Gewidmet allen unseren

Schutzengeln –

im Himmel und auf Erden.

Vorwort

Neun Minuten! Das sind drei Popsongs oder ein Zehntel eines Fußballspiels. Und der amtierende Weltrekordler mampft in dieser Zeit 61 Hotdogs. Neun Minuten dauern verdammt lange. Neun Minuten sind eine Ewigkeit. Vor allem, wenn man klinisch tot ist – das Bewusstsein verliert, das Herz nicht mehr schlägt, das Gehirn keinen Sauerstoff bekommt und man reanimiert werden muss. Neunzig Prozent aller Menschen überleben das nicht. Und wenn doch, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass die Betroffenen danach geistig behindert, halbseitig gelähmt oder ähnlich gezeichnet sind.

Mein Name ist Clemens Hagen und ich habe das auf wunder­same Weise alles unbeschadet er- und überlebt. Und noch viel mehr.

In »Neun Minuten Ewigkeit« schildere ich, wie ich kurz nach meinem fünfzigsten Geburtstag mit letzter Kraft in den Flieger von Berlin nach München steige. Zunächst glaube ich an eine Lebensmittelvergiftung wegen eines schlechten Rinder-Carpaccios, das ich am Vorabend gegessen hatte. Was ich nicht ahnen kann – ich habe eine innere Blutung. Es geht von jetzt an um jede Sekunde, um Leben und Tod. Das soll die nächsten Tage und Wochen auch so bleiben. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist der bedrohlich verstörte Blick der drei Ärzte auf der Intensivstation des Klinikums Gutsing bei München, die sich über mich beugen. Dann bleibt mein Herz stehen, ich muss wiederbelebt werden. Neun Minuten Ewigkeit vergehen, bis ich in einen sehr tiefen Schlaf ­versetzt werde – künstliches Koma. Ich lande in einer bizarren Welt voller Albträume, Ängste und Aggressionen, die die meisten Menschen nie kennenlernen. Ich treffe skurrile Gestalten, die mich abwechselnd quälen oder retten wollen.

In einer Parallelwelt lebe in dieser Zeit auch ich, Clemens’ ­Verlobte Kimberly Hoppe. In den lebensbedrohlichen Stunden vor seiner Einlieferung und während der folgenden Zeit auf der Intensivstation bin ich immer bei ihm. Nach der ersten Not-OP sagt ein Arzt sehr direkt zu mir: »Kann sein, dass Ihr Mann heute Nacht stirbt.« So wie: »Kann sein, dass es morgen regnet.« Aber ich will nicht, dass es regnet. Ich will, dass morgen die Sonne scheint. Täglich kämpfe ich mit all meiner Liebe und Kraft darum, dass Clemens die schwerste Prüfung seines und auch meines Lebens übersteht. Stundenlang sitze ich an seinem Bett, rede mit ihm, singe ihm etwas vor und streichle ihn. In dieser dramatischen Zeit lerne ich auch den ungewöhnlichen Alltag auf einer Intensivstation kennen – die über Leben und Tod entscheidende Arbeit der Ärzte und das (Liebes-)Leben der Schwestern und Pfleger. Ich treffe andere Angehörige, die ihre Liebsten verlieren, und Patienten, die zu Hause so einsam sind, dass sie das Krankenhaus nicht freiwillig verlassen wollen.

Was mir in diesen schrecklichen Wochen hilft: Ich schreibe minutiös Tagebuch. Vom ersten Schock über Clemens’ ersten Augenaufschlag bis zu seinen ersten Schritten auf eigenen Füßen schildere ich das Leben und Leiden in der Klinik – aber auch das Lachen. Denn es ereignen sich viele unfreiwillig komische Momente – wie Clemens’ Fluchtversuch. Nur mit einer Unterhose bekleidet will er sich im tiefsten Winter selbst ­entlassen. Oder seine Pulsmesser-Zigarette. Als Folge seiner Nikotinsucht nimmt er unvermittelt tiefe Züge aus seinem rot blinkenden Pulsmesser am Zeigefinger. Oder seine nächt­liche Hungerat­tacke, als er sich einen Toast mit Rasierschaum schmiert – den er für Schlagsahne hält – und diesen Snack auch noch isst. Oder seine Angst vor dem Chefarzt der Intensivstation, der ihm zwar den Luftröhrenschnitt einwandfrei legt, in dem er aber einen gefährlichen Zuhälter-Typen sieht.

»Neun Minuten Ewigkeit« erzählt unsere Nahtoderfahrung aus zwei Perspektiven. Die Realität erfährt der Leser von »Krankenschwester« Kimberly Hoppe, während »das medizinische Wunder« (O-Ton Arzt) Clemens Hagen ihn in seine verrückten Traumwelten entführt. In Tagebuchform schreiben wir in atemlosem Wechsel über eine Zeit, die niemand erleben, aber jeder nur überleben will.

Clemens Hagen & Kimberly Hoppe