Die Jäger

Sein Vater und er waren ganz allein auf der Welt. Obwohl er sich immer wieder die Augen reiben musste, um die Müdigkeit zu vertreiben, blickte er erwartungsvoll um sich. Sie entfernten sich weiter und weiter von der Landstraße. Ihr Auto, am Randstreifen geparkt, sah schon so klein wie ein Spielzeug aus, und sie konnten von hier oben gut das ganze Tal überblicken, das dunkelgrün unter ihnen lag. Der geschlängelte Flusslauf war vage zu erkennen. Es hatte eben erst begonnen, hell zu werden. Das Dorf war von hier aus nicht mehr zu sehen. Es ging immer weiter hinauf in die bewaldeten Hügel.

Sein Vater marschierte nicht besonders schnell. Sie hatten noch ein gutes Stück vor sich. Und in den Gummistiefeln konnte der Kleine nicht besonders gut gehen. Er hatte zwar zwei Paar dicke Wollstrümpfe übereinander angezogen, trotzdem schlappten die Stiefelränder bei jedem Schritt von der Wade zum Schienbein, und das gleichmäßige Geräusch störte die gespannte Stille. Er sah zu seinem Vater. Der hatte den oberen Teil seiner Kniestrümpfe über den Gummirand geschlagen. Die Muskeln seiner Waden drückten bei jedem Schritt gegen den Stiefelschaft. Obwohl es noch kalt war, standen die beiden oberen Knöpfe seines Hemdes offen. Die Hemdsärmel waren bis zu den Oberarmen hochgekrempelt und die Muskeln spannten den Stoff, so dass die Ärmel bis zu den breiten Schultern eng anlagen. In dem schwarzen Bart hingen ein paar winzige Wassertropfen.

Die Augen seines Vaters glänzten wach, wie immer morgens. Egal wie früh sie auch aufstanden, die lustigen Fältchen um die Augenwinkel bewegten sich immer schon und verbündeten sich mit dem beruhigenden Lächeln, das sich vom Mund zu den Wangen zog.

Als der Weg schmaler wurde, unterbrach sein Vater den Gang für eine kurze Weile und blickte über einen Hang mit Apfelbäumen. Die Stämme ragten aus hohem Gras, das übersät war mit Wassertröpfchen. Er atmete langsam und ruhig.

„Das Stück hier hat mal uns gehört.“ Seine Stimme klang warm und schmiegte sich unaufdringlich an den grünen Hang.

„Weiß ich.“

Sein Vater nahm den Plastikeimer in die andere Hand und ging weiter.

„Warum gehört’s uns jetzt nicht mehr?“

„Hab’ ich dir doch schon mal erzählt. Oma hat das Geld gebraucht. Sie hat’s so billig verkaufen müssen …“

„Aber es ist doch noch da. Wir können immer hier hingeh’n. Wann wir wollen. Wir können doch auch durchs Gras gehen und zu den Bäumen und alles.“

„Ja, das stimmt.“ Ein freundliches Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Darf ich mal den Eimer tragen?“

„Na klar!“

Der schmale Weg war zum Pfad geworden, und sie gingen durch einen Fichtenwald weiter bergan auf eine Lichtung zu. Hier war der Kleine noch nie zuvor gewesen. Er beschleunigte das Tempo und begann etwas zu keuchen. Der Eimer störte beim Gehen. Er wechselte ihn oft von einer Hand zur anderen, aber dauernd schlug er sich das grüne Plastikding gegen die Knöchel. Trotzdem eilte der Kleine unruhig vorneweg. Seine Wollstrümpfe waren jetzt über den Stiefelrand geschlagen.

Sein Vater wurde allmählich langsamer und sah sich aufmerksam nach allen Seiten um. Am Ende der Lichtung führte der Pfad über eine kleine Kuppe. Man konnte deutlich sehen, dass dahinter eine Senke lag. Sein Vater ging ein paar Schritte vor, blickte hinunter und sah sich noch einmal in aller Ruhe um. Der Kleine hastete zu ihm, ergriff die schwere, warme Hand und gemeinsam blickten sie hinunter: Ein fast kreisrunder Teich lag vor ihnen. Die gleichmäßige Form war nur durchbrochen von einer kleinen Sandbank, die einige Schritte in das Rund hineinragte. Auf der Sandbank stand eine Eiche, deren frisches, grünes Laub sich im Wasser spiegelte. Außer dort, wo die Eiche stand, wucherte überall üppiges Schilf, so dass der Teich wie eingerahmt aussah. Über dem Wasser dampfte es, wie bei Oma in der Küche, wenn sie eine Suppe kochte.

„In unserer Schulbibel gibt’s ein Bild vom Paradies. Das sieht genauso aus wie hier“, flüsterte der Kleine aufgeregt.

„Komm“, sagte sein Vater, nahm dem Kleinen den Eimer ab und lief den Abhang hinunter. Er stellte den Eimer an den Stamm, sah sich wieder nach allen Seiten um, trat ans Wasser und sah hinein.

„Komm!“

Mit behutsamen Schritten näherte sich der Kleine dem Teich. Als er zur Sandbank kam, stockte er, reckte vorsichtig den Hals. Aufgeregt schaute er hin und her. Die Unterlippe schob sich hinter die Schneidezähne. Die Augenbrauen hoben sich.

Jetzt erst bemerkte er den Höllenlärm um sie herum. Lautes Gequake. Wie Geschrei.

Im Wasser war ein Gewimmel zu sehen.

„Das sind ja Hunderte“, flüsterte sein Vater begeistert.

Der Kleine rückte näher zum Baum. Blieb dort regungslos.

Sein Vater machte einen Schritt ins Wasser. Vom Stiefel liefen gleichmäßige Kreise über den Teich. Ein kurzer, ruhiger Griff ins Wasser, dann drehte er sich um und streckte dem Kleinen die Faust hin. Es war nur ein kleiner, grauer Kopf zu sehen. Mit einem riesigen, hellen Maul, das auf und zu ging. Sein Vater kramte mit der anderen Hand in der Hosentasche. Zog sein altes Taschenmesser heraus. Flüsterte: „Normalerweise schneidet man einfach die Beinchen ab und wirft die Frösche wieder ins Wasser. Aber das machen wir nicht.“

Er kramte weiter, zog ein handliches, fingerdickes Stöckchen hervor. Aus einem kleinen Buchenzweig geschnitzt. „Du hältst den Frosch so in der Faust, dass der Kopf zwischen Daumen und Zeigefinger gerade noch herausguckt, sooo – dann über den Eimer – und haust so auf den Kopf!“ … Patsch. Der Frosch glitt aus der Hand, fiel zu Boden. Hüpfte jämmerlich. Sein Vater griff ihn wieder. Und fester: Patsch. Der Frosch bewegte sich nicht mehr.

„Du kannst ihn auch ein bisschen weiter hinten packen, wenn du ihn so halten kannst, dich so neben den Eimer knien, und ihn einfach am Stiefelabsatz kaputtschlagen.“

Sein Vater demonstriere es mit dem bewegungslosen Frosch. Eine schnelle Bewegung. Kaum zu hören. Er warf den Frosch in den Eimer. Dort lag er regungslos auf dem Bauch und streckte Arme und Beine weg. Unter dem breiten Kopf rann ein dünner, dunkelroter Strich hervor.

„Die Beinchen schneiden wir später ab. Also wie willst du’s machen? Am besten kniest du dich so hin! Ich werf’ sie dir genau hier vor den Eimer.“

Die Stiefel des Vaters wühlten den Schlamm im seichten Wasser auf. Trieben mit einem gluckernden Geräusch kleine Wellen vor sich her. Er griff ins Wasser. Wühlte ein bisschen. Drehte sich um und warf dem Kleinen einen Frosch genau vor die Füße. Der Kleine fasste ihn an. Glatt … und kalt. Hielt ihn in der Faust. Zwischen Daumen und Zeigefinger schaute der Kopf hervor. Er holte mit dem ganzen Arm aus. Schloss die Augen. Und zack. Er hatte seinen Absatz nur gestreift. Der Frosch flutschte raus. Hüpfte.

„Nein, nicht so, lockerer, aus dem Handgelenk.“

Der Kleine legte die flache Hand auf den Frosch. Nahm ihn. Drehte ihn um. Unten drunter war er ganz hell! Er machte eine Faust. Probierte aus dem Handgelenk. Und ohne hinzusehen warf er ihn in den Eimer.

„Ja, so geht’s!“ Und platsch, platsch flogen die beiden nächsten direkt vor den Eimer. Er schlug aus dem Handgelenk. Sehr schwach. Am Stiefelabsatz waren Blutflecke. Verschmiert. Aber im Eimer bewegte es sich noch. Und schon fielen die nächsten vor seine Füße.

„Los, du musst schnell machen!“ Und wieder: Platsch! Einige begannen zurück ins Wasser zu hüpfen. Platsch. Ein ganz dicker. Nein. Zwei, sie saßen aufeinander. Es war schwierig, sie in der Faust zu packen. Zu groß.

„Nein, nein, du musst sie erst auseinander machen!“ Es ging schwer. Sie schienen aneinander zu kleben. Jetzt hatte er in jeder Hand einen. Schlug den einen gegen den Absatz. Der andere flutschte weg. Platsch, wieder zwei aufeinander. Er nahm sie, sah sie kurz an und schmiss sie wieder ins Wasser.

„He, was machst du denn da! Mach schnell!“ Es wimmelte vor seinen Füßen. Er nahm einen einzelnen. Zack – aus dem Handgelenk. Und in den Eimer. Die Lippen fest aufeinander gepresst. Und der nächste: Zack. Nicht fest genug. Er sah hinein. Ein paar Frösche krabbelten ‘rum. Der grüne Boden des Eimers war nicht mehr grün. Alles rot. Und platsch, platsch, platsch. Er stand auf, zitterte. Schrie: „Ich kann das nicht!“

„Mach doch nicht so’n Krach!“ Sein Vater kam ruhig auf ihn zu. Der Kleine wischte sich rasch mit der Hand durchs Gesicht, streifte dabei auch seine Lippen und schmeckte einen kalten, ekligen Schleim.

„Na komm, so geht das nicht.“ Der Kleine ging ein paar Schritte vom Eimer weg. „So brauchen wir ja ewig. Jetzt wirfst du mir die Frösche zu.“

Erstaunt öffnete er den Mund, verharrte einen Moment. Sein Vater lachte amüsiert. „Kannst sie wohl nicht kaputtmachen? Du wolltest doch mal Froschschenkel essen!“

Der Kleine runzelte die Stirn: „Nein, Frösche fangen gehen!“

„Also los! Und pass auf, dass dir das Wasser nicht oben in die Stiefel läuft. Geh nur bis dahin. Wir müssen nicht alle kriegen.“

Er ging vorsichtig rein. Machte kaum Wellen. Bückte sich vorsichtig. Es wimmelte. Er konnte einen fassen. Er warf ihn nach hinten, ohne sich umzudrehen.

„He, pass doch auf, wo du hinwirfst!“ Als nächstes erwischte er zwei aufeinander. Er machte sie auseinander. Warf sie nacheinander schnell nach hinten, einen mit der rechten, einen mit der linken Hand. Ohne sich umzudrehen.

„He, he, was soll denn das?“ rief sein Vater. Und wieder flüsternd: „Du musst genau hierher werfen! Die hüpfen ja alle wieder rein.“

Der Kleine griff wieder ins Wasser. Warf nach hinten – ohne sich umzudrehen.

Sein Vater sprach wieder mit normaler Stimme. „Komm raus.“ Er drehte sich um, ging auf seinen Vater zu. Der lachte nicht mehr. Sah ihn besorgt an: „Wir geh’n lieber nach Hause. Da schau, viel haben wir nicht. Da lachen uns die Mama und die Oma ja aus!“ Der Kleine hatte den Kopf gesenkt. Schaute auf seine Stiefel. Dann hielt er den Kopf kurz über den Eimer. Ein schleimiges Durcheinander. Dunkle Flüssigkeit. Und einige kleine, helle Bäuche.

„Das nächste Mal nehm’ ich dich nicht mehr mit“, sagte sein Vater mit ruhiger Stimme.

Er ging rasch aus der Senke, schaute sich vorsichtig um.

„Alles in Ordnung. Komm!“ Sie gingen schnell. Unten im Tal zeichnete sich deutlich das schmale Flussbett ab. Als sie näher zum Auto kamen, spiegelte sich die Morgensonne in der Windschutzscheibe wider. Der Kleine kniff die Augen zusammen. Von der Landstraße drang das Tuckern eines Traktors herauf. Diesmal trug der Kleine den Eimer nicht.

Mit dem kleinen, scharfen Messerchen schnitt Oma die Beinchen ab.

„So, den Rest können wir nicht gebrauchen, den schmeißen wir weg … so, schau her, so zieht man die Haut ab, sooo.“

Der Kleine sah genau hin. Das Fleisch unter der glatten Haut war ganz hell. Noch heller als die kleinen Bäuche. Oma machte das ganz schnell. Sein Vater saß mit Mama und Opa am Tisch und erzählte. Sie lachten.

Und sagten: „Ach, du lieber Gott“ und „Also, so was …“ Opa erzählte: „Früher haben wir ihnen einfach die Beinchen abgeschnitten und den Rest wieder ins Wasser geworfen. Da gab es Tausende von Fröschen.“

Mama war aufgestanden, um Oma beim Zubereiten zu helfen. Sie nahm den Teller mit den gehäuteten Froschschenkeln. „Na, das lohnt sich ja kaum!“

Die Froschschenkel wurden gewaschen, abgetupft. „Jetzt salzen wir sie, schau her!“ Die Beinchen zappelten wieder. Aber nicht lange. In der Pfanne war das Fett heiß. „Gleich siehst du sie noch einmal hüpfen.“

„Quatsch!“ entgegnete der Kleine. Aber die Beinchen hüpften wirklich in dem heißen Fett. Zuckten. Aber nur kurz.

„Ich hab’ gar nicht viel Hunger.“

„Na, viel ist ja sowieso nicht da“, sagte Mama, „aber das ist eine echte Delikatesse. Du wolltest doch dringend mal Froschschenkel probieren. Eine echte Delikatesse!“

„Wieso ich?“

„Na, als wir gesagt haben, dass es Froschschenkel gibt, hast du doch gesagt …“

„Jetzt lass ihn doch mal in Ruhe“, brummte sein Vater.

„Aber probieren musst du!“

„Ich hab’ keinen Hunger. Ich will nur ganz wenig.“

Sie saßen alle um den Küchentisch. Der Kleine hatte nur einen einzigen genommen und nagte ganz vorsichtig an dem winzigen Knöchelchen. Es dauerte lange, bis er fertig war.

„Na, wie schmeckt’s?“

Er überlegte. „Schmeckt nach nichts!“

„Aber das ist eine echte Delikatesse, da zahlt man im feinen Restaurant … wer weiß wie viel.“

„Ich schmecke aber wirklich nichts.“

Sein Vater aß nichts davon. Auch Opa ‘hatte nichts an so was’. So war genug da für Oma und Mama.

Oma hatte dem Kleinen noch ein Butterbrot gemacht, das er schnell aß.

„Habt ihr als Kinder auch Frösche gefangen?“ fragte er die beiden Frauen.

„Früher gab’s oft Froschschenkel. Es hat damals nur so von Fröschen gewimmelt. Für mich war das als Kind immer ein Erlebnis…„

„Ich bin müde, ich geh ins Bett“, sagte der Kleine.

„Was? Jetzt, am helllichten Tag?“

Der Kleine nickte, die Lippen fest aufeinander gepresst.

„Wir waren ja auch früh auf, nicht wahr“, meinte sein Vater beruhigend.

Oma und Mama hatten die blanken Knöchelchen auf einen extra Teller getan, der in der Mitte des Tisches stand.

„Na gut, aber bevor du dich hinlegst, bringst du noch die Knöchelchen raus in die Mülltonne“, befahl Mama.

Er trug den Teller mit einer Hand, den Arm lang ausgestreckt. Er blickte beim Gehen auf seine Füße. Als er mit der freien Hand den runden Blechdeckel öffnete, hielt er die Luft an, um nichts von dem fauligen Geruch einatmen zu müssen. Er kippte den Teller ein wenig. Mit einem raschen Geräusch rutschten die Knöchelchen in den geöffneten Schlund der Tonne.

Der Kleine zögerte noch einen Augenblick. Hielt den Deckel immer noch geöffnet. In der anderen Hand den leeren Teller. Zaghaft schaute er über den Tonnenrand und sah ein Häufchen blanke, helle Stäbchen kreuz und quer übereinander liegen, an manchen hing noch ein Fetzchen Fleisch. Dann musste er ausatmen, und mit einem blechernen Geräusch fiel der Deckel zu.

2. Auflage

© Bertuch Verlag GmbH, Weimar 2005

www.bertuch-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten

Layout, Herstellung: Corax Color, Weimar

Titelbild: Carsten Grasmück, Christian Jost (ILTIS Design)

1. Auflage erschien 2002 im Cambria Verlag, Hildesheim

ISBN 9783863970321

FRANK MEYER

RAUM 101

ERZÄHLUNGEN ÜBER MÄNNER

INHALT

Titel

Impressum

Die Jäger

Melanie

Freunde

Harald und Gringolet

Die letzten Tage

Raum 101

Junge trifft Mädchen

Eine kleine Vergewaltigung

Das Dinner

Frevler

Die Deutschen von Nefyn

Ebenfalls im Bertuch Verlag erschienen

Melanie

Eng aneinandergelehnt saßen sie im hohen Gras. Von hier aus konnten sie den ganzen Hang überblicken, wenn sie den Kopf ein wenig hoben, und bis zum Dorf hinuntersehen. Vorsichtig legte er den Arm um ihre Schulter. Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust und nahm seine Hand. Hielt sie fest. Und lächelte.

„Zeig sie mir noch mal“, bat er sie leise.

Sie hob den Kopf: „Ich muss gleich heim. Wenn ich zum Abendessen pünktlich da bin, fragen sie nicht, wo ich schon wieder war.“

„Ganz kurz nur! Oder lass mich dran fassen.“

Sie neigte den Kopf ein wenig, so dass ihr braunes Haar über die Schulter fiel. Er spürte es auf seiner Hand, die noch immer auf ihrer Schulter lag. „Wir müssen uns einen anderen Platz suchen, wo man uns nicht sieht“, flüsterte sie.

„Hier sieht man uns doch auch nicht. Und wenn jemand hier raufkommt, sehen wir ihn früh genug …“

Sie schien zu überlegen. „Gut! Aber nur kurz … ich muss gleich heim.“ Sie ließ seine Hand los, zog die weiße Bluse aus dem Rock und schob sie hoch bis unters Kinn, und noch ein bisschen höher, bis die Bluse ihren Mund verdeckte. Ihre Augen lachten. Die Sonne schien auf ihren Bauch und ihre Brust.

Also normal war das nicht. Und auch irgendwie … na ja, irgendwie wohl auch nicht richtig. Schon im Kindergarten hatte es angefangen. In den letzten Kindergartenwochen. Es gab ein Frühlingsfest mit allen drei Gruppen. Und da sah er sie zum ersten Mal. Vielleicht hatte er sie vorher schon gesehen, aber an diesem Tag war sie ihm aufgefallen. Sie wurden von den Schwestern für das Abschiedsfoto sortiert. Alle drei Gruppen sollten aufs Bild. Sie standen in Zweierreihen da. Es war kompliziert. Und dauerte … plötzlich trafen sich ihre Blicke. Oder vielleicht hatte sie ihn auch schon vorher angesehen; jedenfalls sah er sie an, und sie sah zurück. Und lächelte. Sagte nichts. Und wahrscheinlich lächelte er genauso stumm zurück – eine Zeit lang. Dann ging er zu Schwester Angelika und sagte: „Ich will neben der da stehen“, und zeigte auf sie.

„Neben Melanie? Ach, du kennst Melanie schon? – Du musst aber in die hintere Reihe. Die Großen müssen in die hintere Reihe. Und die Kleinen nach vorne.“

„Sie kann sich ja auf ein Stühlchen stellen.“ Schwester Angelika seufzte. Und holte einen Stuhl.

Bei dem Fest war soviel Durcheinander, dass er sie ständig aus den Augen verlor. Aber er suchte immer wieder nach ihr. Wenn sie ihn dann sah, lächelte sie. Er ging ihr nach, als sie aufs Klo ging. Ging einfach hinter ihr her. Als sie merkte, dass er ihr tatsächlich bis hierher gefolgt war, drehte sie sich um und sah ihn lange an: „Du darfst eigentlich gar nicht hier rein. Hier ist für Mädchen.“ Ihre Stimme klang ruhig und leise; und dunkel … für so ein kleines Mädchen.

„Pah, ist mir doch egal! Du heißt Melanie?“

„Ja!“

„Ich heiße Peter.“

„Peter“, sie nickte. „Warte einen Moment, ich muss mal.“ Sie verschwand in der Kabine. Während er wartete, kamen zwei Mädchen rein und fragten überrascht: „Was machst du denn hier drin?“

„Ich warte auf Melanie.“ Sie hatte ja gesagt, er solle auf sie warten. Als sie wieder rauskam – die beiden anderen waren auch gerade fertig und wuschen sich die Hände – ging sie bis ganz nah vor ihn und lachte ihn an. Er nahm ihre Hand und sie gingen zusammen wieder hinaus.

Zuhause war er noch nicht ganz zur Tür rein, da rief er schon, „Mama, Mama, ich bin verliebt!“ Und er rief es mit einer Ernsthaftigkeit und Begeisterung, dass einem Angst und Bange werden konnte. Als wüsste er genau, wovon er da redete. Aber seine Mutter lachte erleichtert, als er dann noch hinzufügte: „Sie heißt Melanie und ich will sie heiraten!“ So machte man das nämlich, soviel er wusste.

In den letzten Tagen im Kindergarten sah er sie öfter.

„Schwester Angelika, ich will zu Melanie.“ Schwester Angelika seufzte: „Dann fragen wir mal Schwester Anna, ob du in ihre Gruppe darfst.“ Natürlich durfte er. Er ging jedes Mal sofort zu Melanie und sie spielten miteinander. Nur sie beide. „Schwester Anna hat erzählt, dass Schwester Angelika dich schon viermal in die Besenkammer einsperren musste.“ Die Bewunderung war nicht zu überhören.

„Ja, aber das war nur, weil ich dem Jürgen und einmal auch dem Stefan eine Abreibung gegeben habe. War aber auch wirklich nötig. Ich hab dich vorher noch nie gesehen.“

„Doch! Ich war aber nicht immer hier. Ich war oft im Krankenhaus.“

„Ich war auch schon im Krankenhaus. Ich hatte die Nase gebrochen.“

„Ehrlich?“ Sie war beeindruckt.

„Aber ich musste nur eine Nacht da bleiben.“

„Ich war ganz lange da.“ Sie überlegte, lange. „Willst du mal meine Narbe sehen?“

Seine Oma hatte eine kleine Narbe an der Stirn. Aber da war bei Melanie nichts.

„Wo ist sie denn?“

Sie zog den Pullover aus der Hose und das Unterhemd und zog es hoch, bis vors Gesicht. Aber sie zog den Pullover nicht über den Kopf. Es war eine riesige Narbe, ganz lang und rot und auch dick. Sie war genau in der Mitte und begann kurz unterm Hals und ging fast bis da wo der Bauch anfängt.

„Das ist die superste Narbe, die ich kenne.“

Sie ließ den Pullover ein wenig runter, gerade so, dass sie ihn ansehen konnte, verdeckte aber weiterhin den Mund.

„Willst du mal dran fassen?“ Klar wollte er. Sie fühlte sich glatt und fest an. Ganz anders als die Haut drum herum. Er strich – nur mit einem Finger – auf und ab.

„Was macht ihr denn da?“ Schwester Anna wirkte überrascht. Melanie zog den Pullover runter. Er hatte den Finger noch auf der Narbe.

„Melanie hat mir ihre Narbe gezeigt.“

„Ähm, ja, … das ist schön, Melanie, dass du Peter deine Narbe zeigst … jetzt müßt ihr aber mit in die Vorleseecke kommen. Ich spiele euch die Platte ‘Peter und der Wolf’ vor.“

„Kenn ich schon von Schwester Angelika.“

„Willst du trotzdem hier bleiben?“

„Wenn ich neben Melanie sitzen darf.“ Er durfte natürlich.

Beim nächsten Mal fragte er sie: „Wie hast du die Narbe gekriegt?“

„Von der Operation!“ Er schwieg. Später sagte ihm seine Mutter noch mal, es sei von der Operation und dass Melanie ganz, ganz schlimm krank gewesen war. Den Namen der Krankheit hatte er nicht verstanden.

Schwester Anna kam zu ihnen: „Melanie! Du hast Peter die Narbe doch schon gezeigt. Und du musst da nicht immer dran fassen, Peter!“

„Wieso?“

„Das ist nicht … gut … ähm … für die Narbe.“

Diesmal hatte er mit der ganzen Hand drüber gestreichelt. Um den Unterschied zwischen der Narbe und der Haut besser zu spüren.

Sie kamen nicht in dieselbe Klasse. Sie war in der Parallelklasse. Natürlich sahen sie sich öfter auf dem Schulhof. Sie lächelte ihn an, wenn sie ihn sah, und meistens ging er zu ihr. Sie setzten sich auf die Mauer oder ins Gras und sie hielt seine Hand oder er legte seinen Arm um sie. Und manchmal gab er ihr ein Küsschen. So machte man das nämlich! Oft waren sie auch einfach nur zusammen und er erzählte ihr etwas.

Auch außerhalb der Schule sahen sie sich manchmal. Mussten sich nicht extra verabreden. Sie wohnte zwar genau am anderen Ende des Dorfes, aber er hatte ein Fahrrad und fuhr öfter mal an ihrem Haus vorbei, um zu sehen, ob sie draußen spielte, was sie aber selten tat.

Er vermisste sie nicht, wenn er sie mal eine Zeit lang nicht sah, vor allem in den Ferien. Aber auch während der Schule, denn da hatte er immer ‘ne Menge zu tun. Er wusste ja, dass sie immer da war. Und er hatte wirklich beim besten Willen wenig Zeit. Es ist schwer zu sagen, was Mädchen so den ganzen Tag machen, wenn sie in der 1. Klasse sind. Er jedenfalls musste Höhlen bauen, Rennen organisieren und Wettkämpfe mit der Wasserbande abmachen – immerhin war er der Boss der Galgenbergbande – im Sommer ein Loch unter dem Zaun vom Schwimmbad durchgraben und im Winter gute Stellen für die Schneeballschlachten suchen. Kurz gesagt, es galt Aufgaben zu bewältigen, wie sie das spätere Leben, was ihre Spannung und Bedeutung betraf, kaum mehr zu bieten haben würde. Aber das wusste er zum Glück nicht.

Jedenfalls wurde einiges von ihm erwartet, seit er überraschend das Radrennen die Bergstraße runter gewonnen hatte. Es war ein echtes Rennen! Im K.O.-System! Immer Mann gegen Mann. Mehr als zwei hätten auch gar nicht die enge Straße runterfahren können, auch wegen der Kurven. Und der Sieger kam weiter, bis nur noch zwei übrig waren. Es war schon eine Sensation, dass er überhaupt in den Endlauf kam. Und dann schlug er auch noch Manfred aus der 3. Klasse, der das Rennen vorher schon zweimal gewonnen hatte! Der schwor übrigens, dass er gesehen hatte, wie die Funken spritzten, als Peter in der letzten Linkskurve mit dem Pedal aufgesetzt hatte. Die Jungs, die am Ziel standen, wo die Bergstraße in die Hauptstraße mündete, trauten ihren Augen nicht und jubelten, so dass die anderen, die vom Ziel aus hinterher gefahren waren und einige Sekunden dahinter kamen, schon wussten, wer gewonnen hatte. Sein Ruhm vergrößerte sich noch, als er bei der Revanche am letzten Ferientag, beim Halbfinale, in Führung liegend, mit dem Pedal aufsetzte, ins Schleudern kam, und sich im Fallen eine Rippe am Lenker brach – was er sogar mit einem Foto beweisen konnte, das ihm der Doktor geschenkt hatte, und auf dem man sein Gerippe sah, wenn man das Foto gegen die Sonne hielt.

In der 2. Klasse hatten die Jungs Spaß daran, sich von hinten an die Mädchen ranzuschleichen und ihnen die Röcke hochzuheben. Die Mädchen kreischten dann, oder, was noch besser war, schlugen um sich.

„Und was soll das?“ fragte Peter Jürgen.

„Na, ist doch lustig. Man sieht das Höschen.“

„Ja und?“

„Und das ärgert sie. Sind eben Mädchen.“

Das war ein Argument! Also mischte er mit und erreichte, wie in so vielem in dieser Zeit, eine beachtliche Meisterschaft. Der Spaß hatte jedoch ein Ende, als Ralf Melanies Rock hochhob. Sie kreischte nicht und schlug auch nicht um sich, sondern war so erschrocken, dass sie weglief und weinte.

„Also dass das klar ist: Du hebst Melanies Rock nicht mehr hoch. Nur ich darf das!“

„Ach, du darfst also bei allen und wir nicht!“

Stimmt, das war natürlich wirklich nicht richtig. „Na gut: Ihr dürft das nicht bei Melanie machen und dafür lasse ich euch alle anderen.“ Das war eine Abmachung!

Als er ihr sagte: „Ich bin der einzige, der bei dir den Rock hochheben darf. Die anderen machen nichts mehr“, war sie sichtlich erleichtert. Fragte aber noch: „Und wirst du das machen?“

„Quatsch, ist doch Kinderkram.“ Und sie nutzten den Rest der großen Pause, um durch ein Loch in der Hecke des Schulhofs zu verschwinden und sich hinter den Geräteschuppen hinter der Turnhalle zu setzen.

Das war auch die Zeit, in der der Rektor, ein ernster und freundlicher Mann, der leicht stotterte, was ihn selbst aber Gott sei Dank nicht störte, zum ersten Mal die Eltern darauf hinwies, dass man dieses süße Pärchen in der Schule hatte. Richtig lieb. Sogar Küsschen gaben sie sich manchmal. Wirklich putzig. Ungewöhnlich zwar – aber vor allem für den wilden Peter bestimmt gut. Solange er mit Melanie Händchen hielt, konnte er nicht mit Jürgen und Matthias wetten, dass sich keiner außer ihm traute, vom Dach des Fahrradschuppens zu springen.

Wie schön, dass so ein frecher, wilder Junge doch so ein Lieber sein konnte. Melanies Mutter fragte seine Eltern, ob er nicht zu Melanies Geburtstag kommen wolle.

Aber er ging nicht auf Mädchengeburtstage! Und Melanie war ihm deswegen auch nicht böse.

Während des 3. Schuljahres änderte sich gar nicht so viel, das heißt, zwischen den beiden nicht. Er hatte zwar nicht so oft Zeit, aber wenn sie sich dann sahen, erzählte er ihr stundenlang von seinen Abenteuern oder er streichelte ihre Narbe, die nicht mehr so rot war wie früher, sondern eher rosa, und nicht mehr ganz so dick, sich dafür aber um so glatter und fester anfühlte. Manchmal ließ er tatsächlich große Ereignisse einfach sausen. So z.B. als Matthias seinen älteren Brüdern zwei Paar Boxhandschuhe geklaut hatte und ein Kampf zwischen Ralf und Andreas abgemacht wurde. Andreas war einer von der Wasserbande, die übrigens so hieß, weil sie ein riesiges Baumhaus hatte, das mindestens zur Hälfte über den Fluss gebaut war. Sie hatten für eine kurze Zeit „Frieden“ vereinbart, um gemeinsam einen echten Boxring zu bauen. Mit echten Pfosten und Seilen. Zum Glück hatte er nicht allzuviel verpasst. Die Handschuhe waren viel zu groß, so dass das Boxen durch einen normalen Ringkampf ersetzt werden musste, den Andreas zu allem Überfluss auch noch gewonnen hatte.

Was ihn vor allem davon abhielt, Melanie nach der Schule öfter zu treffen, waren die Höhlen. Oder genauer gesagt: Die Höhle. Es gab einige davon am Galgenberg. Es waren keine echten Höhlen, also von Natur aus, sondern die Leute hatten so Löcher gegraben im Krieg, um sich darin zu verstecken, wenn die Flieger kamen. Die meisten waren nur ein paar Meter tief. Und die Eingänge, die sowieso ziemlich eng waren, wuchsen zu. Oder es waren Brocken vom oberen Rand abgefallen, so dass der Eingang erst freigeräumt werden musste. Deshalb hatten sie auch zuerst eine andere Höhle ausgesucht, die ganz okay war. Aber wenn die ganze Bande da war, alle acht, war es fast schon zu eng. Matthias hatte von seinem Opa gehört, dass es da auch eine größere geben musste, weiter oben, wo der Hang schon nicht mehr so steil war. Als sie nichts fanden, kamen sie zu dem Schluss, dass Matthias’ Opa Blödsinn erzählt hatte, oder dass die Höhle vielleicht schon längst eingestürzt war. Bis sie dann am Galgenberg „Fuchs und Hase“ spielten. Das war eine Mischung aus Verstecken und Fangen und war supergut, obwohl es nach Kinderkram klang. Jede Schlehdornhecke galt als Hasenbau und wenn man dort reinkroch, durften die Füchse einen nicht fangen. Ralf war vor den Füchsen bis ganz nach oben geflüchtet, und als er unter die Hecke kriechen wollte, war er eingebrochen und steckte bis zum Bauch in dem roten Sandstein. Passiert war ihm nichts, aber er hatte die Höhle gefunden.