogisch-didaktischem Wissen und Können ließe sich ein völlig störungsfreier Unterricht produzieren, ist eine Illusion. Im Unterricht bleibt oft wenig Zeit, um eine Situation differenziert wahrzunehmen, einzuschätzen und Handlungsalternativen abzuwägen. Lehrpersonen stehen im Unterricht unter Handlungsdruck und viele Dinge geschehen gleichzeitig. In Stresssituationen greifen Menschen, um schnell reagieren zu können, auf Erfahrungen und subjektive Theorien zurück. Subjektive Theorien sind einerseits durchaus hilfreich, um unmittelbar reagieren zu können. Andererseits können sie aber auch den Umgang mit Unterrichtsstörungen erschweren und dazu führen, dass ungünstig reagiert wird, womit die Probleme oft nicht gelöst, sondern eher verschärft werden. Ungünstige subjektive Theorien können z. B. sein, dass Störungen in erster Linie Schülerinnen und Schülern zugeschrieben oder diese gar als Folge genetischer, familiärer oder kultureller Einflüsse gesehen werden. Also die Ursache für Störungen den Schülerinnen und Schülern zugeschrieben wird.

Auch Lehrpersonen können den Unterricht stören, indem sie beispielsweise im Unterricht schlecht organisiert sind oder in ungünstiger Weise auf störendes Schülerverhalten reagieren. Die Frage nach der Ursache einer Unterrichtsstörung ist deshalb relevant, da sie unser Handeln und unser Selbstwirksamkeitsgefühl beeinflusst, d. h. ob man das Gefühl hat, auf die Situation Einfluss nehmen bzw. eine Situation ändern zu können oder nicht. Eine Störung kann sehr vielseitig interpretiert werden, wie z. B. als Provokation, Unter- oder Überforderung, Langeweile, schlechte Rhythmisierung, Verhaltens- oder Lernstörung, familiäre Probleme, Tagesverlauf, Zusammensetzung oder Größe der Klasse, ungenügende Unterrichtsvorbereitung etc. Auf biologisch begründete Störungen, familiäre Probleme und die Klassenzusammensetzung haben Lehrpersonen kaum einen Einfluss. Was Lehrpersonen klar beeinflussen können und in Zusammenhang mit Unterrichtsstörungen besonders relevant ist, sind eine gute pädagogische Beziehung, eine adaptive Klassenführung und die Unterrichtsplanung. Dabei stehen die pädagogische Autorität und eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung nicht im Widerspruch zueinander. Eine klare Führung und eine gute Beziehung, welche von Respekt, Wertschätzung und Vertrauen geprägt ist, sind miteinander vereinbar und wirken störungspräventiv.

Unterrichten ist vielfältig, komplex und anspruchsvoll. Weder Lehrpersonen noch Schülerinnen und Schüler können exakt vorhersagen, wie eine bestimmte Unterrichtslektion ablaufen wird. Unvorhergesehene Unterrichtssituationen machen den Lehrberuf herausfordernd, aber auch interessant. So kann eine Unterrichtsplanung einmal fehlschlagen und dadurch im Unterricht unvorhergesehene pädagogische Gelegenheiten ermöglichen, welche die Erreichung der Lernziele trotzdem erlauben (Jackson, 1968, S. 168). Für Lehrpersonen ist es deshalb wichtig, dass sie mit Unsicherheit umgehen und adaptiv auf die jeweiligen Situationen reagieren können, d. h. in unvorhergesehenen Situationen, den Unterricht nicht einfach plangemäß durchsetzen, sondern situationsangepasst reagieren.

Weil wir im Alltag und im Unterricht oft wenig Zeit haben, unser eigenes Handeln immer wieder auch kritisch zu hinterfragen und Handlungsalternativen abzuwägen, werden in diesem Buch wissenschaftliche Befunde zum Thema Unterrichtsstörungen aus einer pädagogisch-psychologischen Perspektive vorgestellt. Wichtig ist uns, zu betonen, dass Forschung »keine stromlinienförmig umsetzbaren Handlungsanweisungen für den Unterricht [liefert], geschweige denn Rezepte, sondern […] eine Sensibilisierung des Lehrenden für wichtige Einflüsse auf das Unterrichtsgeschehen« ermöglicht (Helmke, 2007, S. 62). Ziele dieses Buches sind somit die Sensibilisierung von Lehrpersonen für das Thema, die Auseinandersetzung mit subjektiven Theorien und Handlungsmustern und zugleich soll der Austausch über den Umgang mit Störungen im Unterricht an Schulen angeregt werden. Dabei beleuchten wir Unterrichtsstörungen aus einer interaktional-verstehenden Perspektive. Die Betrachtung eines Problems aus einem anderen Blickwinkel, ermöglicht andere Interpretationen einer Situation und dies führt wiederum zu Handlungsalternativen. Damit steht nicht mehr die Frage im Zentrum: »Mit welchen disziplinarischen oder sogar strafenden Maßnahmen kriege ich den Schüler bzw. die Schülerin dazu, dass er/sie meinen Unterricht nicht mehr stört?«; sondern vielmehr: »Weshalb zeigt er/sie dieses Verhalten? In welchen sozialen Kontexten tritt es auf und wie reagiere ich als Lehrperson darauf?«. Ausgehend von einer interaktional-verstehenden Perspektive ist jedes Verhalten eingebettet in einen sozialen Kontext und hat, auch wenn es auf den ersten Blick noch so unsinnig erscheinen mag, einen bestimmten Grund. Wenn es uns gelingt, diese Gründe zu verstehen und Störungen als Mitteilungen zu verstehen, können wir eine adäquate Antwort geben.

Im ersten Teil des Buches (image Kap. 1 bis 7) nähern wir uns dem Thema Unterrichtsstörungen aus einer verstehenden Perspektive und zeigen auf, was Unterrichtsstörungen sind und wie Lehrpersonen damit umgehen. Im zweiten Teil (image Kap. 8 bis 11) widmen wir uns der Frage, wie Lehrpersonen Störungen im Unterricht wirksam vorbeugen können. Einem positiven und respektvollen Klassenklima, v. a. positiven sozialen Beziehungen, einer klaren Klassenführung und einer guten Unterrichtsgestaltung kommt dabei eine störungspräventive Funktion zu.

In Kapitel 2, Unterrichtsstörungen (image Kap. 2), zeichnen wir den Weg von der »Verhaltensgestörtenpädagogik«, über den »Ruf nach Disziplin« im Klassenzimmer bis hin zu einem interaktionalen Verständnis von Unterrichtsstörungen nach. Da die Art und Weise, wie über Störungen gesprochen wird, auch das professionelle Handeln bzw. den Umgang mit Unterrichtsstörungen beeinflusst.

In Kapitel 3, Störungen aus Lehrer- und Schülersicht (image Kap. 3), setzen wir uns mit der Frage auseinander, wie Lehrpersonen und Lernende den Unterricht, insbesondere Unterrichtsstörungen, wahrnehmen. Obwohl sie im gleichen Klassenzimmer sind und den gleichen Unterricht beurteilen, kommen sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Rollen zu anderen Einschätzungen. Während sich bei der Beurteilung von Unterrichtsstörungen moderate Übereinstimmungen zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern zeigen, finden sich in der Einschätzung der Lehrer-Schüler-Beziehung und der Klassenführung kaum Übereinstimmungen. Um den Unterricht weiterzuentwickeln, sollten Lehrpersonen deshalb auch bewusst versuchen, ihren Unterricht aus Sicht der Schülerinnen und Schüler zu betrachten.

In Kapitel 4 (image Kap. 4) führen wir in grundlegende sozialpsychologische Prinzipien des Unterrichts ein und zeigen, was geschieht, wenn sich Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler im Unterricht gegenseitig wahrnehmen, wie erste Eindrücke entstehen, wie wir unser Gegenüber sozialen Kategorien zuordnen und weshalb Erwartungen an sich selbst wie auch an die Schülerinnen und Schüler so wichtig sind.

Kapitel 5 (image Kap. 5), Handeln im Unterricht, widmet sich dem Handeln von Lehrpersonen im Unterricht. Absichtsvolles, zielgerichtetes Handeln beansprucht Aufmerksamkeit und Zeit. Doch Lehrpersonen stehen häufig unter Zeitdruck und handeln deshalb oft unbewusst und automatisch. Dies kann zu einem ungünstigen Umgang mit Unterrichtsstörungen führen. Harte Maßregelungen mögen zwar kurzfristig Ruhe bringen, doch zu welchem Preis? Weder Repression noch Rückzug der Lehrperson können jemals sinnvolle Antworten auf störendes Schülerverhalten sein. Wir zeigen auf, wie Lehrpersonen beziehungsorientiert auf Störungen reagieren können. Schließlich diskutieren wir die Herausforderungen, welche sich beim Berufseinstieg für das Handeln der Lehrperson im Unterricht ergeben.

Kapitel 6 (image Kap. 6) setzt sich mit der Belastung von Lehrpersonen auseinander, da diese als eine stark belastete Berufsgruppe gelten. Rund 10 bis 35 % der Lehrkräfte leiden unter massiven Befindlichkeitsstörungen im Sinne einer Burnout-Symptomatik. Wenn Lehrpersonen durch Unterrichtsstörungen stark belastet sind, wirkt sich dies nicht nur ungünstig auf ihre Gesundheit, sondern auch auf die Qualität ihres Unterrichts, die Lehrer-Schüler-Beziehung und letztlich auch auf die Motivation und die Leistung der Schülerinnen und Schüler aus.

In Kapitel 7 (image Kap. 7), Psychische Bewältigung, widmen wir uns der Frage, welche psychologischen Prozesse bei Lehrpersonen ablaufen, wenn sie versuchen, belastende Ereignisse psychisch zu bewältigen. Als hilfreich erweist es sich, wenn Lehrpersonen aktiv nach Lösungen suchen und dabei auch soziale Unterstützung aus dem Kollegium in Anspruch nehmen. Wenn eine Problemsituation durch die Lehrperson kaum veränderbar ist, kann es auch hilfreich sein, der Situation mit der nötigen Gelassenheit zu begegnen und sich damit abzufinden. Wenig hilfreich ist hingegen, wenn Lehrpersonen Störungen ignorieren, sich zunehmend zurückziehen, resignieren oder aber versuchen, die ihnen entgleitende Autorität mit aggressiven Mitteln durchzusetzen.

In Kapitel 8 (image Kap. 8), Diagnostische Kompetenz, zeigen wir auf, dass Lehrpersonen nur dann sinnvoll auf Störungen reagieren können, wenn sie überhaupt merken, was im Unterricht abläuft. Eine Störung kann Ausdruck davon sein, dass im Unterricht etwas nicht stimmt, Kinder unter- oder überfordert sind, schwelende Konflikte in der Peergruppe ungelöst sind, oder sich die Lernenden mehr Autonomie oder Partizipation wünschen. Wenn es Lehrpersonen gelingt, Störungen als Mitteilungen zu verstehen und produktiv zu nutzen, können sie souveräner mit Unterrichtsstörungen umgehen.

In Kapitel 9 (image Kap. 9) wenden wir uns sozialen Beziehungen im Unterricht zu. Es gibt wahrscheinlich nichts, das Unterrichtsstörungen so gut vorbeugt wie eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung; eine Beziehung, die authentisch ist und in der auch mal gelacht werden kann. Tragfähige Beziehungen zeichnen sich durch einen freundlichen Umgangston, wechselseitigen Respekt, Herzlichkeit und Wärme aus. Zudem können Lehrpersonen auch Einfluss auf die Beziehungen der Schülerinnen und Schüler untereinander nehmen und dafür sorgen, dass keine Kinder ausgestoßen oder geplagt werden.

In Kapitel 10 (image Kap. 10) widmen wir uns der Klassenführung. Die Kunst der Klassenführung liegt nicht darin, Probleme zu beheben, sondern diese soweit als möglich gar nicht erst entstehen zu lassen. Studien (Bennett & Smilanich, 1995) zeigen, dass Lehrpersonen, welche Störungen präventiv vorbeugen, nur 1 bis 3,5 % der Unterrichtszeit für Disziplinierung verwenden, während Lehrpersonen, die erst spät auf Störungen reagieren, 7 bis 18,5 % der Unterrichtszeit deswegen verlieren. Auf eine zwölfjährige Schulzeit hochgerechnet, ergibt dies ein Verlust an Lernzeit von rund zwei Jahren.

Schließlich wenden wir uns in Kapitel 11 (image Kap. 11) der Unterrichtsgestaltung zu. Viele Unterrichtsstörungen lassen sich durch die Gestaltung eines störungspräventiven Unterrichts vermeiden. Dabei gehen wir auf die Unterrichtsorganisation und Didaktik ein und diskutieren weiter die Bedeutung von Neugier und Leidenschaft für den Beruf.

I

Unterrichtsstörungen verstehen

 

 

»Man muss nichts im Leben fürchten, man muss nur alles verstehen.«Marie Curie (1867–1934)

Unterrichtsstörungen treten in jeder Klasse auf. Einige Lehrpersonen erleben Unterrichtsstörungen als große Belastung. Es stellt sich deshalb die Frage, wie man mit Störungen umgeht bzw. diesen vorbeugt. Ein wichtiger Schritt besteht darin, Störungen zu verstehen, weshalb wir Unterrichtsstörungen im ersten Teil dieses Buches aus einer verstehenden Perspektive beleuchten. Dabei geht es nicht darum herauszufinden, wer die Schuld an Unterrichtsstörungen trägt. Es geht vielmehr darum zu verstehen, weshalb sich die einzelnen Interaktionsteilnehmerinnen und -teilnehmer im Unterricht auf eine bestimmte Art und Weise verhalten und weshalb sich Interaktionen auf eine ganz bestimmte Art und Weise entwickeln. Grundlage einer verstehenden Perspektive ist es, bisherige Annahmen zu Unterrichtsstörungen kritisch zu hinterfragen, im Unterricht genau hinzusehen, zu beobachten und alternative Deutungsweisen zu entwickeln. Im Folgenden diskutieren wir, inwieweit sich die Sprache, die Lehrer- oder aber Schülersicht und sozialpsychologische Prinzipien auf die Wahrnehmung und den Umgang mit Unterrichtsstörungen auswirken.

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Unterrichtsstörungen

Unterrichtsstörungen sind Teil des schulischen Alltags. In einigen Klassen treten Unterrichtsstörungen vereinzelt auf, in anderen kommt es gehäuft zu Störungen und in wenigen Fällen ist Unterricht aufgrund der Häufigkeit und Intensität der Störungen kaum mehr möglich. Die internationale TALIS-Studie (OECD, 2014) zeigt, dass in mehr als der Hälfte der teilnehmenden Länder eine von vier Lehrpersonen angibt, über 30 % ihrer Unterrichtszeit durch Störungen im Unterricht zu verlieren, d. h. aufgrund von Störungen und administrativen Aufgaben geht wertvolle Zeit fürs Lehren und Lernen verloren. Je nachdem, in welchem Umfang und in welcher Intensität Unterrichtsstörungen auftreten, kann dies fatale Folgen für die Lehrergesundheit als auch für die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler haben.

Unterrichtsstörungen werden häufig mit störendem Verhalten von Schülerinnen und Schülern assoziiert und als unangemessenes Schülerverhalten wahrgenommen (Lohmann, 2011). Wenn Unterrichtsstörungen verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern zugeschrieben werden (Seitz, 1991), wird die Ursache bei den störenden Schülerinnen und Schüler und weniger im unterrichtlichen Kontext gesehen. Dabei besteht die Gefahr, einzelnen Schülerinnen und Schülern Faulheit, Interessenlosigkeit oder eine verminderte Leistungsfähigkeit zu unterstellen, ohne die Anteile des Unterrichts oder der Lehrperson mitzuberücksichtigen. Eine solche individuelle Sichtweise auf Unterrichtsstörungen kann so weit gehen, dass diese durch psychische Störungen einzelner Schülerinnen und Schüler erklärt oder die Ursachen in den Persönlichkeitsstrukturen der Lernenden gesehen werden (Winkel, 2005).

Unbestritten, einige Schülerinnen und Schüler stellen eine Herausforderung dar und stören den Unterricht häufiger oder auch intensiver als andere. Es wäre jedoch eine große Vereinfachung, Störungen einseitig diesen Schülerinnen und Schülern zuzuschreiben, ohne den Unterricht und die Rolle der Lehrperson einzubeziehen. Unterrichtsstörungen sind ein interaktionales Problem und im Unterrichts- oder Klassenkontext zu sehen. Nicht einzelne Individuen und ihr Verhalten stehen dabei im Zentrum des Interesses, sondern es wird vielmehr untersucht, wie die einzelnen Akteurinnen und Akteure interagieren und in welchen sozialen und materiellen Umwelten diese Interaktionen stattfinden. Ausgehend von einer interaktionalen Sichtweise werden Unterrichtsstörungen als Störungen des Lehr-Lern-Prozesses definiert. Schließlich kann sich aus einer anfänglich isolierten Störung auch eine gestörte Interaktionsepisode entwickeln, wenn beispielsweise eine Lehrperson auf die Arbeitsverweigerung einer Schülerin mit einer Drohung reagiert, was zu einer längeren Auseinandersetzung und Unterbrechung des Lehr-Lern-Prozesses führt.

Die Begrifflichkeiten und Ursachenzuschreibungen bei Unterrichtsstörungen sind deshalb so grundlegend, weil die Art und Weise, wie wir über Störungen im Unterricht denken und sprechen, auch unser Handeln beeinflusst. Wenn wir von Verhaltensstörungen sprechen, lokalisieren wir das Problem meist bei den betroffenen Schülerinnen und Schülern. Das Kind oder gar »Problemkind« muss sich verändern. Sprechen wir hingegen von Unterrichtsstörungen, rückt nach einem interaktionistischen Verständnis sowohl das Schüler- wie auch das Lehrerverhalten bzw. die soziale Interaktion in der gesamten unterrichtlichen Situation in den Fokus. Damit verbunden stellt sich die Frage, wie der Unterricht störungspräventiv gestaltet werden kann.

Im folgenden Kapitel (image Kap. 2.1) werden gängige Begriffe in Zusammenhang mit Unterrichtsstörungen beleuchtet und der Einfluss der jeweiligen Wortwahl auf die Wahrnehmung und das Handeln im Unterricht kritisch diskutiert. Anschließend wird auf Störungen durch Schülerinnen und Schüler eingegangen (image Kap. 2.2.1) und aufgezeigt, wie auch Lehrpersonen durch ungünstiges Verhalten den Unterricht stören (image Kap. 2.2.2). Es folgt eine interaktionale Definition von Unterrichtsstörungen (image Kap. 2.2.3).

2.1       Wie wir über Störungen sprechen beeinflusst unser Handeln

Sprachlich erschaffen wir die Welt. Die Art und Weise, wie wir über Dinge sprechen, beeinflusst unsere Wahrnehmung und unser Handeln. Und dies hat wiederum große Auswirkungen darauf, wie wir uns in sozialen Interaktionen verhalten. Menschen haben in Alltagssituationen die Tendenz, das Verhalten und Handeln der Interaktionspartnerinnen und -partner personalen Eigenschaften zuzuschreiben. Wenn ein Schüler einen Mitschüler schlägt, sagen wir beispielsweise, er sei aggressiv. Als Ursache für das Verhalten werden überdauernde Persönlichkeitseigenschaften (Dispositionen) betrachtet. Der Schüler hat ein Aggressionsproblem. Solche Dispositionszuschreibungen gehen von einem statischen Menschenbild aus und sie suggerieren, dass psychische Merkmale wie »Aggression«, ähnlich wie physische Merkmale, als überdauernde Eigenschaften einer Person angesehen werden können. Zugleich kommt es zu einer Unterschätzung des Einflusses der Situation. Mit Dispositionsbegriffen werden psychische Merkmale verdinglicht, dynamische Aspekte geraten damit weitgehend aus dem Blickfeld und es geht vergessen, dass selbst als hoch aggressiv eingestufte Kinder sich nicht in jeder Situation aggressiv verhalten. Patterson und Cobb (1971) untersuchten Interaktionen bei einer ausgewählten Gruppe hochaggressiver 6- bis 12-jähriger Jungen und stellten fest, dass sich nur zwei bis drei körperlich aggressive Verhaltensweisen pro 1.000 Interaktionen zeigten. Dispositionale Zuschreibungen und Erklärungen von Verhalten und Handeln lassen die Situation wie auch interaktionale Aspekte weitgehend außer Acht. Zudem können daraus kaum Handlungsperspektiven für eine Lehrperson entwickelt werden. Zielführend wären hier viel eher Fragen nach situativen Aspekten, die Einfluss auf das individuelle Verhalten und die Interaktion nehmen. Was hat das Verhalten der Schülerin oder des Schülers ausgelöst, in welchen situativen Kontexten tritt es auf, wodurch wird es verstärkt und wie kann das Verhalten verändert werden?

Sprache beeinflusst unsere Wahrnehmung und unser Handeln. Zum einen benennen wir Dinge, die wir in unserer Umwelt vorfinden mit Hilfe der Sprache. Zum anderen schaffen wir manche Dinge erst dadurch, dass wir ihnen einen Namen geben.

»Die Sprache sucht sich also einerseits der Welt und ihrer sich aufdrängenden Gliederung anzupassen, indem sie andererseits der Welt eine Gliederung erst gibt« (Kamlah & Lorenzen, 1996, S. 49).

Dies gilt auch dafür, wie wir über Störungen sprechen. Welche Begriffe wir wählen, hat Konsequenzen für unser Handeln. Folgende Störungsbegriffe stammen aus unterschiedlichen historischen und fachdisziplinären Kontexten.

anpassungsgestört – aggressiv – deviant – dissozial – emotional gestört – entartet – entwicklungsauffällig – entwicklungsgehemmt – entwicklungsgestört – erziehungshilfebedürftig – erziehungsschwierig – fehlentwickelt – führungsresistent – gefühlsgestört – gemeinschaftsschädigend – gemeinschaftsschwierig – integrationsbehindert – milieugeschädigt – moralisch schwachsinnig – neurotisch – persönlichkeitsgestört – psychopathisch – schwererziehbar – sozial fehlangepasst – sozial auffällig – unangepasst – verhaltensauffällig – verhaltensbeeinträchtigt – verhaltensbehindert – verhaltensgestört – verhaltensoriginell – verhaltensproblematisch – verwahrlost – verwildert

Einige dieser Begriffe wirken heute sehr befremdend. Gemeinsam ist allen Begriffen, dass die Störung aus einer individuumszentrierten Perspektive bei der Schülerin oder dem Schüler verortet wird und teilweise überdauernde Persönlichkeitseigenschaften unterstellt werden. Heute werden vor allem die Begriffe Disziplinschwierigkeiten, Verhaltensstörung und der Begriff Unterrichtsstörung verwendet. Wir wenden uns im Folgenden diesen Begriffen zu und untersuchen, welche Annahmen ihnen zugrunde liegen.

Der Begriff Verhaltensstörung ist sehr breit und schließt sowohl internalisierende Störungen des Verhaltens wie z. B. soziale Ängstlichkeit als auch externalisierende Störungen des Verhaltens wie Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung oder Aggressivität ein (Myschker, 2018). Wenn einer Schülerin oder einem Schüler eine Verhaltensstörung zugeschrieben wird, so geschieht dies immer in einer Wechselwirkung zwischen zwei Faktoren: Auf der einen Seite steht das Verhalten der Schülerin oder des Schülers, auf der anderen Seite die Wahrnehmung der beobachtenden Person, welche vor dem Hintergrund ihrer Theorien, Norm- und Wertvorstellungen ein Verhalten als gestört oder nicht gestört einschätzt (Goetze, 2001; Speck, 1998). So spielt es also nicht nur eine Rolle, welches Verhalten die Schülerin bzw. der Schüler zeigt, sondern auch, wer dieses Verhalten beobachtet und einschätzt.

Auch der Begriff Disziplinschwierigkeiten verortet die Störungen auf der Schülerseite. Es sind die Schülerinnen und Schüler, welche den Unterricht stören. Hier trägt allerdings die Lehrperson eine Mitschuld, wenn ihr das Durchsetzen von Disziplin nicht gelingt. Die Aufgabe der Lehrperson ist es, Disziplin durchzusetzen, während es Aufgabe der Schülerinnen und Schüler ist, Disziplin einzuhalten. Disziplin ist folglich relational und komplementär. Historisch ist der Begriff Disziplin assoziiert mit Zwang, Gleichschritt, Selbstzucht, Drill, Gefolgschaft und Zucht. In neueren Definitionen wird darunter eine hilfreiche Ordnung verstanden, welche Lernen ermöglichen soll (Keller, 2010; Rüedi, 2007).

Unterrichtsstörungen werden sehr unterschiedlich definiert. Bei Ortner und Ortner (2000) liegt der Akzent auf bewussten Unterrichtsstörungen durch Schülerinnen und Schüler:

»Eine konkrete oder potentielle Unterrichtsstörung umfasst alles, was dazu führt oder führen kann, den Prozess oder die Beziehungsgefüge von Unterrichtssituationen zu unterbrechen. Auf das Verhalten eines Schülers bezogen betreffen Stören des Unterrichts alle Aktionen und Reaktionen, mit denen dieser sich bewusst über schulische Normen und Regeln hinwegsetzt. Das Störverhalten richtet sich dabei gegen den Lehrer, die Mitschüler oder gegen den Unterrichtsverlauf« (Ortner & Ortner, 2000, S. 200).

Winkel (1976; 2005) definiert Unterrichtsstörungen hingegen aus einer funktionalen Perspektive und kommt damit von einer individuumszentrierten Sichtweise weg.

»Eine Unterrichtsstörung liegt dann vor, wenn der Unterricht gestört ist, d. h. wenn das Lehren und Lernen stockt, aufhört, pervertiert, unerträglich oder inhuman wird« (Winkel, 2005, S. 29).

Hiermit stehen nicht mehr Individuen, sondern der Unterricht als Ganzes im Fokus, und zwar liegt eine Unterrichtsstörung dann vor, wenn der Lehr-Lern-Prozess bedroht ist, abbricht oder in der Perversion endet. Winkel setzt sich nicht mit möglichen Auslösern von Störungen auseinander, sondern verweist auf das gestörte Funktionieren des Unterrichts. Lohmann (2011) stützt sich auf Winkel (1976) und definiert Unterrichtsstörungen als Ereignisse,

»die den Lehr-Lernprozess beeinträchtigen, unterbrechen oder unmöglich machen, indem sie die Voraussetzungen, unter denen Lehren und Lernen erst stattfinden kann, teilweise oder ganz außer Kraft setzen« (Lohmann, 2011, S. 13).

2.2       Unterrichtsstörungen als Störungen des Lehr-Lern-Prozesses