Narben

 

    Roman von

 

  Paul Senftenberg

 

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Der Autor:

Paul Senftenberg ist ein niederösterreichischer Autor. Im Herbst 2009 erschien sein erster Roman Damals ist vorbei im Bruno Gmünder Verlag, im Sommer 2013 der Roman Eine ganz andere Liebe bei Himmelstürmer, seine Novelle Der Stammbaum im Frühjahr 2014 im Verlag Homo Littera. Seine Texte vereint das Thema von Schwulen im Zwiespalt zwischen bürgerlichem Leben und ihren wahren Neigungen. In Paul Senftenbergs neuestem Roman Narben sind es Jugendliche, die sich mit bedrückenden Erlebnissen aus ihrer Vergangenheit konfrontiert sehen und sich in einem mitunter schmerzlichen Prozess klar werden, dass es manchmal großen Mutes bedarf, zu seinen Gefühlen zu stehen. 

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, Februar 2014 

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Covermotiv: „Nettles“ (detail) oil on panel by Martin-Jan van Santen 2011 

www.martinjanvansanten.com 

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg.

www.olafwelling.de

 

ISBN print 978-3-86361-364-8
ISBN epub
978-3-86361-365-5 

ISBN pdf:  978-3-86361-366-2

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

 

 

All my life I was never there;  

 just a ghost, running scared.”                        

Thirty Seconds To Mars                           

 

„Nicht jeder hier versteht Menschen wie uns.”

John Irving, In einer Person                                 

 

And that night they were not divided.“ 

Radclyffe Hall, The Well of Loneliness 

 

Martin-Jan, thank you so much

for letting us use some of your great work

on the covers of my books! – Paul

 

 

Trauer

 

 

 

Im Herbst, in dem er siebzehn wurde, lernte Thomas einen Jungen kennen, der Hunde vergiftete. Damals konnte Thomas noch immer an nichts anderes denken als an seinen Vater und die Umstände, die dazu geführt hatten, dass seine Mutter und er aus der kleinen Stadt wegziehen mussten, in der sie bis zu diesem Zeitpunkt gelebt hatten.

Seit dem Umzug in die Großstadt kam sich Thomas vor wie ein Insekt, das in eine feindliche Umwelt geraten war und dort verwirrt und ziellos umherirrte. Er fühlte sich nackt und hilflos. Er hasste es, hier leben zu müssen, ohne dass ihn jemand gefragt hatte, ob er das überhaupt wollte, und in eine Schule gehen zu müssen, wo es niemanden gab, mit dem er ein vernünftiges Wort reden konnte. Er vermisste sein bisheriges Leben.

Sein bisheriges Leben, das war das Leben mit seinen Eltern und seiner besten Freundin Katharina gewesen. Das war das Leben in der kleinen Stadt, in der er geboren war und aufwuchs, in der er jede Ecke und jeden Winkel kannte und jeden noch so schmalen, vom Unterholz überwucherten Weg durch die umliegenden Wälder. Wenn er jetzt darüber nachdachte, kam es ihm vor, dass er dieses bisherige Leben wie eine Hülle getragen hatte, wie eine zweite Haut. Das hatte ihm Sicherheit gegeben, das hatte ihn stark gemacht.

Und dann diese Nacht, dieser Streit. Die Türen, die zuschlugen, das Auto, das startete. Das Dröhnen der plötzlichen Stille, die das Haus und seine Bewohner wie eine tonnenschwere Last erdrückte. Und später, im Halbschlaf der frühen Morgenstunden, das Läuten des Telefons.

Damals hatte Thomas’ zweite Haut Feuer gefangen, damals war sie verschmort. So überstürzt und unvermutet, dass er es lange Zeit gar nicht glauben konnte, hatten die Ereignisse dieser Nacht einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben gesetzt.

Was ihm blieb, waren Gefühle, die ihm Angst machten.

Da war diese Wut, die in jedem Muskel, in jeder Sehne, in jeder Faser seines Körpers tobte wie ein Sturm. Die er am liebsten mit seinen Lungen herausgeschrien und seinen Fäusten herausgetrommelt hätte und trotzdem die meiste Zeit in sich behielt. Diese Wut konzentrierte sich auf seine Mutter. Denn sie war es wohl, die an dem letzten Abend die Dinge ins Rollen gebracht hatte. Und immer wenn er daran dachte, fühlte sich Thomas besonders verzweifelt und so schrecklich hilflos: Weil ihm bewusst war, dass er das, was damals passiert war, um nichts in der Welt ungeschehen zu machen vermochte.

Und da war noch etwas, da war noch ein Gefühl in ihm, das er lange Zeit nicht genau benennen konnte, das ihn aber am bloßen Herzen gepackt hatte und den geschmolzenen Insektenpanzer, diese Reste seiner zweiten Haut, zu einem rußgeschwärzten Netz aus Erinnerungen, zu seinem Gefängnis machte.

Der Junge, der Hunde vergiftete, war fast zwei Jahre älter als Thomas. Aber in dem Herbst, in dem er zu verstehen begann, dass es seine Art von Trauer war, die ihm so zusetzte, war dieser Junge der einzige Mensch, der verstand, wie er empfand.

 

 

Geohrfeigt

 

Natürlich kommt die Mutter ins Zimmer, ohne vorher anzuklopfen. Und natürlich hat Thomas gerade die Hand in der Hose. Das hat er meistens beim Fernsehen. Zumindest wenn auf MTV halbnackte Typen um die Sängerin herumtanzen. Seine Mutter aber macht das wahnsinnig. Das weiß Thomas. Trotzdem lässt er seine Hand, wo sie ist, als sie ins Zimmer kommt.

Wenn so etwas passiert, rauscht sie meistens kurzerhand ab und knallt hinter sich die Tür zu. Dann kann Thomas sehen, wie er zu einem Abendessen kommt. Aber heute reagiert sie anders. Das Blut schießt ihr ins Gesicht, das kann Thomas richtig beobachten. Mit ein paar Schritten ist sie bei ihm. Sie packt seinen Arm, sie reißt ihn in die Höhe. Dann lässt sie ihn fallen, als hätte sie sich daran verbrannt. Mit offener Hose liegt Thomas vor ihr auf dem Sofa.

Die Mutter steht so, dass er schräg an ihr vorbei immer noch auf den Bildschirm sehen kann. Dort räkeln sich die Muskeltypen im Sound, der das Zimmer erfüllt. Wie geschmeidig sie sich bewegen, fährt es Thomas durch den Kopf. Im nächsten Augenblick spürt er einen scharfen Schmerz auf der Wange.

Erstaunt blickt er zu seiner Mutter hoch: Geschlagen hat sie ihn noch nie. Offensichtlich ist ihr auch nicht ganz geheuer, was sie getan hat. Denn sie hält die rechte Hand mit der linken am Gelenk fest. Beide Hände hat sie so verkrampft, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten. Die Haut ist rau und rissig wie ausgetrocknete Erde.

Die Mutter öffnet den Mund, aber sie sagt nichts. Ihre Lippen zittern, dann spreizt sie sie und presst sie gleich wieder aufeinander. So starrt sie auf ihren Sohn hinunter. Und er starrt zu ihr hoch. Für einen Moment rührt sich keiner von ihnen. Die geplatzten Äderchen auf Mutters Wangen verästeln sich in Thomas’ Vorstellung wie Kristalle, die unter dem Mikroskop wachsen. Sie werden zu roten Flecken, da muss der Junge an blutende Wunden denken. Er schaut der Mutter in die Augen. Er versucht ihre Gefühle zu erkennen und ihnen Namen zu geben. Doch noch bevor er sich sicher sein kann, wendet sich die Mutter ab.

Thomas hört etwas von ihr, bevor sie aus dem Zimmer ist. Aber ob sie nur so vor sich hin schimpft oder etwas zu ihm gesagt hat, hat er nicht verstanden. Das Flimmern der Fernsehbilder spiegelt sich auf seinem Gesicht, das nimmt Thomas wahr, das spürt er in den Augen. An einem offenen Feuer wäre es genauso, denkt er. Schon sieht Thomas eine imaginäre Filmszene vor sich. Sein Held ist ein schöner blonder Junge. Er streift zwischen den Felsen eines Canyons umher, die Landschaft ist von der untergehenden Sonne in blutendes Rot getränkt, ein ähnliches, flackerndes, lebendiges Rot ist das Lagerfeuer, an dem der Junge dann sitzt, um ihn herum die Dunkelheit der Wüstennacht. Der Junge sieht so aus, wie sich Thomas einen Freund wünschen würde. Sein Gesicht vor den geschlossenen Augen, beginnt er sich zu streicheln.  

Später spielt Thomas mit der Fernbedienung. Er zappt von Kanal zu Kanal. Er kommt zu einem Sender, der über die Entführung eines Studenten im Jemen berichtet. Der Student trägt einen Vollbart und wirkt verwahrlost und voller Todesangst, er liest eine Forderung nach Lösegeld vor, in der linken oberen Ecke des Bildes ist der Lauf eines Maschinengewehrs zu sehen. Thomas schaltet den Fernseher ab.

Er steht auf und knöpft sich die Hose zu. Er öffnet die Tür und lauscht in den Gang. Ganz leise hört er Schlagermusik. Wie erwartet ist die Mutter im Schlafzimmer und hört Radio. Heute kommt sie nicht mehr heraus, das ist Thomas klar.

In der Küche steht das Geschirr noch herum. Das war es wohl, was Mutter so verärgert hat. Deshalb ist sie in sein Zimmer gestürmt. Weil er nicht abgewaschen hat. Am Abend kocht die Mutter immer für den nächsten Tag vor. Wenn Thomas von der Schule heimkommt, braucht er sich das Essen nur aufzuwärmen. Wenn er dann nicht abwäscht, kriegt seine Mutter jedes Mal einen Anfall. Weil sie sich doch für ihn abrackere, sagt sie, und er nicht einmal imstande sei, die Küche sauber zu halten.

Das ist ihr Standardsatz, Thomas hört ihn schon gar nicht mehr. Dabei wollte er die Arbeiten ohnehin erledigen. Er hat es nicht darauf angelegt, seine Mutter zu verärgern. In letzter Zeit ist sie ohnehin noch gereizter als sonst. Thomas vermutet, dass sie Ärger in der Fabrik hat. Doch daran kann er nichts ändern.

Er war völlig geschafft nach der Schule. Mit nassen Handtüchern haben ihn die anderen Jungen durch den Duschraum gejagt. Und das nur, weil er beim Volleyball ein paar Bälle nicht gekriegt hat. Das gab ihnen den Grund, nach dem sie gesucht hatten. Es tat ganz schön weh, als die Handtücher auf seinen nackten Hintern, die Oberschenkel und den Rücken klatschten. Aber noch viel schlimmer als diese Schmerzen war das Gefühl der Erniedrigung, als alle johlend hinter Thomas her waren. Er konnte sich ihrer nicht erwehren. Und als es ihm endlich gelang, in den Umkleideraum zu entkommen, musste er sich zusammenreißen, um nicht vor aller Augen loszuheulen.

So hat Thomas zu Hause das Essen verschlungen, heißhungrig wie immer. Und um auf andere Gedanken zu kommen, wollte er dann nur ein bisschen fernsehen. Dabei hat er eben das Abwaschen vergessen.  

Noch immer herrscht vorwurfsvolle Stille in der Wohnung. Der Ton des Radios aus Mutters Zimmer unterstreicht dieses Schweigen nur. Das hält Thomas nicht aus. Draußen scheint die Spätnachmittagssonne. Es ist schon September, doch der Sommer ist noch nicht zu Ende, die Tage sind noch lang. Nur raus aus der Wohnung, denkt Thomas, raus aus dem Haus, und fort von dem betonierten Platz zwischen den Wohnblöcken!

Fort von den Gedanken an seine Mutter, die ein Drama daraus macht, wenn ein Junge beim Fernsehen die Hand in seiner Hose hat.

 

 

 

Gurgelnde Wellen

 

Thomas läuft den Schulweg entlang. Doch anders als jeden Morgen bleibt er nicht an der Haltestelle stehen. Er möchte nicht auf die nächste Straßenbahn warten. Außerdem hält ihn das Laufen vom Nachdenken ab. Da ist nur der Wind in seinem Kopf, der braust darin herum. Als könnte er so Ordnung in das Chaos von Thomas’ Gedanken bringen.

Thomas hat längst Seitenstechen, als er zur Brücke kommt. Das Schulgebäude ragt auf der anderen Seite des Flusses auf. Aber dorthin geht Thomas nicht. Er hängt sich mit dem Oberkörper über das steinerne Geländer der Brücke. Er verschnauft, die Augen hat er geschlossen. Als er sie wieder öffnet, blickt er geradewegs aufs Wasser. Während der Sommerferien und auch noch zu Schulanfang war es meist recht heiß. Aber vorige Woche hat es viel geregnet. Das Wasser des Flusses steht hoch, es rauscht wie das Blut in Thomas’ Ohren. Die Wellen sind schlammig, sie gurgeln und schäumen. Thomas ist es gewohnt, dass sich in seiner Vorstellung dazu gleich Filmszenen bilden: eine unglückliche Liebe, ein Selbstmordversuch, Tränen im Wind auf der Brücke, schließlich eine dramatische Rettung.

Auf einmal spürt er eine Hand zwischen den Schulterblättern. Seine Gedanken prallen an der Wirklichkeit ab. Er fährt auf, mit einem Ruck dreht er sich um.

Eine ältere Frau steht da, faltige Haut. Sie trägt ein Kopftuch. Graue Strähnen schauen darunter hervor. Der Wind auf der Brücke zerrt an dem Tuch und den Strähnen. Auch die Frau hat sich offenbar erschrocken, weil Thomas so jäh herumgefahren ist. Sie stolpert ein paar Schritte zurück.

„Was ist?“, fährt Thomas sie an.

Die Frau macht eine unbestimmte Handbewegung zum Brückengeländer hin.

„Ich wollt dich fragen, ob dir schlecht ist. Weil du ...“ Sie wedelt nochmals mit der Hand in der Luft herum, schließlich lässt sie sie sinken. Sie schaut Thomas fragend an.

„Mir geht’s gut“, sagt dieser knapp.

Für einen Moment steht er abwartend da, er mustert sein Gegenüber. Schon will er gehen. Doch bevor er sich’s versieht, kommt ihm über die Lippen: „Zieh ab, du blöde Kuh!“

Die Frau starrt ihn entgeistert an. Thomas weiß nicht, was sie von ihm erwartet. Aber er hat sie nicht um ihre Hilfe gebeten, was geht sie ihn an? Wie seine Mutter. Die glaubt auch, sich in alles einmischen zu müssen. Und wenn sich Thomas darüber aufregt, kommt sie ihm mit der alten Leier von wegen dem Problemkind, dem die starke Hand des Vaters fehle und so weiter. Wie das Amen im Gebet kommt das, darauf kann Thomas wetten. Das hasst er wie die Pest, wenn seine Mutter so anfängt, gehen in ihm die Schranken nieder.

Und jetzt diese Frau. Thomas wendet sich von ihr ab. Er läuft die Stufen hinunter, die zu dem Weg entlang des Flussufers führen. Ein paar Spaziergänger und Jogger sind dort unterwegs. Thomas läuft Slalomlinien zwischen ihnen.

Er hält nicht an und er schaut sich nicht um. Er rennt und rennt, er überholt die Jogger und die Spaziergänger sowieso. Wie ein Abwasserkanal schneidet der braune Fluss vor Thomas durch die Häuserreihen zu beiden Seiten. Die nächste Flussbiegung vor Augen, möchte er in dem Tempo, in dem er jetzt läuft, bis dorthin durchhalten; mit jedem Atemstoß aus seinem Mund kommt sie näher.

Erst als er die Biegung hinter sich hat, bleibt Thomas stehen. Schwer atmend beugt er sich vornüber, die Hände hat er auf den Knien abgestützt. Eine Weile steht er so da, während sich sein Herzschlag beruhigt. Dann richtet er sich wieder auf und wirft einen Blick zurück über die Schulter. Die Brücke ist verschwunden, eine Häuserzeile hat sie verschluckt. Thomas kann sich aber gut vorstellen, dass die Frau immer noch am Geländer steht und ihm nachblickt. Vielleicht, denkt er, schafft es der Wind doch, ihr das Tuch vom Kopf zu reißen.

 

 

Der Herzschlag der Nacht

 

Als Manuel aufwachte, war die Nacht vor dem Fenster noch finster. Es war ganz still im Zimmer. Es war kein Lärm, der ihn geweckt hatte. Die Stille war der Herzschlag der Nacht. Aber da war etwas, das den Rhythmus dieses Herzschlags durcheinander gebracht hatte. Das fühlte Manuel, als er mit offenen Augen in seinem Bett lag und in die Dunkelheit horchte.

Manuel schlüpfte unter der Decke hervor. Der Holzboden unter seinen bloßen Füßen war kalt. Manuel ging durchs Zimmer und sah nur die Umrisse der Möbel. Sein Zimmer war klein wie alle Räume der Wohnung und vollgeräumt mit Manuels Sachen. Trotzdem stieß er nirgendwo an, er würde sich hier blind zurechtfinden.

Die Tür zu Jakobs Zimmer war nur angelehnt. Jakob war Manuels kleiner Bruder, er war erst acht. Jakob wollte, dass die Verbindungstür zwischen ihren Zimmern nachts offen blieb. Manuel kannte den Grund dafür. Seit dem Vorfall mit dem Hund hatte Jakob oft Angst vor dem Einschlafen und während der Nacht. Auch jetzt lag der Bruder wach und fürchtete sich; obwohl Jakob nicht schrie oder weinte oder nach ihm rief, das tat er nie. Er lag einfach unter seiner Decke und zitterte vor Furcht. Manuel konnte diese Angst spüren.

Er stand an Jakobs Bett. Aus der Dunkelheit starrten ihn die Augen des Bruders an. Jakob rückte zur Seite und hob die Decke. Manuel legte sich neben ihn. Jakob war verschwitzt, als hätte er Fieber. Für einen Moment hielt er den Atem an, das fühlte Manuel. Als er den Arm um ihn legte, stieß Jakob hörbar die Luft aus. Manuel strich ihm die nassen Haare aus der Stirn; jetzt begann der Bruder wieder ruhiger zu atmen. Jakob drückte sich an Manuels knochige Brust, er blies ihm seinen warmen Atem auf den Hals.

„Alles ist gut“, flüsterte Manuel.

„Bleibst du bei mir?“

„Ich bleibe bei dir.“

„Die ganze Nacht?“

„Die ganze Nacht. Du kannst jetzt schlafen. Es kann dir nichts passieren.“

„Versprichst du mir das?“

„Ich verspreche es dir.“

Wie immer in einer Nacht, deren Herzschlag durcheinander gekommen war.

 

 

Barlow

 

Thomas trabt durch das Villenviertel, aber er strengt sich nicht mehr so an wie vorhin. Hier war er noch nicht oft. Meistens bleibt er unten am Fluss. Zum Zeichnen setzt er sich dann auf eine der Bänke entlang des Ufers. Doch heute fühlt er sich zu zappelig zum Sitzen. So ist er weitergelaufen, vom Fluss weg und in dieses Viertel.

Prächtig sind die Häuser hier. Es sind hauptsächlich mehrgeschoßige Villen aus der Zeit der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Fast ein bisschen verwunschen sehen sie aus. Und die Gärten! Thomas wohnte auch einmal in einem Haus mit Garten. Seine Mutter kümmerte sich um die Blumen, sein Vater um die Obstbäume. Als er noch klein war, riss er sich darum, ihm helfen zu dürfen. Sie lagerten Äpfel und Birnen im Keller ein, den halben Winter hatten sie eigenes Obst zu essen.

Thomas bleibt vor einem der Häuser stehen. Ein riesiges Grundstück ist das. Als Sichtschutz sind am Zaun entlang hohe Büsche und Stauden gepflanzt. Thomas späht durch das dichte Blattwerk. Das Haus gefällt ihm nicht sonderlich. Es ist ganz anders als die anderen Häuser in dieser Gegend, eine Art Bungalow mit viel Beton und einem Flachdach mit Lichtkuppeln. Zumindest auf der Straßenseite sind die Fenster ziemlich klein. Drei davon sind rund; sie befinden sich gleich neben der Eingangstür. Die sieht wie die Tür eines Panzerschranks aus. Insgesamt macht das Haus auf Thomas einen U-bootartigen Eindruck.

Was Thomas viel besser gefällt ist der Obstgarten. Auf einem Gutteil des Grundes seitlich des Hauses, den Thomas momentan überblicken kann, ist dieser angelegt. Bewundernd betrachtet Thomas die Bäume. Apfel- und Birnbäume wie zu Hause, dazu eine Reihe von Zwetschgenbäumen. Jetzt, im späten Sommer, sind die Zweige schwer von fast reifen Früchten. Nussbäume gibt es auch, aber die Nüsse sind noch nicht so weit. Thomas kann sich vorstellen, dass sein Vater von diesem Garten begeistert gewesen wäre. 

Da dringt Lärm aus der Tiefe des Grundstücks. Das Kläffen eines Hundes, das sich rasch nähert. Und eine aufgeregte Stimme, beinahe ein Schreien. Thomas fühlt sich ertappt, unwillkürlich duckt er sich hinter die Stauden.

Ein Junge wird von einem Hund verfolgt. Der Junge rennt, so schnell er kann, das ist nicht zu übersehen. Aber der Hund holt auf. Der Junge prallt gegen das Gartentor, solch einen Schwung hat er drauf. Dann ist er draußen, das Tor fällt wieder ins Schloss. Drinnen kläfft der Hund, draußen steht der Junge und ist total außer Puste. Er fährt sich über die rot geschwitzte Stirn und hat noch nicht einmal bemerkt, dass keine fünf Meter neben ihm auf dem Gehsteig jemand steht.

 „Das war knapp“, stellt Thomas fest.

Der Junge zuckt zusammen. Als er Thomas entdeckt, schaut er ihn wortlos an.

„Das mit dem Hund“, sagt Thomas. „Um ein Haar hätte er dich gehabt.“

Thomas schielt zwischen den Latten des Gartentors durch. Der Hund ist ein wahres Ungetüm. Er ist so groß wie ein Kalb, er rast. Ein Stück Schnauze steht unter dem schwarzen Zottelfell hervor, mehr ist vom Hundekopf nicht zu sehen. Thomas fällt auf, dass auch die Augen und die Ohren unter dem Fell verborgen sind. Beim Bellen zeigt der Hund seine Zähne und die dicke rote Zunge. Das sieht bedrohlich aus. Thomas kann gut verstehen, dass der Junge vor dem Hund Reißaus genommen hat.

Inzwischen hat sich der Junge ein wenig gefangen. „Das kannst du laut sagen“, meint er und schließt für einen Moment die Augen. „Dass er mich um ein Haar gehabt hätte!“

Thomas fällt auf, dass die Augenbrauen des Jungen völlig gerade und über der Nase fast zusammengewachsen sind; dazu der Bartwuchs auf den Wangen, dem Kinn und über den Lippen: Das gibt ihm nach Thomas’ Eindruck ein wildes Aussehen, das nicht zu seiner Angst vor dem Hund passen will. Thomas und der Junge sind in etwa gleich groß und dünn; trotzdem ist der Junge wohl etwas älter, er hat eine sehr männliche Stimme.

„Was wolltest du denn da drin?“, fragt Thomas und deutet mit dem Kinn in Richtung des Hauses.

Der Junge fährt sich mit Zeigefinger und Daumen die Nase entlang. Gerade will er Thomas antworten, da kommt ein seltsames Paar angetrabt: ein Mann und eine Frau, wie die Karikatur eines alten Ehepaares in einer Sitcom. Als der Hund im Kläffen eine Pause gemacht hat, hat Thomas ihr Rufen schon gehört, bevor sie um die Ecke des Hauses gebogen sind.

Im ersten Moment hat Thomas nur Augen für die Frau. Aus der Entfernung ähnelt sie für ihn einer Fata Morgana. Wie eine dieser Blondinen aus der Schokoladenwerbung sieht sie aus. Die, bekleidet nur mit fliegenden Schleiern, verführerisch in die Kamera blinzeln und dabei ihre roten Kusslippen schürzen. Aber aus der Nähe erkennt Thomas, dass sie anscheinend selbst viel zuviel von dieser Schokolade gegessen hat. Was er für Schleier gehalten hat, ist ein weites Gewand. Das trägt die Frau augenscheinlich, um überschüssige Kilos zu verbergen. Und davon hat sie eine ganze Menge.

Der Mann an ihrer Seite hat auch Gewichtsprobleme, wenngleich ganz anderer Art. Er besteht fast nur aus Haut und Knochen. Dazu ist er geradezu affenartig dicht behaart. Das sieht Thomas, weil der Mann kurze Jeans trägt und dazu ein kurzärmeliges Anzugshemd. Seltsame Kombination, denkt Thomas. Wie eben noch von der Frau kann er jetzt den Blick von den skelettartigen Armen und Beinen des Mannes nicht wenden.

Am Gartentor bleiben die beiden stehen. Sie keuchend, obwohl sie ja, fährt Thomas durch den Kopf, wahrlich keinen Geschwindigkeitsrekord aufgestellt haben.

„Sei still, Barlow!“, knurrt der Mann den Hund an.

Und die Frau setzt nach: „Gib schon Ruhe! Und geh weg vom Tor!“

Augenblicklich verstummt das Bellen des Hundes. Er weiß wohl, was ihm blüht, denn er duckt sich schon im Voraus. Als ihn der Fußtritt des Mannes trifft, gibt er nur ein klägliches Wimmern von sich. Dann verkriecht er sich unter dem nächstgelegenen Busch.

„Hören Sie auf damit!“, ruft Thomas.