The Cover Image

NADJA BENAISSA

ALLES WIRD GUT

TINKA DIPPEL

EDEL VITA

Nadja Benaissa

JANUAR 2010: DAS ERSTE TREFFEN

In meinem Alter eine Biografie, das klingt schon komisch«, sagt Nadja Benaissa, als wir uns zum ersten Mal gegenübersitzen. Es ist Samstag, der 30. Januar 2010, in sechs Stunden werden die No Angels als Stargast beim Landespresseball in Hannover auftreten. 27 Jahre alt ist Nadja zu diesem Zeitpunkt, im elften Jahr Mutter und ebenso lange vom Crack los, im zehnten Jahr Mitglied der erfolgreichsten deutschen Mädchenband aller Zeiten, im fünften Jahr sechsstellig verschuldet – und seit neun Monaten damit beschäftigt, sich und ihr Leben aufzuräumen. Etwas länger als neun Monate liegt jener Tag zurück, an dem eine Anschuldigung gegen sie ein Justizbeben ausgelöst hat und dann einen Medientsunami. Seitdem weiß die Welt, dass Nadja Benaissa HIV-positiv ist, seitdem ist sie das bekannteste weibliche Gesicht von HIV/AIDS. Seitdem schwebt ein Verfahren gegen sie wegen gefährlicher Körperverletzung. Sie habe trotz ihrer Infektion ohne Kondom mit einem Mann geschlafen und sie habe ihm nichts von der Infektion gesagt – so lautet der Vorwurf. Und sie habe mit zwei weiteren Männern ohne Kondom geschlafen, die sich nicht angesteckt haben. In den Tagen um unser erstes Treffen erwartet Nadja jederzeit die Erhebung der Anklage.

Solche erste Treffen finden meist in Cafés oder Restaurants statt, dieses im Parkrestaurant im Rücken des Hannoveraner Kuppelsaals, wo schon das Eingangsportal für den Landespresseball grün illuminiert wird. Die Tische sind bereits für die Abendgäste gedeckt, wir haben einen ganz am Rand, am Fenster, durch das man in den von Graupel vernebelten Stadtpark blicken kann. Nadja trägt schnörkelloses Schwarz, eng anliegendes, langarmiges Shirt zu Jeans ohne Gürtel. Ihre dunklen Locken wippen noch ungebändigt um das Gesicht, das man in den letzten Monaten selten hat lachen sehen – meist in Rückblicken, die eine glückliche, unbeschwerte, vergangene Zeit illustrieren sollten.

Wir reißen einmal kurz jedes ihrer Lebensthemen an: Wie sie mit ihrer HIV-Infektion umgeht und wie mit ihrem unfreiwilligen Outing. Wie sie versucht, einen kleinstädtischen Alltag als alleinerziehende Mutter mit den Popstarmomenten in Einklang zu bringen, von denen es mal mehr und mal weniger gibt – die aber einst ihr Leben drei Jahre lang auf Hochtouren gehalten haben. Wie ihre Jugend außer Kontrolle geriet und wie sie seitdem immer noch darum kämpft, die Kontrolle wieder zurückzugewinnen. Wie manche Menschen in ihrem Leben von Freunden zu einer dauerhaften Bedrohung geworden sind. Wie die gewaltige Welle der Medienberichterstattung im letzten Jahr ihr Leben überrollt hat, wie sie sich langsam wieder aufgerappelt und sich und ihre Träume wiederbelebt hat.

Kurz bevor sie zum Soundcheck abgeholt wird, frage ich sie, ob sie überhaupt noch zu jemandem Vertrauen fassen kann. »Ich tue es einfach weiter«, sagt sie ohne merkbares Zögern. »Wenn ich nicht mehr vertrauen könnte, wäre mein Leben vorbei. Lieber falle ich immer wieder auf die Schnauze.« Nadja steht gerade, sie taucht nicht ab, sie meldet sich nicht ab aus einer Öffentlichkeit, die sich ein Bild von ihr gemacht hat, das sie so nicht stehen lassen will. Einer Öffentlichkeit, die nun mal Teil ihres Berufs ist, den sie nicht aufgeben will. Sie weiß nicht, was kommen wird in diesem Jahr, aber was auch immer es ist, sie versucht, es schon mal anzugehen. Sie befinde sich in einem Prozess, sagt sie. Trotzdem wolle sie jetzt reden – gerade weil sie nicht weiß, was das noch frische Jahr und der anstehende Prozess bringen, ob sie zurück ins Gefängnis muss und wann. Nadja will ihre Version ihrer Geschichte erzählen. Es gibt so viele andere Versionen, so viele Zuspitzungen, so viele Mutmaßungen, die sich leicht zusammenfügen lassen zu Nadja-Bildern, die man dann verurteilen oder heroisieren kann. Dieses erste Treffen dauert eine Stunde und diese Stunde wird uns beide überzeugen: sie, dass sie mir ihre Geschichte erzählen will, mich, dass ich sie aufschreiben will. Die Geschichte wird vor allem auf dem beruhen, was sie mir erzählt – aber nicht nur, sie wird deshalb auch nicht nur aus ihrer Perspektive erzählt sein. Und sie wird anfangen, lange bevor Nadjas Leben Tempo aufgenommen hat.


Dann wird es laut, Nadja springt auf und läuft ihrer Bandkollegin Sandy in die Arme. Lange haben sich die No Angels nicht gesehen, Auftritte wie der an diesem Abend sind rar im Winter 2009/2010. Lucy ist da, diverse Menschen drängeln sich um die Frauen, deren Auftritt sie heute zu betreuen haben.

Die No Angels waren schon mal weiter, als den Stargast auf einem Landespresseball zu geben, sie füllten einst die ganz großen Hallen. Sie schienen als Band aber auch schon erledigt – im Mai 2008 etwa, als sie beim Eurovision Song Contest einen der letzten Plätze belegten. Sie sind keine Mädchenband mehr, sie sind jetzt eine Frauenband und sie haben sich bis zu diesem Zeitpunkt gegen so ziemlich alles behauptet, was eine Band kaputt machen kann: kometenhafter Aufstieg, Erfolgsdruck, Konkurrenz untereinander, Ein- und Ausstiege, Burn-out, Trennung, Misserfolg, Häme. Und sie haben ein wenige Monate altes Album, auf das sie sehr stolz sind.

Um Viertel vor zehn laufen Nadja, Lucy, Jessica und Sandy von hinten auf die Bühne und stellen sich an vier parallelen Mikrofonen auf, Nadja als zweite von rechts in einem schwarzen, trägerlosen Korsagenkleid, auf schwarzen Pumps, mit kinderhandgroßen goldenen Hängern an den Ohren. Die Haare sind jetzt streng aus dem Gesicht gegelt und von einem langen Haarteil gekrönt.

Sie singen »One Life«, ihren jüngsten Song, der im Medienhype um Nadja beinahe untergegangen wäre. Dann singen sie sich in der Zeit zurück, über »Rivers of Joy« und »There Must Be an Angel«. Um kurz nach zehn sind sie bei »Daylight«, der Zugabe, ihrem ersten Song, der im Frühjahr 2001 sechs Wochen lang an der Spitze der deutschen Charts stand. Zum Abschied kommt NDR-Moderator Ludger Abeln in ihre Mitte und verwickelt sie in die gefühlt zehntausendste Plauderrunde ihrer Karriere. Die nutzt er für einen Hinweis, dass es noch Lose für die Presseballtombola gibt. Welchen Hauptpreis sie am liebsten gewinnen würde, fragt er Nadja: Anteile an einem Investmentfonds, ein edles Collier oder eine tolle Reise. Sie zögert, dann antwortet sie: »Äh, also, in meiner Situation – den Investmentfonds.« Und die guten Vorsätze für das neue Jahr? Da zögert sie nicht: »Ich habe aufgegeben, welche zu machen.«

OSTERN 2009: DIE VERHAFTUNG

Die Wand rückt näher und ich fühle mich,
als wär ich in einen Käfig gesperrt.
Mein Kopf ist voll,
doch ich bin leer,
hör Engel und Teufel streiten,
wie sie sich um meine Seele reißen.
Versuche, einen Schritt zu gehen,
alles beginnt, sich im Kreis zu drehen.
(»Bittersüß«, Nadja Benaissa)

Nadja Benaissa ahnt, dass sie bald stürzen wird, als sie sich am Karsamstag, 11. April 2009, auf ihren Auftritt beim »Lady’s Live Rap« in Frankfurt vorbereitet. Erst sind es nur die inneren Klippen gewesen, die mit jedem Stück Verdrängen ein wenig höher gewachsen sind, dann hat es im Internet Warnungen gegeben, dass sie mit HIV infiziert sei und absichtlich Männer anstecke, und seit acht Monaten schwebt nun die Anzeige. Nadja weiß, dass die richterliche Vernehmung bald anstehen wird, dass sie jetzt nicht mehr viel Zeit hat und ihre Aussage in den nächsten Wochen machen muss.

Sie hat versucht zu ignorieren, sie hat versucht zu verdrängen, sie hat gerade mit ihrer Band No Angels ein neues Album aufgenommen, auf dem sie so viel Gesangsanteile hat wie nie, das ihr so gut gefällt wie keines davor. Es soll »Welcome to the Dance« heißen. Sie will nicht, dass ihre Infektion öffentlich wird, sich nicht zu outen ist ihre letzte private Bastion und sie kämpft seit Jahren darum, sie zu halten. Schon vor acht Jahren hat es Druck auf sie gegeben, schon damals wussten die ersten Reporter, dass sie HIV-positiv ist, aber Nadja hat sich beraten und darüber aufklären lassen, dass sie nicht gegen ihren Willen geoutet werden darf. Und bisher haben sich die Zeitungen daran gehalten. Vor wenigen Tagen erst hat Nadja den Medienanwalt Christian Schertz in Berlin aufgesucht, der ihr nochmals versichert hat, dass über ihre Krankheit grundsätzlich nicht berichtetwerden darf, und sie ist erleichtert gewesen. Aber das war keine Garantie, sondern die Einschätzung eines Experten, dessen Rechtsverständnis bald ebenso erschüttert werden wird wie das vieler anderer.

Nadja soll an diesem Abend auf der Bühne des Clubs »nachtleben« an der Konstablerwache in Frankfurt ein 15-Minuten-Set spielen, den Auftritt als Star-Act für den Hip-Hop-Abend mit deutschen Sängerinnen hat sie schon vor Wochen zugesagt, und eigentlich hat sie sich darauf gefreut, wieder einmal mit ihren eigenen Songs auf der Bühne zu stehen. Aber sie weiß auch, dass sie sich in eine Löwenhöhle begibt, dass gerade in der Frankfurter Hip-Hop-Szene viel über sie, ihre Infektion und die Ermittlungen gegen sie geredet wird. Am frühen Abend hat Nadja im »nachtleben« Soundcheck gemacht und sich gewundert, weil außer dem Tonmann niemand dort gewesen ist. Sie hat mit ihrer Tochter Leila und ihrer Freundin Sandrine, die aus Zürich zu Besuch ist, drei Songs ausgesucht, die sie später singen will: »Hände hoch«, »Lass los« und »Bleib stark«.

»Ich komme mit dir«, bietet ihr Bruder Amin vor dem Auftritt an, er versucht schon ihr ganzes Leben lang, sie zu beschützen, was noch nie ein leichtes Vorhaben war, weil Nadja ein von Natur aus angstarmer Mensch und schon in so manches offene Messer gelaufen ist. »Es ist schon in Ordnung «, sagt sie, Sandrine werde ja dabei sein. Amin ist mit seiner Tochter zu Besuch, wie jedes zweite Wochenende, Nadja hat volles Haus, noch dazu ist sie gerade erst umgezogen, überall stehen noch Umzugskisten herum. Und das Chaos wird noch größer, als sie ihren halben Kleiderschrank auf ihrem Bett verteilt, auf der Suche nach einem Outfit, das bühnentauglich ist, aber nicht zu sexy. Nadja hat Jahre dafür gebraucht, sich mit ihrem Sex-Appeal so weit anzufreunden, dass sie damit spielen kann, aber heute ist ihr nicht nach spielen. Sie entscheidet sich schließlich für Jeans und ein schwarzes Top mit Pailletten, dazu schwarze High Heels und ein paar goldene Armreifen. Um Viertel nach zehn setzen Sandrine und Nadja sich in den roten Nissan Micra von Nadjas Mutter und fahren nach Frankfurt, parken in der Breiten Gasse und laufen das letzte Stück, zwei-, dreihundert Meter bis zum »nachtleben«. Nadja kennt den Laden seit vielen Jahren, früher hat sie hier oft ihre Crackdealer getroffen, die Bar liegt strategisch günstig, unmittelbar vor dem Eingang gehen die breiten Treppen hinunter in die S-Bahn-Katakomben der Konstablerwache – ideal, um schnell abtauchen zu können. Drinnen sind wie immer viele Tische besetzt, hinten links führt eine Treppe in den Keller, wo Nadja auftreten soll. Sie steht gerade am Pult mit der Gästeliste, als jemand hinter ihr sagt: »Frau Benaissa, wir müssen mit ihnen reden.«

Da stehen mehrere Männer und Frauen in zivil, Nadja deutet auf einen der Tische, aber die Frau, die sie angesprochen hat, sagt: »Nein, nicht hier.« Sie gehen vor die Tür, stehen vor der Fensterfront des »nachtleben«, als eine der Kripobeamten von einem Haftbefehl spricht und von ihrer HIV Infektion und sie auffordert, mit ihnen zur Polizeistation nach Offenbach zu kommen. »Fahr nach Hause und warte auf mich, ich komme dann«, sagt sie zu Sandrine und will ihr den Autoschlüssel geben, aber die Polizei sagt, sie müsse das Auto und die Wohnung noch durchsuchen. Die Wohnung sei unordentlich gewesen, wird es später im Polizeibericht heißen, und das wird Nadja ärgern, weil sie eigentlich ein Mensch ist, der Wert auf Ordnung legt, weil das Chaos untypisch für sie ist. Zwei Anrufe darf Nadja noch machen: Ihren Kickboxtrainer Hans, einen guten Freund, bittet sie, Sandrine abzuholen und nach Dreieich südlich von Frankfurt zu bringen, wo die Benaissas wohnen. Auch Hans ist einer ihrer Beschützer, der sie mit seinen Kickboxjungs schon bei Konzerten bewacht hat, wenn es mal wieder Drohungen gegen sie gab und wenn sie zu heftig wurden, um sie zu ignorieren. Dann ruft Nadja noch ihre Eltern an und bittet sie, Sandrine und Leila erst mal bei sich aufzunehmen, sie sollen sich keine Sorgen machen, sagt sie, sie werde sich wieder melden.

Als Nadjas Bruder Amin hört, dass etwas nicht stimmt, macht er sich sofort auf den Weg nach Frankfurt und nimmt einen Freund von früher mit, mit dem er schon vor zehn Jahren Nadja manchmal irgendwo herausgeholt hat, aus den Wohnungen irgendwelcher Dealer. Amin hat immer irgendetwas tun können, um ihr zu helfen, aber dieses Mal ist Nadja nicht in den Fängen der Drogen. Sie ist jetzt in den Fängen einer Maschinerie, die in den nächsten Tagen eine enorme Dynamik entwickeln und grundsätzliche Fragen aufwerfen wird: darüber, wie viel Öffentlichkeit sich eine Prominente gefallen lassen muss, bevor der Berichterstattung Grenzen gesetzt werden, darüber, was die Unschuldsvermutung wert ist, wenn eine breite Öffentlichkeit lange vor dem Gericht urteilt, und darüber, wo und wie die Persönlichkeitsrechte dann noch geschützt werden können.


Auf der Fahrt zur Polizeistation nach Offenbach liest Nadja im auf- und abblendenden Licht der Straßenlaternen ihren Haftbefehl. In dem Papier geht es nicht nur um den Mann, der sie schon vor Monaten angezeigt hat, mit dem sie vor Jahren ein paar Nächte zusammen war, da steht auch, dass sie mit diversen anderen Männern ungeschützt Sex gehabt haben soll, ohne ihnen von ihrer Infektion zu erzählen. Ihre Tante, die ihr einst sehr nahe stand, bis es wieder und wieder zu Streit zwischen ihnen kam, will das bezeugen können. Das, was Nadja da liest, ist ein Exzerpt ihres Liebeslebens der letzten Jahre, jeder Name, an den ihre Tante sich noch erinnern konnte, jedes Detail ist aufgelistet und mit Mutmaßungen garniert.


Ich habe versucht, ruhig zu bleiben, ich dachte, wenn ich erst meinen Anwalt anrufen kann, klärt sich alles. Ich musste fast lachen, als ich das alles gelesen habe, obwohl die Situation bedrohlich war. Weil es so nicht stimmt. Ich war aber auch total panisch, hatte starkes Herzrasen, und ich habe krampfhaft versucht, mir nichts anmerken zu lassen. Und währenddessen musste ich die ganze Zeit kommunizieren, mit den Kripobeamten, später mit dem Haftrichter. Der Staatsanwalt sagte mir, bis Montag werde nichts herauskommen, aber dann könne er für nichts garantieren. Das hätten ja ein paar Leute mitbekommen, wie ich verhaftet worden bin.


Dass Nadja gegen 23 Uhr vom Haftrichter und vom Staatsanwalt persönlich erwartet wird, ist eigentlich nicht notwendig – und auch ungewöhnlich. Der Medienanwalt Christian Schertz guckt gerade einen Krimi, als er eine SMS von Nadja bekommt, in der steht, sie sei verhaftet worden. Er ruft sofort zurück, sie reden, haben aber nur wenig Zeit. Nadja schildert ihm, was gerade passiert, er sagt, dass ihm das alles völlig absurd vorkomme, dass er ihr in Frankfurt einen Strafverteidiger besorgen werde und dass sie gar nichts zu den Vorwürfen sagen solle – was sie dem Richter so weitergibt. Der ist wütend und verlässt die Polizeistation – mit dem Antrag für die Einweisung in die Justizvollzugsanstalt in der Tasche.

Ohne den Antrag könne sie nicht überstellt werden, sagen die Beamten, und Nadja freut sich kurz, dass es dann wohl nicht ins Gefängnis geht, aber sie muss in Polizeigewahrsam bleiben. Jedes ihrer Tattoos wird fotografiert, sie hat sechs Stück. Zwei davon sind ihrer Tochter gewidmet, eines ihrer Arbeit als Solokünstlerin, drei dienen ihrem Schutz vor den allgegenwärtigen Dämonen. Um das linke Handgelenk legt sich wie ein Armband der Name ihrer Tochter, »Leila Jamila«, und deren Geburtsdatum »25. Oktober 1999«, über der Kaiserschnittnarbe steht »Heaven sent«. Über dem Rist ihres linken Fußes wölbt sich, schon etwas verschwommen, der Schriftzug »Schritt für Schritt«, Titel ihres Soloalbums und ihrer dritten Singleauskopplung. Dann trägt sie noch einen Blumenkranz auf der Hüfte, den Schriftzug »Only God can judge me« längs auf dem Rücken – und auf den Rippen, unter ihrem Herzen, die Hand der Fatima – in Nordafrika, wo ihr Vater herkommt, ein symbolischer Schutz gegen den bösen Blick.


Sabina Benaissa, Nadjas Mutter, läuft den ganzen Abend auf und ab, Amin, der Bruder, telefoniert, Nadjas Tochter Leila will wissen, was los ist. Sie weiß nichts von der Anzeige und sie weiß auch nicht, dass ihre Mutter HIV-positiv ist. Schon oft waren die Benaissas machtlos, wenn wieder irgendetwas mit Nadja war, dieses Mal sind sie es mehr denn je.


Wer um seine HIV-Infektion weiß und ungeschützt Sex hat, macht sich strafbar – es sei denn, der Partner weiß auch Bescheid und entscheidet sich dennoch, kein Kondom zu benutzen. Was nicht selten vorkommt. Eingestuft wird die Straftat als gefährliche Körperverletzung, es gibt diverse Urteile dazu, bisher sind die Verurteilten ausnahmslos Männer, und manch einer hat erwiesenermaßen vorsätzlich gehandelt, einer soll nach einer Nacht gar eine SMS geschrieben haben, die lautete: »Viel Spaß mit HIV.«

Die Beweisfindung ist nicht einfach – besonders in einem Fall wie Nadjas, denn die Nächte mit dem Mann, der sie angezeigt hat, liegen fünf Jahre zurück, und je länger dieser Zeitraum ist, desto schwerer haben es Virologen, die Viren abzugleichen, weil sie sich in beiden Körpern verändern. Sie können nur feststellen, ob Viren verwandt sind, sie können aber nicht sagen, wer wen angesteckt hat – oder ob sich das Virus über eine dritte Person übertragen hat. Außerdem ist die Frage, wer was gewusst hat, schwierig zu beantworten – sollten die Aussagen sich widersprechen.

Was genau ist zwischen Nadja und dem Mann, der sie angezeigt hat, passiert? Das ist die Frage, die viele Menschen an Nadja am meisten interessiert, und wen in diesem Buch nur diese eine Frage interessiert, der blättere gleich hierhin – und wird auch da vermutlich keine eindeutige Antwort finden. Denn hier kann nur stehen, was auch der Prozess ans Licht gebracht hat: dass Nadja mit dem Mann, ohne Kondom geschlafen hat, und dass sie ihm nicht gesagt hat, dass sie HIV-positiv ist. Was genau da passiert ist, da wird hier nicht die Lupe draufgehalten. Wie sie sich bei anderen Männern verhalten hat? Unterschiedlich, wie auch Männer sich ihr gegenüber sehr unterschiedlich verhalten haben.

Hier wird es darum gehen, sich der Person Nadja zu nähern. Um sich am Ende eine Vorstellung davon machen zu können, wie es dazu kommen konnte, dass sie sich auf diese Weise strafbar gemacht hat. Und warum sie so lange geschwiegen hat.


Nadja verbringt die Nacht zum Ostersonntag in einer Ausnüchterungszelle ohne Fenster mit Wänden aus Backstein und mit Kameraüberwachung, sie trägt immer noch ihr Bühnenoutfit. Sie hat immer noch einen Rest Hoffnung, dass sie ihre letzte Bastion vor der Öffentlichkeit wird halten können, dass ihre HIV-Infektion ihre Sache bleiben wird, dass sie den Zeitpunkt wird wählen können, ihrer Tochter, die zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt ist, davon zu erzählen. Sie schläft rund drei Stunden und als sie wach ist, gibt ein Beamter ihr ausnahmsweise das Telefon, ihr Vater geht ran, alle anderen schlafen noch, sie können nur kurz reden.

Mohamed Benaissa kocht nach dem Anruf in der Küche Tee, es ist sein 30. Hochzeitstag mit Sabina, aber das wird heute niemanden interessieren. Sie frühstücken, sie fahren zum Mittagessen zu einer Tante, sie bemühen sich um Normalität und erklären Leila, dass ihre Mutter bei einem Job sei und gerade nicht telefonieren könne. Den Nachmittag verbringen Sandrine und Leila auf einer Grillfeier in Hanau, die Nadjas bester Freund Lillo eiligst für sie organisiert hat. Die Sonne scheint, sie fahren auf Fahrrädern und Inlineskates herum.

Nadja wird inzwischen in einem vergitterten Wagen zur Justizvollzugsanstalt in Preungesheim gefahren, dem einzigen Frauenvollzug in Hessen. Die ummauerte Anlage im Norden Frankfurts ist eine kleine geschlossene Welt mit mehr als 100 Jahre alten Gebäuden aus Backstein und neuen Gebäuden aus Beton und Metall, Grünanlagen, Sporthalle, Krankenstation, Kantine, Wäscherei und Bibliothek, man kann hier arbeiten, Sprachkurse machen und Sport treiben. Aber als Nadja kommt, ist nichts los, nur für die Sicherung der Anlage und die Grundbedürfnisse ist gesorgt, weil Ostern ist. Diverse Formalitäten müssen erledigt werden, sie wird von einem Raum in den nächsten geschleust. Ihr Bühnenoutfit legt sie jetzt ab, bekommt dafür zwei Unterhosen, Leggings, einen Jogginganzug und Badelatschen. In der Untersuchungshaft darf man eigentlich eigene Klamotten tragen, aber dafür muss man einen Antrag ausfüllen, es würde einige Tage dauern, bis sie ihre Sachen hätte, und in ein paar Tagen, glaubt Nadja, ist sie wieder zu Hause. Sie kriegt auch Zahnbürste, Kamm und Seife, dann zieht sie im Gebäude für Untersuchungsgefangene ein.

Es ist ein cremefarbener, L-förmiger Bau mit Außenwänden aus Metall, der im rechten Winkel einen Innenhof umschließt: dort ist der Rasen kurz, die Metallbänke sind festgeschraubt, die Sicherheitslaternen so gut verschalt, dass man sie nicht kaputtschlagen kann. Innen enden die Gänge an großen, vergitterten Fensterfronten, die Zellentüren sind in warmem Orange lackiert, sonst ist alles leuchtend weiß oder hellgrau. Es gibt einen Gemeinschaftsraum mit Küchenzeile und Fernseher, einen Wäscheraum, einen Duschraum und einen Aushangglaskasten, wo die Zeiten für den Gottesdienst oder DVD-Vorführungen bekannt gegeben werden. Jede Zelle hat ein Bett, einen Schreibtisch mit Ablagefächern, ein Radio, einen Stuhl, einen Schrank. Und ein abgetrenntes Bad mit Toilette und Waschbecken. Nadjas Zelle hat nur ein Bett und ein Bad, in dem alles festgeschraubt und aus Aluminium ist, sie wird 24 Stunden videoüberwacht, es ist eine Schlichtzelle, in der es nichts Bewegliches geben darf, womit man randalieren oder Gewalt gegen sich selbst ausüben könnte. Nadja ist vom Haftrichter als suizidgefährdet eingestuft worden – zu wessen Schutz auch immer. Würde sie sich in der Haft etwas antun, wäre das auf jeden Fall ein riesiger Skandal.

Nach Nadjas Einzug ist Mittagessenszeit, sie bekommt eine Aluschale mit Hähnchen und Reis und zum Nachtisch Pudding – das Osteressen. Danach lernt sie die evangelische Seelsorgerin kennen, die ihr einen Osterhasen aus Schokolade mitbringt und ihr ausnahmsweise erlaubt, kurz mit ihrer Tochter zu sprechen. Sie rufen bei Amin an, der allein unterwegs ist und ihnen die Nummer von Lillo gibt. Dann ruft er Lillo an, um ihm Bescheid zu sagen, und genau in der Zeit versucht es auch die Seelsorgerin. Als Lillo wieder auflegt, hat er eine weinende Nadja auf der Mailbox, es wird für die kommenden vier Tage ihre letzte Chance gewesen sein, mit ihrer Tochter zu sprechen.


Khalid Schröder, zu diesem Zeitpunkt seit rund neun Monaten Manager der No Angels, sitzt in Berlin-Grunewald mit seiner Familie an einer Kaffeetafel, als er eine SMS von Christian Schertz bekommt, dass Nadja im Gefängnis sitzt. Er ruft an, will sofort etwas unternehmen, aber der Anwalt macht ihm klar, dass sie über die Feiertage erst mal gar nichts ausrichten können. Er berät sich mit zwei Freunden vom Plattenlabel Universal Music, wo die No Angels seit Beginn ihrer Karriere unter Vertrag sind, und beide sind sich einig: So etwas hat es noch nicht gegeben, keine Ahnung, wie mit so etwas umzugehen ist, vielleicht erledigt es sich ja von selbst, noch weiß ja außer ihnen und der Familie niemand, dass Nadja im Gefängnis sitzt, vielleicht ist sie wieder draußen, bevor jemand davon Wind bekommen hat. Auch Christian Schertz geht zu diesem Zeitpunkt noch davon aus, dass es möglich sein wird, die Medien herauszuhalten, und dass Nadja nach den Feiertagen freikommt. Er ist neben dem in Hamburg ansässigen Matthias Prinz einer der bekanntesten Medienanwälte in Deutschland und vertritt unter anderem Oliver Bierhoff, Günther Jauch, Klaus Wowereit, Charlotte Roche, Thomas Gottschalk und Claudia Pechstein.


Zu diesem Zeitpunkt laufen auf eine Anzeige hin Ermittlungen gegen Nadja, es ist noch keine Anklage erhoben worden, dementsprechend ist auch ein Urteilsspruch noch in weiter Ferne. Um jemanden zu so einem Punkt eines Verfahrens in Untersuchungshaft zu nehmen, gibt es drei Gründe: Verdunkelungsgefahr, Fluchtgefahr oder Wiederholungsgefahr. Dass sie abtaucht oder flüchtet, ist von einer berühmten Sängerin und alleinerziehenden Mutter mit Wohnsitz in Deutschland nicht zu erwarten. Die Staatsanwaltschaft sieht aber eine Wiederholungsgefahr, da Nadja die gleiche Straftat möglicherweise mehrmals begangen habe, und stützt sich dabei teilweise auf die Aussagen von Nadjas Tante. Die hat über Männer berichtet, von denen sie weiß, dass Nadja zwischen 2004 und 2006 Sex mit ihnen hatte, von denen sie annimmt, dass sie kein Kondom benutzt haben und dass Nadja ihnen ihre Infektion verschwiegen hat. Die Festnahme wegen Wiederholungsgefahr beruht also auf Annahmen zu Ereignissen, die mehrere Jahr zurückliegen.Dass Nadja nicht zu Hause festgenommen worden ist, wird von Ger Neuber, dem Sprecher der Staatsanwaltschaft, später so begründet: »Wir haben ihre Wohnadresse observiert und festgestellt, dass sie nicht immer anwesend war. Also mussten wir einen Termin wählen, zu dem die Sängerin mit Sicherheit hingeht.« Nadja ist noch nicht umgemeldet, aber wo ihre Eltern leben, ist bekannt, wo ihre Tochter zur Schule geht, auch. Dass sie mit einem verhältnismäßig großen Aufgebot aus einer Diskothek geholt wird, spricht nicht für ein Bemühen um Diskretion. Was den Zeitpunkt der Festnahme in der Nacht vor zwei aufeinander folgenden Feiertagen angeht, so hat er für Nadja die Folge, dass sie zwei Tage lang von allen ihr vertrauten Menschen abgeschnitten ist, dass sie ihre Zelle vorerst kaum verlassen darf, dass sie froh ist um jede halbe Stunde, die sie mit dem Arzt oder der Seelsorgerin verbringen kann.


Die Beamten waren nett zu mir, ich durfte mir noch zwei Bücher aussuchen, irgendwelche Liebesromane. Sonst war gar nichts. Ich bin die ganze Zeit in der Zelle geblieben. Ich wollte meinen Anwalt anrufen und meine Familie, aber sie haben mir gleich gesagt, dass das nicht geht, dass ich frühestens am Dienstag wieder mit einem von ihnen reden kann. Ich habe sofort angefangen zu lesen, damit habe ich mich immer schon kopfmäßig am besten wegflüchten können, auch schon in der No-Angels-Zeit, wenn immer Kameras und tausend Menschen um uns herum waren. Jetzt waren da nur mein Bett und die Wand, irgendwann wurde es dunkel, ich wusste nicht, wie das Licht angeht, habe so gut es ging im Mondlicht weiter gelesen. Dann habe ich alles Mögliche probiert, Sit-ups, Kicks oder einfach nur heulen. Ich habe die ganze Zeit an die Leila gedacht, was sie jetzt wohl gerade macht. Am nächsten Tag habe ich beim Hofgang zum ersten Mal die anderen Insassinnen getroffen. Jeder hat an mir gezerrt und gezogen, das hat natürlich auch genervt, aber es war schön, wieder berührt zu werden. Klar hat mich auch mal eine blöd angeguckt – aber das kenne ich auch aus dem echten Leben. Das ist nichts Neues.


Am Montagnachmittag ist der No-Angels-Manager mit seinen Kindernbeim Eisessen am Berliner Dom, als ein Reporter anruft und sagt, er habe gehört, dass Nadja im Gefängnis sitzt. Der Manager versucht, Zeit zu gewinnen, sagt, er sei gerade im Familienprogramm, er wisse von nichts. Danach erklärt er Ostern für beendet und führt ein Krisengespräch nach dem anderen. Der Reporter ruft wieder an, sagt, es stimmt, sie ist im Gefängnis, wir bringen das morgen groß, richtig groß. Die Bild-Schlagzeile ist nicht mehr vermeidbar, »No-Angels-Nadja nachts in der Disco verhaftet «, wird da am nächsten Morgen stehen, und dass ihr gefährliche Körperverletzung vorgeworfen wird. Von HIV werden sie vorerst noch nichts schreiben.

No Angel Lucy Diakovska ist in Kitzbühel und kommt gerade vom Skifahren, als ihr Manager sie anruft: »Hi Lucy, Jessi ist auch hier und Sandy auch.« Es ist das erste Handykonferenzgespräch der No Angels. Er sagt: »Eigentlich habe ich gedacht, dass ich das nicht machen muss, aber ich muss es jetzt machen, weil morgen etwas passieren wird.« Da merken die Frauen, dass eine fehlt, und ihr Manager erzählt ihnen von der Verhaftung und von der kommenden Schlagzeile. Sie weinen und fragen ihn, was das jetzt bedeutet, und er sagt ihnen ehrlich, dass er das nicht weiß, dass sie Ruhe bewahren müssen, und sie verabreden sich für den nächsten Tag bei Sandy in Koblenz. Sandy ist sechs Wochen vorher Mutter geworden, Jessica und Nadja sind bei der Geburt ihres Sohnes dabei gewesen.

Lucy setzt sich sofort in ihr Auto und fährt los nach Dreieich zu Nadjas Familie, um ihr zu versichern, dass die No Angels hinter Nadja stehen. Es ist spät, um Mitternacht, als sie bei den Benaissas ankommt. Zwei Stunden sitzen sie auf dem großen Ecksofa, dem Zentrum der Familie, der Vater weint, der Bruder schmiedet Pläne.

Amin Benaissa ist Langzeitstudent und Gewerkschafter, er sitzt im Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und ist ihr Sprecher der Studenten, vor ein paar Jahren hat er als Vorsitzender des AStA die Studentenproteste in Frankfurt geleitet. »Wir haben damals mehr als 1000 Festnahmen gehabt, keiner davon ist über Nacht dringeblieben«, sagt er. Deshalb kann er diese Hilflosigkeit nicht ertragen, jetzt, wo es seine Schwester ist, die einsitzt.


Der Wärter, der Nadja am Dienstag in der Früh den Kaffee bringt, warnt sie: Sie solle wissen, dass in der Zeitung über ihren Fall berichtet werde. Sie wird blass und fragt, was genau da steht, für sie geht es in diesem Moment nur noch darum, dass ihre HIV-Infektion nicht öffentlich wird, aber auch wenn sie jetzt kurz erleichtert ist, weil darüber noch nichts geschrieben wurde, ahnt sie bereits, dass das nicht mehr vermeidbar ist.

Christian Schertz pocht auf die Unschuldsvermutung und erwirkt beim Landgericht Berlin eine einstweilige Verfügung. Diese verbietet Springer,wie in dem Artikel der BILD-Zeitung vom 14. April 2009 geschehen, über ein gegen Nadja eingeleitetes Ermittlungsverfahren wegen schwerer Körperverletzung und/oder den Gegenstand der Untersuchungshaft zu berichten. Allerdings erwähnte der Artikel noch nicht den konkreten Vorwurf, Nadja habe jemanden mit HIV infiziert. Während der Anwalt auf dem Amtsgericht in Berlin-Moabit den Fußballer Patrick Owomoyela als Nebenkläger gegen die NPD vertritt, telefoniert er zwischendurch mit der Staatsanwaltschaft Darmstadt, um eine Presseerklärung im Fall Nadja Benaissa zu verhindern. Die Presse habe keinen Auskunftsanspruch, die Staatsanwaltschaft sei verpflichtet, diesen mit den Privatsphäre-Interessen seiner Mandantin abzuwägen, das ist sein Standpunkt. Genau diese Frage wird in den kommenden Tagen medial ausgefochten werden und Nadjas Fall zusätzlich hochkochen: Welche Interessen schwerer wiegen, die im Artikel 5 des Grundgesetzes geschützte Meinungs- und Pressefreiheit oder die in Artikel 1 und 2 geschützten Persönlichkeitsrechte. Die Entscheidung des Landgerichts zugunsten Nadjas und ein Brief von Christian Schertz, in dem er Redaktionen davor warnt, sich nicht daran zu halten, werden von vielen Journalisten als Angriff auf die Pressefreiheit gewertet.

Wie viel Öffentlichkeit muss jemand zulassen, der teils von der Öffentlichkeit lebt? Nadja ist berühmt geworden als Teil der ersten deutschen Big-Brother-Band, die schon Kamerafutter war und die ersten Homestorys drehte, bevor sie die ersten Songs eingesungen hatte. Sie war damals 18, gerade von den Drogen los und Mutter geworden, sie war berühmt, bevor sie eine Vorstellung davon hatte, was das bedeutet, ihr Privatleben füllt seit Jahren Schlagzeilen. Die No Angels und einige Medien, sie haben sich gegenseitig am Laufen gehalten, die Band lieferte große Bilder, große Auftritte, große Erfolge, große Peinlichkeiten, die Zeitungen, Magazine und Sender machten daraus schlagzeilenträchtige Ereignisse. Nun, da Nadjas Anwälte in ihrem Namen »Stopp« rufen, ist die Gegenwehr groß. Die Bunte-Chefredakteurin Patricia Riekel meint, Öffentlichkeit lasse sich nicht wie ein Lichtschalter an- und wieder ausschalten, Bild- Chefredakteur Kai Diekmann nennt die Entscheidung einen Skandal und sagt, angesichts Nadjas Vorbildfunktion und der Schwere der strafrechtlichen Vorwürfe sei das öffentliche Interesse an der Berichterstattung zu ihrem Fall »nicht im Ansatz zu bestreiten«.

Es wird in den nächsten Tagen ein rechtliches Gerangel zwischen Nadjas Anwälten und diversen Redaktionen geben, an das Verbot, zu berichten, wird sich kaum jemand halten. Die erste einstweilige Verfügung wird verpuffen, weil der genaue Umstand von Nadjas Verhaftung erst nach ihrer Erlassung publik wird – durch die Staatsanwaltschaft Darmstadt. In ihrer Presseerklärung steht, sie habe Samstagnacht »eine 26-jährige Sängerin wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung festgenommen. Danach besteht der dringende Tatverdacht, dass die Beschuldigte in den Jahren 2004 und 2006 ungeschützten Geschlechtsverkehr mit drei Personen hatte, ohne diese zuvor darauf hinzuweisen, dass sie selbst HIV-positiv ist.«

Wenn eine Staatsanwaltschaft die genauen Umstände in einer Presseerklärung veröffentlicht, so argumentieren viele Medien, warum sollen sie es dann nicht tun? Eine Staatsanwaltschaft gilt als »privilegierte Quelle«, Informationen, die sie herausgibt, dürfen so übernommen werden, ohne weitere Recherche. Umstritten ist, ob trotzdem eine Abwägung stattfinden muss, damit die Persönlichkeitsrechte eines Menschen, für den bis zum Urteilsspruch die Unschuldsvermutung gilt, nicht verletzt werden. Umstritten ist auch, wo diese Abwägung stattfinden muss: bei der Staatsanwaltschaft oder bei den Journalisten, die sich auf sie als Quelle stützen? Oder bei beiden? Ger Neuber, der Sprecher der Staatsanwaltschaft, sagt, wenn es um schwere Körperverletzung gehe, sei die Staatsanwaltschaft verpflichtet, über den Tatvorwurf zu berichten, da wäre sie bei einem unbekannten Menschen genauso vorgegangen. Auch diese Debatte wird Nadjas Fall zusätzlich befeuern, die Verantwortung hin- und hergeschoben werden.

Nadjas Fall wird immer differenzierter betrachtet werden und von den Titelseiten und den vermischten Seiten auf die Meinungsseiten und die Themenseiten wandern. Nur: Was die erste Welle zerstört hat, ist da schon nicht mehr rückgängig zu machen.


Am Dienstagnachmittag rollt diese erste Welle los, da berichten die Online- Ausgaben diverser Zeitungen und Magazine über Nadjas Infektion. Alle Details, die seit Jahren in Redaktionsschubladen schlummern, alle Engel-Metaphern werden ausgepackt. Als die Meldung bei der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) in Berlin über den Ticker läuft, wird dort sofort eine Pressemitteilung verfasst. Darin fordern Marianne Rademacher, die Frauenreferentin des Vereins, und DAH-Sprecher Jörg Litwinschuh, Nadja so schnell wie möglich freizulassen, kritisieren die öffentlichkeitswirksame Verhaftung als unverhältnismäßige Aktion der hessischen Justiz und fordern die Medien auf, sachlich zu berichten, Nadja nicht vorzuverurteilen und HIV-positive Menschen nicht pauschal zu kriminalisieren. Ihnen ist klar, dass Nadjas Fall der Krankheit zwar eine lange nicht da gewesene Aufmerksamkeit geben, für die Arbeit in Aufklärung und Prävention aber Probleme bringen wird, denn eine der wichtigsten Botschaften der AIDS Hilfe ist, dass beide Seiten für ihren Schutz verantwortlich sind.


Nadja hat sich in der Zwischenzeit mit ihrem neuen Strafverteidiger getroffen und ihn vor allem gebeten, zu beantragen, dass sie die Schlichtzelle verlassen kann. Von dem Beben hat sie noch nichts mitbekommen. Es wird mehrere Nachbeben geben in dieser Woche, eine große Welle und weitere kleine Wellen.


Der Manager der Band ist mit einer Coacherin auf dem Weg nach Koblenz zu Sandy und den anderen No Angels, und auf dieser Fahrt nimmt er den Knopf nicht mehr aus dem Ohr; wenn er mit einem Journalisten spricht, laufen zehn weitere Anfragen auf seiner Mailbox auf. Er lernt das Reden, ohne etwas zu sagen, beschwichtigt, vertröstet auf eine Presseerklärung, an der er parallel mit Christian Schertz feilt.